43 Beispiele mit Eigenschaften.

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43 Beispiele mit Eigenschaften. Ein Panoptikum.


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Anstelle eines Vorwortes. Die Entwicklung von Graz-Reininghaus zu einem Stadtteil mit Eigenschaften besteht aus vielen Schritten. Einer davon ist die Verdichtung der in Buchform erschienenen „Konzeptionen des Wünschenswerten“ zu einer Struktur der Eigenschaften. Die einzelnen Eigenschaften sind nicht losgelöst voneinander, sondern als Teile der Gesamtstruktur zu verstehen. Die Dynamik des Modells ergibt sich aus den Wechselwirkungen und Widersprüchlichkeiten, die dadurch entstehen. Dieses Netzwerk von Wertebündeln ist Instrument für die persönliche und kollektive Reflexion. Und Leitfaden für konkrete Entwicklungsschritte. Im vorliegenden Fall für eine lose Beispielsammlung anderenorts bereits gelebter Spielarten der gewünschten Eigenschaften. Als Inspiration für eigene zukünftige Interpretationen in und durch Graz-Reininghaus.

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Inhalt

Die Magie des Unnormierten

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Alles eine Frage der Perspektive Malerische Stadtansichten Die Zeche, bitte! Über Mut in Grün Freiraum gesucht/Freiraum gefunden Macht Musik Subversive Zeichensetzungen Halten Sie Abstand! Auch du bist anders Der ferne Nachbar Erfahrung gesucht Kleine Hilfe, große Wirkung Ein „normales“ Leben

10 12 14 16 18 20 22 24 26 28 30 32 34

Die Kräfte des Unternehmerischen

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Beluga School for Life Vernetzte Welten ‘We think’ – Kollaborative Kreativität Madteater – mit dem Essen spielt man doch Spielraum für neue Erkenntnisse Inspiration durch ‘thoughtless acts’ ‘Well being’ als Unterrichtsfach Karriere mit Leere? VocationVacations Shapeshifters – Global mitdenken Geschäftsmodell Schule Unternehmerische Kräfte in Zahlen

40 42 44 46 48 50 52 54 56 58 60 62

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Miteinander Leben lernen

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Universal Embassy Ein Stadtteil als Aktiengesellschaft Hongkong – Ein lautloser Platz Neue Begegnungsorte Der geplante Zufall Architecture of Life Wie man einen Staat grßndet Penny University Haus der Religionen in Bern Kollektiver Ungehorsam Ungleichzeitigkeiten in der Stadt Urbanes Leben in Zahlen

68 70 72 74 76 78 80 82 84 86 88 90

Neue Formen von Sicherheiten

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Shrovetide Match Immobilien 2.0 Gemeinsam unterwegs FixMyStreet Partizipative Stadtbudgets Burning Man & Black Rock City Die B-Society Architektur vor Ort Biomapping Stadt und Sicherheiten in Zahlen

96 98 100 102 104 106 108 110 112 114

Impressum

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Wir wollen doch nur spielen Maximale Differenz Die Kultur des Scheiterns Kunst als Lebensmittel

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Die Magie des Unnormierten Es mag paradox klingen: Aber die so gerne beschworene Vielfalt und Angebotsfülle in allen Lebenslagen wird immer mehr zum Einheitsbrei. Willkommen im Zeitalter der uniformen Ungleichheit. Zugegeben, der Mensch braucht Normen und Sicherheiten. Aber es braucht eine Balance zwischen Regeln und Freiraum. Sonst wird aus Sicherheit Entmündigung und aus der Norm ein Mangel an Lebendigkeit. Das Makellose ist für uns nur begrenzt erträglich. Wir lieben Unregelmäßigkeiten und Überraschungen. Wir wollen spielen, scheitern und widersprüchlich sein. Wollen die Welt aus unterschiedlichen Perspektiven wahrnehmen und uns selbst dabei ein fürs andere mal neu entdecken und erfinden.

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Ein unnormiertes Dutzend

Alles eine Frage der Perspektive

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Stadtgründung in einer Woche

Malerische Stadtansichten

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Über Sein und Schein

Die Zeche, bitte!

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Die Neuinterpretation eines Industriekomplexes

Über Mut in Grün

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Die hängenden Gärten des Monsieur Blanc

Freiraum gesucht/Freiraum gefunden

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London/Amsterdam

Macht Musik Ein Kindergarten. Zwei Dirigenten. Ein Film.

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Subversive Zeichensetzungen

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Über allerlei Hackereien

Halten Sie Abstand!

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Wir spielen Arbeit.

Auch du bist anders

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Ungleich und Ungleich gesellt sich gerne

Der ferne Nachbar

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Eine Reise durch die Wand

Erfahrung gesucht

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Über das Altern. Auch von Städten.

Kleine Hilfe, große Wirkung

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Private Mikrokredite für Start-ups

Ein „normales“ Leben in Zahlen

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Alles eine Frage der Perspektive Stadtgründung in einer Woche.

Die Hochschule St. Gallen hat im Jahr 2001 begonnen, für ihre Erstsemestrigen eine sorgfältig gestaltete Einführungswoche anzubieten. Mit dem Ziel, entlang fachbereichsübergreifender Themen den angehenden Studenten zu ermöglichen, sich auf unkonventionelle Art und Weise in ihr Dasein als Studenten eingewöhnen zu können und dabei gleichzeitig das gewählte Studium in größerem Kontext verstehen zu lernen. Sowie ihre Sozialkompetenz zu erhöhen. Im Jahr 2005 war unter dem Titel „Futuropolis“ die Zukunft der Stadt Thema. In 70 Gruppen beschäftigten sich 850 Neo-Studenten aus sozialund wirtschaftswissenschaftlichen Studienrichtungen eine Woche lang mit diesem Thema. Angeleitet und begleitet von Daniel Libeskind begaben sie sich auf die Suche nach den inneren Zusammenhängen von Stadt als gebauter Gesellschaft, und konzipierten und visualisierten ihre Wunschbilder.

„Im Ernst: gründen wir eine Stadt. Genauer gesagt: versuchen wir es. Denn darin besteht das Wesentliche: Dass es ein Experiment ist. Es soll uns zeigen, ob wir noch eine lebendige Idee haben, eine Idee, die eine Wirklichkeit zu zeugen vermag, eine schöpferische Vorstellung von unserer Lebensform in dieser Zeit.“ (Max Frisch)

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Das Besondere daran war nicht nur der mit einer Woche eng begrenzte Zeitraum, sondern die Herangehensweise an sich. Denn neben Vorträgen und Workshops galt es, das Gedachte auch in Form zu bringen. Die Materialisierung sollte jedoch nicht in Gestalt von Straßen, Häusern und Plänen oder anderen gewohnten architektonischen und städteplanerischen Instrumentarien erfolgen, sondern in Form von skulpturalen Szenarien und Strukturen. Als Bild für eine Annäherung an eine urbane Gesellschaft der Zukunft. Entlang von Themen wie Bildung, Natur, Produktion aber auch Identität und Spiritualität galt es zuerst, einen Verfassungsentwurf auszuarbeiten. Als ästhetischer Startpunkt und Rahmen für die präzise Umsetzung aller Visionen diente eine materielle Plattform von Daniel Libeskind selbst. Wesentlich im Prozess war die Notwendigkeit die einzelnen Ergebnisse untereinander und aufeinander abzustimmen, um am Ende das Gesamtmodell Futuropolis zu realisieren. So standen am Ende dieser Startwoche nicht nur 70 unterschiedliche Skulpturen im Baseler Kunstmuseum, sondern – bei aller Vielfalt – auch eine gemeinsame Vision von der Stadt der Zukunft. Ein dreihundert Seiten starkes Buch dokumentiert nicht nur den Prozess, sondern bringt ergänzende Beiträge von namhaften multidisziplinären Autoren wie Saskia Sassen, Kees Christianse oder Steven Kelman rund um das komplexe Thema Stadtentwicklung, und spannt so einen weiten Bogen von der Notwendigkeit von Management und Magie in der Stadt der Zukunft, über die Entdeckung der Stadt als Bühne für Marken an Hand von Niketown bis hin zur Stadt als Farbenfabrik. Als Startpunkt für weitere Debatten über Stadt und Zukunft. Nicht nur in St. Gallen.

Wie man mit 800 Studenten in sieben Tagen dem Thema Stadt der Zukunft dank innovativer Formate Breite und Tiefe verleiht. Ein Hochschulprojekt, das im wahrsten Sinn des Wortes Schule machen sollte. „Learning from Niketown“: Die Stadt als Markenerlebnisraum, in „Die Stadt als Perspektive - Zur Konstruktion urbaner Räume“, Hatje Cantz 2006 www.startwoche.unisg.ch

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Eine malerische Stadt Über Sein und Schein

Glauben Sie nicht alles was Sie sehen! Denn bekanntlich ist die Wirklichkeit nicht immer wirklich wirklich. Unter anderem an jenen Orten, an denen die Damen und Herren von der „Cité de la création” ihre Finger im Spiel haben. Denn ihr Geschäft ist das der Täuschung. Besser, der Illusion. Mit der trompe d´oeil Technik, die schon im alten Pompeij bekannt war, gestalten die in einem Vorort von Lyon beheimateten Künstler Fassaden mit fotorealistischen Szenen urbanen Lebens und erzeugen beim Betrachter mitunter die Wirkung, echtes Leben vor sich zu haben. Die Gestaltung richtet sich sowohl in Technik und Inhalt nach dem Ort des Geschehens. Die Einbeziehung der Umgebung führt so zu einer integrativen künstlerischen Gestaltung des öffentlichen Raums. Der Gründer der „schöpferischen Stadt“ Gilbert Coudènez: „These creations reflect cultural, social or economical identities. They aim at revealing, underlining, embellishing places, districts, cities, urban spaces, but also industial or service spaces.“ Nicht alle Werke finden sich in Metropolen, auch kleinere Städte, abgelegene Stadtviertel und Industrieanlagen erhalten so unverwechselbare Original urbaner Kunst. Neben den urbanen Szenen umfasst ihr Oeuvre auch Comics und Fantasy. Mit ihren über 400 meist großflächigen Fresken und Wandgemälden sind sie nicht nur in französischen Städten vertreten, sondern unter anderem auch in Berlin, Jerusalem, Barcelona, Mexico-City oder Quebec.

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Es gibt viele Wege vorhandene Substanz in der Stadt attraktiver und interessanter zu machen. In der Gestaltung von Fassaden jenen diese zu bemalen. Verlässt man dabei die üblichen Wege durchschnittlicher Maler- und Anstreicherkreativität, erhält man mitunter verblüffende Einblicke und Ausblicke auf städtisches Leben, das mitunter gar keines ist. www.cite-creation.fr www.europaviertel-berlin.de/presse/derspiegel.jpg

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Die Zeche, bitte! Die Neuinterpretation eines Industriekomplexes

„Eindrucksvoll ragt er rostrot in den Himmel – der Doppelbock, das Fördergerüst von Schacht XII.“ Was sich heute vor den Toren Essens auf der 100 ha großen Fläche einer ehemaligen Kokerei und Zeche erhebt, hat mit der zu ihrer Eröffnung 1932 modernsten Anlage mit einem Fördervolumen von 3,8 Mio Tonnen pro Jahr nicht mehr viel zu tun. Wobei. Modern ist es auch. Und gefördert wird hier auch wieder. Vor allem Kreativität. Unter Federführung von Rem Koolhaas entstand auf dem als Weltkulturerbe geschützten Industriegelände ein zukunftsorientierter Erlebensraum. Oder wie sie es selbst nennen:

„Ein Laboratorium der Moderne, Zukunft, Visionen Potenziale“.

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Schön gesagt. Darum lassen wir der Einfachheit halber die Zechkumpanen über sich selber sprechen: Spektakuläre, neue Architektur trifft auf schlichte und klare Bauten der früheren Schwerindustrie. Zollverein ist das Symbol für kreatives Unternehmertum. Über 100 Unternehmen mit über 1.000 Arbeitsplätzen haben sich angesiedelt. Tendenz steigend. Die designstadt n°1 ist zu 100 % vermietet. „Zollverein: Experimentierfeld für innovative Büro-Konzepte - In Zusammenarbeit mit der Zollverein School of Management and Design lobt der Zollverein den Architekturwettbewerb 2007 mobile working spaces – Temporäre Bauten als Raumangebote für Gründer aus“ Schauplätze des internationalen Festivals der Künste sind die herausragenden Industriedenkmäler des Ruhrgebiets, die in spektakuläre Aufführungsorte für Musik, Theater, Literatur und Tanz verwandelt werden. Unter dem Motto „SPACE - shaping politics, architecture, culture & economy” stellt der Masterstudiengang an der Zollverein School Gestaltung in einen neuen Kontext: SPACE besetzt nicht die klassische Mitte der Architekturausbildung, sondern maximiert deren Ränder. Studienstart ist im Oktober 2007.

Industriearchäologie in Essen. Der Weltkulturhauptstadt 2010. Ein Grund mehr einen genauen Blick auf ein offensichtlich gelungenes Beispiel der Belebung eines zuvor toten Areals zu werfen. www.zollverein.de www.zoolverein-school.de

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Über Mut in Grün. Die hängenden Gärten des Monsieur Blanc.

Wer schon einmal im Dschungel war, kennt das Gefühl. Man steht vor einer undurchdringlichen Wand aus Grünpflanzen. Mitten in Paris geht es einem mitunter genau so. Sofern man vor einer von Patrick Blanc begrünten Wand steht. Wie etwa im Hotel Pershing Hall. Seinem bislang größten Projekt. Über 10 Stockwerke hat Blanc, der schon als Jugendlicher damit begann, Wasserpflanzen als Wandbegrünung einzusetzen, hier auf mehreren hundert Quadratmetern einen seiner „Vertikalen Gärten“ angelegt. Die Technik ist simpel aber raffiniert. Und von ihm selbst entwickelt. In Verbindung mit seinem umfassenden botanischen Wissen und seiner ausgeprägten künstlerischen Ader entstehen so einzigartige grüne Bildflächen. Über deren Wirkung er folgendes sagt: „Die Reaktion der Leute auf meine Pflanzenwände ist oft genau so, wie die Reaktion der Menschen auf ein Gemälde. Wir stehen aufrecht und die Pflanzenwände stehen aufrecht, sie sind uns zugewandt. Wir haben also einen umfassenden Überblick, folglich nehmen wir sie wie ein Bild wahr. Dies ist bei der Arbeit des Landschaftsgärtners überhaupt nicht der Fall. Denn ein Landschaftsgärtner arbeitet stets auf der Horizontalen. Er ist es, der entscheidet, welche Szenen den Passanten interessieren werden. Ich lasse dem Betrachter meiner pflanzlichen Wände dagegen die totale Freiheit, sich entsprechend seiner Fantasie für diesen oder jenen Bereich zu interessieren.“ Für Blanc sind seine Gärten eine „Invasion der Natur in die Stadt“, die sich an jeder beliebigen Metro-Station installieren lasse.

„Mauern gibt es doch überall, und die Menschen hassen nichts mehr als grauen Beton.“ Paris scheint überhaupt ein guter Nährboden für grüne Architektur. Edouard Francois hat in seinem Projekt „Tower Flower“ einen schlichten Wohnturm mit 380 winterharten Bambuspflanzen in riesigen Betontöpfen begrünt. Diesmal keine Luxusherberge, sondern ein sozialer Wohnbau in Grün. Bepflanzte Fassaden sind zwar wartungsintensiver, dafür aber in der Herstellung kostengünstiger als nackte. In Holland gewinnt Grün Höhe indem Gärten zu einem „Urban Cactus” übereinander gestapelt werden.

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Über die Notwendigkeit grüner Oasen in der Stadt gibt es kaum Zweifel. Zu offensichtlich die Vorteile für das Mikroklima, die Luftqualität und die Seele des Betrachters. Mangels horizontaler Flächen nützt man vermehrt nun auch die Vertikale. Und schafft somit neuen Grünraum. www.verticalgardenpatrickblanc.com www.pershinghall.com edouardfrancois.com www.ucxarchitects.com

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Freiraum gesucht In London.

The Creative Space Agency is an innovative service that links owners of vacant property with creative professionals looking for potential spaces in London in which to work, exhibit, perform or rehearse. The services on offer through the Creative Space Agency include an up to date list of available spaces in London, handy fact sheets and regular training sessions to help creative professionals get the most out of the service. The Creative Space Agency is a project delivered jointly by CIDA (the Cultural Industries Development Agency) and Urban Space Management. CIDA is the leading support organisation for the creative and cultural sector. We help thousands of creative individuals, businesses and arts organisations by providing information, business support, professional development training, networking & showcasing opportunities, and by commissioning new work. Urban Space Management is a leading developer and manager of regeneration projects in Great Britain and the United States, drawing more than 15 million visitors to it projects annually. This initiative is funded by Arts Council England, London and Creative London - London Development Agency.

Auch so kann es gehen. Das alte Spiel vom Suchen und Finden auf erfrischend einfache Weise neu gelรถst. www.creativespaceagency.co.uk

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Freiraum gefunden In Amsterdam.

A former shipyard on the northern banks of the IJ and larger than 10 football fields, the NDSM wharf is now a center for underground culture in Amsterdam. This huge area contains the NDSM hall, a hangar-like structure 20,000 sq. meters in area and 20 meters in height, the 6,000-sq. meter Docklandshal and two historic ship slipways (Hellingen) housing workshops and artists’ studios. The NDSM wharf offers facilities for a number of artistic disciplines and small crafts. The wharf has also become a sanctuary for individual artists and craftspeople as well as for independent organizations, both established and less known, to cooperate, inspire and create.

Leben in alte Industriegemäuer zu bringen, kann kreativ sein und kreativ machen. In Amsterdam haben sie eine gute Mischung gefunden. www.ndsm.nl/

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Macht Musik Ein Kindergarten, zwei Dirigenten, ein Film.

„Ich möchte, dass die Kinder viel durch Musik lernen, dass sie viel Spaß dabei haben - und dass nach zwei oder drei Jahren Kindergarten, wenn sie dann in die Schule gehen, dass sie dann die Revolution von innen machen. Das heißt, dass sie alle die Frage stellen: Wo ist die Musik? Warum haben wir Musik im Kindergarten gehabt und jetzt in der Schule nicht mehr?” So Daniel Barenboim, Pianist und Dirigent von Weltrang der im Jahr 2005 einen Musikkindergarten in Berlin eröffnet hat. Musik soll für Kinder unverzichtbar werden. „Es hat nichts mit elitär zu tun, nichts mit arm und reich. Nicht mit besonders Begabten oder nicht. Die Idee ist, dass es für alle möglich ist, sich damit zu beschäftigen.” Als Leiter der Staatskapelle Berlin sorgt Barenboim dafür, dass deren Musiker und Sänger regelmäßig im Kindergarten zu Gast sind und dort ihre Instrumente vorstellen und mit den Kindern musizieren. Der Andrang in den Kindergarten übersteigt dessen Kapazitäten bei weitem.

Musik verbessert die kongnitiven Fähigkeiten. Und macht nachweislich glücklicher. Die Wissenschaft ist sich diesbezüglich einig. Trifft sich ja gut. Gehört doch Musik hören zu den Lieblingsbeschäftigungen von Kindern und Jugendlichen. Der Haken an der Sache. Nur hören reicht nicht. Man muss dazu aktiv musizieren oder singen. Und daran hapert es. In den Kindergärten, Schulen und zu Hause. Das zu ändern, ist Ziel dieses außergwöhnlichen Projekts. Der zweite Verbündete im Geiste der Musik. Sir Simon Rattle. Ebenfalls Dirigent. Ebenfalls in Berlin zu Hause. Unter seiner Leitung geschah 2003 Erstaunliches. 250 Berliner Kinder und Jugendliche aus 25 Nationen und zum überwiegenden Teil ohne Erfahrung mit klassischer Musik tanzen Strawinskys „Le Sacre du Printemps”, begleitet von den Berliner Philharmonikern unter seiner Leitung, choreographiert von Royston Maldoom. „Im Verlauf der Proben lernen sie alle Höhen und Tiefen kennen, Unsicherheit, Selbstbewusstsein, Zweifel und Begeisterung: Eine emotionale Reise in neue, ungeahnte Welten und zu verborgenen Facetten ihrer Persönlichkeiten. Das Ergebnis: Der vom Publikum und Kritik begeistert aufgenommene Film: „RHYTHM IS IT!“ von dem sich „Die Zeit“ wünscht, dass er „Pflicht in allen Schulen wird.” 20


Die aktive Auseinandersetzung mit Musik wirkt sich nachweislich positiv auf das Individuum und die Gesellschaft aus. Gerade in jungen Jahren bleibt das Potential einer der ältesten Kulturtechniken, der Menschheit – der „Essenz des Menschseins“ – jedoch meist ungenutzt. www.musikkindergarten-berlin.de www.rhythmisit.com Welt Online: „Die ganz kleinen Schüler des Maestros”, 13.04.2007

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Subversive Zeichensetzungen Über allerlei Hackereien

Wenn man heute über Hacker redet, meint man meist jene Computerfreaks die sich einen Spaß daraus machen, in fremde virtuelle Netzwerke einzudringen, Sicherheitslücken aufzuspüren und sich damit ganz real Ärger einhandeln. Wer aber weiß, dass das Wort hacking sich vom altenglischen Wort für Waldarbeiter ableitet. Und somit eine wunderbare Überleitung bildet zu jenen Menschen, die vorzugsweise in urbanen Ballungsräumen mit Harke und Spaten ausgestattet bei Nacht auch ohne Nebel unscheinbare und unansehnliche Grünflächen in der Stadt bepflanzen. Und ein Zeichen setzen, indem sie sie in Eigenregie verschönern. Damit das nicht ganz so harmlos klingt, nennt man das heute guerrilla gardening.

Gärtner als Kampftrupps gegen verwahrloste Grünflächen. Very british. Isn´t it? Um Zeichensetzung andere Art geht es zum Beispiel Gregor Graf, der auf seinen photographischen Stadtporträts im Nachhinein alle Zeichen enfernt und somit eine bewusste Irritation setzt im überbordenden Wirrwarr urbaner Zeichen der Gegenwart. Dadurch erhält man einen anderen Blick auf Gewohntes. Neue Einblicke in Strukturen von Städten die anders nicht mehr sichtbar sind. Dementsprechend nennt er sein Projekt auch „hidden town“.

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Ähnliches beabsichtigt die Disziplin des cultural hacking. Franz Liebl, Professor für Strategisches Marketing an der Universität der Künste in Berlin, hat unter diesem Titel ein Buch herausgegeben, in dem er strategische Handlungsansätze zum Eindringen in fremde Systeme versammelt hat, denen allen eines gemein ist, nämlich dass sie auf ganz unkonventionelle Art an das Thema kulturelle Innovation herangehen. Durch Manipulation und Zweckentfremdung. Und unter urban hacking versteht man die Verschmelzung von Kunst und Stadtkultur. Wie etwa beim Überwachungskameratheater.

Wem gehört der öffentliche Raum. Und wer hat die Macht, aber auch die Phantasie diesen mit seiner Zeichensprache zu bespielen oder vorhandene umzudeuten. Der bewusste kreative Missbrauch gegen die Einfallslosigkeit ist ein Weg. www.guerrillagardening.org www.gregorgraf.net brandeins: „Powerpizza statt Powerbook”, 09/2005

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Halten Sie Abstand! Wir spielen Arbeit.

Seit der Kulturanthropologe Johan Huizinga den Begriff des Homo ludens, des spielenden Menschen, und das dictum von „Ursprung der Kultur im Spiel“ geprägt hat, widerspricht fast niemand der These, dass das Spiel am Anfang von allem steht. Kinder entdecken die Welt im Spiel, und auch wir Erwachsenen nutzen jeden erdenklichen Freiraum um zu spielen. Wenn wir dürfen. Nur dürfen wir gerade da nicht wo wir die meiste Zeit verbringen. In der Arbeit. Aber genau das würde manchmal helfen. Wie bei Ferrari. Genauer gesagt im Creativity Club bei Ferrari. Dem Versuch Mitarbeiter die Arbeit und Quartalszahlen von Zeit zu Zeit vergessen machen zu lassen. In Gruppen zu 20 Personen haben Mitarbeiter aller Hierarchiestufen die Möglichkeit, über das gewohnte Umfeld hinaus zu denken und den eigenen Horizont spielerisch zu erweitern. Kurz: Auf andere Gedanken zu kommen. In Kursen und Workshops können sich die Ferraristi gemeinsam mit Malern, Musikern, Fotografen, Schauspielern etc. auf deren Arbeit und Spiel einlassen. Und so geschieht es, dass sich ab und an Mechaniker und Verkaufsdirektor leidenschaftlich über ihre Interessen abseits dröhnender Motoren, Geschwindigkeit und roten Lacks unterhalten. Gerade dieser über andere Gedanken gewonnene Abstand ist es, der mitunter als Inspiration wieder in die Arbeit zurückfließt. Oder ins Leben. All das ist Teil eines Gesamtprogrammes namens „formula uomo“. Mit dem Ziel ein anregendes Umfeld für alle Mitarbeiter zu schaffen. Um das spielerische Element auch in Unternehmen zu holen, die sich einen eigenen Kreativclub nicht leisten können, sollte man sich an die Firma Lego wenden. Und auch dieser Zugang hat mit Geschwindigkeit zu tun. Mit dem Lego Serious Play (LSP) bietet Lego einen spielerischen Zugang, wie man bei der Suche nach Problemlösungen schneller zu Ergebnissen kommt indem man alle mitspielen lässt.

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LSP verspricht: „a radical, innovative, experiential process designed to enhance business performance. It is based on the belief that everyone can contribute to the discussion, the decisions and the outcome. Fast track to the real issues, and make more, better and faster decisions.“ So hat der dänische Pharma Riese Novo Nordisk das Problem, mit seinen in Brasilien tätigen Mitarbeitern hinsichtlich der Integration ihrer Familien vor Ort dadurch gelöst, dass in einem zweitägigen LSP Workshop nicht nur die Mitarbeiter, sondern auch die Familien „mitspielen“, also mitdiskutieren und mitentscheiden konnten. Allein die Tatsache, dass Mitarbeiter und Familien ernsthaft miteinander gespielt haben, war schon ein Teil der Lösung. Denn so konnte man fernab der Heimat vom Start weg zumindest einmal auf bewährte Spielkollegen zurückgreifen. Neben dem LSP bschäftigt sich Lego in seinem Lego Learning Institute mit den Zusammenhängen zwischen Spielen, Lernen und Kreativität.

Im Spiel liegen Potentiale, die man oft vor lauter Ernst nicht mehr sieht. Sich und seinen Mitarbeitern spielerische Freiheiten zu gönnen kann neben einem Mehr an Motivation und Freude auch noch zu neuen Lösungsansätzen führen. Wann machen Sie Ihr Spiel? Der Spiegel: „Wir wollen die tief verborgene Kreativität ans Licht holen“, 25.04.2006 www.seriousplay.com www.legolearning.net

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Auch du bist anders. Ungleich und Ungleich gesellt sich gerne.

Die Welt ist in Bewegung. Das ist nicht neu. Neuer ist jedoch, dass auf globaler Ebene immer mehr Menschen selbst bestimmen können, wo und wie sie leben wollen. Und so kann es schnell passieren, dass man Menschen mit „Migrationshintergrund“ kennenlernt. Neben ihnen wohnt. Mit ihnen studiert oder arbeitet. Oder selbst einer von denen ist, die sich bewegen. Neudeutsch heißen die Bestrebungen die Unterschiedlichkeiten und individuellen Lebensentwürfe nicht nur anzuerkennen, sondern zu leben „diversity management“. Menschen nicht zu diskriminieren, nur weil sie anders aussehen, denken oder glauben, kurz die Menschenrechte einzuhalten ist sowas wie die Pflicht im Miteinander der Unterschiede. Die Vielfalt und damit die „Anderen“ zu fördern, um sich letzten Endes selbst zu helfen das andere. Zum Beispiel an den Schulen und Hochschulen.

„Die Universität Wien hat Instrumente gesucht, die helfen, die enormen Potenziale der Vielfalt zu nutzen.“ So Karoline Iber, die Projektleiterin für Diversity Management. Was im angloamerikanischen Raum viel selbstverständlicher ist, beginnt auch bei uns nun zu zünden. Die Überzeugung nämlich, dass die interkulturellen Ressourcen der „Anderen“, die unterschiedlichen Sichtweisen auf die Welt gemeinsam mit den eigenen zu kreativeren und innovativeren Forschungsergebnissen führen.

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Besonders nachhaltig, wenn man sich selbst auch in Bewegung setzt. So bietet eine der weltweit renommiertesten Post graduate Ausbildungen namens INSEAD eine spiegelgleiche MBA Ausbildung im französischen Fontainebleau und in Singapur an. Das ermöglicht jedem der Teilnehmer eines Kurses, die aktuell aus 64 Ländern kommen, zu jeder Zeit den Standort zu wechseln. Das Verständnis für andere Kulturen wird dadurch noch einmal erleichtert. Wozu auch Lehrende aus 31 Ländern nicht unwesentlich beitragen. Neben einer Allianz mit der Wharton University in Pennsylvania plant man zur Zeit ein Forschungszentrum in Abu Dhabi. Für anhaltende Bewegung ist gesorgt. Für Frank Brown, den Leiter der 1957 gegründeten Management Schule, gehört transkulturelle Führungskompetenz, also das Verstehen anderer Kulturen, für Manger und Unternehmer zu der wesentlichen Anforderung der Zukunft. Daher verleiht Insead seit heuer für beispielgebende Manager im sensiblen Umgang mit kulturellen Unterschieden den „Award for Transcultural Leadership“.

Das Verstehen anderer Kulturen ist nicht nur ein Akt des Respektes und der Höflichkeit. Sondern auch ein noch zu selten genutztes Reservoir an Innovationen und Chancen für persönliche und geschäftliche Weiterentwicklung. Für alle Beteiligten. www.insead.com

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Der ferne Nachbar Eine Reise durch die Wand

Die in Wien lebende österreichische Fotografin Arabella Schwarzkopf hat schon in vielen Städten gewohnt. New York, Paris, Berlin, Istanbul, Tokio, Bologna und Wien. Die Menschen, die ihr dabei am nächsten waren, die Wand an Wand mit ihr gewohnt haben, hat sie jedoch wie die meisten von uns nicht wirklich kennengelernt. Das wollte sie ändern, und so hat sie neben ihren Reisen in die Metropolen dieser Welt noch jene in die angrenzenden Wohnungen unternommen. Mit Kopf und Kamera durch die Wand hat sie die darin lebenden Menschen porträtiert. Herausgekommen ist ein Buch mit Porträts ihrer Nachbarn und dem Titel „City Lives“. „Intime Innenansichten vom Großstadtleben, neugierig, aber nie voyeuristisch; faszinierende Einblicke in fremde Leben, die Unterschiede und doch verblüffende Ähnlichkeiten zwischen Asien, Europa und Amerika offenlegen. Auf den Fotos zeigen sich die Menschen in ihren Wohnungen: selbstbewusst, schüchtern, anrührend - diese Bilder verändern unseren Blick auf den Mikrokosmos Stadt und auf uns selbst. Sie überwinden Grenzen und zeigen die menschliche Vielfalt hinter der scheinbaren Anonymität. Arabella Schwarzkopf schickt uns mit ihren Bildern auf eine spannende Entdeckungsreise nach nebenan.”

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Warum in die Ferne schweifen? Weil interessante Menschen auch dort oft n채her sind als man glaubt. Und Horizonterweiterung nicht unbedingt eine Frage der Entfernung ist. Jedenfalls lohnt da oder dort ein Blick in die Fremde zu den eigenen Nachbarn. www.arabellaschwarzkopf.com

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Erfahrung gesucht Über das Altern. Auch von Städten.

Die Industriegesellschaften haben ein Problem. Sie vergreisen. Es gibt zu wenig Kinder. Familien- und Nachbarschaftsstrukturen hinken hinter den veränderten Lebenswelten ebenso hinterher wie unser Arbeitsstrukturen. Die Stadt ist kein kinderfreundlicher Ort. Vor allem Jungfamilien ziehen gerne an die wuchernden Stadtränder. Im Glauben, dort jenes Idyllgemisch aus Natur, Ruhe und heiler Welt zu finden, dass an alte meist verklärte dörfliche Strukturen erinnert. So sitzen und schlafen sie daher oft in gesichtslosen Siedlungsagglomerationen und haben keines von beiden. Weder Stadt noch Dorf. Laut Zukunftswissenschaftler Horst Opaschowski konzentrieren sich demnach in den Städten vermehrt die fünf A´s. Arme, Alte, Arbeitslose, Ausländer und Alleinstehende. Für ihn sind die Integrationsfragen der Zukunft im Kern Generationsfragen. Denn 2030 werden die Mehrheit der Generation 60+ Singles sein, und alleine wohnen. Und zwar nicht im Altersheim sondern in der eigenen Wohnung. Dazu braucht es den Auf- und Ausbau entsprechender Hilfeleistungen. Eine Aufgabe für ein neues Verständnis von Wohnungsmanagement und Nachbarschaftshilfe. Nur generationenübergreifende Wohnkonzepte können hier Antworten geben, so Opaschowski. Auch im beruflichen Bereich fehlt es an derartigen Maßnahmen. Immer höheres Pensionsalter bei gleichzeitig fehlender langfristigen Personalplanung führt in vielen Fällen dazu, dass die Leistungsfähigkeit älterer Menschen nicht genutzt wird, und so langfristig Know-how Lücken entstehen. Die Fixierung auf Jugend ist allein schon dadurch ein Auslaufmodell, weil es davon immer weniger geben wird. Erst langsam beginnt sich auf Seiten der Unternehmen die Haltung durchzusetzen, dass die richtige AltersMischung ein wesentliches Geheimnis unternehmerischen Erfolges ist.

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Generationenübergreifende Konzepte, wie etwa das Führungstenadem der Firma ABB, das alte Hasen und junge Füchse zusammenspannt, werden notwendig sein, denn laut einer Rechnung des Fraunhofer Instituts werden 2020 mehr als ein Drittel der Arbeitnehmer älter als 50 Jahre sein. Um deren wertvolle Erfahrung für „Junge“ zugänglich zu machen, braucht es eine entsprechend abgestimmte Aus- und Weiterbildung für die „Alten“. Integrative Funktion haben auch urbane Konzepte, die die Stadt für Familien mit Kindern wieder lebenswerter machen. Der Tenor: Mehr Grün, weniger Auto-Verkehr. Und trotzdem urbane Dynamik. Mit der Wiederentdeckung der Stadthäuser versuchen Städte wie Hamburg, Berlin und München jene Menschen wieder in die Stadt zu holen, die sich in den Eigenheimwüsten des städtischen Umlandes verloren haben. Von Jungfamilien bis zu den Whoopies, den Well Off Old People. Ganz im Sinne einer Rückkehr zur traditionellen europäischen Stadtkultur. Dicht, komplex, mit durchmischten Funktionen ist das zeitgemäße Reihenhaus eine Form, die in Zukunft individuelle Gestaltungsbedürfnisse und die Sehnsucht nach urbanem Leben stärker miteinander verbinden könnte.

Das Miteinander der Generationen wird angesichts der demografischen Entwicklungen zu einer der brennendsten Fragen städtischen Zusammenlebens. Wir werden immer älter, arbeiten immer länger und sehen Altern trotzdem als Makel. Und verschließen so die Augen vor unserer eigenen Zukunft. Und jener der Städte. Sueddeutsche.de: „Die Zukunft ist urban”-Künftiges Leben und Wohnen, 08.07.2007 Sueddeutsche.de: „Vergesst die Altersheime“, 07.12.2006 Die Zeit: „Erfahrung verzweifelt gesucht“, 38/2006 Suedeutsche.de: „Eine Frage des Alters“, 20.07.2007 Der Spiegel: „Triumph der City”, 02/2006

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Kleine Hilfe, große Wirkung Private Mikrokredite für Start-ups

Kiva ist ein Start-up-Unternehmen aus San Francisco, das Internet-User zu Venture Capitalists macht. Die Plattform kiva.org ermöglicht, an Unternehmer in Entwicklungsländern Mikrokredite zu vergeben. Matthew und Jessica Flannery gründeten Kiva Ende 2004 nach einem Afrikaaufenthalt. Sie hatten festgestellt, dass der Hauptgrund für die schlechte wirtschaftliche Entwicklung vieler Regionen nicht an mangelndem Unternehmergeist oder am Fehlen von Geldgebern lag. Meist sind es die unzumutbaren Kreditbedingungen, die Unternehmensgründungen oder eine Expansion verhindern. Wer sich auf kiva.org anmeldet, kann bereits Beträge ab 25$ an Kreditnehmer vergeben. Diese sind nicht anonym, sondern werden auf der Internetplattform samt Foto und Geschäftsidee vorgestellt. Damit Missbrauch ausgeschlossen werden kann, fungieren regionale Finanzberater als Vermittler. Sie sind die einzigen Ansprechpartner für die Kreditnehmer, die von Internet und Online-Plattformen oft noch nicht einmal gehört haben. Die Ausfallsraten sind verschwindend gering. Die kleinen Summen bis 1.200$ werden über die Plattform kiva.org meist nicht von einem Financier alleine zur Verfügung gestellt. Es kann schon passieren, dass an einem Mikrokredit zehn Personen beteilitgt sind, die ihren Kredit meist in monatlichen Raten rückerstattet bekommen. Für die Klein-Unternehmen bedeutet ein Mikrokredit die Möglichkeit, ein Geschäftslokal zu eröffnen, neue Mitarbeiter anzustellen oder größere Mengen an Rohstoffen zu kaufen, um die Economies of Scale ausnutzen zu können. Viele Kreditgeber sehen auf der anderen Seite ihr Geld so besser angelegt als durch eine Spende.

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Umrijon Abdurasulova verkauft getrocknete Marillen in Kanibadam, Tadschikistan. Um ihren Profit zu erhöhen, würde sie dieses Jahr gerne mehr Marillen ankaufen und hat daher um einen Mikrokredit von 1.000$ angesucht. Das Beispiel kiva.org zeigt, dass abseits der klassischen Finanzierungsmöglichkeiten für Start-ups auch alternative Formen von Venture Capital erfolgreich sein können.

kiva.org ist ein Start-up-Unternehmen aus San Francisco, das Internet-User zu Venture Capitalists macht, indem sie an Kleinst-Unternehmer in Entwicklungsländern Mikrokredite vergeben können. Diese Form der Finanzierung ist nicht nur unbürokratisch, die Kredite schaffen oft sogar auf direktem Weg neue Arbeitsplätze. www.kiva.org http://video.on.nytimes.com/?fr_story=FEEDROOM186917 TIME: „Lending a hand“, 05.04.2007

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Ein „normales” Leben

Janina Turek, Mutter von 3 Kindern, hat 57 Jahre lang ihr Leben und alle Alltagshandlungen minutiös aufgezeichnet. 728 dicht beschriebene Hefte sind dabei entstanden. 1922 vereinbarten Begegnungen im Zeitraum von 1943 bis 2000 stehen 3512 gelesene Bücher gegenüber. 4463 Frühstücke, 5387 Mittagsmahlzeiten, und

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5936 Abendessen hat sie zu sich genommen. 8817 Geschenke hat sie gemacht 10868 selbst erhalten. 23397 hat sie jemanden zufällig getroffen und „Guten Tag gesagt“. 38196 mal hat sie telefoniert, und sich 70042 Sendungen im Fernsehen angeschaut. Ergibt in Summe 1 ereignisreiches Leben.

Mariusz Szczygiel „Reality“ in „Von Minsk nach Manhattan“, Zsolnay 2006

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Der schĂśpferische Akt

Handeln statt Ideologie Die zweite Aufklärung

Das Lernen lernen

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Die Kräfte des Unternehmerischen „Letztlich soll der Mensch nicht nach dem Sinn des Lebens fragen, sondern erkennen, dass er es selbst ist, der gefragt ist.” Dieser selbstunternehmerische Aspekt aus der Psychologie Viktor Frankls deutet an was der Wunsch nach mehr Kräften des Unternehmerischen meint; nämlich den Wunsch nach einer Kultur der Selbständigkeit, die alle Bereiche des Lebens umfasst. Etwas zu unternehmen heißt, daran zu glauben, dass man selbst einen Unterschied machen kann. Sogesehen ist jeder ein Unternehmer, der auch ungeachtet allfälliger Hürden etwas unternimmt.

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Beispielhafter Unternehmergeist

Beluga School for Life

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Eine Schule für Unternehmergeist

Vernetzte Welten

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Manager im sozialen Einsatz

‘We think’ – Kollaborative Kreativität

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Mehr Menschen, mehr Ideen

Madteater – mit dem Essen spielt man doch

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Das erste Gastronomie-Theater der Welt

Spielraum für neue Erkenntnisse

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Performative Künste als Bildungsinstrument

Inspiration durch ‘thoughtless acts’ Wie wir unsere Umwelt unseren Bedürfnissen anpassen

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‘Well being’ als Unterrichtsfach

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Schüler lernen emotionale Kompetenz

Karriere mit Leere?

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Auf dem Weg zu rascher Entschleunigung

VocationVacations

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Urlaub im Traumberuf

Shapeshifters – Global mitdenken

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Kreative vernetzen sich weltweit

Geschäftsmodell Schule

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Wenn Unternehmer Schule machen

Unternehmerische Kräfte in Zahlen

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Beluga School for Life Eine Schule für Unternehmergeist

Als der Bremer Reeder Niels Stolberg 2004 Fernsehbilder der TsunamiKatastrophe in Thailand sieht, begibt er sich auf die Suche nach konkreten Hilfsmöglichkeiten. 2005 gründet er ein Hilfsprojekt und legt mit 1,5 Millionen Euro Startkapital den Grundstock für die Beluga School for Life, die im Oktober 2006 eröffnet wird. Stolberg, von Ernst & Young zum ‘Entrepreneur des Jahres 2006’ gewählt, übernimmt für die nächsten zehn Jahre die Betriebskosten. Die Beluga School for Life entstand nach dem Vorbild einer im Norden Thailands gelegenen Einrichtung für Aids- und Flüchtlingswaisen. Beide Einrichtungen wurden von Jürgen Zimmer, emeritiertem Professor für Erziehungswissenschaften und Gründer und Direktor der internationalen Akademie für innovative Pädagogik, Psychologie und Ökonomie an der Freien Universität Berlin, konzipiert. Die Beluga School for Life ist organisiert wie ein eigenes kleines Dorf. Sie umfasst neben Wohn- und Unterrichtsgebäuden für Kinder und Erwachsene auch Werkstätten, einen Kindergarten, eine Krankenstation, ein Amphitheater, eine Bäckerei, eine Kantine mit Küche und Flächen für Obst- und Gemüseanbau.

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Wissen wird hier spielerisch in Projektarbeit vermittelt. In so genannten ‘Centers of Excellence’, zum Beispiel für Internationale Kommunikation, Ökologische Landwirtschaft oder Kulturell sensitivem Tourismus. Die Kinder werden zu Kreativität und Eigenverantwortung ermuntert. Besonders auf die Förderung unternehmerischen Denkens und Handelns wird viel Wert gelegt. Eine solche Schule muss nach Stolberg darauf achten, dass Freiräume geschaffen werden, damit sich kreative Ideen entfalten können. In allen Bereichen muss Raum für ‘Luftschlösser’ sein, für ‘Geschäftsmodelle’, die vielleicht zunächst als Spinnereien gelten, bevor sie zu den Businessplänen von morgen werden.

Untersucht man Lebensläufe von Menschen, die den Sprung in die Selbstständigkeit gewagt haben, so fällt auf, dass sie bereits in ihrer Kindheit unternehmerische Initiative entfalteten. Dafür gilt es, einen Rahmen zu schaffen, der Kinder ermuntert, Ideen zu entwickeln und zu erproben. www.beluga-schoolforlife.com Welt am Sonntag: „Unternehmergeist lernen”, 31.12.2006

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Vernetzte Welten Manager im sozialen Einsatz

Die Unterstützung von sozialen Projekten durch Wirtschaftsunternehmen reduziert sich in den meisten Fällen klassisch auf Sponsoring. Dass es abseits der ‘Geld gegen Logo’-Variante Möglichkeiten zu einer Zusammenarbeit gibt, von der beide Seiten beträchtlich profitieren können, zeigt das Projekt Vernetzte Welten. Mitarbeiter aus ausgewählten Wirtschaftsunternehmen bekommen die Möglichkeit, bei fortlaufendem Gehalt einige Monate die Verantwortung für ein klar definiertes Sozial-Projekt in einer NGO-Partnerorganisation zu übernehmen. Sie werden für diesen festgelegten Rahmen als Projektmanager auf Zeit an die NGOs ‘verliehen’. Seit dem Start der Initiative im Dezember 2005 wurden zwölf Partnerprojekte initiiert, sieben davon wurden bereits erfolgreich abgeschlossen. Kurt Tojnar von der Erste Bank arbeitete von Jänner bis Juni 2006 für SOS-Kinderdorf an einem Webmarketing-Projekt. Die Bilanz dieser Erfahrung fällt für ihn absolut positiv aus. Er ist davon überzeugt, dass Personen, die so intensiv mit einer Außensicht konfrontiert werden, als Persönlichkeit breiter werden und davon letztendlich auch das eigene Unternehmen nur profitieren kann.

"Man lernt in Arbeit und Kommunikation andere Facetten kennen, eine andere Wahrnehmung als im Unternehmen. Sowohl für meine persönliche Entwicklung als auch inhaltlich ergab sich für beide ‘Welten’ eine einzigartige Möglichkeit der Erfahrung und Wertschöpfung."

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Für Karin Zeiler, Mitarbeiterin von Manpower, die ein halbes Jahr für das Caritas-Projekt Weltflüchtlingstag im Einsatz war, war die einschneidendste Erfahrung, dass man ein Projekt auch ohne Budget starten und durch Improvisation erstaunliche Dinge auf die Beine stellen kann. Der Einblick in eine Arbeitswelt, in der sich große Vorhaben auch mit wenig Mitteln unbürokratisch umsetzen lassen, hinterlässt bei ihr einen bleibenden Eindruck. Wenn große, gewinnorientierte Unternehmen und NGOs aufeinander treffen, prallen zwei unterschiedliche Welten aufeinander. Gerade dadurch können sie unglaublich viel voneinander lernen, ist der Initiator des Projekts Vernetzte Welten, Leon Lenhart, überzeugt.

„Der Aufwand, Aufgaben umzuorganisieren, steht in keiner Relation zu dem Nutzen, den ein Unternehmen hat, wenn seine Mitarbeiter über den Tellerrand blicken und ihre soziale sowie fachliche Kompetenz ausbauen."

Die Perspektive zu wechseln und die Welt einmal aus einem anderen Blickwinkel zu sehen, regt das Querdenken und die Selbstmotivation an. Eine andere Denkweise und Arbeitskultur kennen zu lernen, eröffnet einem Problemlösungsansätze, die einem zuvor verborgen waren. Der Standard: „Einmal eine andere Position einnehmen”, 17.03.2007 Wirtschaftsblatt: „Manager profitieren vom Seitenwechsel in eine NGO”, 22.12.2006 Die Presse: „Manager im sozialen Einsatz”, 28.10.2006 www.vernetzte-welten.at

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‘We think’ – Kollaborative Kreativität Mehr Menschen, mehr Ideen

Kreativität ist meistens kollaborativ. Sie kombiniert verschiedene Standpunkte, Sichtweisen und Disziplinen zu Neuartigem. Und die Möglichkeiten für kreative Kollaboration nehmen immer mehr zu. Immer mehr Menschen bekommen durch neue Kommunikationstechnologien die Möglichkeit in kreative Austauschprozesse einzusteigen und sich zu vernetzen. Google sortiert Suchergebnisse danach, wie oft Personen Links zu den Webseiten gesetzt haben. YouTube begann mit zwei Personen, die Videomaterial einer Dinnerparty online gestellt haben und Wikipedia, eine beinahe ausschließlich von Usern geschaffene Enzyklopädie, zieht mehr Besucher an, als die New York Times online.

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Charles Leadbeaters Buch ‘We think: The power of mass creativity’ beschäftigt sich damit, welches Potenzial hinter Phänomene wie Wikipedia oder YouTube steht wenn es darum geht, neue Möglichkeiten zu finden, uns selbst zu organisieren. Nicht nur im Rahmen der digitalen Wirtschaft, sondern für Schulen, Krankenhäuser oder ganze Städte. Leadbeaters Hypothese ist, dass diese Formen kollaborativer Kreativität einen Wandel zu einer Gesellschaft ankündigen, in welcher Partizipation den reinen Konsum ablösen wird und Menschen Mitspieler und nicht mehr nur Zuschauer sein wollen. In dieser Gesellschaft wird es eine wichtige Aufgabe sein, Bedingungen zu schaffen, die es Menschen möglich machen, zusammen zu arbeiten, kreativ zu sein, sich selbst zu organisieren und die Ergebnisse ihrer Arbeit zu teilen. Leadbeater ist in seiner Idee konsequent. Der Entwurf seines Buches ist vor der formalen Veröffentlichung, die im Sommer 2007 geplant ist, schon online zugänglich. Interessierte sind eingeladen, Kritik, Anregungen und Kommentare zu hinterlassen. Alle Kommentare werden in der publizierten Fassung integriert sein und so die letztendliche Form des Buches entscheidend mitbestimmen.

Was eine Stadt kreativ macht, sind nicht nur ihre Museen, Kunstgalerien und Szeneviertel, sondern die Art, wie dort Erziehung, Verkehr oder das Gesundheitswesen organisiert sind. Auch ihre Wohnraum- und Mietpolitik kann entscheiden, ob kreative Prozesse in Gang gebracht werden. charlesleadbeater.net/orange-buttons/we-think.aspx brand eins: „Anleitung zum Selbermachen”, 05/2007 www.timesonline.co.uk: „Are you thinking what I’m thinking?”, 13.10.2006

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Madteater – mit dem Essen spielt man doch Das erste Gastronomie-Theater der Welt

Madeleines Madteater, im Südhafen Kopenhagens, in einer ehemaligen Lagerhalle gelegen, ist Theater rund ums Essen. Die Köchin Mette Sia Martinussen und der Designer Nikolaj Danielsen inszenieren Mahlzeiten zu Gesamtkunstwerken für alle Sinne. Jeder Gang wird zum Akt: Töne, Lichteffekte und Filmbilder mischen sich mit dem Duft, der Konsistenz und dem Geschmack der Kreationen auf den Tellern. In ihrer Kombination aus Restaurant, Theater und Filmset wollen die Köchin und der Designer bei ihren Gästen Emotionen und verborgene Erinnerungen wecken. Dazu schaffen sie einen ungewohnten Kontext, erzählen Geschichten, die in möglichst vielen Facetten erlebbar werden, ermöglichen einzigartige Erfahrungen.

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Und sie holen sich selbst Inspiration aus ungewohnten Disziplinen: Soziologen, Anthropologen, Hirnforscher, Psychotherapeuten und Künstler liefern Ideen zu den Aufführungen rund um Mensch und Mahlzeit. Die Köche sollen in Madeleines Madteater den optimalen Raum haben, um diese Ideen umzusetzen. Denn wo Köche Künstler oder Erfinder sein sollen, brauchen sie einen Ort, der es ihnen ermöglicht, neue Wege zu gehen und verspielt zu sein. Madeleines Küchen-Manifest beschreibt, wie ein Arbeitsort auszusehen hat, der sich den Bedürfnissen anpasst, emotionale ‚Haltegriffe' bietet, aber auch dazu einlädt, ‚out of the box' zu denken.

Ein Ort für Kreativität braucht etwas von allem: Er sollte so funktional und anpassungsfähig sein wie eine Werkstatt. Er sollte Experimentierfreudigkeit und Neugier fördern wie ein Labor. Und wir sollen uns dort so zuhause fühlen können wie in unserer Küche. Die Zeit: „Mit dem Essen spielt man doch”, 01.02.2007 www.madeleines.dk

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Spielraum für neue Erkenntnisse Performative Künste als Bildungsinstrument

Seit 20 Jahren spielt Ali Wichmann in Unternehmen und mit Unternehmen Theater. Als Chef der Hamburger Theatergruppe Scharlatan hält er, wie ein moderner Hofnarr, Managern den Spiegel vor. Auch Walter Kosar, Gründer von ‚the company stage', bietet professionelle Theaterarbeit für die Wirtschaft an. Die Inszenierungen des Unternehmenstheaters öffnen emotionale Zugänge - auch zu rationalen Themen. Performative Künste - Theater, Performance, Tanz, Installation - bergen durch ihr partizipatives Element das Potential, uns neue Lösungswege und Ansätze erfahrbar zu machen. Kunsterfahrung schafft einen kritischen Blick, erfordert eine Auseinandersetzung mit Neuem und Ungewohntem und setzt so kreative Lernprozesse in Gang. Dabei, und das ist ein wesentliches Element, ist der über Kunst vermittelte Erkenntnisprozess immer ein lustvoller, spielerischer. Gerade in der, alle Sinne einbeziehenden, affektiven Wirkung von Kunst, liegt ihr pädagogisches Potenzial. Ali Wichmann vom Hamburger Scharlatan-Theater für Veränderung hat gelernt, dass man in fest gefügten Strukturen nur überlebt, wenn man lernt, mit ihnen zu spielen:

„Es gibt keine Kultur ohne Spiel, weil der Mensch durch das Spiel zum Menschen wird. Im Spiel lerne ich soziales Verhalten, die Veränderung von Rollen, die Einschätzung von Mitspielern. Und es gibt keinen Grund, warum das nicht auch Erwachsene weiterbringen soll.“

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Kunst verändert unseren Blickwinkel auf die Wirklichkeit. Sie schafft Brüche und Irritationen in eingefahrenen Standpunkten. Bestehende Muster werden gebrochen und in Frage gestellt. Neue Muster können erprobt werden. Der Standard: „Bildet Kunst?”, 20.01.2007 brand eins: „Reif, souverän, spielerisch”,08/2006 49


Inspiration durch ‘thoughtless acts’ Gestalten durch Beobachten

Wenn wir unsere Hände an einer warmen Kaffeetasse wärmen, unsere Jacke über eine Sessellehne hängen oder uns einen Bleistift hinters Ohr stecken, passen wir unbewusst unsere Umwelt an unsere Bedürfnisse an. Und sagen durch solche ‘thoughtless acts’ viel darüber aus, wo unsere Umgebung besser gestaltet sein könnte.

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Jane Fulton Suri ist eine der führenden Industrial Designer in den USA und leitet die ‘Human Factors’-Abteilung von IDEO. In ihrem Buch ‘Thoughtless Acts?’ beschreibt sie, wie solche unbewusste Handlungen von normalen Menschen in Alltagssituationen, Anregungen liefern können, um unsere Umwelt tatsächlich besser unseren Bedürfnissen entsprechend zu gestalten. Nach Fulton Suri entstehen Designlösungen aus sozialen Situationen. Ihr Zugang für Design und Architektur liegt in der aufmerksamen Beobachtung von menschlichem Verhalten in ihrer gebauten und gestalteten Umwelt. Empathie gegenüber den Menschen und ihren Wünschen steht für sie am Beginn jedes Gestaltungsprozesses.

„Die Beobachtung von subtilen Details im Verhalten von Menschen ihrer Umwelt gegenüber, liefert Schlüsselinformationen für jedes innovative Bestreben.“

Die Erkenntnisse, die wir durch aufmerksame Beobachtung von alltäglichem menschlichen Verhalten erlangen, eröffnen eine Fülle von neuen Möglichkeiten, die uns zuvor nicht bewusst waren. Darin liegt ein Weg, neue Ideen zu generieren. Business Week online: „Insights from Thoughtless Acts”, 10.08.2005 Fast Company: „Strategy by Design”, Juni 2005 www.thoughtlessacts.com

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‘Well-being’ als Unterrichtsfach Emotionale Intelligenz als Anleitung zum Glücklichsein

Wie schließe ich Freundschaften und wie führe ich eine Beziehung? Wie kann ich Streit schlichten, meine Aggressionen kontrollieren und wie gehe ich mit meiner Angst um? Mit dem Ziel, solche Fragen besser beantworten zu können, erhalten die Schüler der renommierten britischen Privatschule Wellington College Unterricht im Fach ‘Well-being’. Die 14- bis 16-Jährigen sollen dabei lernen, ihre Emotionen, ob positiver oder negativer Natur, besser zu verstehen und konstruktiv damit umzugehen. Selbstbewusstsein steht ebenso auf dem Stundenplan, wie Mitgefühl, soziale Interaktion oder Selbstmotivation.

In den Augen des Schuldirektors Anthony Seldon sollen die Schüler des Wellington Colleges, die in der Regel mit Geld, Ruhm und Besitz groß geworden sind, lernen, dass Gesellschaften mit wachsendem Reichtum nicht unbedingt glücklicher werden. Er sieht als die wichtigste Aufgabe jeder Schule, glückliche und selbstsichere junge Frauen und Männer auszubilden. Unterricht in ‘Well-being’ ist seine Antwort auf den Bedarf nach einer ganzheitlicheren Form von Bildung. Als unabhängige Schule sei man zur Innovation verpflichtet.

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Der Lehrplan für den Unterricht in Glückskunde wurde von dem Direktor des Well-being Institutes an der Universität Cambridge, Nick Baylis, entwickelt. Baylis beschäftigt sich als Vertreter der ‘positiven Psychologie’ mit jenen konstruktiven Emotionen und Tugenden, die Menschen dabei helfen sollen, ein erfolgreiches und glückliches Leben zu führen. Das Well-being Institut an der Universität Cambridge ist ein interdisziplinäres Institut, das sich neben der Grundlagenforschung auch mit möglichen Anwendungsfeldern von ‘Well-being’ als wissenschaftliche Disziplin befasst. In der Zusammenarbeit mit Experten aus anderen Disziplinen arbeitet man an neuen Ideen für wesentliche Bereiche unseres Lebens, wie Bildung, Arbeit, Umwelt oder Gesundheit. Der Begriff ‘Emotionale Intelligenz’ wurde 1995 von amerikanischen Psychologen geprägt. Hinter dem Gedanken von ‘Well-being’ als Unterrichtsfach steht die Erkenntnis, dass unsere geistige Leistungsfähigkeit und unser soziales Verhalten ganz wesentlich von unserer emotionalen Intelligenz beeinflusst werden. Vielleicht wird das Beispiel des Wellington Colleges also Schule machen. Übrigens: Prüfungen gibt es im Fach Well-being nicht.

In britischen Schulen könnte emotionale Intelligenz schon bald ein Bildungsstandard werden. Als Teil eines ganzheitlichen Bildungsweges wird neben Geist und Körper auch den Gefühlen Beachtung geschenkt. Weil glückliche Kinder nicht zuletzt auch besser lernen. Der Standard: „Anleitung zum Glücklichsein”, 26.09.2006 www.cambridgewellbeing.org Der Spiegel: „Glück als Unterrichtsfach”, 19.04.2006 53


Karriere mit Leere? Auf dem Weg zu rascher Entschleunigung

Lebst du schon? Oder arbeitest du noch? Vor allem in der so genannten Rushhour des Lebens, also jener Phase, in der neben dem beruflichen Ein- und Aufstieg, auch noch die Familiengründung, -führung und die finanzielle Absicherung all dessen zu bewerkstelligen ist, kommt es immer häufiger zu beruflicher und privater Überlastung. Und das zermürbende daran: Keiner garantiert einem, dass es danach besser wird. Es fehlen die Sicherheiten. Morgen kann schon alles ganz anders sein. Der Job weg. Oder der Partner. Oder beide. Samt Kindern. Wozu also das ganze? Was Zukunftsforscher Peter Zellmann als „Lebensplanung zwischen Geldkultur und Zeitkultur beschreibt“, ist ein Trend, der unter anderem vom Mitbegründer der London Business School Charles B. Handy geprägt wurde und über die USA kommend für immer mehr Menschen an Bedeutung gewinnt: Downshifting. Oder anders: Die Kunst, das Leben nicht als Wettrennen im Hamsterrad zu betrachten. Sondern Arbeit als Teil des Lebens und nicht als alles dominierenden Daseinszweck zu verstehen. Ende 2004 gaben 48 Prozent der Amerikaner an, dass sie in den zurückliegenden fünf Jahren freiwillig ihre Arbeitszeit verringert, eine Beförderung abgelehnt oder ihre Ansprüche und Berufsziele heruntergefahren hätten.

„Wer nicht zwei Drittel seines Tages für sich hat, ist ein Sklave.“ (Nietzsche)

Die US-amerikanische Elektronikkette Best Buy hat ihr Arbeitsmodell radikal umgekrempelt. „Results-Only Work Environment" heißt das neue Arbeitskonzept und bedeutet, dass jeder arbeiten kann, wann, wo und wie lange es ihr oder ihm gefällt, solange die anstehenden Aufgaben erledigt werden.

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Das funktioniert bestens, solange niemand seine Kollegen hängen lässt und eigenverantwortlich handelt. Rowe macht ausdrücklich Schluss mit der Anwesenheitspflicht im Büro oder beim Besprechungsmarathon und verschiebt die Verantwortung für den reibungslosen Ablauf des Arbeitsalltags in der Hierarchie so weit wie möglich nach unten. Die Idee geht weit über halbherzige Konzepte wie Telependeln oder Gleitzeit hinaus, bei denen die alte Kontrollstruktur erhalten bleibt und gesteht den Mitarbeitern außerdem Zeitsouveränität zu. Denn zu guter Letzt gilt: Wer rechtzeitig herunterschaltet, kann, wenn es darauf ankommt, besser Gas geben.

Downshifting beschreibt den Wunsch, Arbeit und materielle Ansprüche mit Lebensqualität und sinnstiftenderen Aufgaben in Einklang zu bringen. Einzelne Unternehmen folgen diesem Phänomen, indem sie Mitarbeitern mehr Freiheiten und Zeitsouveränität zuerkennen. Der Spiegel: „Raus aus dem Hamsterrad“, 14/2007 Zellmann/Opaschowski. „Die Zukunftsgesellschaft“, 2005 brand eins: „Große Freiheit“, 05/2007

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VocationVacations Urlaub im Traumberuf

Einen Gutteil unserer Tageszeit verbringen die meisten von uns an ihrem Arbeitsplatz. Und nicht immer handelt es sich dabei um den Arbeitsplatz, den wir uns immer schon erträumt haben. All jenen, die mit dem Gedanken spielen, das zu ändern, gibt Brian Kurth den Ratschlag, sich daran zu erinnern, was man als Kind ‚später einmal' werden wollte, unabhängig davon, ob man mittlerweile 40, 50 oder 60 Jahre alt ist. Kurth gründete 2004 die Firma VocationVacations. Dort bekommen Interessierte die Möglichkeit, unter Anleitung von fachkundigen Mentoren circa drei Tage lang ihren Traumberuf auszuprobieren. 110 Berufe stehen derzeit zur Auswahl, von A wie ‘Actor’ bis Y wie ‘Yoga Studio Owner’. Menschen, die VocationVacation in Anspruch nehmen, gibt es in allen Alters- und Einkommensklassen. Typischerweise sind sie aber circa 35 bis 55 Jahre alt, etabliert in ihrem Beruf und an einem Punkt im Leben, wo sie erkennen, dass Geld alleine sie nicht glücklich macht.

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Fehlt im beruflichen Alltag der Sinn und die Leidenschaft, können VocationVacations eine Möglichkeit bieten, zeitlich beschränkt und risikolos, einen anderen Weg einzuschlagen. Darüber hinaus kann man das Angebot auch einfach als lehr- und erfahrungsreichen Urlaub für Neugierige und Abenteuerlustige verstehen.

Arbeit nimmt in unserem Leben einen ganz wesentlichen Stellenwert ein. Einen positiven Sinn darin zu sehen und erlernte Fähigkeiten nützlich einsetzen zu können, bestimmt unser Glücksempfinden viel stärker als das Einkommen. Wall Street Journal: „Exploring Another Career”, 13.05.2007 www.vocationvacations.com Financial Times Deutschland: „Was macht glücklich?”, 20.02.2005

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Shapshifters – Global mitdenken Kreative vernetzen sich weltweit

Vier Frauen gründen in Costa Rica eine Müll-Wiederverwertungsanlage. Bei einem Treffen des Shapeshifters-Netzwerks äußern sie ihr Interesse an Design und werden auf die Firma Freitag, die aus alten LKW-Planen Taschen fertigt, aufmerksam gemacht. Sie wollen das Geschäftsmodell für sich adaptieren. Die Antwort auf ihr Shapeshifters-Posting mit der Bitte um Unterstützung, kommt schließlich aus Neuseeland – nun hält jemand von einem Ende der Welt am anderen Ende einen Workshop ab, um zu zeigen, wie man aus Abfall Trend-Produkte herstellt.

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Shapeshifters ist eine Internetplattform für kreative Mikrounternehmen. Erich Pöttschacher, Gründer und Eigentümer von Shapeshifters, wollte für Kreative in aller Welt einen Ort schaffen, der die Globalisierung auch als Chance und Erweiterung der Möglichkeiten wahrnimmt. Ziel ist ein weltweites Netzwerk von Leuten, die Wirtschaft ähnlich denken: kleinteilig, authentisch und wertebasiert. Im Unterschied zu anderen Internetforen versucht Shapeshifters nicht, wahllos so viele Menschen wie möglich anzusprechen und Kommunikation um der Kommunikation willen zu erzeugen. Jeder Kontakt soll zielorientiert sein und für die Teilnehmer einen realen Nutzen haben. Die Teilnahme funktioniert daher nach einem ‘Invitation-only’-Prinzip. So wird die Qualität der Kommunikation hochgehalten. Shapeshifters basiert auf präziser Recherche, lokalen Netzwerken und Mundpropaganda. Begonnen hat alles mit einer Liste von 36 Namen aus Afrika, Lateinamerika und Europa. Diese Leute wurden angerufen und eingeladen, ein Meeting abzuhalten und Bekannte einzuladen. Nach und nach gelangt Pöttschacher zu einem einzigartigen Wissen über Mikrounternehmen rund um den Globus. Und möchte in 20 Jahren so etwas wie die Nachrichtenagentur Bloomberg für eine andere Form von Wirtschaft sein.

Die Werte und Wünsche von kreativen Kleinunternehmern unterscheiden sich zum Teil sehr stark von den Bedürfnissen traditioneller Firmen. Diesen Bedürfnissen und Wünschen möchte Shapeshifters auf globaler Ebene Rechnung tragen. Brand eins: „Weltweit mitdenken”, 12/2006 www.shapeshifters.net

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Geschäftsmodell Schule Wenn Unternehmer Schule machen

In Berlin gibt es die erste Schule Deutschlands, die von einer Aktiengesellschaft geführt wird. Phorms heißen Schule und AG – Der Name kommt von Form und Metamorphose und soll einen ersten Eindruck vermitteln, dass es hier um Dynamik geht. Die Eltern sind begeistert. Ganztagesbetrieb, zweisprachigen Unterricht und individuelle Förderung findet man in staatlichen Schulen schließlich selten. Mit der Schulbildung von Kindern Geld zu verdienen, gilt in Deutschland noch als Tabu. Béa Beste, Vorstandsvorsitzende der Phorms AG und früher Beraterin bei Boston Consulting, sieht dabei kein Problem. „Es geht nicht darum, möglichst viel Cash zu verdienen, sondern darum, nachhaltige Werte zu schaffen.” Die einzelnen Schulen müssen nicht profitabel wirtschaften, sie sollen lediglich in der Lage sein, sich über Elterngebühren und staatliche Zuschüsse selbst zu finanzieren. Der Schule gehe es um Qualitätsmaximierung bei der Bildung, und dafür „ist Geld nun mal der Treibstoff”. Ein anderes Schulprojekt in Offenbach zeigt, wie Staat und Unternehmen zusammen arbeiten können. Die Konrad-Adenauer-Grundschule in Seligenstadt wird als Public-Private Partnership betrieben. Sie gehört weiterhin dem Staat, aber ihr Träger ist der private Baukonzern Hochtief. Für beide Partner zahlt sich die Zusammenarbeit aus. Der Baukonzern erweitert das lukrative Geschäftsfeld Facility-Management und der Staat spart, da die privaten meist schneller und günstiger bauen.

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Privatwirtschaftliche Initiativen entdecken Schulen als Investitionsmöglichkeit. Und Kinder können davon profitieren, wenn Unternehmen Schulen machen. Durch bessere Ausstattung, Internationale Orientierung oder individuelle Förderungen. FAZ: „Geschäftsmodell Grundschule”, 03.12.2006 SZ: „Geschäftsmodell Klassenzimmer”, 23.02.2007 Financial Times Deutschland: „Baukonzern macht Schule”,03.04.2007 www.berlin.phorms.de

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Unternehmerische Kräfte in Zahlen Rang, den der Inselstaat Vanuatu im Happy-Planet Index der glücklichen Menschen einnimmt:

1 Rang, den Österreich im Happy-Planet-Index der glücklichen Menschen einnimmt:

61 Durchschnittlicher Glücksverlust, der mit dem Verlust des Arbeitsplatzes einhergeht in Prozent:

60

Jahre, die vergangen sind, seit sich die Wirtschaftswissen schaften erstmals mit der Erfolgsfaktorenforschung beschäftigt hat:

44 Zahl der bisher als gesichert geltenden Erfolgsfaktoren:

0 62


Anzahl der Tage, die es dauert, in den USA ein Unternehmen zu gründen:

5 Anzahl der Tage, die es dauert, in Deutschland ein Unternehmen zu gründen:

24 Anteil der Schichtarbeiter, die über Schlafstörungen klagen:

95% Anteil der Deutschen, der nachts von seiner Arbeit träumt:

34% Zeit, die ein Mensch durchschnittlich braucht, um einzuschlafen: 17,5 Minuten

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Widerständigkeit Rasche Entschleunigung Ăœberschreitung kultureller Grenzen Das Recht auf Lebensweltorientierung

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Miteinander leben lernen Zu keiner Zeit haben die Menschen im Laufe ihres Lebens so viele Begegnungen gehabt wie heute. Wir haben akzeptiert, in einer pluralistischen Gesellschaft zu leben. Die Gesellschaft ist aber die Summe des Öffentlichen, nicht die Summe der Privatpersonen. Eine funktionierende Gesellschaft braucht deshalb Respekt – nicht zu verwechseln mit dem billigen Ersatzstoff Toleranz. Toleranz bedeutet: „Es stört mich nicht, was der andere tut“, Respekt hingegen: „Ich versuche zu verstehen.“ Und das fordert eine aktive Auseinandersetzung.

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Möglichkeiten des Miteinanders

Universal Embassy

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Eine Botschaft für alle, die gescheitert sind

Ein Stadtteil als Aktiengesellschaft ...

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... und eine Fülle an Ideen

Hongkong – Ein lautloser Platz

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Stadtplanung nach auditiven Kriterien

Neue Begegnungsorte

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Die Neuinterpretation von Raum

Der geplante Zufall

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Organisation im Viertel leicht gemacht

Architecture of Life Intelligente Gebäude passen sich den Nutzern an

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Wie man einen Staat gr端ndet

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Oder so tut als ob

Penny University

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Ein Denksalon der Vergangenheit f端r die Zukunft

Haus der Religionen in Bern

84

Buddha, Jesus, Mohammed & Co. unter einem Dach

Kollektiver Ungehorsam

86

Widerst辰ndigkeit mal f端nf

Ungleichzeitigkeiten in der Stadt

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Rhythmen und Zeitstrukturen

Urbanes Leben in Zahlen

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Universal Embassy Eine Botschaft für alle, die gescheitert sind

Botschaften sind generell neutrale Orte, die Hilfestellung in schwierigen Situationen bieten. Um ihrem dringenden Bedürfnis nach Unterkunft zu entsprechen haben deshalb im Jänner 2001 illegale Einwanderer, die um ihre Regularisierung kämpften, das verlassene Gebäude der somalischen Botschaft in Brüssel besetzt. Dieser aufgrund des Bürgerkriegs in Somalia verwaiste Ort, Eigentum eines verschwundenen Staates, sollte schnell zur „Universellen Botschaft“ werden. Die „Universal Embassy“ hilft ihren BewohnerInnen bei ihren verschiedenen administrativen Gängen und Wegen juristischer oder sozialer Art. Sie ist ein offener Ort, an dem Personen, die an ihrem Aufenthaltsort illegal sind und keine Unterstützung vonseiten der Behörden ihrer Herkunftsländer zu erwarten haben, Informationen austauschen und anderen Gemeinschaften begegnen können.

Die Universal Embassy bildet in Brüssel einen einzigartigen Ort, an dem die „Sans-Papiers“ ihre Erfahrung miteinander teilen, sich gegenseitig unterstützen und eine öffentliche Stimme entwickeln können, an dem alle Arten von Begegnung möglich sind, an dem verschiedene Gemeinschaften sich vermischen, an dem ein soziales Leben zur Erscheinung kommt.

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Die „Universal Embassy“ könnte aber nicht nur als ein Ort für Menschen gedacht werden, sondern auch als Ort für Ideen, die auf ihre Verwirklichung warten und nach dem Vorbild von Venture Capitalists unterstützt werden können.

Botschaften sind neutrale Orte, die Hilfestellung in schwierigen Situationen bieten. Die „Universal Embassy“ könnte aber nicht nur als ein Ort für Menschen gedacht werden, sondern auch als Ort für Ideen, die auf ihre Verwirklichung warten und nach dem Vorbild von Venture Capitalists unter stützt werden können. www.universal-embassy.be

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Ein Stadtteil als Aktiengesellschaft... ... und eine Fülle an Ideen

Wladimir Kaminer, Schriftsteller und Erfinder der Russendisko, gibt in einem Interview mit der „Die Zeit“ seine Ideen preis, was er als Berliner Bürgermeister alles verwirklichen würde.

„Wir wollten in der Russendisko im Kaffee Burger ein System aufbauen, das aus den Tanzbewegungen unserer Gäste Strom produziert.“ Darunter freilich Ideen, die sich nur schwer umsetzen lassen, aber auch interessante Ansätze dafür, wie ein Stadtteil seine Einwohner an der Entwicklung teilhaben lassen kann.

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„Die Zukunft gehört Gemeinschaften, die sich nach Interessen finden.“ Die Ideen, zusammengefasst als Shortlist: • Die Stadt Berlin sollte in Insolvenz geführt werden und danach als Aktiengesellschaft wieder gegründet werden. • Alle Einwohner wären Aktionäre der New Berlin AG. • Einige unrentable Bezirke sollten verkauft werden. • Die Einwohner müssten ihre eigenen Ideen entwickeln und verwirklichen. • Berlin sollte außerdem virtuell existieren. Das hätte den Vorteil, dass man ohne Verkehr auskäme, weil real keine Wege zurückgelegt werden müssten.

Ein Stadtteil, als Aktiengesellschaft gedacht, kann seinen Wert durch Ideen, Unternehmertum und vieles mehr steigern. Die Einwohner sind alle Aktionäre ihres Stadtteils. Eine auf diese Art gedachte Form der Beteiligung schafft Verantwortung, hohes Involvement und letztlich Identifikation der Einwohner mit ihrem Stadtteil. Die Zeit Zünder: „Verkauft Köpenick!“, 2005

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Hongkong – ein lautloser Platz Stadtplanung nach auditiven Kriterien

In der Innenstadt Hongkongs stehen einige der imposantesten Gebäude der Welt. Darunter die berühmte Hongkong and Shanghai Bank von Norman Foster. Zu deren Füßen erstreckt sich ein großer, rechtwinklinger Platz, der Statue-Square, umgeben von stark befahrenen Straßen. Der Komponist und Klangdesigner Louis Dandrel plante hier einen „Garten der Töne“. Ziel war es, den lauten Platz zu einer Ruhezone umzugestalten. Systematische Aufzeichnungen am Beginn des Projekts führten zu einer akustischen Landkarte, die verdeutlichte, dass die Klanglandschaft keine Identität besitzt, sondern lediglich ein amorphes Gebilde mit unangenehmem Lärm darstellt. Durch die komplette Umgestaltung des Platzes und verschiedene Klanginstallationen wurde der Verkehrslärm deutlich abgeschwächt. Künstlich eingespielte, zum Verkehrslärm konträre, zusätzliche Töne an den Seiten des Platzes ermöglichten den Besuchern, sich auf eine neue Klanglandschaft einzulassen. Das Ohr blendet den Verkehrslärm so schon nach kurzer Zeit aus.

Statue-Square (Hongkong) vor der Umgestaltung

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In der Platzmitte wurde zudem eine akustische Ruhezone gestaltet, verstärkt durch Wasserflächen und „Wassermusik“. Das Konzept sich bewegender Töne in einer lauten Umgebung hat sich bewährt. Wie das Licht wird auch der Ton in einer geräuschvollen Umgebung besser wahrgenommen, wenn er sich bewegt.

Weitere Klang-Projekte: Das Sound Emitting Device Project Ein Projekt, das versucht aufzuzeigen, dass Menschen ihre Umgebung je nach Klangkulisse unterschiedlich wahrnehmen. Die Akustische Gestaltung Johannisthal In einem umfassenden Klang-Architektur-Projekt wurden die künftigen Bewohner einer Siedlung vorab über ihre Klangwahrnehmung und Klangerwartungen an ihren Lebensraum befragt.

Plätze und ganze Stadtteile können auch nach auditiven Kriterien gestaltet werden. In Hongkong entstand so eine neue Ruhezone, die den Verkehrslärm der umgebenden Straßen völlig ausblendet und zur raschen Entschleunigung der Besucher beiträgt. Zeitschrift für Stadtforschung dérive: „Auf dem Weg zu einer Klangarchitektur“, Heft. 27 www.clui.org: Sound Emitting Device Project

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Neue Begegnungsorte Die Neuinterpretation von Raum

Wenn die niederländischen Architekten MVRDV über Raum nachdenken, können schon einmal Wolkenkratzer für Schweine, Häuser ohne Fenster und gestapelte Wohnräume entstehen. Nach Ansicht der Architekten wird durch die anhaltende Zersiedelung die Notwendigkeit, Menschen in urbanen Zonen zu konzentrieren, größer. Will man in Zukunft auf Freiflächen und Natur nicht verzichten müssen, scheint stapeln ein probates Mittel. Dichte muss aber nicht zwangsläufig heißen, an öffentlichen und halb-öffentlichen Flächen zu sparen (wie man etwa durch das Negativbeispiel Wienerberg-City Wien glauben könnte). So spannen MVRDV bei dem Entwurf für ein Wohnhaus mit 100 Parteien bis zu 80 Meter weite Bögen (siehe unten). Diese erlauben vielfältige Ein- und Durchblicke. Das Dach wird zu einer hügeligen Landschaft mit abgezäunten Gärtchen. Neue Begegnungsorte für die Bewohner entstehen.

Am Stadtrand von Philadelphia denkt man ebenso darüber nach, wie man Begegnungsorte schaffen kann. Hier verzichten die Einfamilienhausbesitzer auf eigenen Grundbesitz zugunsten einer gemeinschaftlich genutzten Grünfläche im Zentrum der Siedlung.

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Begegnungsorte auf Dachflächen wie sie MVRDV konzipieren

Weiterführende Gedanken • Christian Mikunda beschreibt, dass „Third Places“ (wie Shoppingcenter) die Funktion von Plätzen als Ort der Begegnung und emotionalen Aufladung übernehmen. • Der Architekt Augustin Ioan vertritt die These, dass der (halb)öffentliche Raum nicht von Gebäuden gebildet, sondern durch die lebendige Kommunikation von Menschen hergestellt wird. Der Raum der Stadt höre dort auf öffentlich zu sein, wo die wechselseitige Sichtbarkeit von Menschen aufhört. • Die Tiroler Architekten YEAN versuchen Raum gänzlich neu zu definieren, indem sie ganz Tirol als große Stadt betrachten.

Dass Dachflächen als Begegnungsorte genutzt werden können, zeigen MVRDV mit ihren Entwürfen. Auch der Verzicht auf die privaten Grünflächen rund um das Eigenheim zugunsten einer gemeinschaftlichen Fläche kann zu einer aktiveren Nachbarschaft beitragen. www.mvrdv.nl Der Standard: „Wienerberg-City: Die versprochene Grünoase als Fiasko-Städtebau“, 13.05 2004 dérive, Heft 25, „Architektur und Macht, Inklusion, Exklusion“ 75


Der geplante Zufall Organisation im Viertel leicht gemacht

Ausgerechnet mithilfe des Internets wollten die Betreiber der französischen Internet-Seite „Peuplade“ die Nachbarschaftspflege aufleben lassen. Und mithilfe eines lokalen Social Networks die Bewohner des 17. Arrondissements in Paris einander bekannt machen.

„Die Grundidee war, Verbindungen zwischen Menschen zu schaffen, die sich normalerweise nicht treffen würden, die keine Affinität haben, die nicht derselben Gruppe oder demselben Netzwerk angehören." berichtet Nathan Stern, einer der Gründer. Was als soziologischer Feldversuch begann, erfreute sich rasch großer Beliebtheit und soll nun auf andere Bezirke ausgeweitet werden. Das Peubladische Prinzip: Erkenne deine Nachbarn als interessante Menschen und gewinne sie als Freunde. Peuplade führt Menschen verschiedener Altersgruppen mit verschiedenen sozialen Hintergründen zusammen, die nur eine Gemeinsamkeit haben: Sie wohnen im gleichen Viertel. Ohne die Website und das dort implementierte Netzwerk hätten sie vielleicht nie miteinander gesprochen. Jérémie Chouraqui erklärt:

„Normalerweise begegnen einem nur Leute mit bestimmten sozialen Hintergründen und in bestimmten Situationen, in der Schule oder bei der Arbeit.“ Damit das auf Peuplade nicht passiert, werden in den Profilen der Mitglieder Alter, Beruf und Geschlecht ausgeblendet. So kann es passieren, dass der 13-jährige Schüler die 83-jährige Großmutter anschreibt, weil sie beide Anhänger des FC Paris Saint-Germain sind.

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Und damit das Netzwerk schließlich sicher im Alltag ankommt, finden immer wieder Treffen der Mitglieder in lokalen Schänken statt. Bei den Einladungen zu diesen Aperos de quartier werden wiederum Statusmerkmale und Gruppenzugehörigkeiten ignoriert. Denn es geht darum, „Chaos und Zufälle zu produzieren“, so Stern, damit Begegnungen mit Menschen stattfinden, „von denen man nie gedacht hätte, dass sie in die eigene Welt passen“.

Die französische Internetseite „Peuplade“ ermöglicht Nachbarschaftskontakte, die sonst nur schwer zustande kommen würden. Soziale Hintergründe werden ausgeblendet, neue Freundschaften im eigenen Viertel können entstehen. www.peuplade.fr www.time.com: „Don’t be a stranger“, 26.11.2006

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Architecture of Life Intelligente Gebäude passen sich den Nutzern an

„Responsive Buildings“ sind Gebäude, die sich an ihre Umgebung anpassen – und an die Bedürfnisse der Nutzer. Wenn Architekten lebende Systeme mit dynamischen Strukturen anstatt starrer Gebäude entwerfen könnten, wäre nicht nur vieles einfacher. Architektur und Lebensraum müssten völlig neu gedacht werden. Häuser, die im Winter ihre Fläche reduzieren, um Energie und Heizkosten zu sparen und den Schnee vom Dach schütteln scheinen zwar noch Fiktion, die Forschung an intelligenter Architektur ist aber in vollem Gange, weiß nicht nur der Economist zu berichten. Unter dem Namen „Sponge City“ stellte Deena DeNaro im Rahmen der zweiten Rotterdamer Architekturbiennale eine interessante Anwendungsmöglichkeit von super-saugfähigen Materialien vor. Durch Anbringen des Materials in der Nähe überflutungsgefährdeter Gebiete könnten ganze Stadtteile binnen kurzer Zeit ihr Aussehen verändern – und zwar dann, wenn die Polymere in Verbindung mit Wasser kämen und bis zu einer Höhe von 20 Metern aufschwellen. Die Idee, dass Häuser oder ganze Stadtteile ihr Aussehen binnen kurzer Zeit verändern sollen, ist nicht neu. Bereits Peter Cook hatte die Vorstellung einer „Plug-in City“, in der Häuser jederzeit nach Belieben versetzt werden können. Auch der aktuelle Trend der „Mobile Homes“ kann als Wunsch nach mehr Freiheit und flexibleren Wohnmöglichkeiten gedeutet werden. Oder als Vorstufe zu oben vorgestellten „Responsive Buildings.“

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Entwurf einer Sponge-City

nomad home

Responsive Buildings passen sich den Bedürfnissen der Benutzer an. Verstand man unter Anpassung früher leicht adaptierbare Räume, werden in Zukunft Gebäude ihre Oberflächenstruktur selbst je nach Bedarf ändern. Dass ganze Stadtteile ihr Gesicht binnen kürzester Zeit ändern können, würden, zumindest theoretisch, heute schon „Mobile Homes“ ermöglichen. Economist: „Buildings with minds of their own“, 30.11.2006 pruned.blogspot.com: „Sponge City“ www.nomadhome.com 79


Wie man einen Staat gründet Oder so tut als ob Der Staat Uzupis Eines Morgens im Jahr 1997 erwachte Romas Lileikis und hatte eine Vision: Er sah sich als Präsident der unabhängigen Republik Uzupis (Litauen), deren Staatsgebiet sich zufällig mit dem Viertel deckte, in dem er wohnte - ein paar alte Straßenzüge im Zentrum der litauischen Hauptstadt Vilnius. Es fanden sich genug Bewohner, die seine Vision unterstützten und dem Staat Litauen die Unabhängigkeit erklärten. Der Mikrostaat hat einen Regierungssitz, der eigentlich ein Café ist, und eine eigene Verfassung. Darin ist zum Beispiel das Recht auf Glück festgeschrieben (Artikel 16), ebenso das Recht auf Unglück (Artikel 17). Es gibt zahlreiche Botschaften in aller Welt und Staatsfeiertage wie den „Tag des Windes“, der mit einer Parade durch die Straßen gefeiert wird. Einer der wichtigsten Grundsätze der Republik: Geht langsam! Uzupis ist dabei nur ein Mikrostaat von vielen weltweit. State of Sabotage In Österreich machte 2003 der „State of Sabotage“ auf sich aufmerksam, als er in Wien eine temporäre Botschaft eröffnete, um dort Kunstwerke zu präsentieren. Zuvor hatte das Label „Sabotage Communications“ auf der finnischen Insel Harakka vor Helsinki einen eigenen Staat gegründet, der sich trotz terretorialer Verortung nach wie vor vor allem als Konzept sieht.

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Ein Haus für 16.000 Menschen Aufmerksame Passanten könnten in Manhatten stutzig werden, wenn sie zur Straßenbeleuchtung aufsehen. Eine Angelschnur spannt eine symbolische Wand rund um 150 Häuserblocks. Da es nach jüdischen Gesetzen am Sabbat verboten ist, außerhalb des Hauses Dinge zu tragen, haben Juden in Manhatten über ein Gebiet von mehr als 1.600 Hektar einen virtuellen Zaun („Eruv“) aufgespannt, und sind nun Bewohner eines gemeinsamen Hauses. Ihnen sind somit gewisse Aktivitäten erlaubt, die ansonsten nicht möglich wären. Wöchentlich werden die Grenzen kontrolliert und repariert. Es gibt sogar eine Website, die über den aktuellen Status der Häusergrenzen informiert.

Einen Staat zu gründen ist noch möglich. Zumindest dann, wenn es keiner zu verhindern sucht. Mehr als das tatsächlich beanspruchte Territorium zählt aber meist ohnehin die Idee dahinter. Gemeinsam ist den meisten Mikrostaaten, dass jeder einen Pass beantragen kann, der darum ansucht. Und der Wunsch nach ein wenig Unabhängigkeit in unserer normierten Welt. Die Zünder, „Mikronationen“, php.diezuender.de www.sabotage.at Harper’s Magazine (harpers.org): „String Theory“, 12/2006 81


Penny University Ein Denksalon der Vergangenheit für die Zukunft

Als im 17. und 18. Jahrhundert Kaffeehäuser in London populär wurden, entwickelten sie sich bald zu beliebten Treffpunkten. Hier trafen sich Geschäftsleute, Seemänner, Schriftsteller und Studenten. Einen Penny kostete der Kaffee. Zeitung lesen inbegriffen. Das Besondere aber an den Coffee-Shops beschreibt das folgende Zitat:

„In coffee shops famous and ordinary, one could absorb conversations as stimulating as the coffee, eavesdrop or participate with the best minds of the era from lawyers and clergy to politicians and merchants to students at the university to students of life.“

Die Coffee-Shops wurden wegen der Möglichkeit, interessante Gespräche im Stile von Salons zu führen, bald als „Penny Universities“ bezeichnet. Hier konnten sich auch diejenigen weiterbilden, denen ansonsten der Zugang zu höhere Bildung verwehrt blieb. In den 1970er Jahren schließlich initiierten drei Professoren der University of California Diskussionen zu verschiedensten Themen in einem Kaffeehaus in Santa Cruz und ließen den Gedanken der „Penny University“ wieder aufleben. Die wöchentlichen Salons gibt es bis heute.

„A salon like the Penny University fills a dire need for conversation in this time of fragmented families and frantic schedules.“

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Die Coffee-Shops Londons wurden auch „Penny Universities“ genannt, da sich hier Studenten, Geschäftsleute, Geistliche und viele mehr trafen, um in gepflegten Gesprächen ihre Ansichten auszutauschen. Jeder konnte dabei sein, zuhören und sich aktiv daran beteiligen. Ein Konzept der Vergangenheit für die Zukunft? www.metroactive.com: „Rebirth of Wonder“ en.wikipedia.org: „Penny University“

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Haus der Religionen in Bern Buddha, Jesus, Mohammed & Co. unter einem Dach

Lange bevor der Kampf der Kulturen die Stammtische eroberte, wurde im Westen Berns eine Vision entwickelt, die sich schon bald in einem sichtbaren Vorzeigeobjekt mit internationaler Ausstrahlung konkretisieren könnte. Es geht um ein Haus der Religionen, in dem Muslime, Buddhisten, Hindus, Juden, Christen und andere mehr ihre eigenen Gebetsräume hätten und nebeneinander ihren religiösen Verpflichtungen nachkommen könnten, sich zudem in Konferenz- und Aufenthaltsräumen zum interkulturellen Dialog begegnen und nicht zuletzt auch gemeinsam feiern würden. Aktueller Status: „in progress.“ So wie Religionen einen Ort der Vergemeinschaftung schaffen können, gibt es auch andere Anspruchsgruppen, die in konkurrierendem bzw. gespanntem Verhältnis zueinander stehen und denen Begegnungsorte gut täten; Alt und Jung, Alteingesessene und Zugezogene, Geschäftsleute und Handwerker, Theoretiker und Praktiker u.v.m.

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In Bern entsteht ein Haus der Religionen, das den verschiedenen Glaubensgemeinschaften nicht nur Gebetsräume zur Verfügung stellen wird, sondern auch interreligiöse Dialoge ermöglichen soll. Derartige Orte der Diskussion und kollektiven Vergemeinschaftung wären aber nicht nur für Religionen, sondern auch für eine Vielzahl an weiteren Anspruchsgruppen wünschenswert. www.haus-der-religionen.ch NZZ: „Buddha, Jesus, Mohammed & Co. unter einem Dach“, 23.12.2006 85


Kollektiver Ungehorsam Widerständigkeit mal fünf

Widerstand ist selten geworden in einer Gesellschaft, der vieles gleichgültig erscheint. Dennoch gibt es Beispiele erfolgreicher Projekte, die ohne Widerstand nicht zustande gekommen wären. Ruhe- und Sinnesgarten in Wien In Wien beispielsweise hat sich eine Gruppe von Anrainern gegen den Bau eines Wohnhauses auf dem Gelände eines nahe gelegenen Parks gewehrt und ihn zum „Ruhe- und Sinnesgarten“ erklärt. Die Anrainer pflegten das Gelände selbst und konnten sich durch gemeinsames Auftreten auch gegen den öffentlichen Zugang wehren. Kollektiver Ungehorsam An der Zeppelin-Universität in Friedrichshafen werden die Studenten vehement zu mehr Widerständigkeit aufgefordert. Der Erfolg der Hochschule gibt den Lehrenden recht.

„Der Präsident will, dass wir öfter aufstehen und anderer Ansicht sind.“ Barmen wehrt sich Die 1.400 Seelen-Gemeinde in Deutschland musste zusehen, wie ein Geschäft nach dem anderen schloss. Als schlussendlich kein einziges mehr übrig war, eröffneten die Barmener kurzerhand einen Laden, der die Funktion eines Greißlers übernehmen sollte. Inklusive Paketdienst und diverser Amtsgeschäfte. Geld beschafften die Initiatoren über Kleinkredite und indem sie stückweise Anteile am künftigen Laden verkauften. Heute beschäftigt der Laden sieben Mitarbeiter und ist ein wichtiger Begegnungsort in der Gemeinde geworden. Gegen die Playstation 99% der Sony-Chefs waren gegen die Playstation – bis heute Sonys erfolgreichstes Produkt. Überzeugen konnte die Manager erst ein funktionsfähiger Prototyp des Ideengebers.

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Park Fiction Park Fiction in Hamburg ist auf ungewöhnliche Weise entstanden: Mitte der Neunzigerjahre entschieden sich einige Anwohner und Künstler aus St. Pauli dazu, einen öffentlichen Park zu entwerfen - nicht an irgendeinem brachliegenden Ort, sondern an einem sehr speziellen, für den die Stadt gerade einen neuen Bebauungsplan beschlossen hatte. Ein Netzwerk aus Anrainern, sozialen Einrichtungen, Künstlern u.v.m. begann mit einer kollektiven Wunschproduktion für einen Park. Neben einem Planungscontainer, Wunscharchiv, Knetbüro und Fragebögen wurde eine Hotline für „Menschen, die spätnachts inspiriert sind“ eingerichtet. Es wurde nach Orten des Glücks, privaten Wünschen und Urlaubsarchitekturen geforscht. Der Prozess machte den Park noch vor der Umsetzung bekannt.

Dass sich Widerständigkeit bezahlt macht, zeigen eine ganze Reihe erfolgreich durchgesetzter Projekte engagierter Persönlichkeiten. So waren ursprünglich 99% der Sony-Manager gegen die Playstation, Sonys erfolgreichstem Produkt. Und auch in städteplanerischer Hinsicht können Interessensgemeinschaften immer wieder auf Erfolge verweisen, wie etwa das Projekt „Park Fiction“ in Hamburg, das mit einer kollektiven Wunschproduktion begann. ORF.at: „Ruhe- und Sinnesgarten“, 05.08.2006 Konzeptionen des Wünschenswerten, „Niemals war mehr Anfang als jetzt“ , S. 165 brand eins: „Aus dem Nichts“, 06/2007 BBC News: „Nurturing the PlayStation dream“, 11.11.2005 www.parkfiction.org Buchtipp: „Kunst für alle?“, Uwe Lewitzky

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Ungleichzeitigkeiten in der Stadt Rhythmen und Zeitstrukturen

Städte werden von unzähligen Zeitstrukturen beeinflusst: Von dem Lebenstempo und dem Arbeitsrhythmus ihrer Bürger, von der Geschwindigkeit gesellschaftlicher Veränderungsprozesse, wie dem demographischen Wandel oder der Globalisierung und von politischen Zeitfenstern, wie Wahlperioden und Förderprogrammlaufzeiten. Der Faktor Zeit wird damit zu einem der prägenden Paradigmen in der Stadtentwicklung. In der ostdeutschen Stadt Görlitz veranstaltete das Kompetenzzentrum Revitalisierender Städtebau im Juni 2007 einen Denksalon zu dem Thema „Zeiten in der Stadtentwicklung“ und lud neben Stadtplanern auch Philosophen, Ökonomen, Architekten und Künstler ein, sich mit den räumlichen Auswirkungen von Zeitstrukturen auseinander zu setzen.

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Urbane Transfomationsprozesse zwischen Beschleunigung und Irreversibilität: Stadtplanung muss sich mit Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft von Städten auseinandersetzen. Die zukunftsgerichtete Entwicklung ist immer durch das historische Erbe der Stadt determiniert, darüber hinaus muss das städtische Raumangebot auch kontinuierlich an sich verändernde soziale und funktionale Nutzungsanforderungen angepasst werden. Es gibt keine pauschale Geschwindigkeit für Stadt. Städte brauchen immer langsame und schnelle Zonen und unterschiedliche Bereiche haben immer unterschiedliche Eigenzeiten. Stadtentwicklungsprozesse müssen daher auch Entschleunigung, Entwicklungsvielfalt und eine Planungsoffenheit für Unvorhergesehenes bereit halten können. Vorausdenken und Anknüpfen an Tradition, Erinnerungs-, Neuorientierungs-, Abstimmungs- und Realisierungsphasen erzeugen ungleichzeitige Prozesse in der Stadtentwicklung. Gerade diese Ungleichzeitigkeiten ermöglichen Vielfalt und Innovation zu einer nachhaltigen Zukunftsgestaltung der Stadt.

Die Entschleunigung von Stadtentwicklungsprozessen bietet die Gelegenheit, über Träume, Ziele und Visionen zu reflektieren. Es braucht auch Entwicklungsphasen, in denen innere Prozesse durchlaufen werden, ohne direkte äußere Veränderungen vorzunehmen. www.stadtforschung.com/content/denksalonzeiten, 07/2007

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Urbanes Leben in Zahlen 42.000 t

Restmüll der Stadt Graz jährlich Abgase der Stadt Bombay jährlich

200.000 t

Unterschriften „Pensionsvolksbegehren“, Wien 2004

124.062 Unterschriften „Hundstrümmerl-Petition“, Wien 2006

157.631

Wege, die ein Grazer zu Fuß zurücklegt

21%

Wege, die ein Grazer mit dem Rad zurücklegt

90

14%


Strecke, die ein Österreicher im Jahr mit dem Rad fährt

Graz – Mattersburg (162 km) Strecke, die ein Däne im Jahr mit dem Rad fährt

Graz – Hannover (936 km)

Anteil der Dorfbewohner, die gerne in ihrem Dorf wohnen

85% Anteil der Städter, die gerne in ihrer Stadt wohnen

60%

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Gemeinsame Rituale

Prozesse des Mitgestaltens Identifikationsanker Sehnsucht nach gewachsener Substanz

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Neue Formen von Sicherheiten Die einzige Sicherheit in der postmodernen Beliebigkeit ist jene, dass nichts wirklich falsch aber auch nichts richtig ist. Und genau das verunsichert. Letztlich ist die Kehrseite der Sicherheit die Angst. Die Angst, dass sich die Welt so verändern könnte, dass man mit ihr nicht mehr zu Rande kommt. Der Staat kann die Garantie, den Verlust in Grenzen zu halten, immer weniger geben. Aber der Verlust ist gleichzeitig die Chance: Statt über Fehlendes zu klagen, kann man selbst etwas dagegen unternehmen. Und so für neue Formen von Geborgenheit sorgen.

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Was man zur Sicherheit wissen sollte

Shrovetide Match

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Fußball als Ritual. Mann gegen Mann. Quer durchs Dorf.

Immobilien 2.0

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Wovor sich die Immobilienbranche fürchtet

Gemeinsam unterwegs

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Neue Formen von Mobilität

FixMyStreet

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Was tun, wenn die öffentliche Hand versagt?

Partizipative Stadtbudgets Wie man als Einwohner zum Controller wird

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Burning Man & Black Rock City

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Wenn sich Kreative ihre eigene Stadt bauen

Die B-Society

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Endlich Gesellschaft f체r Langschl채fer

Architektur vor Ort

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Oder wie man mit einem Ort redet

Biomapping

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Wie Orte wirken. Und Menschen sie erleben.

Stadt und Sicherheiten in Zahlen

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The Shrovetide Match Fußball als Ritual. Mann gegen Mann. Quer durchs Dorf.

Das erste Mal dürfte das ungewöhnlichste Fußball-Spiel Englands im Jahr 1601 nach der Rückkehr Charles I. ausgetragen worden sein. Die Spielregeln sind dabei denkbar einfach: Der Ball wird vornehmlich mit der Kraft der rangelnden Menge vorangetrieben. Ganz Ashbourne ist das Spielfeld. Nur der Friedhof, Häuser und private Gärten sind tabu. Ziel des Spiels ist es, den Ball zum „Tor“ zu befördern - zwei große Steine, die direkt am Ufer eines Baches stehen. Der Haken: Die beiden „Tore“ stehen fünf Kilometer voneinander entfernt. Gespielt wird an zwei Tagen. Die Spielzeit ist jeweils 8 Stunden. Rund 250 Ashbournians nehmen am Spiel teil, weitere rund 4.000 singen zunächst die Hymnen auf England und das Königreich mit und verfolgen anschließend das Geschehen mit respektvollem Abstand. Die Schaufenster der Geschäfte sind durch dicke Balken geschützt, damit die Menge sie nicht im Eifer des Gefechts eindrückt. Der Ball wird jeweils von einem Würdenträger freigegeben. So hat 2003 Prinz Charles das Spiel eröffnet. „Das Spiel ist ein Faszinosum. Zwei Tage lang hassen sich beste Freunde und gar Ehepartner, wenn sie zu verschiedenen Teams gehören. Am Donnerstag mögen sich aber alle wieder wie immer.” Der Heimatkundler und Chronist Lindsey Porter misst dem Spiel einen kathartischen Effekt bei. So wie die Bischöfe hier zu Lande in früheren Jahrhunderten das orgiastische Feiern ihrer Schäfchen im Zeichen der Narrenfreiheit als Ausschweifung vor der Fastenzeit duldeten, so dürfen in Ashbourne Nachbarn miteinander rangeln und hin und wieder die Fäuste fliegen lassen. PS: Shrovetide gilt als der Ursprung aller Stadt-Derbys. Es spielen die „Up'ards“ (die Oberstädter) gegen die „Down'ards“ (die Unterstädter).

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Die Universal Embassy bildet in Brüssel einen einzigartigen Ort, an dem die „Sans-Papiers“ ihre Erfahrung miteinander teilen, sich gegenseitig unterstützen und eine öffentliche Stimme entwickeln können, an dem alle Arten von Begegnung möglich sind, an dem verschiedene Gemeinschaften sich vermischen, an dem ein soziales Leben zur Erscheinung kommt.

… Auf der „roll of honour“, einer riesengroßen, altehrwürdigen Klapptafel im großen Saal des „Green Man“, dem größten Gasthofs Ashbournes, ist sein Name seit seinem Husarenstreich 1970 eingraviert…

Shrovetide gilt als Mutter aller Stadtderbys. Und es zeigt, dass Rituale selbst in einer Zeit postmoderner Beliebigkeit unersetzbarer Bestandteil der städtischen Identitätsbildung sind. www.ashbourne-town.com BBC: „Prince starts 'maddest' game“, 05.03.2003 www.youtube.com/watch?v=pqtd7LOoRVM

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Immobilien 2.0 Wovor sich die Immobilienbranche fürchtet

Wenn Fortune, eines der führenden amerikanischen Business-Magazine, das Immobilienportal zillow.com zur Titelgeschichte macht, steckt mehr dahinter, als nur eine neue Idee im World Wide Web. Bei Autos ist es einfach: Wenn der Nachbar ein neues Sportcoupé vor der Garage stehen hat, hilft ein Blick in den Katalog. Kann der sich das leisten? Und überhaupt: Warum hat man selbst kein Coupé? Ähnlich verhält es sich mit anderen Statussymbolen - nur bei Häusern wird es schwierig: Der Wert berechnet sich nach Lage, Größe, Zustand und Baujahr. Nur Makler haben hier den Durchblick - und Inserate kann man auch nicht ständig wälzen. Dabei wäre es doch spannend, den Preis des Nachbarhauses zu wissen, um die Gewissheit zu haben, dass wenigstens das eigene Haus wertvoller ist. In den USA gibt es dafür Zillow.com. Die Plattform ist eine Mischung aus Google Earth und Immobilien Scout, auf der sich per Luftbild und dazugehöriger Preisschätzung zahllose Anwesen für einen Kauf begutachten lassen - oder eben nur aus Interesse, Neid oder purer Neugier. Zillow.com ist zu einem Phänomen geworden. Ein „Immobilienporno” sei die Website, schrieb die Zeitschrift „Fortune“ (und brachte das Immobilienportal als Titelstory). Entwickelt wurde Zillow.com von Ex-Microsoft-Managern. „Der Grundstücksmarkt ist für Profis gemacht. Wir versuchen, ihn für die Käufer zu bauen.“ Auf Zillow.com wird der Wert von Häusern geschätzt - nicht nur von denen, die zum Verkauf stehen. Langfristig sollen alle Häuser in den USA in die Datenbank, derzeit sind es schon 67 Millionen. Perfekte Neidmaschine und ideales Voyeurismus-Tool ist Zillow.com trotzdem: Die Website hat den Wert des Neidfaktors selbst erkannt und bietet für bestimmte Anwesen einen direkten Blick in den Garten: Eine Rubrik beherbergt ehemalige Nester berühmter Liebespaare: das von Demi Moore und Bruce Willis (14 462.844 $), von Jennifer Aniston und Brad Pitt (11 577.398 $) oder von Nicole Kidman und Tom Cruise (11 469.688 $). (Quellen: Fortune, Financial Times Deuschland)

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Post Scriptum: Zillow ermöglicht den Nutzern einen eigenen „Make Me Move-Price“ frei zu schalten. Also was ist es Ihnen wert, dass ich mein eigenes Haus verlasse. Was noch kommen wird: terabitz.com: Eine Art virtuelle Info-Plattform für Immobiliensuchende, auf der man Immobilienpreise, Bilder, Kriminalitätsstatistiken oder Schulstandorte beliebig miteinander verknüpfen kann.

This is what usually happens the first time you visit Zillow.com: You type in your address to check out the Zestimate*. Next, you check your neighbors' Zestimates. Then your childhood home, a best friend's place, your boss's house. * eine Art Schätzwert einer Immobilie

Financial Times Deutschland: „Die perfekte Neidmaschine“, 03.03.2007 Fortune Magazine: „What's your house really worth?“, 15.02.2007

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Gemeinsam Unterwegs Neue Formen von Mobilität

Um die mit steigender Mobilität in urbanen Räumen einhergehenden Herausforderungen (Umwelt, Parkplätze, wechselnde Lebensmittelpunkte) bestmöglich zu meistern, entwickelten sich in den letzten Jahren private Geschäftsmodelle, die lebensnahe Alternativen zum öffentlichen Verkehr anbieten. Dabei geht es weniger um Verzicht und Einschränkung als um ökologische und trotzdem hedonistisch lustvolle Alternativen. So bietet etwa „ZipCar“ – der mittlerweile größte CarSharing-Anbieter der Welt – in urbanen Räumen der USA, Canadas und Großbritanniens eine erfrischende Form des Carsharing an, die vor allem in Kombination mit den neuen Kommunikations- und Navigationsmöglichkeiten des Internets eine wirk-liche Alternative zum eigenen Auto darstellt. Als Mitglied von ZipCar sucht man sich im Internet ein Auto in seiner Nähe (z.B. verteilen sich alleine in Chicago dutzende ZipCars über das gesamte Stadtgebiet) und bucht es stundenweise (ca. 9$) oder tageweise (ca.66$). Der Unterschied zu herkömmlichen Autovermietern: das gesamte Angebot ist urban gedacht. Man kann auch stundenweise mieten. Sie sind über das gesamte Stadtgebiet verteilt. Benzin für 125 Meilen ist im Preis bereits inkludiert. Und: Die Flotte reicht vom coolen Mini bis zum Hybrid. ZipCar bietet das Service seit kurzem auch amerikanischen Universitäten an. Die Erfahrungen zeigen: ein Zipcar verringert die Fahrzeuge am Campus um rund 22 private Autos. Apropos Einsparungspotenzial: Berechnungen für Deutschland zeigen, dass im urbanen Raum ein Carsharing-Auto für rund 33 Nutzer reicht. In Deutschland nutzen derzeit etwa 100.000 Kunden Carsharing – jährliche Wachstumsrate 7,4 Prozent. Die Carsharing-Flotte ist mittlerweile auf 2.900 Fahrzeuge angestiegen. In der vergleichsweise kleinen Schweiz, wo Carsharing ungleich beliebter ist, gibt es bereits an die 75.000 Nutzer.

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Was man in Sachen Neue Mobilität noch wissen sollte: Hitchters: Hitchters bietet via Internet Taxifahrgemeinschaften von und zum Flughafen für derzeit New York und Boston an. (www.hitchters.com) Peasy: Peasy (für „Parking made Easy“) ist eine private Parkplatzsuche und Mietbörse. Einerseits kann man seinen eigenen Parkplatz je nach Gebrauch gewinnbringend vermieten. Andererseits findet man in fremden Städten auch tageweise einen eigenen Parkplatz, den man gleich online bezahlen kann. (www.peasy.com) Greentomatocars: Das erste Londoner Taxiservice, das nur noch umweltfreundliche Hybridautos benützt. (www.greentomatocars.com) Climatecars: Der erste umweltfreundliche Autoverleiher Londons, der nur mehr Toyota Hybrid-Autos im Angebot hat. (www.climatecars.com)

Zeitgemäße, urbane Formen von Mobilität haben immer weniger mit Verzicht und überfüllten Öffis zu tun. So bieten etwa neue Formen von Carsharing in Kombination mit den Möglichkeiten des Internet erstmals sinnvolle und einfache Alternativen zum eigenen Auto in der Stadt. www.zipcar.com New York Times: „The Other Summer Rental“, 24.05.2007

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FixMyStreet Was tun, wenn die öffentliche Hand versagt?

Wenn in Städten die öffentliche Hand versagt, werden Straßen nicht mehr gereinigt, bleiben Fußgängerampeln defekt, werden Gehwege nicht mehr von Sträuchern befreit. Kurz: ein Teil städtischer Lebensqualität, der eigentlich bis dato als selbstverständlich galt (und deshalb auch niemanden aufgefallen ist) fällt plötzlich - meist aus städtischen Einsparungsüberlegungen – weg. Was tun? Auf Besserung warten? Im bewusst selbständig engagierten United Kingdom, wo das Unternehmerische historisch tief verwurzelt ist, hat sich eine Initiative gebildet, die die Angelegenheit einfach selbst in die Hand genommen hat: FixMyStreet.

Die Idee dahinter ist einfach und effektiv. Urbane Schwachstellen werden von den Einwohnern selbst erkannt, auf einem Portal online gemeldet, um damit Druck auf die jeweiligen Gemeinden auszuüben (die umgehend offiziell von FixMyStreet verständigt werden). Der Bürger diktiert damit quasi die öffentliche Hand. Und nicht mehr umgekehrt. Monatlich werden so mittlerweile an die 350 Problemstellen repariert. Rund 170 Meldungen kommen wöchentlich hinzu. Der Initiator hinter FixMyStreet ist ein junges, gemeinnütziges Startup mit dem Namen MySociety. Seine Mission: Bürgern Werkzeuge in die Hand zu geben, um das öffentliche Leben besser zu gestalten.

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Noch mehr über privatisierte Öffentlichkeiten: „100qm dietzenbach“: Im Rahmen des BundesForschungsprogramms „Stadt 2030“ konnten in der deutschen Stadt Dietzenbach Einwohner die Verantwortung für jeweils 100m2 öffentlichen Raum übernehmen, um dort ihre Initiativen zu verwirklichen. (www.100qm-dietzenbach.de) „Radfalle Wien“: Die Grünen machen sich via Internet auf die Jagd nach Schwachstellen im Wiener Radwegenetz. (www.wien.gruene.at/radfalle)

Wenn sich die öffentliche Hand verabschiedet,nehmen die Bürger die Geschicke ihrer Stadt wieder selbst in die Hand. So wird zum Beispiel FixMyStreet zu einer Kontrollinstanz der öffentlichen Verwaltung, und sorgt sich mit nachhaltiger Wirkung um nicht geräumte Straßen, Schlaglöcher oder defekte Fußgängerampeln. Guardian: „Choice and empowerment“, 27.06.2007 www.fixmystreet.com www.mysociety.com Die Zeit: „Eine Chance für die Bürgergesellschaft“, 08.09.2005

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Partizipative Stadtbudgets Wie man als Einwohner zum Controller wird

Als 1989 eine linke Regierung in der brasilianischen 1,3-Millionen-Metropole Porto Alegre an die Macht kam, ging sie in die Offensive. Korruption und Vetternwirtschaft erklärte sie den Krieg. Die Bürger sollten fortan die Finanzpolitik der Stadt bestimmen. 16 Bürgerversamm-lungen wurden einberufen. Sie entscheiden heute, wohin die knappen Mittel fließen sollen. In Befragungen können sich die Bürger für oder gegen Projekte aussprechen. Soll eine Kinderkrippe gebaut werden? Oder ist eine Asphaltierung zweier Nebenstraßen wichtiger? „Partizipatives Budget“ nennt man das. Jeder der 30.000 Bürger, die sich in den Versammlungen engagieren, kann eigene Vorschläge einbringen. Bis zu 30 Prozent will die Stadt so bei einzelnen Projekten eingespart haben. Das Modell ist so erfolgreich, dass Millionenstädte wie Barcelona oder Buenos Aires es nachahmen. In Deutschland laufen Modelle z.B. in BerlinMitte, Berlin-Lichtenberg oder Emsdetten. In Spanien z.B. in Cordoba.

„If you want to see which way a country is headed, look at the country's budget and how it allocates resources for women and children.“ Pregs Govender, South Africa

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Das Partizipative Budget – auch Bürgerhaushalt genannt – ist eine demokratisierte Form der Budgeterstellung, bei der sich Bürger ohne politisches Mandat am Prozess zur Planung des öffentlichen Haushalts beteiligen. TAZ: „Sparen auf Brasilianisch“, 4.2.2002 www.unesco.org/most/southa13.htm www.buergerhaushalt-lichtenberg.de

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Burning Man & Black Rock City Wenn sich Kreative ihre eigene Stadt bauen

Jedes Jahr Anfang September pilgern zehntausende Menschen im USBundesstaat Nevada in die „Black Rock Desert“, eine entlegene Wüste zwei Autostunden nördlich von Reno. Burning Man, das wohl außergewöhnlichste Kunstfestival der Welt, zieht seit nunmehr zwei Jahrzehnten Kreative, Lebenshungrige, Jungunternehmer aus dem Silicon Valley und Querdenker aus aller Welt an. Selbst die Führungsriege von Google holt sich hier Inspirationen für künftige Projekte. Trendguru Tim O'Reilly : „Wenn Sie zum Burning Man Festival gehen, sehen Sie zum Beispiel Kleidungsstücke, die werden Sie in ein paar Jahren auch in den Straßen von New York sehen.“ Die Sogwirkung von Burning Man ist inzwischen so groß, dass sich 35.000 Menschen einmal im Jahr auf den beschwerlichen Weg machen.

Das besondere in puncto Stadtentwicklung: Nach einem festgelegten Stadtplan entsteht für den Burning Man Jahr für Jahr eine der größten Städte Nevadas. 35.000 Einwohner zählt Black Rock City. Und jedes Jahr werden es mehr. Neben eigener Zeitung, Radio und Cafés hat die Stadt auch ihren eigenen Flughafen. Unverzichtbar sind die selbst mitgebrachten Fahrräder, denn die Stadt ist nicht für den Automobilverkehr ausgelegt.

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The 10 Social Principles of Black Rock City Radical Inclusion Anyone may be a part of Burning Man. We welcome and respect the stranger. No prerequisites exist for participation in our community. Gifting Burning Man is devoted to acts of gift giving. The value of a gift is unconditional. Gifting does not contemplate a return or an exchange for something of equal value. Decommodification In order to preserve the spirit of gifting, our community seeks to create social environments that are unmediated by commercial sponsorships, transactions, or advertising. We stand ready to protect our culture from such exploitation. We resist the substitution of consumption for participatory experience. Radical Self-reliance Burning Man encourages the individual to discover, exercise and rely on his or her inner resources. Radical Self-expression Radical self-expression arises from the unique gifts of the individual. No one other than the individual or a collaborating group can determine its content. It is offered as a gift to others. In this spirit, the giver should respect the rights and liberties of the recipient. Communal Effort Our community values creative cooperation and collaboration. We strive to produce, promote and protect social networks, public spaces, works of art, and methods of communication that support such interaction. Civic Responsibility We value civil society. Community members who organize events should assume responsibility for public welfare and endeavor to communicate civic responsibilities to participants. They must also assume responsibility for conducting events in accordance with local, state and federal laws. Leaving No Trace Our community respects the environment. We are committed to leaving no physical trace of our activities wherever we gather. We clean up after ourselves and endeavor, whenever possible, to leave such places in a better state than when we found them. Participation Our community is committed to a radically participatory ethic. We believe that transformative change, whether in the individual or in society, can occur only through the medium of deeply personal participation. We achieve being through doing. Everyone is invited to work. Everyone is invited to play. We make the world real through actions that open the heart. Immediacy Immediate experience is, in many ways, the most important touchstone of value in our culture. We seek to overcome barriers that stand between us and a recognition of our inner selves, the reality of those around us, participation in society, and contact with a natural world exceeding human powers. No idea can substitute for this experience.

www.burningman.com Die Zeit: „Den Freaks auf der Spur“, April 2004

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Die B-Society Endlich Gesellschaft für Langschläfer

Von wegen Morgenstund' hat Gold im Mund: Die dänische „B-Society“ wehrt sich gegen das Diktat der Frühaufsteher. Ihre Forderung: Wessen Organismus erst gegen zehn oder elf so richtig in Schwung kommt, der soll auch später lernen oder arbeiten können. Camilla Kring schläft gern lange. Das heißt aber nicht, dass sie faul ist - für ihren ganz persönlichen Biorhythmus ist acht Uhr früh einfach noch mitten in der Nacht. Wissenschaftlich gesprochen, ist Camilla Kring eine „B-Person“. Und sie ist nicht die Einzige in Dänemark: Seit sie im Dezember des vergangenen Jahres die „B-Society“, eine Interessenvertretung für Langschläfer, gegründet hat, stehen die Telefone nicht mehr still.

„The agricultural society was for A-people The innovation society needs B-people“ Über 5.000 Menschen sind auf der Website der „Gewerkschaft“ der Spätaufsteher bereits registriert. Dieser Erfolg überrascht selbst die enthusiastische Gründerin, die sich nicht weniger vorgenommen hat, als „eine neue Gesellschaft zu kreieren“. Denn: „Produktivität und Lebensqualität sind kein Widerspruch, wenn jeder in seinem eigenen Rhythmus leben und arbeiten kann“, ist sie überzeugt. 15 bis 25 Prozent der Bevölkerung sind, glaubt man wissenschaftlichen Studien, B-Persons: Sie werden erst nach zehn Uhr so richtig produktiv und sind am späten Nachmittag und/oder am Abend am leistungsfähigsten. Das hätte, glaubt die Gründerin der B-Society, nicht nur Vorteile für die Arbeitnehmer: „In einer globalisierten Welt können zum Beispiel B-Persons verstärkt mit Amerika zusammenarbeiten.“ (Quelle: Der Standard 20/06/2007)

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Wie man sich die B-Society in der Praxis vorstellen kann: >> Ab August 2008 wird es die erste B-Highschool geben, dort wird nicht vor 10 Uhr unterrichtet. Es gebe schließlich „keinen pädagogischen Grund, warum Schulen so früh beginnen müssen“, ist man bei der B-Society überzeugt. >> Man plant außerdem einen Zertifizierungsprozess, der „B-Companies“ als solche ausschildern soll. >> Ab Oktober soll es eine weltweite Online-Plattform geben, auf der „B-Persons“ gezielt Jobs suchen können.

Hinter der Forderung nach einer Gesellschaft für Spätaufsteher steckt mehr als eine nette Story. Sie stellt die fundamentale Frage nach den menschlichen Bedürfnissen in einer InnovationsGesellschaft. Und wie man diese in Schule, Beruf, Gesellschaft und Stadt verwirklichen könnte. www.b-society.org

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Architektur vor Ort Oder wie man mit einem Ort redet

Architekten wissen alles, haben immer schon alles gewusst. Doch nun gibt es die Idee, mit Sack und Pack vor Ort zu fahren - und dort gemeinsam mit der Bevölkerung zu planen. Architektur live sozusagen. Molln ist ein ganz normaler Ort, wie man ihn in Österreich des Öfteren vorfindet. Mit ganz normalen Problemen und städtebaulichen und architektonischen Wehwechen. Vor lauter Verwaltungskram ist in den vergangenen Jahren nichts mehr weitergegangen. „Es hat schon viele Konzepte und Ideen gegeben“, erklärt der Vizebürgermeister Josef Illecker, doch bis jetzt habe es immer an den essentiellen Kräften von außen gemangelt, um diese Ideen dann auch wirklich umzusetzen. „Molln ist wirtschaftlich extrem stark und befindet sich am Rande des Nationalparks. Nun ist uns endlich klar geworden, dass wir aus unserem Potenzial auch etwas machen müssen.“ Die Lösung lautet Partizipation. Zwar ist die Teilhabe von Laien an einem architektonischen Planungsprozess längst nichts Neues mehr, doch in dieser Form ist die Zusammenarbeit ein österreichweites Novum. Anstatt Architekten mit Entwürfen zu beauftragen, dutzende Präsentations- und noch mehr Besprechungstermine anzusetzen, holten sich die Mollner die Experten „ins Haus“. Die Gruppe noncon:form machte sich auf den Weg und errichtete ein „temporäres Büro“. Das Programm ist ganz einfach. Und ganz schön riskant. „Wir packen Computer, Drucker und Papier ins Auto und fahren damit direkt vor Ort“, erzählt Elisabeth Leitner. Auf diese Weise wird direkt mit der Bevölkerung Kontakt aufgenommen, Meinungen werden gehört, Pläne werden geschmiedet. Und das Ganze, ohne permanent von Pontius zu Pilatus und wieder zurückzufahren. Roland Gruber: „Die Bevölkerung äußert einen Wunsch, wir machen daraus eine Idee. Die Bevölkerung sagt uns daraufhin ihre Meinung, und wir können gleich vor Ort darauf reagieren.“ Daher auch der Projektname „noncon:form vor Ort“.

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Partizipatives Planen in Haag (oben) und Molln (unten).

Architekten erzählen über das Entstehen eines Gebäudes gerne folgenden Satz: „Dieses Gebäude war an diesem Platz schon immer da. Ich habe es nur noch gebaut.“ Partizipative Architektur ist ein Instrument, die Sichtbarkeit des bereits Vorhandenen entschieden zu erhöhen. www.nonconform.at Die Presse: „Molln: Ein Dorf erfindet sich neu“, 15.07.2006 Der Standard: „Wie redet man mit einem Dorf?“, 22.04.2006

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Gefühlte Stadt Wie Orte wirken. Und Menschen sie erleben.

Um herauszufinden, welche Orte einer Stadt besonders gut wahrgenommen werden, ließ Kevin Lynch, Stadtplaner und Autor, in seiner 1960 durchgeführten Studie „The Image of the City“ Einwohner amerikanischer Stadtteile ihre Viertel aus der Erinnerung heraus zeichnen und Wege durch die Stadt beschreiben. So entstanden Karten der weißen Flecken einer Stadt: Orte, die sich der Wahrnehmung durch die Bewohner entziehen. Einen weiteren kreativen Zugang, Stadt zu erfahren, zeigt der Brite Christian Nold. Er ist Erfinder des Bio-Mapping und zeichnet Gefühlslandkarten von Städten. Zum Erstellen dieser Karten gibt Nold freiwilligen Teilnehmern GPS-Gerät und eine Art Lügendetektor mit auf den Weg durch ihre Stadt. Puls und Hautwiderstand werden aufgezeichnet und mit Orts- und Zeitangabe verknüpft. Das Ergebnis sind dreidimensionale „Emotion-Maps“, ergänzt durch ausführliche Kommentare der Versuchsteilnehmer zu einzelnen Wegpunkten. Die emotional eingefärbten Karten ermöglichen uns in Zukunft, Wege durch eine Stadt nach den gewünschten Empfindungen zu planen.

„The body is politically controlled through physical means but also through our imagination, emotions, fantasies and desires. Bio Mapping makes people think about how their body is related to their mind.“

Ausschnitt aus der Francisco Emotion-Map

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Beispiel einer Emotion-Map auf Google Earth. Mittlerweile gibt es eine unüberschaubare Anzahl an Karten, die sich als virtuelle Transparentfolien über die Google-Welt legen lassen.

Zum Beispiel: Subjektive Wohnqualität in Salzburg. Geoinformatiker und Psychologen untersuchten die subjektiv erlebte Wohnqualität der Stadt Salzburg. Das ergebnis: geocodierte Lebensqualitätkarten des gesamten Stadtgebietes. (www.ispace.researchstudio.at)

Christian Nold ist Erfinder des Bio-Mapping und erstellt Gefühlslandkarten von Städten. Das Ergebnis sind dreidimensionale „Emotion-Maps“, ergänzt durch ausführliche Kommentare der Versuchsteilnehmer zu einzelnen Wegpunkten. Die emotional eingefärbten Karten ermöglichen uns in Zukunft, Wege durch eine Stadt nach den gewünschten Empfindungen zu planen. www.biomapping.net

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Stadt und Sicherheiten in Zahlen Anteil der Landbevölkerung in Deutschland, der sich nach eigenen Angaben um seine Nachbarn kümmern will:

51% Anteil der Stadtbevölkerung in Deutschland, der sich nach eigenen Angaben um seine Nachbarn kümmern will:

46% Anzahl der Apotheken im Grazer Westen:

5

Anzahl der Nagelstudios im Grazer Westen:

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Anzahl der Personen, die die Grazer Verkehrsbetriebe täglich transportieren:

270.000

Grazer, die sich statistisch ein Auto teilen:

2

Ausgaben der Österreicher für Freizeit, Unterhaltung und Kultur in Euro 1993:

10.800.000.000 Ausgaben der Österreicher für Freizeit, Unterhaltung und Kultur in Euro 2005:

16.500.000.000 115


Juli 2007 Redaktion Institut f端r Markenentwicklung Autoren: Vanessa Monogioudis Markus Petzl Michael Sammer Markus Zeiringer


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