Was uns die Herausgeber sagen möchten Ein weißer Fleck in einer städtischen Landkarte ist eine tolle Sache. Noch wurde nichts falsch gemacht. Und noch kann vieles richtig gemacht werden. Was also machen zwei Auswärtige in einer Stadt, in der sie überraschend, aber mit Leidenschaft zu einem reichen industriellen Erbe gekommen sind? Sie suchen Anschluss. Diesen Anschluss haben wir auf wunderbare Art und Weise gefunden. Wir haben 28 Grazerinnen und Grazer gefragt, ob sie gemeinsam mit uns über eine Konzeption des Wünschenswerten nachdenken. Erfreulicherweise haben sie zugesagt und eine Redaktion gegründet, um bis zum Sommer 2006 ihre Beiträge zur Zukunft in einer gemeinsamen Publikation zu präsentieren. Diese Großzügigkeit unserer „Redakteure“, so verschwenderisch mit ihrer Zeit umzugehen, hat uns unglaublich gefreut. Wir wollen den neuen Grazer Stadtteil auf den Reininghaus-Gründen mit demselben Engagement und mit demselben Herzblut denken und entwickeln.
Mit herzlichem Dank Ernst Scholdan und Roland Koppensteiner
Die vorliegende Sammlung an 28 persönlichen Zukünften basiert auf Einzelgesprächen mit den Redakteurinnen und Redakteuren und soll Ihnen Gelegenheit geben, ihre Kolleginnen und Kollegen besser kennen zu lernen. Das Titelfoto vom ersten Reininghaus-Ballooning im Jänner 2006 stammt von Stefan Haring.
4 I Die Redaktion
Eine Redaktion für die Zukunft
Birgit Pölzl
Jürgen Fortin
Herbert Paierl
Sabine Herlitschka
Markus Tomaschitz
Ernst Giselbrecht
Matthias Hartmann
Martin Behr
Burghard Kaltenbeck
Mathis Huber
Ulrich Kanter
Heinz Hagenbuchner
Chefredaktion Bettina Stimeder
Clarissa Mayer-Heinisch
Gertraud Monsberger
Barbara Porotschnig
Stefan Stolitzka
Michael Redik
Bertram Werle
Alexander Wolfensson
Judith Schwentner
84-06-17 Helmut Konrad
Zeitenfolge Peter Heintel
Christoph Weiermair
Laura Rossacher
Silvia Schober
Sylvia M端ller-Trenk
Roman Wratschko
Luise Kloos
Kurt Salamun
Marijana Miljkovic
Chefredaktion I 7
Bettina Stimeder
Der Mensch ist keine Waschmaschine
Das freitägige Rondo im Standard ist unsere liebste Zeitungsbeilage. Wen also fragen wir, wenn wir für die werkstadt017 eine Chefredakteurin suchen? Richtig: Bettina Stimeder, leitende Redakteurin, hat dann auch noch zugesagt. Hier wird sie ausnahmsweise einmal selbst interviewt. Zufallskolumnistin Cosima Reif traf sich mit ihr in der Folterkammer (i. e.: Besprechungszimmer hinter der RONDO-Redaktion). Das Rondo gibt es seit 1999 – Es war von Anfang an ein Erfolg?
(BS windet sich bescheiden) Kann man schon sagen. Es ist aber auch atypisch entstanden. Wenn man sich anschaut, wie andere Medien das machen: Markttests, Marketingbudget, Einführungskampagne, Entwicklungsredaktion etc. Das gab’s alles nicht. Sondern halt ein paar sehr engagierte Leut’, die einfach fest geglaubt haben, dass so etwas in Österreich möglich ist.
für viele Leute Abendessen zu kochen. Ansonsten ist mir kein besserer Luxusbegriff begegnet als der von HansMagnus Enzensberger: Luxus ist eine Privatangelegenheit, die unsichtbar bleiben darf. Als Gegenstück zum Status, der uns zwingt, uns mit Symbolen des Wohlstands auszustatten, um im Ansehen der anderen zu wachsen. Ein wenig konkreter: Raum haben, Zeit haben, nicht nach dem Takt der Welt hüpfen müssen, sondern dem eigenen Beat folgen können. Klingt natürlich schwer nach Prestigeantwort, hat aber was. Ja, Raum ist Luxus – womit wir wieder beim Format vom RONDO wären. Gibt’s Lücken im heimischen Blätterwald? Was könnte fehlen?
Im Blätterwald entstehen die Lücken im Augenblick ihres Entdecktwerdens. Ich denke nicht, dass man durch Marktforschung Lücken entdeckt – und ich denke auch, dass alle Marktforschung und Statistik im Medienbereich bestenfalls eine Drittelwahrheit ergeben.
Also aus dem Bauch heraus?
Durchaus, aber auch: bewusst anders. Wir haben gesagt: Wir glauben, dass es einen Bedarf gibt, nicht für irgendwelche Leser, sondern für STANDARD-Leser, und wir wollen denen ein Angebot machen, das ästhetisch und inhaltlich zum STANDARD passt. Wir haben ja kritische Leser, konsumkritisch und überhaupt kritisch. Da macht man sich schnell verdächtig, wenn man sich mit Luxus und den schönen Dingen beschäftigt, ohne darüber ausreichend reflektiert zu haben. Der STANDARD-Lifestyle besteht darin, dass unsere Themen – Mode, Design, Reisen, Kulinarik, Musik etc. – nicht von ihrer Bedeutung, ihrer Geschichte, ihrem Kontext losgelöst werden. Mode-Themen können politisch sein – es ist eine Frage der Darstellung. Ob ich sage: „Der Modefrühling wird rosa“ oder ob ich die Frage stelle: „Warum gibt das Stadtvolk, das in Büros arbeitet, viel Geld dafür aus, um auszusehen wie ein Bauarbeiter?“ Wir begreifen Lifestyle nicht als Gebotsliste. Wir sagen nicht: Koch das, zieh dieses an, wenn du A, B und C tust, wirst du glücklich und schön. Drück auf dieses Knopferl und auf jenes. Der Mensch ist ja keine Waschmaschine. Was bedeutet für dich Luxus? Was gönnst du dir?
Dicke Autos, Juwelen und teure Fummel natürlich. Nein, kann ich mir nicht leisten. Ich widme meinen Zeitüberschuss den Pferden. Und dann gönn ich mir den Luxus,
Mafo kann ja allerhöchstens Quantitäten berechnen, selten Intensitäten und bei einer Zeitung-LeserBeziehung spielt ja wohl so was wie Liebe eine große Rolle.
Bei unseren Lesern auf alle Fälle, die bauen sich richtig in unsere Lebenswelt ein. Das merken wir, wenn wir LeserFeedback bekommen. Mit wie viel Liebe da Zuschriften gebastelt werden. Oder wenn Artikel zitiert werden, die vor drei oder fünf Jahren erschienen sind und die den Leser noch immer beschäftigen. Ist es nicht erstaunlich, dass man Lifestyle immer als oberflächlich bezeichnet – und dass die Wirkung dann so in die Tiefe geht?
Wenn wir für die Geschichten die richtigen Ansätze finden, die richtigen Bilder verwenden und gestalterische Sorgfalt walten lassen, dann lebt sie über den Tag hinaus.
Zeitenfolge I 9
Peter Heintel
Noch Fragen?
Jahrgang 1940; Professor für Philosophie und Gruppendynamik am Institut für Philosophie der Universität Klagenfurt; von 1974 bis 1977 Rektor der Universität Klagenfurt; Lehrbeauftragter an der Universität Graz; Gastprofessor an der Universität Hamburg; Vortragender und Seminarleiter an der Bundesverwaltungsakademie Bad Godesberg, der österreichischen Bundesverwaltungsakademie Wien und des EPA Bern; Mitglied der wissenschaftlichen Fakultät des Gottlieb Duttweiler Institutes Zürich und des Hernstein Management Institutes; Tätigkeit als Organisationsberater in zahlreichen in- und ausländischen Institutionen, Organisationen, Unternehmungen. Von 2003 bis 2005 Vorsitzender des Senats der Universität Klagenfurt.
Soweit eine Kurzbiographie jenes Mannes, dessen wissenschaftliche Verdienste vielfach und ausführlicher gewürdigt wurden, als wir das an dieser Stelle je tun könnten. Die Verleihung des Österreichischen Ehrenkreuzes für Wissenschaft und Kunst im Jahr 1995 sei hier beispielhaft erwähnt. Der Bogen seiner Publikationen spannt sich von seiner Habilitationsschrift „: Die Bedeutung der Kritik der ästhetischen Urteilskraft für die transzendentale Systematik" aus dem Jahre 1970 bis hin zu „Hirnforschung als dialektische Sozialwissenschaft“ im Jahr 2005. Den größten Bekanntheitsgrad erreichte er jedoch mit einer nichtwissenschaftlichen Publikation. Dem bereits in der vierten Auflage erschienen Buch „Innehalten. Gegen die Beschleunigung – für eine andere Zeitkultur“. Noch bekannter jedoch als die Person Peter Heintel ist der von ihm gegründete „Verein zur Verzögerung der Zeit“. Aber keine Sorge. Niemand ist perfekt. Auf den vermeintlichen Widerspruch angesprochen, wie es sein kann, dass gerade der Gründer des Vereines zur Verzögerung der Zeit oft selbst zu wenig Zeit hat, musste sich Peter Heintel, philosophische Unterstützung bei Schopenhauer holen indem er geantwortet hat: „Der Wegweiser zeigt die Richtung, aber er geht nicht mit.“ Im vorliegenden Falle aber ist Peter Heintel vor allem eins: Redaktionsphilosoph, der seine langjährige Gesprächserfahrung als Motiv-, Konflikt- und Gesellschaftsforscher, Philosoph und Gruppendynamiker der ersten Stunde in puncto Qualität der Gespräche miteinfließen lässt.
Den beiden Überzeugungen folgend, dass zum einen die Qualität der Fragen die Qualität der Antworten beeinflusst und zum anderen, dass man beim Zuhören mehr lernt, als wenn man sich vom Gesprächspartner nur das bereits Gewusste bestätigen lässt. Darum an dieser Stelle nun für alle Redakteure h.c. als Hilfestellung ein bekanntes und gelerntes Format: Die 10 Gebote (des richtigen Frage-stellens und Antworten-lassens)
• Herstellung eines gegenseitigen Vertrauens als Basis der Beziehung – auch bei zuvor völlig Fremden. • Vermeiden von Urteilen und Beurteilungen. • Systematisches Erfragen von differenzierten Fakten, jedoch ohne Verhörcharakter. • Beachten der Gefühle und der Widerstände des anderen sowie Kontrolle über eigene Gefühlsreaktionen. • Zuhören – zwischenfragen – wieder zuhören. Schließlich hinhören und zu verstehen suchen. • Findenlassen durch Hilfestellung statt Imponieren durch schnelle Reaktion. • Wo kein Raum gegeben wird, kann sich der Interviewte nicht entfalten. Wenn der Interviewer mehr als 10 % der Gesamtzeit redet, ist er ein schlechter Interviewer. • Das reale Verhalten des Interviewers beeinflusst das Gefühl des Interviewten im Sinne von Verstärkung oder Verringerung von Angst und Freiheit. • Pausen durchstehen. Oft kommt gerade nach einer Pause eine wertvolle Aussage. • Ausreden lassen.
10 I 84-06-17
Helmut Konrad
A beautiful mind
Über seine Jugendsünden als 68er redet der Doktor der Zeitgeschichte gerne. Nur nicht mit seinem Sohn – wegen der Vorbildwirkung. So schlimm kann es aber nicht gewesen sein. Sonst säße der gebürtige Kärntner wohl nicht im Europäischen Akkreditierungsrat für Höhere Bildung. Und er wäre nicht Rektor der Karl Franzens Universität geworden. Jener nämlich, der den ersten Grazer Tuntenball genehmigte. Vom Wahrsagen
Die meisten Menschen glauben, Zeit ist etwas Metrisches, das sich genau in Stunden, Minuten und Sekunden einteilen lässt. In Wirklichkeit ist Zeit aber etwas ungemein Dynamisches: Sie vergeht in manchen Situationen schneller und in manchen langsamer. Deshalb ist es auch problematisch, für eine Zukunftsprognose den Ist-Zustand einfach linear weiterzuschreiben. Wenn es vor zehn Jahren 20 % Singlehaushalte gegeben hat und es heute 40 % gibt, heißt das noch lange nicht, daß bei 60 % Singlehaushalten in zehn Jahren die Familie aus der Mode gekommen sein wird. Es könnte auch das Gegenteil eintreten, nämlich dass die zunehmende Vernetzung es ermöglicht, von zu Hause aus zu arbeiten und die Familie wieder stärker kommt. Nebenwirkungen
Über den Fortschritt gibt es zwei Meinungen. Die einen glauben an den Fortschritt, daran, dass für jedes auftauchende Problem rechtzeitig eine Lösung gefunden werden wird. Die anderen befürchten, dass der Fortschritt irgendwann einen Punkt erreicht, an dem die Gesellschaft sozusagen gegen die Wand fährt. Letzteres ist spätestens seit den Fehlprognosen des „Club of Rome“ nicht sehr populär. Die Menschen entwickeln ja auch dauernd neue Krisenlösungstechnologien. Aber diese Lösungen haben immer Kollateralwirkungen. Atomkraft kann zwar unsere Emissions- und Energieprobleme lösen, wirft aber neue, noch unangenehmere Probleme auf. Wer zahlt
Man kann mit einiger Wahrscheinlichkeit sagen, dass es in Zukunft mehr ältere Menschen geben wird. Erstmals in der Geschichte ist diese ältere „Wohlstands-AufstiegsGeneration“ aber so gut situiert, dass sie, obwohl im Ruhestand, ökonomisch potenter ist als die Jungen. Und darin sehe ich die Tendenz, dass die Alten das Sagen haben werden.
Über Identitäten
Die Zeit der großen Erzählungen ist vorbei. Meine Studenten heute sind zwar bereit, für Global 2000 zu spenden, nur die wenigsten würden aber auch Straßenschlachten austragen. Deshalb ist auch das Konzept des Wiener Gemeindebaus veraltet. Kollektive Lebensentwürfe wie im Roten Wien der Zwischenkriegszeit funktionieren nicht mehr. Heute nehmen wir alle andauernd verschiedene Identitäten an: bei der Arbeit, am Fußballplatz, in der Oper. Das ist auch gut so. Die großen Kriege des letzten Jahrhunderts sind alle aus verordneten und nicht wandelbaren Identitäten entstanden, wie „Du bist Jude“ oder „Du bist Deutscher“. Man ist, was man isst
Es gibt drei Faktoren, die eine Gesellschaft beschreiben: Wie ihre Wirtschaft funktioniert, welche politischen Spielregeln gelten und wie ihre Kultur aussieht. Damit ist eigentlich alles gesagt. In unserer Gesellschaft ist die Wirtschaft die bestimmende Ebene und das wird in absehbarer Zeit auch so bleiben. Bei den anderen beiden Faktoren findet derzeit eine Verschiebung statt: Die Politik wird immer belangloser, die Handlungsspielräume der Politiker werden immer kleiner. Und die Kultur gewinnt an Gewicht. Für das Zusammenleben ist es heute wichtiger, was man liest, was man isst, wohin man auf Urlaub fährt, als wo man bei den nächsten Wahlen sein Kreuz macht.
Erste Spuren • Die Beschleunigung bewirkt, dass die Arbeitswelt nach Hause kommt. • Die Zeit der großen Erzählungen ist vorbei. Private Lebensentwürfe erfordern individuelle und vielfältige Angebote. • Die neuen Alten sind gesund und haben Geld. • Politik wird immer belangloser, Kultur immer wichtiger. Bestimmender Faktor bleibt die Wirtschaft. • Orte der Entschleunigung werden wertvoll.
12 I Der Nachwuchs
Die Nachbarn In unmittelbarer Nachbarschaft der Reininghaus-Gründe wächst die Fachhochschule Joanneum. Weil dort praktischerweise Journalismus gelehrt wird, lag es nahe, unsere Teilzeitredakteure durch junge Professionals zu unterstützen. Das von JournalistenProfessorin Gabi Russ genannte Quartett sei hier schnell vorgestellt. Dann muss es allerdings wieder zurück in die Ressortkonferenz …
Silvia Schober Geworden ist Silvia Schober zu der Person, die sie ist, an der FH Graz. Es begeisterte sie die Mischung aus Praxis und Theorie, das Verhältnis aus Vorgabe und Widerstand und die mit Konkurrenz durchsetzte Kollegialität. In vier Monaten und mit der dann fertigen Diplomarbeit in der Hand hätte sie ausgezeichnete Chancen als Journalistin. Da sie aber seit einem Praktikum bei der APA arbeitet, hat sie das ohnehin schon geschafft.
Erste Spuren • Bildung muss mehr Auswahlcharakter bekommen. • Fachhochschulen und Universitäten vernetzen sich zunehmend besser.
Christoph D. Weiermair Jahrgang 1982, zog es ihn studienhalber aus oberösterreichischen Landen nach Graz. Nach Abschluss seines Studiums möchte er als Journalist bei einer Zeitung den Mächtigen auf die Finger schauen und trotz zunehmender Medienkonzentration Kritik üben und aufklären, wo es notwendig ist. Die Position eines Ressortleiters ist ein erstes Ziel. Bis dahin ärgert er sich vor allem über die schlechte Luft in Graz.
Erste Spuren • Es hat sich alles zu sehr beschleunigt. • Im Westen von Graz fehlt ein (Sub-)Zentrum. Es braucht Plätze, wo sich Menschen gerne aufhalten.
Laura Rossacher Laura Rossacher ist Grazerin. Geboren 1984. Das hat jetzt nichts mit Orwell zu tun. Sie studiert Journalismus. Also freie Meinung. Damit will sie wachsen. Und alles wissen. Was ist. Was kommt. Auch wenn es immer individueller wird. Etwas hat trotzdem Bestand: Entweder du bist Journalist. Oder du bist keiner. Ihr Ziel: einmal in die Unternehmenskommunikation kommen. Und worauf man aufpassen muss: sich nicht in der Masse zu verlieren.
Erste Spuren • Alles wird anonymer. Deswegen wird der persönliche Kontakt immer wichtiger. • Leben wird sich viel stärker über den Beruf definieren.
Marijana Miljkovic Marijana Miljkovic macht grundsätzlich nicht das, was man von ihr erwartet. Sagt sie. Wie wäre ihr Wechsel vom Zahnmedizin- zum Journalismusstudium auch sonst zu erklären? Die angehende Standard-Redakteurin schreibt in ihrer Freizeit Film- und Theaterkritiken und bot auch schon Radio Helsinki ihre Dienste an. Ihr Wunsch an die Zukunft: „Alles was ich tue, soll auch einen Nutzen für jemanden anderen haben.“
Erste Spuren • Man muss Städte immer wieder neu für sich entdecken. • Die Jugend hat es so gut, dass große Rebellionen nicht mehr nötig sind.
Leben I 15
Birgit Pölzl
Die Poesie des Widerstands
nicht an, dass die Jungen ausgegliedert und auf einer anderen Ebene genauso verwaltet werden. Das gilt auch für ausländische MitbürgerInnen. Es geht nicht, dass sie in einem Viertel zusammengefangen werden und dort dann ihr Leben fristen. Das ist keine nachhaltige Lösung.
Jahrgang 1959, verheiratet, und Mutter von vier erwachsenen, vorsätzlich widerständig erzogenen Kindern, die – heutzutage ja fast schon ein Anachronismus – alle vom gleichen Mann sind. Außerdem scheint ihr das Fach Ressortleitung besonders zu liegen, denn neben der Ressortleitung h. c. Leben, leitet sie auch jenes der Literatur bei den Minoriten. Darüber hinaus ist sie auch selbst als Autorin tätig und schreibt gerade an einem „experimentell fragmentierten Roman“. Die Schattenseite: Bei so viel Leben musste sie bislang die Beschäftigung mit dem Unvollständigkeitssatz des österreichischen Mathematikers Gödel hinten anstellen.
Kunst leben
Familie leben
Rückzug leben
Ein Wunsch an die Zukunft wäre die Möglichkeit, Beziehungen so weit und so positiv führen zu können, wie ich das kann. Dazu müssten beide Partner entlastet werden. Die Gesellschaft müsste darauf achten, dass die Männer, die nach wie vor im Beruflichen stärker involviert sind, viel Freiraum bekommen und die Kinder zu gleichem Teil miterziehen wie Frauen. Es müssten Rahmenbedingen geschaffen werden, Karenzierungsmodelle, bewusstseinserweiternde Modelle für Männer, die da heißen: Der Mann lernt auch, wenn er bei den Kindern ist. Die Männer sollen ihre Kreativität nicht nur im beruflichen, sondern auch im privaten Kontext nutzen, um das zu realisieren.
Ich denke, es gibt eine Vereinnahmung durch neoliberale Denkmuster, die eine derartige Hegemonie haben, dass sie vom Kleinstkindalter bis zum Grab jedem täglich auf den unterschiedlichsten Ebenen vermittelt werden. Wir sind zu sehr auf Geschwindigkeit hin konditioniert. Es wird die Gesellschaft in dieser affigen Geschwindigkeit zum einen weiterlaufen und zum anderen werden sich Parallelgesellschaften bilden, die nach anderen Mustern leben werden. Es wird Selbstverwaltungsformen geben, in denen sich Enklaven bilden. Wie können wir es schaffen, uns Enklaven zu denken oder zu realisieren, die noch nicht Gedachtes denken können. Dies muss für mich mit Entschleunigung zu tun haben. Es sollte sich eine Kultur entwickeln, die ihre Sinnkonstitution nicht so sehr an Materialismus bindet.
Gesellschaft leben
Wir müssen uns eine Zukunft denken, die auch für diejenigen lebenswert ist, die nicht so stark sind. Oder noch besser, die Zukunft so zu gestalten, dass man Chancen hast, wenn man nicht schnell, gescheit, gut ausgebildet genug ist. Es wäre an der Zeit, die Dinge eher volkswirtschaftlich als betriebswirtschaftlich anzuschauen. Es muss der Ausgleich zwischen Arm und Reich gelingen. Das Modell des Wohlfahrtsstaates muss bewahrt und so ausgebaut, angepasst, modernisiert werden, dass er vorbildhaft für eine globalisierte Welt sein kann. Gelingt das nicht, werden wir sowohl auf höchstem als auch auf niedrigstem Niveau vegetieren. Integration leben
Was mir auch wichtig erscheint, ist eine Integration der Generationen. Es geht nicht an, dass die Alten entsorgt und ausgegliedert und verwaltet werden. Und es geht auch
Es sollte in der Kunst Möglichkeiten geben, jenseits des Elitären und jenseits der kommerziell vereinnahmten Eventkultur Leute anzusprechen und so zu einer Lebensintensivierung bei tragen und es weniger zu banalisieren. Kunst nicht als Therapieersatz, sondern als Selbst- und Lebenserfahrung.
Erste Spuren • Es müsste intelligente Modelle des öffentlichen Verkehrs geben. Günstiger und mit einer hohen Frequenz, damit man ohne langes Fragen einfach umsteigt. • Es müsste möglich sein, in Schulmodellen Strukturen zu finden, wo die Menschen nicht den Eindruck haben, verwaltet zu werden. • Es muss ganz klar die Möglichkeit geben, ohne großen Aufwand die Kinder nach draußen schicken zu können.
Leben I 17
Jürgen Fortin
Gedankliche Ausflüge
„Man fliegt nur so weit, wie man in Gedanken schon ist.“ Der hübsche Satz stammt von Jens Weissflog. Jürgen Fortin hat uns ganz höflich daran erinnert. Ansonsten ist er Medizintechniker, Forscher, Unternehmer und Innovationsstaatspreisträger. Oder umgekehrt. An seiner Dissertation schreibt er seit 10 Jahren, was das World Economic Forum allerdings nicht daran hindern konnte, seine Technologie „als nachhaltig die Gesellschaft verändernd“ einzustufen. Er selbst würde das Ganze ja gerne an einen Synthesizer anschließen. Ohne Vorsehung
Es gibt keine Weltgleichung, die besagt, ich habe diese Eingabeparameter und dann kommt über die Zeit etwas heraus. Das stimmt so nicht. Aber wenn ich ein positiver Mensch bin, kann ich die Zukunft positiv verändern. Und das ist viel besser, als wenn die Zukunft vorhersehbar wäre. Wenn sie nämlich vorhersehbar wäre, dann müsste ich resignieren und sagen, dass ich sowieso nichts mehr tun kann. Dann müsste ich mich zurücklehnen und sagen „Oje, mein Leben ist schon gelebt, ich muss nur mehr warten, bis sich die große Differentialgleichung des Lebens weiterentwickelt und irgendwann kommt etwas heraus.“ Es wäre schlimm, wenn das Leben vorhersehbar wäre. Forschen und Lügen
Die interessanten Zukunftsentwicklungen sind die, wo man sich von der Natur abschaut, wie sie es macht. Die Bionik, wasserabweisende Wandbemalung z. B., und auch die Pharmaindustrie stellt immer schon Forscher ein, die die verschiedensten Flüssigkeiten, Schlangengift bis hin zu Pflanzenflüssigkeiten, auf gewisse Wirkungen testen. Und so funktioniert Forschung. Forschung ist immer etwas Retrospektives. Ein Forscher, der sich hinstellt und sagt, ich alleine habe etwas erfunden, der ist der größte Lügner der Welt. Das gibt es nicht. Es ist alles Evolution. Es ist, wie es ist
Es wird sich in Europa eine Schere auftun. Entweder werden wir erkennen, dass wir noch mehr in Forschung und Bildung reinstecken oder es werden uns die Chinesen und Inder überholen. Wenn es so ist, ist es eben so. Aber es wäre schade, weil uns Jammern da nicht weiter hilft. Das einzige, das uns weiterbringt, wären Investitionen in Bildung, Forschung und Entwicklung, weil die anderen das auch machen. Es kann sein, dass es zu einem dramatischen
Anstieg der Arbeitslosigkeit kommt. Und dass aufgrund dessen der Wohlstand sinkt. Man braucht immer Treiber, also Menschen die etwas vorantreiben und bewegen, aber ich habe auch großen Respekt vor Leuten, die das nicht können. So etwas kann nicht jeder. Über die Kunst des Ansagens
Wenn wir uns jetzt, wo wir den Vorsprung gerade verlieren, damit aufhalten, uns zum Beispiel mit den Todesurteilen der Amis zu beschäftigen oder wenn Asien wie auch Amerika die Menschenrechte nicht einhalten, dann werden wir weder den Opfern helfen können, noch uns selbst, weil wir den Vorsprung verlieren werden. Wenn man sich als Ziel vornimmt, den Vorsprung zu behalten, damit man denen auch erklären kann was Menschenrechte und Ökologie sind, was globale Erwärmung ist, dann müssen wir darauf achten vorne zu sein. Wenn wir hinten sind, können wir ihnen nichts mehr erzählen. Vom Schifliegen
Wo möchte ich hin? Der Weg dorthin ist unterschiedlich. Deswegen ist das Sprichwort: „Der Weg ist das Ziel“ eher unpassend. Ich denke eher, dass das Ziel das Ziel ist. „Der Weg ist das Ziel“ ist zuwenig klar formuliert. Ich fahre einfach los, egal wohin, dafür bin ich schneller dort, so funktioniert das nicht. Ich muss das Ziel im Kopf haben, dann wird sich der Weg schon finden. Der Weg verläuft dann immer irgendwie, ich muss oft eine Kurve einschlagen oder so, aber ich muss ständig mein Ziel vor Augen haben.
Erste Spuren • Den Uncoolen gehört die Zukunft, den Coolen ist sie zu gleichgültig. • Das Bedürfnis nach immer schnellerer Entschleunigung wächst. • Das Bedürfnis nach einer Bürgergesellschaft, in der sich die Menschen füreinander engagieren, ist groß.
18 I Leben
Burghard Kaltenbeck
Philosophische Höhenlage
Als steirischer Wirtschaftsförderer hat er gemeinhin mit Clustern, Innovation und Breitband zu tun. Das richtige Leben entdeckt der 50-Jährige Burghard Kaltenbeck allerdings am Schilift. Dann, wenn egal ist, welches Auto man am Parkplatz hinter sich gelassen hat und welche anderen Statussymbole man unten im Tal wieder für wichtig hält. Und deshalb ging es dann auch um Symbole wie Kindermilch-Schnitten und Coca ColaAutomaten. Herausforderung
Innovationsmanagement wird die wesentliche Herausforderung der nächsten Jahre sein. Innovation ist mehr als Forschung und Entwicklung. Innovation bezieht sich auf den organisatorischen, den finanziellen und den technischen Aspekt, und sie bezieht sich auf die Menschen mit der Frage: Wie schaffe ich mehr Flexibilität?
weckt, mit konkreten Projekten arbeitet. Es müssen Fertigkeiten gelernt werden, die stärker im persönlichen Bereich liegen. Kulturexport
Zwei Drittel unserer Wirtschaftsleistung verdienen wir über Export in der Steiermark. Und wir haben die mobilsten Arbeitsleute Europas, das ist ganz ein stilles Segment. Wir haben im Maschinenanlagenbau einen ungewöhnlich hohen Anteil von Leuten, die auf der ganzen Welt tätig sind. Wir leben von der Internationalität, das heißt auf Kultur übertragen: Wir müssten eigentlich auch zwei Drittel unserer kulturellen Leistungen und Erfindungen exportieren. Ich müsste eigentlich fragen: Wie viel, lieber Verein, exportierst du von deiner kulturellen Entwicklung? Wenn ich weiß, dass ich nur davon leben kann, dass ich sehr stark Export-orientiert bin, warum nicht auch in diesem Bereich?
Öko-Effektivität
Professor Michael Braungart vertritt die These der ÖkoEffektivität. Er redet nicht von Askese, sondern er sagt, wir sollen gut und viel verbrauchen. Nur die Produkte müssen so sein, dass sie dann wieder in Kreisläufe hineinkommen. Leider schauen die Produkte anders aus. Ich brauche nicht einen Fernseher, der aus 4.700 Stoffen besteht, wenn ich nur fernsehen will. Und ich muss das Fernsehgerät nicht besitzen, sondern ich kaufe die Nutzung. Und wenn der Verkäufer das Gerät dann wieder genauso zurücknehmen muss, schaut er auf ein ganz anderes Produkt. Er verkauft Ihnen 10.000 Stunden Fernsehen und verhandelt mit Ihnen darüber, was Ihnen das wert ist. Und das ist ein sehr schönes Bild eines anderen Denkens. Basisbildung
Die Schere in der Bevölkerung geht auseinander. Wenn man das Bildungssegment anschaut, hoffe ich, dass die Basisbildung hinaufgeht. Ich meine nicht den Spitzenbildungsbereich. Wenn es uns nicht gelingt, den Basisbildungsbereich anzuheben, dann wird es immer weiter auseinander klaffen. Es geht nicht um eine Zwei-KlassenMedizin oder -Gesellschaft, wir haben in Wahrheit schon die Vier-Klassen-Medizin. Die Frage ist, ob wir auch eine Vier-Klassen-Gesellschaft haben oder ob wir sozusagen drei Klassen haben. Es wäre schon ein schönes Ziel, wenn es durch eine gute Basisbildung nur drei Klassen wären. Wir brauchen ein breiteres Basiswissen, das Interesse
Lebensfreude
In Österreich ist Lebensfreude auf der Schipiste spürbar. Über tausend Höhenmeter wird für mich eine Veränderung sichtbar. Wenn man von oben herabschaut, werden auf einmal die Leute so klein, sogar die schönsten Autos sieht man nicht mehr. Da bin ich nur tausend Meter höher und kann schon nicht mehr wirklich erkennen, was was ist. Und allein die kleine Blickwinkelveränderung verändert schon. Da entsteht eine andere Lebensfreude. Durch den veränderten Blickwinkel, durch die Distanz. Vorbilder
Es bedarf mehr Vorbilder. Dafür müsste man die Leistungen dieser Menschen in einer weniger peinlichen Form öffentlich darstellen. Also nicht mit Lob und Hudeln.
Erste Spuren • Gewalt in der Schule wird ein immer drängenderes Problem. • Einsatz von Technologie für die Herstellung von guten, leicht verträglichen Nahrungmittel. • Die hohe Änderungsgeschwindigkeit und Dynamik erfordert mehr Stabilität als Ausgleich.
20 I Leben
Clarissa Mayer-Heinisch
Vom Verlust des Schattens
Jahrgang 1963. „Never a dull moment“ lautet ihr Motto und das lebt sie auch. Die studierte Publizistin und Politikwissenschafterin bezeichnet sich selbst als kulturgierig und engagiert sich demnach neben dem fast schon abgeschlossenen Großziehen dreier Kinder und der Arbeit als Journalistin in so manchem kunstnahen Kuratorium. An Graz schätzt sie vor allem die – nicht nur kulturelle – Lebensqualität. Und die Tatsache, dass es bis Wien nicht allzu weit ist. Kultur und Wirtschaft
Kultur ist für mich das Zugpferd für Graz. Die Leute, mit denen ich zu tun habe, die kommen eigentlich aus Kulturgründen. Das zweite Zugpferd ist sicher die Wirtschaft. Wir haben hier irrsinnig renommierte Firmen, die international tätig sind. Und es kommen auch viele zum Studieren her, die sich vielleicht dann in Graz ansiedeln, weil sie merken, dass das ein guter Boden ist. Ich glaube, das eine geht ohne das andere gar nicht, weil die Kultur ja nur funktionieren kann, wenn sie gesponsert wird, wenn statt diesen vielen Subventionen, Firmen, Privatleute oder Institutionen eine Verantwortung übernehmen. Ich glaube wir haben gute Nebeneffekte wenn Leute durch die Kultur hergezogen werden, lebt auch der Rest der Stadt ganz gut. Aber es sollten nicht nur die Großen gefördert werden. Es gibt ganz viel „kleinere“ Kunst, die unglaublich fördernswert ist und die zu kurz kommt. Da müsste man etwas ändern. Kultur als Erbe
Ich finde man sollte schauen, dass in der Stadt möglichst viel geschieht, und dass man nicht wegen dem Taferl „Weltkulturerbe“ Sachen verhindert. In dem Zusammenhang faszinieren mich die holländischen Städte. Rotterdam ist ein Paradebeispiel, wo die alte Stadt mit neuem Leben verbunden ist. Dort haben sich unglaublich tolle Namen betätigt, von Rem Koolhaas bis, ich weiß nicht, wie sie alle heißen. Ich finde, die haben das vorbildlich gemacht. Auch in Den Haag laufen viele moderne Sachen. Dort gibt es Museen und Stadtteile, die ganz modern sind und dann wieder Häuserzeilen, wo du denkst, du bist im Mittelalter. Diese Städte sind auch nicht viel größer als wir. Ich finde, das bildet eine schöne Einheit und ist daher so attraktiv. Ich glaube, der Charme der europäischen Städte muss sein, dass das Alte mit dem Neuen lebt.
Plätze
Ich finde die Plätze in Graz sind so scheußlich. Da haben die Stadtplaner für mich komplett versagt. Der Jakominiplatz ist durch diese vielen Stangen total verhaut. Der Tummelplatz wäre schön, aber der ist so unbelebt und irgendwie trostlos. Ich glaube der einzige Platz, der irgendwie funktioniert, ist der Franziskanerplatz und der Färberplatz, wo ein Leben, ein Kommen und Gehen an Menschen stattfindet. Der Karmeliterplatz ist auch kaputt gemacht worden, was dazu geführt hat, dass die obere Stadt total tot ist. Über so eine Art Platz geht kein Mensch drüber. Wo sollst du hin, wo kommst du her? Ich glaube, dass ein Platz nur mit Leben Sinn macht. Außerdem finde ich wahnsinnig schade, dass der Uhrturmschatten weg ist. Der hat unseren hässlichen Uhrturm ein bisschen belächelt, das habe ich gut gefunden. Diese Art von Selbstironie hat mir gefallen. Kinderloser Egoismus
Die Kindersituation ist katastrophal. Ich finde es liegt sehr an unserer Politik und an einem totalen Egoismus der Leute. Die Gesellschaft hat sich fürchterlich verändert. Vom Zusammenhalt in einer großen Familie zu einer One-Man-Show. Jeder möglichst auf seinen Vorteil bedacht. Ich denke aber , dass es sich wieder umdrehen wird, weil ich glaube, dass die Leute so eigentlich unglücklich sind. Ich glaube auch, dass das Glück sich eher generiert aus dem Familienverband, aus dem Freundeskreis, aus einem funktionierenden Arbeitverhältnis, aus vielen solchen Details. Ich bin sicher, wir werden auch 2017 mehr denn je finden, dass das eigentlich unsere Glückseligkeit ausmacht. Und ich glaube, das wird sich noch verstärken, durch die Erfahrung, die man machen wird, wenn das jetzige System kaputt geht.
Erste Spuren • Schule ist fad. Das Berufsbild Lehrer hat einen schlechten Beigeschmack. • Wenn Leute durch Kultur angezogen werden, profitiert auch der Rest der Stadt. • Alte städtische Strukturen und moderne Architektur müssen stärker miteinander verknüpft werden.
Leben I 23
Barbara Porotschnig
Bessere Gesellschaft
Jahrgang 1978. Studiert an der FH Joanneum Sozialarbeit und Sozialmanagement. Ist Mutter eines Sohnes und wollte nicht hinnehmen, dass man als allein erziehende Studierende in Graz im Wortsinn auf sich allein gestellt ist. Zielstrebig wie sie ist, gründete sie daher „WohIn“. Eine Wohn- und Netzwerkinitiative für all jene Menschen, die in ähnlicher Situation Rat und Tat brauchen. Und seit einem Praktikum in Indien vermisst sie die Wärme hierzulande noch öfter. Nicht nur die soziale. Lebensweltorientierung
Ich vermisse in der Gesetzgebung die Berührungspunkte mit den Lebenswelten von Menschen. Sind das wirklich die Standards, dass man Gesetze haben muss, die teilweise aus dem 19. Jahrhundert sind? Ist das noch adäquat? In der Familienpolitik zum Beispiel? Und das soziale Netz, das ja eigentlich in einem Sozialstaat wie Österreich da sein sollte, ist so grobmaschig, dass man trotz alledem sehr leicht durchfallen kann. Warum macht man solche Gesetze? Übersieht man die Lücken? Das glaub ich eher nicht. Aber welche Kräfte stehen dahinter und wie kann man das irgendwie wieder ins Lot bringen? Soziales Engagement
In Sachen Bürgerengagement können wir uns aus dem angloamerikanischen Raum viel abschauen. Dort gehört es zum guten Ton, sich sozial zu engagieren. Aber ich denke mir, grad für junge Leute wäre es wünschenswert und eine tolle Gelegenheit, wenn sie sich für eine gewisse Zeit wenigstens einmal in eine NGO, in eine NPO hineinsetzen würden und dadurch, egal welchen Beruf sie ergreifen, andere Perspektiven mitbekämen. So wie es in Amerika Firmen mit ihren Top-Managern machen und sagen: „Schau dir das jetzt drei, vier Monate an.“ Außerdem finde ich nicht gut, dass die Arbeit, die von unseren Familien in der Altenpflege, in der Kinderbetreuung und, und, und, geleistet wird, nirgendwo aufscheint. Imagepflege
Wir im Sozialbereich arbeitende Menschen sind noch immer als Rasta-, Birkenstock und Wollpulli-tragenden, Haschisch-rauchende Hippies verschrieen. Man wird gesellschaftlich fast ein bisschen geächtet, weil man mit den Klientinnen und Klienten in ein Boot geschmissen wird. Das heißt, wenn man sich um Asoziale kümmert,
kann man selbst nicht viel besser sein. Oder man muss doch irgendwo ein Rad abhaben, wenn man sich um Haftentlassene kümmert. Relativ gute gesellschaftliche Akzeptanz gibt es nur im direkten Umfeld von Behörden, aber ansonsten sind wir die schrägen Vögel, die im „Vinzidorf“ und so weiter arbeiten. Und da erhoffe ich mir für die Zukunft schon eine Änderung. WohIn
Als ich als junge Mutter nach Graz kam, habe ich mir gedacht, es wäre wünschenswert mit anderen Gleichgesinnten zusammenzuwohnen. Ich war sehr erstaunt, dass es so etwas nicht gibt. Wenn eine Studierende mit Kind keine Familie am Studienort hat, dann muss so etwas geschaffen werden – das kann ja nicht so schwer sein. Wir wollten ein Netz bilden, weil die Alleinerziehenden in Graz oft in der Anonymität versinken und ihre Situation mit niemandem teilen können. Und damit neben dem Studium überlastet waren. Mit einem Kind war es nur für die wenigsten möglich, eine WG mit irgendjemandem zu teilen, wo man sich ein bisschen ergänzen kann. Das heißt, die meisten haben eine eigene Wohnung. Der beste Nährboden für Depressionen. Denn was tut man, wenn das Kind am Abend schlafen geht? Man sitzt allein zu Hause. Sobald es aber einen Austausch mit einer anderen Person gab, der es ähnlich ging, war auch eine viel bessere psychische Ausgangssituation da. Das versteh’ ich eben mit lebensweltorientierter Arbeit. Dafür haben wir auch einen Innovationspreis überreicht bekommen. Das Problem ist ganz einfach: Es findet zwar jeder unsere Idee gut und wichtig, unterstützungswürdig, ausgereift und sinnvoll – Sie können alle Adjektive einsetzen, die Sie wollen – nur Geld gibt es keines. Unsere Vision ist trotzdem, dass wir das erste Haus bis Herbst 2006 fertig finanziert haben.
Erste Spuren • Mehr „Corporate Citizenship“, wo Wirtschaft und soziale Einrichtungen besser Hand in Hand arbeiten. • Es fehlen Netzwerke für Alleinerziehende. Vor allem für Studierende. • Gesetze sind zu wenig an der tatsächlichen Lebenswelt der Menschen orientiert.
Leben I 25
Bertram Werle
Der biologische Imperativ
Wir fragen uns, warum Vorarlberger (siehe auch Ernst Giselbrecht) in ihrer Denke so unverkrampft sein können. Eine wissenschaftlich fundierte Antwort darauf haben wir auch bei Bertram Werle noch nicht gefunden. Unser Versuch: Er studiert zuerst Biologie. Und dann Raumplanung. Dann wird er Stadtbaudirektor zu Graz. Aber ganz ganz eigentlich ist er auf der Suche nach dem wirklichen Kern des Selbst. Nach dem klaren Moment. Wissen Sie jetzt was wir eingangs meinten? Nur das Beste
Graz ist mit Abstand die attraktivste Stadt Österreichs. Graz ist eine Stadt, die sich auszeichnet, weil sie alle technischen Kriterien wie Mindestgröße und Dichte, Infrastrukturausstattung, Bildung, eigene Universität sowie Oper erfüllt. Trotz dieser Größe hat die Stadt noch ein klares Zentrum. Der innerste Kern ist auch wirtschaftlich sehr erfolgreich, in den Randbereichen schaut es freilich etwas anders aus. Darüber hinaus ist Graz noch überschaubar und hat eine klimatische Begünstigung. Die Stärken der Stadt
Die Debatte ist nicht neu: Einkaufszentren am Stadtrand versus Innenstadtlagen. Längerfristig betrachtet gewinnt die Innenstadt. Sie bietet in jeglicher Hinsicht mehr Qualität. Das beginnt schon damit, dass diese künstlichen Einkaufszentren oder sogar "cities" nichts anderes sind als nachgebaute, überdachte Innenstädte. Das bietet Bequemlichkeit, das wiederum kostet Geld. Alles unter einem Dach mit Gratis-Parkplatz. Ansonsten ist es ein billiger Abklatsch, architektonisch auf geringstem Niveau. Die Stadt dagegen erlebe ich immer noch als einzigartige Struktur. Je schneller und hektischer ein Leben abläuft, umso mehr braucht der Mensch diese Ruhezeiten. Wenn sich die Stadt auf ihre Stärken besinnt und diese ausbaut, wird sie Zukunft haben, weil sich die Konkurrenz auf Dauer nicht durchsetzen wird. Jeder ist sich selbst der Nächste
Die individuelle Mobilität führt zur kollektiven Immobilität. Je mobiler ich werde, je eigenständiger, je egoistischer ich mich in der Gesellschaft durchsetze, bezogen auf die Mobilität, umso stärker führt das kollektiv zu einem Stillstand. Ein Stau ist ja nichts anderes. Das kann auch auf andere Bereiche übertragen werden. Es ist grotesk, dass ich mit dem Flugzeug günstiger nach London komme als mit
der Bahn. Diese paradoxen, nicht kostenbewussten Systeme sind die Stilblüten unserer Entwicklung, ein letztes Aufbäumen vor dem Kollaps. Man kann das auch in der Natur beobachten: Eine Fichte wirft noch einmal so viele Zapfen aus wie noch nie und stirbt zwei Jahre danach, um die letzte Energie in die Nachkommenschaft zu stecken. Der Mensch hat das auch sehr lange in seiner Entwicklung befolgt. Das Gemeinsame kam vor dem Individuellen. Der Wohlstand hat ermöglicht, dass sich der Einzelne von den Bedürfnissen der Gesellschaft emanzipieren konnte. „Privat“ kommt eigentlich ja vom lateinischen „privare“, das heißt „rauben“. Man raubt etwas der Gesellschaft und erhält damit ein exklusives Nutzungsrecht. Wenn es z.B. nur mehr Einfamilienhausteppiche gibt, dann raubt man der Gesellschaft gemeinsam nutzbaren Raum. Es ist ja schon äußerst schwierig, für Kinder Spielplätze zu bauen. Irgendwann ist aber eine Sättigung im Privaten da, und ab dann kann man nur mehr verlieren. Maschinen entwickeln Maschinen
Der Takt der Fortpflanzung liegt bei einem Menschen in etwa bei 25 Jahren. Ein Bakterium braucht dafür 20 Minuten, so hat es viele Möglichkeiten, Merkmale auszuprobieren. Nachdem das beim Menschen ziemlich langsam geht, bin ich der Meinung, dass uns der technische Fortschritt überrollt hat. Maschinen können schon Maschinen entwickeln – das wird sicher immer schneller gehen, während wir in 15 Jahren noch die Gleichen sein werden.
Erste Spuren • Die Zukunft ist nicht völlig verändert, vieles ändert sich nur wenig und langsam (Werte, Mentalität, politische Ordnung). • Individuelle Vorteile sind kollektive Nachteile, besonders deutlich wird das im Verkehr. • Der technische Wandel ist viel zu schnell für die menschliche Natur. • Die Baulandverfügbarkeit nimmt ab, dadurch „rückt man wieder näher zusammen.
Arbeit I 27
Herbert Paierl
Unternehmen statt unterlassen
Er ist von acht Jahren Politik als ganz normaler Mensch zurückgekommen, hat von Fußball nur bedingt Ahnung und versucht gerade ein oststeirisches Unternehmen zu kaufen. Insgesamt stellt er also eine Mischung aus Pischelsdorf und Shanghai dar. Und er kriegt bei „Jumpin Jack Flash“ von den „Rolling Stones“ auch heute noch eine richtige Gänsehaut. Applikation statt Innovation
Nicht die Innovation ist der Treiber, sondern die Applikation, die die Innovation anwendungsfreundlich macht. Die Innovation ist falsch interpretiert worden. Es ist schon viel erfunden worden, was nie kommen wird. Entscheidend wird sein, wie Innovation zu einer Marktinnovation gemacht wird, um eine möglichst gute Marktdurchdringung zu erreichen. Die Orientierung geht in Richtung: „Der Kunde irrt nie.“ Graz und andere Städte
Wien hat sich in den letzten 30 Jahren fantastisch entwickelt. Der Schwellenwert scheint eine Million Einwohner zu sein. Graz hat mit den Suburbs cirka 350.000 Einwohner und damit auch schon eine gewisse Kraft, aber man braucht mehr Spezialisierung als in Großstädten. Graz muss eine Marke werden. Das Schlimme ist: Graz hat nicht einmal einen Schandfleck. Graz hat keine wirkliche Krise, es dümpelt nur so dahin. Es hat ein junges Potenzial über die Hochschulen, Graz müsste eine Eliteuniversitätsstadt wie Cambridge werden.
Was kommen wird
Es mag auch typisch österreichisch sein, sich selbst aus der Verantwortung herauszunehmen. Als Beispiel kann man vielleicht hier die extrem schlechten Umfragewerte in Österreich zur EU nehmen. Schuld ist immer der andere/Ausländer/Türke/Slowene/Franzose. Anzeichen für eine große Änderung sind Finanzierungsprobleme der Ineffizienzen und Ungerechtigkeiten im System. Es wird eine Finanzkrise kommen, vielleicht eine Insolvenzsituation. Unternehmertum
Ein unternehmerischer Mensch ist jemand, der sich mit den sehr komplexen Kreisläufen, Abläufen des Lebens auseinandersetzt. Mit den richtigen Fragen kann man ökonomisch entsprechende Antworten erhalten und einen ökonomischen Ansatz gewinnen, womit man in Folge sein Geld verdienen kann. Wie ein Hochschullehrer, der nicht bloß theoretisiert, sondern eine Marktbearbeitung ableitet. Dafür braucht er Partner, Kommunikationstalent, Wahrnehmung, Flexibilität und vor allem Risikobereitschaft. Ein Unternehmer ist kein Unternehmer, wenn er etwas macht, das nach allen Seiten sicher ist. Sicherheit
Persönliche Sicherheit ergibt sich aus den „opportunities“, den Möglichkeiten, die sich überall ergeben. Und die Möglichkeiten stehen wieder im Zusammenhang mit der Entwicklung. Auch dieser Trend wird sich fortsetzen. Das Leben wird grundsätzlich leichter werden, die Frage ist nur, ob ich es verstehe und wahrnehme.
Selbstverantwortung
Es geht darum, seine eigene Position im „big picture“ festzulegen. Es nützt nichts, selbstausbeuterisch zu agieren, unverantwortlich gegenüber der Gesellschaft zu sein und dann aus einem Gewissensnotstand heraus, öffentlichkeitswirksam 100 Euro zu spenden. Die Eigenverantwortung wird stärker zum Tragen kommen. Ich war an einem Platz, wo Schwerstbehinderte wieder gehen, essen und trinken lernen. Diese Menschen haben trotz Aussichtslosigkeit eine große Energie, wieder neu anzufangen. So muss es sozusagen für den „Normalen“, der alle möglichen Hilfen, die ihm geboten werden, ausschöpft, auch möglich sein. Das Problem in unserer Sozialpolitik ist, dass sie das von vornherein unterbindet und die Einstellung „Ich lasse mich bedienen“ fördert. Die eigentliche Würde besteht darin, den Menschen die Möglichkeit zu geben, es zu versuchen.
Erste Spuren • Die öffentlichen Systeme schlittern in eine Finanzkrise, ohne die es keinen grundlegenden Wandel geben wird. • Persönliche Sicherheit entsteht durch das bewusste Eingehen von Risiko und das Vertrauen darauf, dass sich überall Gelegenheiten ergeben werden. • Als Gegengewicht zur zunehmenden Virtualisierung der Arbeitswelt gewinnt das kulturelle, soziale Agieren an Bedeutung.
28 I Arbeit
Sabine Herlitschka
Per Anhalter durch die Galaxis
Doktorin der Biotechnologie, Wirtschaftstechnikerin, MBA, Forschung, Wissenschaft, Europäische Union – Sabine Herlitschka sammelt Wissen und Erfahrungen wie andere Pokale. Interdisziplinarität ist dabei das eine. Ein Wechsel der Möglichkeiten das andere. Und dieser Wechsel hat in ihrem Lebenslauf Kontinuität. „Lernen im Gehen“ würde der Systemiker sagen. „Ich kann mir auch vorstellen, einfach auszusteigen“ relativiert es Sabine Herlitschka. Zur Zeit ist die Teilzeitgrazerin Vizerektorin an der Medizinischen Universität Graz.
Nivellierung
Sind wir wirklich alle gleich? Wenn man vom Universitätszugang spricht: Wie geht man mit Eliten um? Ich meine nicht finanzielle Eliten, sondern einfach Leute, die anders sind, die in ihrer Kategorie besser sind. Müssen wir alle gleich sein? Muss jeder den gleichen Zugang haben oder wollen wir nicht überall die Besten haben für einen speziellen Bereich? Wir haben europaweit einen sehr geringen Anteil an Studienabsolventen, trotz des so genannten freien Universitätszuganges, den wir hatten. Wir haben laut Benchmark zuwenig Akademiker. Aber wir haben auch eine Akademikerarbeitslosigkeit.
Universität gründen
Im Rektorat der neuen Medizin-Universität Graz haben wir im Oktober 2003 mit praktisch nichts angefangen. Wir haben alles neu aufgebaut. Und es war überhaupt nicht klar, in welche Richtung das gehen wird. Auf der anderen Seite konnte niemand sagen: „Das haben wir noch nie so gemacht, das hat so nie funktioniert.“ Oder: „Das haben wir immer so gemacht.“ Wir haben 1.500 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, es ist ein großes Unternehmen mit vielfältigen Anforderungen: Wir als medizinische Universität müssen exzellent in der Krankenversorgung sein. Wenn nicht, haben wir die regionalen Medien und die regionale Bevölkerung sofort gegen uns. In der Lehre müssen wir national besonders gut sein. Und in der Forschung werden wir international verglichen.
Karrierebilder
Selbstentwicklung wird immer wichtiger. Glauben und Selbstentwicklung. Und Flexibilität wird ganz essentiell sein. Ich glaube, die lineare Richtung – man studiert etwas und macht dann diesen Job, und den macht man fast immer – das spielt es nicht mehr. Die Karrierebilder heute sieht man meistens horizontal: Man studiert irgendetwas, oder man hat irgendeine Ausbildung und macht dann etwas, je nachdem, wie es sich entwickelt. Ich glaube, das sind die besseren Erfolgswahrscheinlichkeiten. Also Flexibilität als Fähigkeit.
Die Insel der Seligen
Österreich ist keine sehr innovative Gesellschaft. Oder genauer: Österreich ist eine hochgradig innovative Gesellschaft insofern, als sie kleine Innovationsschritte durchsetzt und damit sehr erfolgreich ist. Das österreichische Wirtschaftswunder ist so möglich gewesen. Aber wir sind keine Wissensgesellschaft und das wird uns auf den Kopf fallen. Österreich hat ein paar Rohstoffe und es hat nicht viel Land. Österreich hat zum Teil schöne Gegenden – und das ist es auch schon. Wir sind in der Produktion nicht so billig wie andere. Österreich hat also jeden Grund, sich etwas zu überlegen. „Wenn die Produktion weg geht, geht auch die Forschung weg“, sagt der Wirtschaftsnobelpreisträger Vernon Smith. Nach dieser Logik bräuchten wir sehr viel Produktion, damit hier auch Forschung stattfinden kann.
Erste Spuren • Die Planbarkeit von Karrieren nimmt ab. Karrieren
verlaufen immer häufiger „horizontal“, indem Personen ihren Arbeitsbereich wechseln (z.B. Hochschule-Industrie-Bildungsmanagement) und immer weniger vertikal (lebenslange Karriere in einer Firma bzw. einer Branche). • „Aussteigen“ als Lebensentwurf; alternative Lebens-
entwürfe allgemein werden wichtiger. • Forschung und Entwicklung finden dauerhaft nur
dort statt, wo auch produziert wird.
30 I Arbeit
Mathis Huber
Der Fuchs im Schafspelz
Würde hierorts nach einer Maßeinheit für Kultiviertheit gesucht, hätten wir einen Vorschlag: Wir plädierten nämlich ganz vehement für „1 Huber“. Der gleichnamige styriarte-Intendant und Nebenerwerbslandwirt kann Kultur nicht nur denken, erfinden, organisieren und vermitteln. Er manövriert sie auch noch durch wirtschaftliche, politische und andere Abgründe. Und zwar immer so, als ob er nicht dabei gewesen wäre. Arbeit
Arbeit ist ja kein gottgegebenes, naturgesetzliches Etwas, sondern es ist einfach ein notwendiges, aus der Massivität sich ergebendes Übel. Für mich ist Arbeit und Vergnügen eine untrennbare Einheit. Ein Idealzustand. Es geht darum, dass man ein Projekt realisiert, irgendetwas vom Anfang bis zum Ende bringt, das ist die Aufgabenstellung, und die macht auch glücklich. Eine Gesellschaft, die darauf hinsteuert, dass die Notwendigkeiten der Bewältigung des Alltags von einem kleinen Teil der Gesellschaft erledigt werden kann, muss versorgt werden. Die Mühen des 19. und 20. Jahrhundert haben wir glücklich auf technologische Errungenschaften verschoben, mit dem Unglück, dass die Menschen, die nichts in der Hand haben zum Schrauben und Klopfen, nicht wissen, was sie mit ihren Händen anfangen sollen. Es ist wichtig, diese Menschen nicht zu passiven Empfängern von Stimulanzien werden zu lassen, sie dumm und taub zu machen, indem man ihnen einen Kitzel nach dem anderen bietet. Kunst und Gesellschaft
Gesellschaftsentwicklung ist mein Lebensthema. Es ist im Wesentlichen der Aspekt der Kunst, als ungefährliches, aber effektives Medium der Gesellschaft zur Glückmaximierung zu verhelfen. Wir arbeiten am Glück und an den Seelen der Menschen, aber das ist keine Arbeit, die Menschen Gewalt aussetzt. Deshalb, weil wir keine Antworten geben, sondern nur Fragen stellen oder Dinge thematisieren. Kein Musikstück ist in der Lage, eine Antwort zu geben, aber es ist in der Lage, einen Bewusstseinszustand herzustellen, indem ich mich einer Entscheidung stelle oder nicht. Die Kunst macht Angebote und sie macht glücklich, wenn man sich darauf einlässt, das heißt aber nicht, dass ich springe und lache, sondern es kann auch sein, dass sie mich in Melancholie versetzt, aber so, dass ich nicht genötigt bin von der nächsten Brücke zu springen.
Aktiv versus Passiv
Um mündige und glückliche Menschen zu ermöglichen, ist ein wesentlicher Aspekt, ihnen den Umgang mit Kunst zu offerieren, aber idealerweise aktiv. Wenn ich heute ein Konzertpublikum habe, dann nimmt es passiv an den Erlebnissen teil, was schön ist, was aber nicht das volle Glück bedeutet. Denn das volle Glück entsteht, wenn man sich aktiv in eine künstlerische Auseinandersetzung begibt. Ich bin natürlich auch in einer Situation, wo alle im Stress sind, aber wenn wir zusammenfinden und uns ein paar Lieder genehmigen, dann bedeutet das eine halbe Stunde am Tisch, wo man nichts braucht und alle sind glücklich. Zukunftsmodell
Ich würde sagen, versuchen wir so ein Modell aufzubauen, wo wir den nachwachsenden Generationen jede Möglichkeit geben, sich künstlerisch zu verwirklichen. Nicht nur auf die Musik reduziert, sondern auch beim Tanz und im bildenden Bereich. Sie sollten in die Lage versetzt werden, Kreativität ausleben zu können. Das halte ich für das attraktivste Konzept für eine Gesellschaft, die sich das leisten kann und sich das auch leisten will. Es sollte bei einer nachhaltig gedachten Zukunftskonzeption nicht so sehr darum gehen, was unserer Wirtschaftsentwicklung nutzt, quasi wie bekommen wir Ingenieure die unsere definierten Profile lösen. Ich würde es für interessant halten, das Nutzlose zu forcieren und sich darauf zu verlassen, dass die Menschen die Zeit haben sollten, das Denken an sich zu lernen und nicht das Denken in Schemen. So wird man vermutlich auch mehr Glück für die Leute erzeugen und wenn man mehr Glück für die Leute erzeugt, würde ich die These aufstellen, dass die Gesellschaft dann auch besser funktioniert, weil weniger Sand im Getriebe wäre.
Erste Spuren • Wahnsinniges produzieren und konsumieren, das mutwillig auf Nachhaltigkeit verzichtet, führt uns in den Kollaps. • Kunst ist ein wesentlicher Faktor im Hinblick auf eine verantwortungsvolle Glücksmaximierung einer Gesellschaft. • Das volle Glück entsteht, wenn man sich aktiv in eine künstlerische Auseinandersetzung begibt.
Arbeit I 33
Gertraud Monsberger
Kirschen in Nachbars Garten
In Kärnten aufzuwachsen prägt. Da ist einerseits die Großfamilie, der Bergbauernhof und die Natur. Also der Bezug zu den wichtigen Dingen des Lebens. Und andererseits der Drang wegzukommen. Zuerst nach Wien. Nach Deutschland. In die Schweiz. Jetzt denkt und gestaltet die Gartenarchitektin von Graz aus. Wenn sie nicht gerade mit ihrem Mann durch Kambodscha oder Burma reist. Aber auch das ist pure Inspiration. Nachbarschaft
Die Japaner zum Beispiel, die bauen wirklich so, dass, wenn der Nachbar einen schönen Garten hat, man die Raumplanung so macht, dass man den mitnutzen kann. Oder man baut ein bisschen höher und schaut rüber auf den Garten. Ich weiß das zufällig, weil ich einen Kunden habe, der Japaner ist und der sagt: „Dass ist so ein schöner Garten da drüben und in Japan macht man das auch so, dass man diesen Ausblick mitnutzt.“
wollen. Das ist interessant, wenn sich Kulturen wie zum Beispiel die Weinkultur und die kulinarische Kultur entwickeln. Es ist ein ganz wichtiges Thema, speziell in meinem Bekanntenkreis, dass man gut kocht, dass man etwas Besonderes kocht, dass man Leute einlädt und Gartenfeste macht. Das führt zu einer neuen Sinnlichkeit. Worauf es ankommt
Ich habe drei Neffen und Nichten auf dem Bauernhof, die völlig frei aufwachsen, einen Bezug zur Natur und zu den Materialien bekommen, aber auch natürlich in so einem Familienkreis aufwachsen, wo immer irgend jemand da ist, die Eltern oder die Großeltern. Das finde ich schön, dass sie den Bezug, sowohl zu ihren Geschwistern, Eltern, Großeltern, als auch zu allen Generationen haben und damit auch gut umgehen können. Das ist auch für mich ein großer Vorteil. Ich tu mir mit keiner Altersschicht schwer, weil ich einfach damit aufgewachsen bin. Und das nächste ist, dass sie einfach lernen, sich selbst zu beschäftigen.
Verlorene Kenntnisse
Es ist für mich persönlich oft sehr erschütternd, auch meine Generation kennt sich überhaupt nicht mehr aus. Es ist auf der einen Seite die absolute Sehnsucht da, nach Natur, nach Grün. Aber auf der anderen Seite nicht so, dass man sich wirklich da hineinkniet und Bücher liest. Sie werden das auch noch kennen von ihren Eltern. Die haben einfach gewisse Sachen noch gewusst. Oder sie haben sich den Garten selbst angelegt, gewusst, wie man Ribisel oder Himbeeren kultiviert, wie man das anpflanzt.
Zur Motivation
Ich hab das Glück gehabt, einen Chef zu haben, der lange in Amerika war, das finde ich einfach toll, ganz locker und man kann sich trotzdem verlassen. Und dann auch, dass man auf die Wünsche und Bedürfnisse der Mitarbeiter eingeht. Ich merke sofort, wenn ein Mitarbeiter eine Woche Urlaub braucht und dann schicke ich ihn auch.
Arbeiten im Grünen
Im Büro gibt es für mich zwei Aspekte, warum man den Garten nicht vergessen sollte. Der erste ist, dass man dort Kundenkontakte hat und es ist der erste Eindruck, der zählt. Wenn ich hinkomme und da ist eine Betonwüste mit ein paar verhungerten Bäumen, ist das schlecht. Der zweite Aspekt ist, dass ich die Mitarbeiter absolut motivieren kann, wenn sie zu Mittag oder kurz in der Rauchpause hinaus können. Diese zwei Aspekte sind nicht zu unterschätzen. Aber das wird bei uns in Österreich völlig unterbewertet. Sinnlichkeit
Zukunft generell, für die Menschheit gedacht, sind die Themen Wohlfühlen und Genießen. Arbeit natürlich, aber die meisten sind ja so gefordert, dass sie sich dann in der wenigen Zeit, die sie haben, wohl fühlen und genießen
Erste Spuren • Das Arbeiten im Netzwerk wird immer mehr. Man kauft sich Leistungen zu, die man aus zeitlichen oder Know-how-Gründen nicht hat. • In der Gartengestaltung bemerkt man bereits ein neues Rollenbild. Es entscheidet die Frau. Bezahlen tut dann der Mann. • Es wird in Österreich anonymer werden. Leute koppeln sich wieder mehr ab.
Arbeit I 35
Stefan Stolitzka
Die Kraft der freien Radikale
Die Kunst der Überraschung ist eine hohe. Stefan Stolitzka hat uns verblüfft. Einerseits ist der „Legero“Eigentümer Industrieller. Ein ziemlich erfolgreicher zudem. Andererseits ist er Kunstsammler. Leidenschaftlicher. Deshalb wissen wir seit kurzem, warum Tillmans, West und Kippenberger mehr zu sagen haben als Horx, Gerken oder Naisbitt. Und das gibt er uns und seinen drei Kindern mit auf den Weg. Bewusster Leben
Zum Beispiel ist es ein ganz wesentlicher Trend, dass die Menschen wieder zurück zu sich selbst finden möchten. Und auch für sich selbst bewusst mehr tun wollen. Aber nicht in einem überzogenen Bereich, dass sie weiß Gott wofür jetzt 100 Berater brauchen, sondern es wird viel simpler sein. Das Umfeld um sich erleben, in die Natur gehen, also einfach spazieren gehen und das bewusst erleben. Weniger Gimmicks
Keiner ist heute mehr interessiert, dass sich alle drei Jahre das Autodesign ändert, sondern man ist an ganz anderen Qualitäten interessiert. Dass das Auto gut funktioniert und nicht ständig ausfällt. Die ganzen Gimmicks braucht man nicht. Keiner von uns nutzt, was das Handy alles kann. Viel lieber wären uns vielleicht Handys, die besser hineinpassen und bestimmte Grundfunktionen erfüllen bzw. einfach funktionieren, und dass auch der Akku lange funktioniert. Ich glaube, da wird sich sehr viel im Bewusstsein der Menschen ändern.
Der tiefe Puls der Zeit
Für mich ist das Lernen ständig dabei. Ich muß sagen, dass ich am meisten über meine Beschäftigung mit der zeitgenössischen Kunst lerne, weil ich damit lerne, am Puls der Zeit zu sein. Also nicht am allgemeinen, oberflächlichen Puls, sondern ich meine da diesen ganzen sensiblen, tieferliegendenen Puls. Da bin ich wirklich in einem ständigen Lernprozess. Also alles was jetzt kommt, hat in der Kunst schon vor fünf, sechs, sieben Jahren begonnen, sich abzubilden. Ein neues Handwerk
Ich spüre eine große Begeisterung für Handwerkliches. Zum Beispiel für einen Tischler, der wunderbare Sachen aus Holz machen kann. Ich glaube, dies wird verstärkt kommen. Ich glaube, die Menschen werden wieder bereit sein, mehr für solche Dinge auszugeben – für eine Einrichtung aus vollem Holz, eine Küche oder einen Tisch wirklich vom Tischler. Es wird wieder eine Bereitschaft geben, mehr für Handwerkliches zu bezahlen. Europas Potenziale
Wo gibt es auf so engem Raum auch so viele Kulturkreise oder diese abendländische Kultur, so viele verschiedene Sprachen? Im Wesentlichen kommt alles aus einem Kulturkreis, aber trotzdem mit sehr unterschiedlicher geprägter Geschichte. Daraus können wir, glaub ich, das größte Potential schöpfen, um querzudenken, geistig rege zu sein und neue Dinge zu schaffen.
Freies Denken
Als neue Gegenstände würde ich Toleranz einführen und Interdisziplinarität. Und Kulturlehre. Das wäre zum Beispiel ein Hauptgegenstand. Ein weiterer ganz wesentlicher Gegenstand wäre für mich freies Denken. Das heißt, anders zu denken, dass ein Querdenken erlaubt ist. Ich kann z.B. sagen: eins plus eins ist drei. Einfach, um zu lernen, anders zu denken, zu provozieren. Zeit aufzubegehren
Meiner Meinung nach ist es immer an der Zeit, aufzubegehren. Nur das kann auf der einen Seite vielleicht sogar ein Regulativ sein, was die Politik anlangt, und auf der anderen Seite kann uns das alle weiterbringen. Das heißt, ich brauche keine Anarchie. Es ist einfach nur zu erlauben, dass man die Dinge anders sieht, anders denkt.
Erste Spuren • Wer braucht schon alle drei Jahre ein neues Auto? Zeitlosigkeit wird wieder ein Thema werden. • Entscheidend ist, welche Möglichkeiten der Mensch in den ersten 18 Jahren hatte. • Der Punkt ist, dass sie in Fernost bereits Technologien in der Fertigung haben, die wir in Europa gar nicht haben. Da bestehen bereits Abhängigkeiten.
36 I Arbeit
Alexander Wolfensson
Permanenter Allradantrieb
Aufgewachsen in Zagreb, ein paar Jahre zur wirtschaftlichen Lehre nach London – aktuellerweise versucht Alexander Wolfensson den Grazern eine Art textiler Missionar zu sein. Seinen vier Couture-Boutiquen will der 37-Jährige ein Kaffeehaus und ein kleines Hotel anfügen und ist so auf dem besten Weg zu einem eigenen Stadtteil. P.S.: Vergangenen Freitag wurde Wolfensson zum vierten Mal Vater. Noch Fragen? Pioniere in Graz
Ich wünsche mir in allen Bereichen Pioniere. Weil wir in Graz gar nichts haben. Wir könnten uns in jede Richtung bewegen, verglichen mit Salzburg, Linz oder wie auch immer. Nur: was uns eindeutig fehlt, ist einfach eine gesunde, junge Szene, weil von da der ganze Spirit kommt, von dort kommen frische und junge Ideen. Es kommt auch kein junger unternehmerischer Wind. Wenn man in einer Stadt wäre, wo man den Druck von hinten bekommt, wo man nicht Zeit hat, faule Spiele zu spielen, dann muss man auch Gas geben und etwas machen und auch zeigen, was man drauf hat – oder man ist weg.
Mode, sondern wir versuchen etwas auszudehnen, diese Lebensphilosophie versuchen wir zu verkörpern. Nur dann haben wir Glaubwürdigkeit. Das betrifft auch die Mitarbeiter. Mitarbeiter reflektieren nichts anderes als die Denkweise von Personen, die ganz oben stehen. Was wirklich dahinter steckt
Die ideale Boutique für mich ist das, was ich mache. Vielleicht ist es für einen anderen in Australien etwas anderes. Was man verkörpert, was man empfindet, versucht man in irgendeiner Form weiterzubringen mit Architekten und Designern. Die ideale Boutique ist einfache eine Boutique ohne Kompromisse, also eine ehrliche Geschichte. Das ist enorm wichtig, weil Unehrlichkeit früher oder später entlarvt wird, das hat keine Zukunft. Ich behaupte, 95 % aller Geschäfte in unserer Umgebung sind nicht ehrlich. Die Großkonzerne funktionieren, weil sie ehrlich sind, weil sie auf Geld ausgelegt sind, da wissen wir, was dahinter steckt. Alle die, die lauwarm sind oder versuchen, ein bisschen Image zu verkörpern, aber ein bisschen dann doch zu verdienen, aber doch nicht wirklich eindeutig sind, die haben riesengroße Probleme.
Von 0 auf 100
Hier in Graz sind gewisse Strukturen aufgebaut, die haben viele junge Menschen heute schon von zuhause mitbekommen, die haben Angst, dass sich das in irgendeiner Form ändern kann. Ich glaube, dass wir in einer unglaublich schnelllebigen Zeit leben. Und hier leben wir in einer Gesellschaft, die einfach Stillstand haben möchte. Und das funktioniert nicht, weil diese Schnelllebigkeit immer schneller und schneller wird, leider oder zum Glück, und dementsprechend muss man auch agieren. Ich glaube, dass die Periode zwischen 2006 und 2017 wesentlich schnelllebiger wird als die 11 Jahre vorher. Entweder-oder
Die Auseinandersetzung mit schönen Dingen hat zugenommen. Manchmal macht es Spaß, manchmal ist es mühsam. Ich bin ein Mensch, der nicht gerne Kompromisse eingeht. Ich möchte keine Kompromissmode verkaufen und wenn, dann mache ich ein eigenes Geschäft dafür. Es ist im Leben überhaupt so, dass es keine Mitte mehr gibt. Also zwei Extreme, wo jetzt sehr wenig für die Mittelmäßigkeit oder die Mitte übrig bleibt. Und ich bewege mich in eine andere Richtung, die genauso extrem ist, aber anders geht es für mich nicht. Wir verkaufen nicht nur
Das Wichtigste
Die Frage nach der persönlichen Gesundheit ist für mich die wichtigste Voraussetzung, damit überhaupt Zukunft stattfinden kann. Ohne gesund zu sein und zu bleiben gibt es meine Zukunft schon, aber sie wäre sehr eingeschränkt.
Erste Spuren • Die Dynamik einer Stadt bemisst sich daran, dass
dynamische Unternehmer „in der zweiten Reihe“ nachdrängen. • Es gibt laufend neue Gelegenheiten, die durch die
Unbeweglichkeit des Establishments entstehen. • Die Bedeutung formaler Schulabschlüsse wird immer
unwichtiger. Wichtig ist, dass Kinder herausfinden, was sie tun wollen, woran sie Spaß haben.
Bildung I 39
Markus Tomaschitz
Was bleibt am Ende der Schulzeit
Studium in Graz, Job in Deutschland, MBA in San Francisco – das waren die Stationen von Markus Tomaschitz ehe er Boss der FH Joanneum wurde. Seine Leidenschaft für Fußball wird von seiner Leidenschaft für eine erheblich verbesserte Fassung von Bildung hierzulande noch einmal übertroffen. Wer selbst Kinder hat, sollte sich an unseren Ressortleiter zwecks Privatissimum anschleichen.
bedeutend ist, dass man in Harvard studiert hat. Der Weg dahin ist ein langer Prozess, der nur über Image- und Markenbildung der Institution führt. Dazu gehören Rituale, ähnlich wie sie von den anglo-amerikanischen Universitäten gelebt werden. Ich meine damit den Abschluss, die Graduierung, die in jenen Staaten ein feierliches Ritual darstellt. Wirtschaft und Bildung
Exzellenz
Unser Bildungssystem ist zwar gut, aber nicht exzellent, weil man bereits zufrieden ist, wenn etwas „gut“ läuft. Bildung wird von der Gesellschaft als Notwendigkeit angesehen, sie soll die eigene Verwertbarkeit in der Arbeitswelt sicherstellen. Bildung darf aber nicht bloß als Output der stromliniengeformten Arbeitnehmer gesehen werden, der dann in den Arbeitsprozess einzugliedern ist, da sie die Werthaltung unseres Abendlandes bis hin zur Lebens- und Arbeitsfähigkeit sicherstellen muss. Man muss „passion for excellence“ wollen. Exzellenz stellt nichts Negatives dar, wenn sie letztlich nur bedeutet, dass man sich mit seinen Fähigkeiten, Fertigkeiten und Wissen so gut durch das Leben und den Beruf schlagen kann, um sich keine Sorgen machen zu müssen. Man begegnet der Exzellenz dort, wo Differenzierung erwünscht ist, also in jenen Ländern, in denen man nicht den Wunsch nach Nivelierung hat, sondern dort, wo es Leute gibt, die getrieben werden von dem Wunsch, nicht nur gut, sondern exzellent zu sein. Leidenschaft
Man findet Leidenschaft im Sport und in der Kultur, bei jungen Werbeleuten und Designern, überall dort, wo Menschen das Gefühl haben, „mehr“ als nur einen Job zu haben. Man hat eben das gefunden, worin man seine Berufung hat. Im Bildungsbereich sehe ich das sehr selten.
Die beste Wirtschafts-, Gesellschafts- und Arbeitsmarktpolitik ist Bildungspolitik. Die zentrale Frage ist, wie ein Bildungssystem zu schaffen ist, das Gesellschaft und Wirtschaft maßgeblich unterstützt, sodass wir als Land eine gesicherte Zukunft haben. Aber auch Universitäten und Fachhochschulen müssen einen anderen Zugang finden. In Österreichs Schulen wird Wirtschaft nicht grundsätzlich unterrichtet, sondern nur als Nebenfach angeboten, daher haben wir auch kein Wirtschaftsverständnis. Zielvereinbarung
Eltern und Lehrer sollten eine Zielvereinbarung machen, wo das Kind am Ende des Schuljahres stehen sollte. Am Ende des Schuljahres soll dann eruiert werden, ob die angestrebten Ziele erreicht wurden oder nicht und falls nicht, warum nicht. Auswahlmöglichkeiten
In Zukunft werden wir in der Lage sein, Geschwindigkeiten zu verarbeiten, die wir heute noch nicht verarbeiten können. Durch die technische Entwicklung wird die permanente Gleichzeitigkeit des Erlebbaren eintreten. Es wird dann zwar viele Auswahlmöglichkeiten geben, aber letztlich entscheiden wird der Mensch. Man hat durch die vielen Auswahlmöglichkeiten die Chance, die Zeit besser zu nützen, da gerade die Zeit in Zukunft etwas sein wird, mit dem man sparsam umgeht.
Marke Bildung
Der Zugang zur Bildung wird zukünftig anders definiert und gesehen. Sie besitzt heute eine große Wertigkeit, die geknüpft wird ans Inhaltliche, an die vortragende Person und an die Institution. Denkt man an den höchsten Bildungsabschluss, ist es nicht entscheidend, was man studiert, da das Endziel aller Studien das Erlernen von Problemlösungen darstellt. Immer wichtiger wird, wo man studiert. Der Standort und die Institution werden zur eigentlichen Marke. Die Studienrichtung tritt in den Hintergrund,
Erste Spuren • • • •
Bildung wird Marke, dazu braucht es Rituale. Mut zur Differenzierung statt Nivellierung. Ein Wirtschaftsfach vom Kindergarten an. Zielvereinbarung zwischen Eltern, Lehrer und Schüler.
40 I Bildung
Matthias Hartmann
Der steirische Brauch
Eigentlich sollten nur Grazer in unserer Redaktion tätig sein, aber um einen der hellsten steirischen Köpfe dabei zu haben, wurde eben Voitsberg in einer schlichten, aber ergreifenden Zeremonie zum Teilzeit-Vorort der Landeshauptstadt ernannt. Dort zeigt der 45-Jährige Industrielle mit einer 270-Mann-Schmiede, dass Produktion auch hierorts stattfinden kann. Ebenso bemerkens- wie möglicherweise nachahmenswert: Sein Zugang zur Ausbildung seiner fünf Kinder. Zuviel Sicherheit
Es ist zu beobachten, dass wir gesellschaftlich sehr weit abgeglitten sind. Wir haben uns sehr weit von unseren Grundstärken entfernt. Das sind ganz simple Werte wie Familie, wie das Stehen zu Themen, die nicht unmittelbar Geld bringen und solche Sachen. Und nun kommt es zu den Erscheinungen, die in einer Gesellschaft auftreten, die sehr, sehr stark abgesichert ist, wo der Zusammenhalt nicht mehr wichtig ist, weil wir ihn nicht brauchen. Ein Mann braucht keine Frau. Eine Frau braucht auch keinen Mann. Die Kinder – im engeren Sinne – brauchen die Eltern nicht. Und das gibt den Chinesen die Chance aufzuholen. Bilder im Kopf
Eigentlich ist es so, dass ich Bilder im Kopf brauche, die in die Zukunft zeigen und dass ich dann versuchen muss, die Wege zu finden, wie man dorthin kommen kann und dann andere bewegen muss, diese Wege mitzugehen. Das ist das Essentielle am Unternehmerberuf. So ein Bild darf man sich wirklich ganz praktisch vorstellen, so, dass man ein Gebäude sieht, dass man bestimmte Aktivitäten sieht, dass man Gefühle dabei empfindet, dass man sich selbst in einer bestimmten Größenordnung und in einer bestimmten Komplexität wiederfindet. Für mein Leben möchte ich sagen, dass das im Wesentlichen auch immer so kommt, wie man sich das vorstellt. Neues
Als Unternehmen braucht man heute eine USP und wenn man die hat, dann muss man es zumindest dem Kunden sagen, weil der muss es auf jeden Fall wissen. Und der zwingt es den Mitbewerbern auf. Er wird ihnen nicht nur sagen, was man besser macht, sondern, er wird sagen: „Ihr müsst das auch machen.“ Also es ist nicht wirklich Angst, dass man ständig Neues braucht. Aber das wollen wir ja
auch nicht, das macht uns selbst ja auch Spaß. Und ich glaube, dass es den Mitarbeitern auch gut tut. Es gibt nichts Schlimmeres als Stillstand. Das zerstört alle Teams. Zerstört alle Beziehungen, zerstört auch Unternehmen. Das kann echt zerfressen werden, der Mensch verkraftet das nicht. Demut
Man lernt Demut, indem man verliert. Und das ist diese Trendwende, die Europa insgesamt bevorsteht. Demut ist das, was die wenigsten Sieger haben. Die Generation, die aus dem Krieg gekommen ist, war ganz anders. Wir sind ja nicht einmal mehr Hippies gewesen. Die erste Generation, die eigentlich nichts mehr war. Gewiss auch nicht demütig. Da sind viele Dinge über Bord geworfen worden, die vorher einfach und dogmatisch zu akzeptieren waren. Und ich glaube, dass man Demut nur durch Misserfolg lernt. Darum ist das Lernen im Misserfolg auch viel nachhaltiger als im Erfolg. Bereitschaft zum Wandel
In der Firma erfinden wir nicht, wir optimieren logistische Fragen, wir optimieren einfache technische Fragen. Was ich dafür benötige, ist die Bereitschaft zum Wandel. Dafür ist nicht Bildung die Hauptvoraussetzung, sondern, dass man den Wandel zulässt und ihn unterstützt. Ich glaube, dass das geht, wenn die treibende Kraft von den Bildern kommt. Wenn es gelingt, das Bild sehr hell strahlen zu lassen und die Angst im Hintergrund bleibt, dann ist die Bereitschaft zu Änderungen groß. Das ist die Richtung, wie man seine Kinder vorbereiten soll. Damit sie es schaffen, müssen sie akzeptieren können, nicht perfekt zu sein und es nie zu werden. Weil da geht irrsinnig viel Kraft drauf, beim Versuch mit seinen eigenen Schwächen – und die hat jeder, wenn man ihm auf den Zahn fühlt – ins Reine zu kommen. Das muss man lernen, das zu akzeptieren.
Erste Spuren • Zuviel Sicherheit lässt uns essentielle Dinge nicht mehr brauchen. • Angst führt zur Weigerung von Veränderung. • Europa kriegt Schlag aber nicht Megacrash. • Wir brauchen mehr Putzfrauen als Atomtechniker.
42 I Bildung
Ulrich Kanter
Schritt für Schritt
Ein Deutscher, wie Grazer ihn sich wünschen: Effizient, zuverlässig und mit Liebe zu seiner Wahlheimat Weststeiermark. Ulrich Kanter ist Geschäftsführer des Roche-Werkes und somit nicht unbeteiligt am Erfolg des Unternehmens. Tag und Nacht sitzt er daran, den Standort durch Flexibilität und Kernkompetenzen auszubauen. Dass er dabei noch Zeit für seine Familie und Besuche im Kunsthaus hat, verwundert uns ein wenig, ihn aber überhaupt nicht.
eben nicht einkaufen kann, nicht zu dem Preis, zu dem ich es selbst machen könnte?“ Kernkompetenz ist dort gegeben, wo ich besser bin als der Mitbewerber. Sie ist immer damit verbunden, auch Kostenführerschaft zu haben. In Österreich herrscht noch sehr stark dieses Not-invented here-Syndrom vor. Hier gibt es wunderbare Ingenieure und wunderbare Vordenker, die sagen: „Ich entwickle das jetzt selbst und bin nicht bereit, die am Markt schon vorhandenen Lösungen zu nutzen und praktisch in mein System zu integrieren.“
Der Nutzen
Wir wollen Produkte entwickeln, die wirklich einen Wertschöpfungsvorteil für den Kunden bieten und um das zu machen, müssen wir den Workflow perfekt verstehen. Wir machen also Workflowstudies, wir machen Customer Involvement, wir machen Usabilitystudies und aus diesen Informationen, die wir dabei gewinnen, kommen dann Spezifikationen für ein neues Produkt. Zu dieser Gesamtlösung gehört dann zum Beispiel ein Gerät, die Software, die das Gerät irgendwo in ein Krankenhaus- oder Laborinformationssystem hinein vernetzt und ein gewisser Arbeitsablauf. Im Prinzip ist es erst das ganze Konzept, das dem Kunden den Vorteil bringt. Das flexible und kompetente Unternehmen
Von unseren 400 Mitarbeitern sind ca. 100 befristet beschäftigt, über Leasingfirmen bzw. Drittfirmen, das ist ein wichtiges strategisches Element. Dadurch können wir eine sehr hohe Umsatzflexibilität darstellen und halten den Break-Even sehr niedrig. Wir „atmen“ also, je nachdem, wie der Bedarf ist. Jetzt kommt das Thema Kernkompetenzen, wo ich für die Zukunft noch eine Optimierungsmöglichkeit sehe. Produkte werden heute intelligenter und komplexer, das erfordert eine stärkere Integration verschiedener Disziplinen. In einer Firma ist es gar nicht leistbar, alle diese Anforderungen als Kernkompetenz zu haben. Wir müssen nicht in jeder Gasse einen Hund haben, wie man in Hessen sagt. Mein Ziel ist es, diese breite Phalanx zu zerschlagen und in den Bereichen der Kernkompetenzen Sturmspitzen zu erreichen. Diese Umbildung, die stattfinden wird, läuft darauf hinaus, dass ich frage: „Wo haben wir im Unternehmen Funktionen und in weiterer Folge auch Mitarbeiter, deren Beiträge ich ohne Probleme auch von außen einkaufen kann?“ „Und wo haben wir Funktionen, wo ich diese Beiträge
Bildung und Karriere
Wir brauchen Grundlagenforschung, die auf ein Fernziel ausgerichtet ist. Durch die Hochschulreform müssen sich die Universitäten an der Industrie ausrichten, die mehr in die angewandte Forschung geht. Die Forschung braucht mehr Anwendungsorientierung, die Fachhochschulen können diese Mittlerfunktion übernehmen und haben praktisch schon diesen integrativen Aspekt. Graz ist für unsere jungen Leute eine Karrieremöglichkeit. Man bietet den Leuten hier eine Funktion an, die attraktiv ist, eine Umgebung, die sehr attraktiv ist, und man bietet den Leuten auch ein Sprungbrett für eine weitere Karriere an. Nach drei bis vier Jahren gehen sie wieder weiter, bleiben auch am nächsten Standort drei bis vier Jahre und gehen dann wieder weiter.
Erste Spuren • Kooperationen zwischen Firmen und Personalagenturen werden intensiver. • Die zunehmende Komplexität von Produkten erfordert partnerschaftliche Kooperationen auch von Mitbewerbern (Coopetition). • Not-invented-here-Syndrom: Österreich tut sich zu schwer im Übernehmen bereits vorliegender Lösungen. • Jedes Unternehmen braucht essentielle Bereiche, in denen es Kompetenz- und Kostenführerschaft hat.
Bildung I 45
Sylvia Müller-Trenk
Über Charme und Charisma
Der Eindruck, dass niemand in Graz eine Stelle hat, die nicht durch Sylvia Müller-Trenk vermittelt wurde, ist falsch. Richtig ist, dass es kaum eine gelungene Besetzung gibt, die nicht durch Frau Müller-Trenk in die Wege geleitet wurde. Dafür benötigt die geschäftsführende Gesellschafterin von Catro ein gerüttelt Maß an Psychologie, einige objektivierende Tests und das richtige Bauchgefühl. Als Mutter ihres achtjährigen Sohnes ist sie selbst natürlich am besten besetzt. Orchideenstudien
Man redet immer wieder von Elite-Universitäten und es geht der Trend dahin, dass Bildung wieder etwas kosten sollte. Das wird den Mittelstand treffen. Es wird eine schlechte Ausbildung für alle geben und teure Elite-Universitäten, die sich nur Reiche leisten können. Dann werden wirklich helle Köpfe rauskommen, aber letztendlich werden es zu wenige sein. Die Wirtschaft wird die Universitäten so stark unterstützen müssen, dass sie bestimmt, was produziert wird. Und die sogenannten Orchideenstudien, die werden à la longue wegfallen. Ich denke mir, ich will 25 Apfelsorten haben und nicht nur zwei EU-normierte Sorten. Ich glaube, wenn es so läuft, wird sehr viel Innovatives, Kreativität und Querdenkertum verloren gehen. Weil manchmal geht es eben nicht von A nach B, sondern es braucht einige Umwege. Schulen
Schulen müssen grün sein, keine Betonbunker. Man darf Kinder nicht nach Quadratmeter berechnen und sagen, „Ein Kind hat eh’ zweieinhalb Quadratmeter, das ist eh’ schon viel.“ Dafür ist schon Geld da, es ist nur kein Wille. Momentan erscheint es mir so: Eine Frau soll zu Hause bleiben und man soll die Kindererziehung nur nicht abgeben. Die Erziehung liegt schon bei den Eltern, aber es wäre allgemein sehr schön, wenn man wüsste, dass das Kind sich in der Schule in viel Freiraum bewegen kann. Sozialraum
Ich würde mir wünschen, dass es nicht nur groß angelegte Betreuungsgeschichten gibt, sondern dass es in kleineren Firmen wie unserer auch einen Sozialraum gibt, wo man sagt „Ok, für Notfälle, das Kind gehört auch dazu.“ Es wäre auch eine Möglichkeit, dass eine Stadt so etwas einrichtet wie eine Betreuungsstätte, die stundenweise ist.
Graz
In der Kunst hat Graz noch immer einen guten Ruf. So ein Ruf hält sich lange und darauf könnte die Stadt aufbauen. Es wäre schon toll, wenn ganz Graz den Steirischen Herbst aktivieren würde oder solche Kulturevents, mit denen man Graz immer schon verbunden hat. Wir sind eine Kulturstadt. Integration
Wenn immer mehr Menschen hier leben, die die demokratischen Spielregeln nicht akzeptieren, dann werden auch wir uns radikalisieren. In unserer Gesellschaft lebt bereits eine Parallelgesellschaft, für die niemand etwas tut. Damit meine ich Frauen, die unterdrückt werden, die verheiratet werden mit zwölf Jahren, die kaum Menschenrechte haben und um die sich in unserer Gesellschaft niemand kümmert. Länger arbeiten
Bei den über 50-Jährigen habe ich das Gefühl, das sich die Jobsituation noch ein bisschen verbessern wird, weil ich von den Auftraggebern immer stärker höre, dass das Thema Alter nicht mehr so ein starkes Problem ist, wie es das noch vor ein paar Jahren war. Ich glaube, dass das schon ein bisschen greift, dass wir länger arbeiten müssen. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass sich die Wirtschaft umorientiert und das ist nicht mehr ein primäres Thema. 2017 gibt es wahrscheinlich Vollbeschäftigung, wir werden uns alle überlegen, wie man sogenannte Ausländer hereinkarren kann, damit wir irgendwie den Beschäftigungsstand halten.
Erste Spuren • • • • •
Flexible Möglichkeiten der Kinderbetreuung. Teure Bildung kostet uns das Querdenken. Graz muss als Kulturstadt wiederbelebt werden. Parallelgesellschaft unterwandert Demokratie. Graz verkommt vom Stadtkern her.
Bildung I 47
Michael Redik
Zurück in die Zukunft
Im März 2005 hat Michael Redik die Leitung des Grazer Stadtplanungsamts übernommen. Aus seinem Büro beim Bahnhof sieht er auf die Stadt und ist bereit, in andere Richtungen zu denken. Das geschieht, wenn er mit Hochhäusern vertikale Akzente setzen will. Seine wichtigste Fähigkeit: Er hört zu und stellt sich Problemen, wenn sie akut sind. Geboren 1959, ist er verheiratet, hat zwei Töchter und lebt in Graz.
das eher verstecken? Das Gebäude ist ja von der Fassade her bis zum Eingang nichts, wo man reingeht und sagt: „Toll, jetzt bin ich endlich da!“ – Das zeigt sich bei der Orientierung. Wir haben montags und freitags Parteienverkehr und da irren unten immer die Leute herum und schauen um Hilfe. Aufgaben der Stadtentwicklung
Man möchte gesund sein, man möchte zufrieden bleiben, man möchte materiell abgesichert sein. Aus dem Ganzen bastelt man sich seine Vision. Es ist nicht so, dass es total was Neues geben wird. Es wird niemand was erfinden können, was zwischen Gesundheit und Krankheit eine dritte Dimension aufmacht.
Früher war die Steuerbarkeit der Stadtentwicklung eine andere. Es war relativ klar, ich muss den Radweg von diesem Wohngebiet zu dieser Schule führen. Das funktioniert heute nicht mehr. Mit dem größeren räumlichen Horizont sind die Möglichkeiten der Stadtplanung geringer. Wenn ich Pech habe, geht von diesem Krätzel kein einziger mehr in diese Schule. Das erfordert andere Instrumente der Stadtplanung.
Beobachten & Gestalten
Differenzen
Am ehesten bereit für die Zukunft ist unter meinen Freunden einer, der Psychologe ist, weil er sehr gut beobachtet und sich sehr gut anpasst. Das macht ihn sehr geeignet, weil er mit unterschiedlichen Situationen gut fertig wird. Das ist sein Typ, das taugt ihm, wenn er beobachten kann. In dieser Position tut man sich leichter, als wenn man sagt: „Ich bin ein Gestalter und möchte das genau in diese Richtung kriegen.“ Das kann gut gehen, kann aber auch nicht gut gehen. Diese Gestalter gibt es ja. Ein paar Prozent setzen das um, was sie gestalten wollen und ein paar Prozent können es halt nicht umsetzen. Wenn ich nur beobachte, kann ich gut oder schlecht beobachten, aber im Wesentlichen gibt es diese Reibungspunkte nicht so stark.
Das Umgehen mit Unterschieden ist bei weitem noch nicht so gelöst, wie ich mir das vorstelle. Das muss nicht schwarz-weiß sein. Wie integriere ich zum Beispiel Zuwanderer? Ich komme auf ein berufliches Projekt zu sprechen: Die Annenstraße – wie entwickelt sie sich? Muss sie eine Prachtstraße sein oder kann es auch eine Multi-KultiMeile sein? De facto ist sie es eh schon fast, man wird nicht mehr viel anderes leben können. Aber akzeptiert man in Graz gesellschaftlich, was wir schon haben? Davon sind wir, glaube ich, noch weit entfernt, geschweige denn, es offensiv weiterzuentwickeln.
Vision
Politik
Ich muss sagen, dass es einen, wenn man als Raumplaner anfängt, sehr schnell juckt, sich parteipolitisch zu betätigen – ich habe es mir auch überlegt. Man hat hier eine sehr große Versuchung. Aber es gibt nur ein Entweder-oder, man kann Politikberatung machen oder Politik machen. Ich habe mir gesagt, ich bleibe bei der Politikberatung. Ich wollte das nicht so vermischen. Andere haben das anders gesehen und sind in die Politik gegangen. Schandfleck
Ich hoffe, man erinnert sich in Zukunft nicht mehr an das Gebäude der Grazer Stadtplanung. Ist Bürokratie etwas, wo man heutzutage noch Zeichen setzen soll oder soll man
Erste Spuren • Das Leben wird objektiv leichter, ohne dass man es subjektiv merken muss. • Eigenverantwortung wird über den persönlichen Erfolg entscheiden. • Wir müssen besser beobachten und weniger gestalten. • Die Instrumente, um Zukunft vorherzusagen, werden besser.
48 I Bildung
Judith Schwentner
Etwas lauter bitte
In der Früh treffen wir Judith Schwentner mit Ihren Kindern am Schulweg. Untertags sieht man sie nicht, weil sie gerade an der nächsten Ausgabe des Megaphons arbeitet. Dafür sieht man ihre Mitarbeiter mit der orangefarbenen Straßenzeitung. Am späten Nachmittag ist sie mit der Familie unterwegs. Besonders glücklich ist unser Tag gelaufen, wenn wir ihr in der Nacht noch einmal begegnen, wenn sie in den Clubs der Stadt die beste Musik der Welt auflegt. Umverteilung und Integration
In fünfzehn Jahren ist Europa hoffentlich größer, also EUbezogen größer. Europa wird ja gleich bleiben. Nur hoffentlich so, dass sich das, was Europa hat, nämlich viel Wohlstand, gut umverteilt. Eine Forderung ist, dass man Europa als eins wahrnimmt, das heißt, dass ich mich mit einer Ukrainerin gleich fühle, irgendwann, gleichwertig von Spanien bis zur Ukraine. In Graz werden hoffentlich türkische Emigranten Ärzte sein und deutlich andere Positionen haben als die, die sie jetzt haben. Vielleicht wird es einen afrikanischen Polizisten geben oder mehrere oder einen exafrikanischen, weil er mittlerweile Österreicher ist. Ich denke, dass unsere Gesellschaft anders aussehen wird. Das Bild allein. So wie es anderswo heute schon aussieht. An der Kippe
Ich mache mir Sorgen um Menschen, die an der Kippe sind. Da besteht die Gefahr, dass viele kippen, wenn politisch nicht dafür gesorgt wird oder ein Ausgleich geschaffen wird, und die dann in wirklich prekäre Verhältnisse kommen. Es fängt bei Alleinerzieherinnen an und geht über die McJob-Situationen, keine Anstellung und freie Werkträge und sonstige Geschichten, also atypische Beschäftigungsverhältnisse. Da sehe ich die Schwierigkeiten.
öffentlicher Unterstützung. Das sind so Dinge, die würde ich irrsinnig gerne ausbauen, also Wissen und Wissenschaft greifbarer machen. Da gibt es eine hervorragende Kooperation mit der Uni. Die Uni wird da auch zunehmend offener. Gesellschaftliche Anforderungen
Es gibt gesellschaftliche Anforderungen, die die Leute auf der Uni zunehmend spüren. Vielleicht zum einen aufgrund der eigenen prekären Verhältnisse, weil die Beschäftigungsverhältnisse nicht mehr so sind wie früher. Zum anderen passiert es einfach, sobald man die Gesellschaft wissenschaftlich beobachtet. Zum Beispiel gibt es jetzt ganz viel Armutsforschung. Das hat es vor zehn Jahren so sicher nicht gegeben. Das sind gesellschaftliche Bereiche, die zunehmend wissenschaftlich aufgearbeitet werden und wo dann durch die wissenschaftliche Arbeit erkannt wird, dass das ganz gut ist, wenn man in die Praxis geht und das auch weitergibt. Wissenschaft
Ich glaube, dass Wissenschaft auch politisch zunehmend Einfluss haben könnte. Schon indem sie Wissenschaft bleibt und nicht Politik macht, indem sie sich Themen widmet, die offenkundig da sind und die allgemein übersehen werden. Dafür soll Wissenschaft da sein, denke ich. Dabei geht es um Sozialwissenschaften oder um Geisteswissenschaften. Das ist natürlich im juridischen Bereich genauso möglich. Es ist in allen Bereichen möglich.
Soziale Universität
Immer am Mittwoch gibt es eine Megaphon-Uni, bei der in Form einer Ringvorlesung Universitätsprofessoren teilweise soziale Einrichtungen besuchen und dort ihre Vorlesung halten bzw. die Leute auf die Uni gehen. Da kommen viele Leute aus den sozialen Randgruppen, aus dem Männerwohnheim, aus dem Frauenwohnheim, aus Caritaseinrichtungen und aus dem ganzen sozialen Betreuungsbereich. Das ist eine Geschichte, die wir voriges Jahr begonnen haben und die heuer gewachsen ist, mit
Erste Spuren • Freiwilligkeit benötigt Sicherheit, die von Arbeit und Wirtschaft gegeben werden. • Man hat ein Recht darauf, sein Studium auszuüben. • Zeitgenössische Wissenschaft muss sozial offen sein. • Wir benötigen ImmigrantInnen als FreundInnen.
Urbanität I 51
Ernst Giselbrecht
Architektonische Gedichte
Erstens ist Ernst Giselbrecht unser Vorarlberger Lieblingsarchitekt. Weil er nämlich seit 1985 sein Büro in Graz betreibt. Dann zählt er zu den Stützen der Grazer Schule der Architektur, er hat ein paar unserer Lieblingsdinger gebaut (wir werden ihm das rote Regal in Murau nie vergessen). Und dann ist da noch zu bemerken, dass er Gebäude hinstellt, die uns an Gedichte erinnern. Weil man sie irgendwie aufsagen kann. Wenn Sie wissen, was wir meinen. Intelligente Architektur
Architektur ist für mich intelligente Hardware. Die Software, also die Menschen, sind nicht beeinflussbar. Ich möchte ihnen eine Art Gerät geben, wo sie anders leben und spielen können. Das „Plakatdenken“ der Menschen macht der Architektur schwer zu schaffen. Damit meine ich, dass man Plakate einfach entfernen kann, wann man will. Plakatdenken ist, wenn Menschen eigentlich kein Gebäude wollen, sondern nur das Bild eines Gebäudes. Architektur kann man aber nicht gleich wieder abreißen.
können. Außerdem sollte man sich Bildung aus verschiedenen Bausteinen selbst zusammenbauen können. Möglich wäre das mit Hilfe von Expertenpools, in denen nicht nur Fachmänner sitzen, sondern auch Persönlichkeiten mit kontroversiellen Ansichten. Das Bildungssystem ist für viele Jugendliche ein nicht beherrschbarer Dinosaurier, obwohl gerade sie die wichtigsten Entscheidungen treffen müssen. Und jetzt?
Ehrenamtliche Tätigkeit wird in Zukunft ein noch größeres Thema sein, weil den Leuten langweilig sein wird. Es müsste einfach ein Ausgleich geschaffen werden: Die einen arbeiten heute zu viel, die anderen haben keine Arbeit. Insgesamt wird sich die Wertigkeit der Arbeit verändern. Ich bin für Stundenarbeit, d.h. ich entscheide mich vier bis sechs Stunden zu arbeiten und den Rest für so genannte „unwirtschaftliche, überflüssige“ Dinge zu verwenden. Warum macht man nicht eine neue Art von Stammtisch, wo Innovationen erfunden und ausprobiert werden können? Leichtes Gepäck
Bewusste Fehler
Man kommt schnell in dieses deutsch-schweizerische Perfektionsbild hinein und dort passiert dann nichts mehr. Man muss immer die Chance haben, etwas verbessern zu können, etwas anders sehen zu können. Wenn alles perfekt wäre, dürfte man nichts mehr verändern. Einen Menschen machen auch erst die kleinen Fehler richtig menschlich, bei einer Stadt ist es gleich. Die Städte, die alles richtig machen, wären sich verflucht ähnlich. Man sollte darüber nachdenken, bei jedem Gebäude einen kleinen Fehler einzubauen, quasi visuelle Soll-Bruchstellen, damit sich dann alle darauf stürzen können und es große Diskussionen gibt.
Alle Kreativberufe sind bereit für die Zukunft. Da gibt es offene Menschen, die flexibel reagieren können. Schwierig wird es für diejenigen, die einen Status oder Erreichtes verteidigen müssen – Entweder du hast 100 Sherpas oder du bist mit leichtem Gepäck unterwegs. Dynamik
In meiner Freizeit trainiere ich meine Empfindsamkeit. Die Dynamik der Fortbewegung, d.h. eine Landschaft in verschiedenen Tempos kennen zu lernen, finde ich sehr interessant.
Neue Rituale
Wir leben in einer ganz extremen Zeit, wo die Individualität zunimmt. Durch die Vielfalt der Möglichkeiten, die uns heute zur Verfügung stehen, hat aber auch die Orientierungslosigkeit zugenommen. Gleichzeitig sind uns unsere alten Rituale verloren gegangen. Die Frage ist nun, ob und wie es uns gelingen kann, neue Rituale zu lernen. Bildung einmal anders
Wichtig ist sicherlich ein möglichst vielfältiges Angebot in der Bildung. Man sollte jungen Menschen Werkzeuge geben, die ihnen dabei helfen, sich frei entscheiden zu
Erste Spuren • Innovation wird unsere Rettung sein, aber sie passiert nicht zufällig. • Es ist wichtig, eine Szene zu haben, denn als Einzelkämpfer kannst du Siege erringen, aber als Szene kannst du verändern. • Wir haben unsere Rituale verloren.
52 I Urbanität
Martin Behr
Reise ins Blaue
Geboren 1964, ist er gebildeter Kunsthistoriker und hat sich zum Ziel gesetzt, als Redakteur und Korrespondent der Salzburger Nachrichten mit Worten und als Hälfte der Künstlergruppe GRAM mit Bildern vermittelnd und korrigierend Menschen zu motivieren, Dinge anders zu sehen. Das Wort Zukunft ist für ihn übrigens blau. Was jedoch ganz sicher nicht politisch zu verstehen ist. Vielmehr ist Martin Behr Synästhetiker. Denn er sieht Dinge, die andere nicht sehen.
Peter Weibel würde sagen, ein Attraktor. In London sind z. B. die Museen alle gratis. Ich würde schon vorschlagen, dass eine Kommune sich das leisten sollte, damit Museen stärker zu allgemeinen Erholungs- und Nachdenkorten werden. Das Wichtigste aber ist eine Ausbildungsstätte. Das nächste sind günstige Arbeitsbedingungen für Künstler. Es kann nicht so sein, dass man um 600 Euro oder mehr irgendwelche 20 qm Räume anmieten muss, damit man dort malen kann, also sprich Ateliers, Infrastruktur.
Zukunftsbilder
Graz-Laibach und retour
Als Kind oder Jugendlicher war mein Zukunftsbild immer beeinflusst durch Sciencefiction-Filme, Raumschiffe, die fliegen, Autos in der Luft usw. Das war vor 30 bis 35 Jahren, mittlerweile hat sich aber nicht viel verändert, also, die großen Innovationen in den vergangen drei Jahrzehnten waren der Computer und das Handy und die Autos schauen ein bisschen anders aus, haben aber immer noch vier Räder. Sprich: wenn ich jetzt an Zukunft denke, denke ich nicht mehr an die großen Innovationen, sondern eher an die kleinen Veränderungen.
In Laibach ist es eben die Kunstuniversität. Da gibt es irrsinnig viele Veranstaltungen, die die Studierenden selbst machen, es gibt eine Galerieszene. Dort pulsiert es eher. Da gibt es ein Hungern nach Wissen, nach Neuem, da ist es schwer zu vergleichen, weil halt wir schon eher abgestumpft sind. Ich fahre immer sehr gerne runter und komme dann auch engagierter zurück. Wie man die Menschen aus ihrer Sattheit wieder wecken kann, ich glaube, das muss schon von innen kommen. Warum kommen Slowenen, Kroaten nach Graz? Weil es einen IKEA gibt und die Shopping City Seiersberg, aber das sollte uns irgendwie traurig stimmen. Die meisten kennen Graz nicht.
Kulturhauptstadt?
Was mich stört, ist eine gewisse Nachlässigkeit in der Konsequenz, wenn es darum geht, etwas zu verändern. Schon Anfang der 80iger Jahre hat es die Studien für diese Murbebauung gegeben. Detto Kunsthaus. Über Jahrzehnte wurde diskutiert, gestritten und parteipolitisch verhindert. Erst angesichts 2003 wurde man munter und hat realisiert. Wäre ja auch schön blöd, wenn die Ausländer schreiben, in Graz geht nichts weiter. Seither sind ein paar Gebäude da, aber es wurde auch eine Riesenchance vergeben. Die Stadt hat kein Geld, die freie Szene hat nichts mitbekommen, es hat kaum Aufschwung gegeben. Selbstzufriedenheit, zu wenig Mut, über den Tellerrand hinauszublicken, mit ganz wenigen Ausnahmen. Das hat Graz nicht notwendig. Die zweite Chance
Man merkt ja am Beispiel vom Grazer Kunsthaus, wenn so etwas einmal ist – ob das drin jetzt schlecht oder gut ist, ist eine zweite Frage – aber das strahlt aus und das ist nicht irgendwie verordnet worden, dass dann die Gegend um den Lendplatz ein Szeneviertel wird. Sondern die Leute kommen ja dann und sie siedeln sich an. Szenelokale, kleine Boutiquen usw., das ist gerade im Aufbau.
Lebenskunst
Ich glaube nicht an das Weltverbesserungselement der Kunst. Aber man kann kleine Positionen vorgeben oder gegen den Strich bürsten. Für mich war Kunst immer das wichtigste Element, um das Leben zu begreifen und anderen etwas davon mitzugeben. Kunst als Prozess verstanden macht einfach „open minded“. Nicht als leere Tat, sondern dass auf gewisse Weise jeder was verändern kann, auch wenn das ganz große Veränderungspotenzial utopisch ist.
Erste Spuren • Kunst als Prozess ist für jedermann wichtig, um das Leben zu begreifen. • Die Stadt wird als Lebensort immer unattraktiver, weil die ganze Nahversorgung zum Problem wird. • Zukunft darf nicht von oben aufgesetzt werden, sondern muss wachsen können.
54 I Urbanität
Heinz Hagenbuchner
Wert und Schätzung
Der Einfachheit halber geht man in Graz gleich zum Kastner & Öhler. Seit kurzem ist aus dem Traditionskaufhaus (mit entsprechend grantiger Grundhaltung) ein erfrischend netter Dienstleister geworden. Der Verdacht liegt nahe, dass dies mit Heinz Hagenbuchners Amtsantritt vor drei Jahren zu tun hat. Sein Erfolgsgeheimnis? Für ihn ist Wertschätzung kein Leitbild, sondern Lebensphilosophie. Manchmal ist Change Management ganz einfach. Reden ist Gold
Beruflich wird sich auch für mich in Zukunft einiges ändern. Es wird noch mehr darum gehen, sich um die Leute zu kümmern, die arbeiten, und das Umfeld zu verbessern. Ich glaube auch, dass in Zukunft die Leute wieder mehr reden wollen, weil die Menschen immer weniger miteinander reden. Gerade deswegen wird meine Aufgabe sein, verstärkt mit dem Personal zu arbeiten und die Leute dahingehend auszubilden, als Vorbild und Motivator. Ich muss einfach ein gutes Arbeitsverhältnis schaffen, dann werden die Leute gern arbeiten und wenn sie gern arbeiten, dann arbeiten sie auch gut. Italienische Plätze
Ich halte Plätze für ausgesprochen wichtig. Man kann auf Plätzen sowohl kommunizieren als auch entspannen. Die besten findet man sicher in Italien, aber Österreich ist mit Italien wirklich schwer zu vergleichen, weil dort ist es Teil der Kultur, zusammenzustehen und zu reden. Wenn du Italiener fragst, „Wo gibt es eine gute Pizza?“, dann kriegst du eine Auskunft über fünf Minuten mit Stadtführung und so weiter. Das ist ein großer Unterschied beim Kommunizieren-Wollen. Wenn man nicht miteinander kommunizieren will, hilft der Platz auch nichts. Authentizität gesucht
Ein großer Vorteil der Urbanität ist der schnelle Zugriff auf viele Dinge, das macht das Leben einfacher. Der Vorteil der Innenstadt gegenüber Shopping-Centern wie Seiersberg ist klar: Sie ist weniger hektisch. Ich meine, das Wort „Flair“ ist so schwer zu beschreiben, aber es hat wirklich etwas davon. In Seiersberg sind keine Ecken und Kanten mehr und es ist alles geglättet wie ein Fluss, der in ein Bett gezwungen ist. Ein gerader Fluss ist zwar praktisch, aber ein Mäanderfluss hat etwas Natürliches und das macht es, glaube ich, aus.
Natürlich künstlich
Vor einigen Jahren war ich mit meinem Sohn in einem Vergnügungspark in den USA. Als wir uns auf einer Bank ausgeruht haben, bemerkten wir, dass um uns herum alles künstlich war: Die Bäume, Vögel, einfach alles. Das Vogelgezwitscher kam aus Lautsprechern, die in größeren Steinen eingebaut waren. Nach einigen Minuten kam eine Dame mit ihrem Hund vorbei und mein Sohn fragte mich: „Ist der Hund echt oder nicht echt?“ Und das war für mich ein schockierendes Erlebnis, weil gerade Kinder, und vielleicht auch wir Erwachsene, die Künstlichkeit unserer Welt zum Teil gar nicht mehr erkennen können. Ich denke
In 15 Jahren werde ich wahrscheinlich ungefähr den gleichen Wissensstand haben wie jetzt, frei nach Aristoteles: Ich weiß, dass ich nichts weiß und je mehr ich weiß, desto mehr weiß ich, dass ich nichts weiß. Ich werde hoffentlich viele Themenbereiche finden, die mich interessieren, aber ich kann nicht sagen, was ich wissen oder gelernt haben werde. Es wird nicht weltbewegend sein. Es ist so wenig passiert, das weltbewegend ist, dass man einfach gar nicht darauf schauen sollte, sondern man sollte darauf achten, dass man das, was man macht, gerne und gut macht – vielleicht wird es dann von selbst weltbewegend. Man sollte sich selbst dabei nicht so wichtig nehmen.
Erste Spuren • Wenn die Menschheit so weitermacht, werden wir einen ökologischen Schiffbruch erleiden. • In Zukunft werden die Menschen wieder mehr miteinander reden wollen. • Wenn man den anderen respektiert, wird er dich respektieren und das reicht zum gut Leben. • Jeder sollte die Freiheit haben, zu entscheiden, wo er Schutz und Hilfe sucht, und wenn er es in sich selbst findet, ist das auch gut.
Urbanität I 57
Roman Wratschko
Der erste Preis ein Edelweiß
Roman Wratschko hat eine besondere Gabe. Er hat eine besondere Sicht auf das uns so Alltägliche. Daraus erfindet er schöne Dinge, die zudem hoch funktional sind. Oder umgekehrt. Darin sind Roman Wratschko und die Jungs von EDELWEISS-DESIGN so etwas wie die „Rookies of the year“ in Europa. Weil sie von Graz aus Dinge sehen, die sonst niemand sieht. Etwa wie man Waschmaschinen transportabler macht. Oder wie man Kinderzimmer in Ordnung hält. Das einzig Beständige ist der Wandel
In Zukunft wird es für die Leute wahrscheinlich schwerer werden. Für mich persönlich glaube ich das aber nicht. Die Leute werden neue Dinge lernen müssen und das will nicht jeder gerne. Umlernen, umdenken und offener werden ist für viele schwierig. Wir müssen aber offener werden, weil es immer mehr Vielfalt gibt. Das spricht vielleicht gegen Kontinuität, aber die Menschen gewöhnen sich dadurch an Neues. Neues Leben
Es zeichnen sich natürlich gewisse Trends ab. Ich beschäftige mich ja selbst aus beruflichen Gründen ständig mit dem Thema Zukunft. Da sehe ich etwa, dass es neue gesellschaftliche Strukturen gibt, wo Menschen zunehmend selbständiger werden oder Menschen neue Lebensräume zum Arbeiten brauchen. Das bedeutet etwa Wohnen und Arbeiten im selben Raum.
ein Ameisenhaufen. Da gibt es nicht den großen Anführer, der 17 Millionen Ameisen befehligt, sondern da gibt es eine gewisse Eigendynamik. Das heißt aber nicht, dass keiner die Gesellschaft lenkt, sondern viele lenken ein bisschen. Dynamik ist ...
Den Bezirk Gries finde ich momentan ganz besonders spannend, weil da sehr viele „alternative“ Dinge passieren. Dort würde ich am liebsten wohnen. Leider sind dort die wenigsten Parkplätze. Auch die Ausländer bringen Dynamik in den Bezirk. In der Griesgasse haben zum Beispiel ganz viele Dönerläden aufgesperrt – man hat da einen tollen Komfort, wo man rund um die Uhr, 365 Tage im Jahr Döner Kebab bekommt. Der Wert der Arbeit
Ich glaube, dass im Arbeitsalltag ein zu kontinuierliches Denken geschaffen worden ist. Diese „8 bis 17 Uhr-Jobs“ sollte man abschaffen. Denn wenn man einmal lernt, von solchen Konventionen loszulassen, lernt man auch in anderen Situationen, in anderen Lebensbereichen spontaner auf Dinge zu reagieren. Und für mich ist es wünschenswert, dass Menschen mit der Ungewissheit positiv umzugehen lernen. Und vor allem, dass die Menschen dadurch erkennen, dass ihre Arbeit was wert ist und nicht ihre Anwesenheit. Motivation und Selbstvertrauen sollten den Menschen Sicherheit geben und politisch sollten nur die Rahmenbedingungen geschaffen werden, dass sie nicht so leicht ausgenutzt werden können.
Die kleine Tafel
Wir haben im Büro eine kleine Tafel. Da stehen ganz verrückte Dinge drauf, die wir gerne verwirklichen würden, wenn wir einmal Zeit haben. Auf solche Ideen kommt man meistens dann, wenn man selbst mit einem Problem konfrontiert ist. Haben Sie zum Beispiel schon einmal eine Waschmaschine drei Stockwerke hinaufgetragen? Das eigentlich Schwere sind dabei nämlich die Betongewichte, die normalerweise für die Standfestigkeit sorgen. Wenn Sie wissen möchten, wie man Waschmaschinen und deren Träger erleichtern könnte, kommen Sie einfach zu mir. Gruppen und Dynamik
Also ich muss jetzt einmal sagen – international gesehen – kommt mir vor, dass es ideenloser wird. Die Vorbilder fehlen. Mir erscheint alles marionettenhafter und damit meine ich eine Marionette der Eigendynamik. Ähnlich wie
Erste Spuren • In Zukunft wird jeder selbst für sich verantwortlich sein, und nicht mehr der Staat. • Ich glaube an langlebige und nachhaltige Dinge. • Man kann in jedem Job Gefallen oder Erfüllung finden, es geht um die Lebenseinstellung und die Motivation.
Urbanität I 59
Luise Kloos
Die Leichtigkeit des Seins
Am Anfang war Luise Kloos Krankenschwester. Weil Sie nach dem Mehr suchte, studierte sie Psychologie, Philosophie, Pädagogik und Soziologie. Dem nicht genug, begann sie am Ende ihres Studiums eine therapeutische Ausbildung. Das alles hätte locker für eine Assistentin an der Universität gereicht. Sie lehnte dankend ab. Und wurde Künstlerin. Vermutlich weil man so Dinge anders sehen lernt. Ihre zwei Kinder hatten dadurch die Chance, auch ganz ohne Fernseher Perspektiven zu finden.
Wege zur Kraft
Der wichtigste Ort der Entspannung ist der in uns selbst. Ich muss mein Leben so gestalten, dass ich wie ein Vogel auf einem Ast sitze und davonfliegen kann. Aber das geht nur, wenn ich in mir ruhe. Für alle, die diesen Ort der Entspannung nicht entdecken können, gibt es noch die Museen. Gewappnet
Als Künstlerin treibt mich die Lust. Die Inspiration für meine Arbeit nehme ich aus unterschiedlichsten Dingen. Es können Geschichten sein, es können Lichtmotive sein, es können Erlebnisse sein. Manchmal sind es nur Worte, die ich höre oder Dinge, die ich lese.
Am ehesten bereit für die Zukunft sind sicherlich jetzt schon meine Künstlerfreunde, weil die nicht in gesicherten Systemen leben. Sie haben sich nie in eine Abhängigkeit begeben. Es werden auch alle, die sich mit Hilfe von Sprache besonders gut ausdrücken können, erfolgreich sein, denn die Qualität der Vermittlung von Sprache wird zunehmen. Zugleich ist aber auch der Umgang mit der Qualität von Bildern ganz wesentlich.
Sehnsucht Natur
Wünsche
Ich bin viel in der Natur. Und ich bemerke den Trend vieler Leute, von Graz wegzugehen, um im Grünen zu wohnen. Unsere künstliche Welt, die Entfernung von der Natur trägt letztlich wieder dazu bei, dass wir uns die Natur ersehnen. Wir können uns aus der Natur nicht einfach entkoppeln, weil wir ein Teil der Natur sind. Im Wohnbau müsste die Profitgier endlich aufhören und so menschenwürdigere Behausungen geschaffen werden. Wenn ich Käfige schaffe, in denen die Raumhöhe 2,20 m ist und ich auf engstem Raum leben muss, schafft die Architektur gesellschaftliche Probleme.
Ich wünsche mir, dass es 2017 ganz normal wird, Internet im Haus zu haben, so wie Wasser und Strom. Ich hoffe auch, dass 2017 kein Kind mehr unbeaufsichtigt zuhause ist, also ein „Schlüsselkind“ sein muss. Ich will mir auch keine Sorgen machen müssen, dass ich alt und krank werde. Dazu brauchen wir auf ältere Menschen ausgerichtete Strukturen. Wir sollten außerdem täglich mindestens eine Stunde unserer Kraft hergeben und ehrenamtlich helfen. Und wenn es auch nur eine Viertelstunde wäre, wir wären die schönste Gesellschaft.
Licht, Lust und Leidenschaft
Tanz-Schule
Wäre ich Bildungsministerin, würden Kinder jeden Tag Stunden in Bildnerische Erziehung, Musik, Literatur und Tanz haben. Der Tanz verhilft zu so viel Lebensfreude und Leichtigkeit. Man lernt auf einer ganz anderen Ebene zu kommunizieren. Was wirklich zählt
Der spannendste Ort in Graz ist für mich die Gotische Doppelwendeltreppe in der Burg, weil sie für die Dynamik des „Sich-Begegnens“ und wieder „Auseinandergehens“ steht. Perfekte Orte sind aber oft unspektakulär. Deshalb haben Klöster auch so eine Bedeutung. Alle diese Orte, die so unspektakulär einfach sind, haben eine unsichtbare Wirkung auf das ganze Leben.
Erste Spuren • Die Qualität der Vermittlung von Sprache wird zunehmen. • Intellekt und Emotionalität sollten sich immer die Waage halten. • Alte Menschen werden zunehmend nicht mehr von Familienmitgliedern betreut, auch weil es keine starke emotionale Bindung mehr gibt.
60 I Urbanität
Kurt Salamun
Geliebte Weisheit
Geboren 1940, lehrt er – obwohl offiziell in Rente – noch immer Philosophie an der Karl Franzens Universität. Er ist verheiratet und hat zwei Kinder. Die besonders intensive Auseinandersetzung mit den Ideen des Existenzphilosphen Karl Jaspers hatte unter anderem die Gründung der österreichischen „Karl Jaspers Gesellschaft“ zur Folge, der er auch als Präsident vorsteht. Und obwohl Neo-Pensionär, denkt er nicht ans Aufhören. Das gilt auch für eine weitere große Leidenschaft in seinem Leben, der er dreimal wöchentlich frönt. Dem Hallenfußball. Das Fehlen eines philosophischen Diskurses
Vielen fehlt heute vor allem auch in Top-Positionen der „größere“ Blick. Die humanistische Sicht der Dinge. Kein Wunder, dass der Zeitgeist überwiegend von einer Effizienzideologie beherrscht wird. Die Philosophie kann generalistisches Denken lehren und andererseits kritisches Reflexionsvermögen verinnerlichen helfen, sodass man die negativen Seiten der Wissenschaftsentwicklung durch Wissenschaftskritik und die der Gesellschaftsentwicklungen durch Gesellschaftskritik aufzeigen kann. Philosophen sollten sich daher öfter öffentlich deklarieren. Hier fehlt die PR-Arbeit an den Unis. Und leider gibt es meiner Meinung nach auch einen Mangel an fähigen Wissenschaftsjournalisten, die sie dabei unterstützen könnte. Der letzte fähige Wissenschaftsjournalist war Herr Kreutzer, der in den frühen 80er Jahren Karl Popper an die Öffentlichkeit gebracht hat. Der europäische Geist
Wenn die europäische Einigung auf einer rein ökonomischen Ebene abläuft, kommt es zu einer Leerstelle in Bezug auf die Werte und Weltanschauungen. Dann bilden sich entweder engstirnige Nationalismen heraus oder es kommen heilversprechende Ideologien von außen. Die Frage ist doch: Worin bestehen die kulturellen Eckpunkte der europäischen Kultur? „Der europäische Geist“. Man darf liberale, weltoffene, tolerante Wertvorstellungen nicht preisgeben, aber ihnen gegenüber auch nicht zum Opportunisten werden. Der Mensch ist das einzige Lebewesen, das als anthropologische Grundkonstante ein Sinnbedürfnis hat. Wir tendieren alle dazu, unsere Handlungen zu rechtfertigen, meist durch Ideale. Wenn Ideale dogmatisiert werden, können sie zu Ideologien werden. Diese Dogmatisierung gilt es im kritischen Sinn
immer zu relativieren. Andererseits muss man solche Ideale für die Zukunft auch konstruieren. Als Philosoph scheint es mir wichtig, solche Ideale aus den Traditionen zu konstruieren. Nach Hans Lenk, einem bedeutenden deutschen Philosophen, hat die Philosophie die Aufgabe, Sinnideale ohne Sicherheitsgarantien anzubieten. Leben in der Stadt
Ich lebe in Graz in einem privilegierten Viertel. Alle Bildungsinstitutionen wie AHS, Volksschule und Uni befinden sich in 10 Minuten Gehreichweite. Eine weitere Lebensqualität ist, dass man sehr schnell im Grünen ist und innerhalb von 15 Minuten im Stadtzentrum. Mein Auto muss ich nur sehr selten benutzen. Ein weiterer wichtiger Punkt für die Lebensqualität sind Kinderspielplätze. Obwohl die Spielplätze zu stark technisiert sind und die natürliche Bewegungsentfaltung zu wenig berücksichtigt wird. Weiters gibt es einen Markt, auf dem ich und meine Frau immer Bioprodukte einkaufen. In meinem Bezirk gibt es zwar viele Pensionisten, aber das Freibad ist ein Treffpunkt für die Kinder geblieben. Auch die Zugänglichkeit der Sportanlagen ist sehr wichtig, da der Jugend auf diese Art eine Möglichkeit zum Abreagieren geboten werden kann. Der Identifikationsgrad mit dem Lebensraum, in dem man sich befindet, muss gegeben sein. Wichtig wäre hier eine stärkere Vernetzung der Schulen, der Erwachsenenbildung und des kulturellen Angebotes. Ich nehme für die Kommunalverwaltung am ehesten Wien als Vorbild, sowohl auf unterer Ebene bei den Bezirksräten, wie auch auf der Eventebene. Da gibt es nicht viel auszusetzen.
Erste Spuren • Die Menschen fühlen sich immer ungeborgener und unsicherer. • Es wird zu keinem „Clash der Kulturen“ kommen • Die Effizienzideologie führt zu einer Abwertung der generalistischen Bereiche. Der Blick auf die Gesellschaft wird so zu eng.
62 I Impressum
Jänner 2006
Eduardo Dalla Hintergrundbild Seite 29
Redaktion Institut für Markenentwicklung Graz Franz Hirschmugl (Chef vom Dienst) Martin Müller Markus Petzl Michael Sammer Markus Zeiringer
styriarte/Binder Porträt Seite 31 Volker Beck/Photocase.de Hintergrundbild Seite 31 Monsberger Gartenarchitektur Porträt Seite 32 bigshot/Gery Wolf Hintergrundbild Seite 32
Gestaltung Gabi Peters
alex hüttner Porträt Seite 37 FH Joanneum GmbH Porträt Seite 38
Bildnachweis
Matthias Hartmann Porträt Seite 41
Stefan A. Haring
jellofishy
Cover, Hintergrund Seite 2 und rechtes Porträt
Hintergrundbild Seite 41
Claudio Alessandri
Fotostudio Sissi Furgler/mediendienst.com
Hintergrundbild Seite 4/5
Porträt Seite 43
Maria Ziegelböck
bigshot/Paul Ott
Porträt Seite 6
Hintergrundbild Seite 43
Helmut Konrad / Fotostudio Sissi Furgler
Sylvia Müller-Trenk
Porträt Seite 11
Porträt Seite 44
FH Joanneum GmbH, Milo Tesselaar
Nick Walton
Porträts Seite 12/13
Hintergrundbild Seite 44
bigshot/Christian Jungwirth
Michael Redik
Porträt Seite 14
Porträt Seite 46
CNSystems
Judith Schwentner
Porträt Seite 16
Porträt Seite 49
Steirische Wirtschaftsförderung GmbH
Ernst Giselbrecht
Porträt Seite 19
Porträt Seite 50
Clarissa Mayer-Heinisch
Gerhard Roth
Porträt Seite 21
Porträt Seite 53
Landesmuseum Joanneum GmbH
GRAM
Hintergrundbild Seite 21
Hintergrundbild Seite 53
Barbara Porotschnig
Heinz Hagenbuchner
Porträt Seite 22
Porträt Seite 55
Bertram Werle / Fotostudio Sissi Furgler
Roman Wratschko
Porträt Seite 24
Porträt Seite 56
bigshot/Stefan Kristoferitsch
Luise Kloos
Hintergrundbild Seite 24
Porträt & Hintergrundbild Seite 58
bigshot/Christian Jungwirth
Kurt Salamun
Porträt Seite 26
Porträt Seite 61
Medizinische Universität Graz
Pat Herman
Porträt Seite 29
Hintergrundbild Seite 61
www.graz-reininghaus.at
eine publikation der
reininghaus gesellschaft