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Zu hässlich für den Supermarkt
Weltweit landet ein Drittel aller Lebensmittel ungenützt im Müll. Eine Reihe von Initiativen hat es sich zur Aufgabe gemacht, „Food Waste“ zu verhindern.
Rund 100 verschiedene Gründe wurden beim Wiener Label „Unverschwendet“ mittlerweile gezählt, warum erntefrisches Gemüse es nicht in die Supermärkte schafft. Eine absurd hohe Zahl. Eine Zahl, die wütend machen muss.
Die Geschwister Cornelia und Andreas Diesenreiter haben „Unverschwendet“ mit dem Ziel gegründet, Lebensmittel zu retten, die von den großen Handelsketten nach der Ernte abgelehnt werden, um so einen Beitrag im Kampf gegen Lebensmittelverschwendung („Food Waste“) zu leisten.
Denn oft bleiben Bauern gerade einmal 24 Stunden vor der vereinbarten Abnahme auf ihrer frischen Ware sitzen. Weil ihre Zucchini geringfügig zu groß sind, Tomaten zu perfekt gereift oder weil Kartoffeln kleine Dellen haben. Weil die Kirschen zum „falschen“ Zeitpunkt reif sind, eine Supermarktkette falsch kalkuliert hat oder weil doch ein anderes Gemüse für die Rabattwochen auserkoren wurde. „Unverschwendet“ kauft Bauern solche landwirtschaftlichen Überschüsse zu fairen Preisen ab und verarbeitet sie einerseits zu Delikatessen im Glas, wie etwa Tomaten-Brotaufstrich, Wassermelonensirup mit Pfeffer oder Gin aus geretteten Kirschen. Andererseits wird das einwandfreie Obst und Gemüse an die Gastronomie und andere Weiterverarbeiter vermittelt.
Bis zu 160 Prozent der für den Markt benötigten Menge müssen von Landwirten produziert werden – 60 Prozent mehr, nur weil die Bauern einkalkulieren müssen, dass ein Teil ihrer Produkte aus rein ästhetischen Gründen abgelehnt wird. Schon bei kleinen Betrieben sind das 500 Kilo pro Tag. Dabei sind die Abfälle aus der Landwirtschaft nicht einmal das größte Problem. Insgesamt werden laut einer Studie des WWF 760.000 Tonnen Lebensmittel jährlich allein in Österreich verschwendet. Für mehr als die Hälfte davon sind private Haushalte verantwortlich, ein Viertel der gekauften Lebensmittel wird – teils sogar ungeöffnet – im Müll entsorgt.
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Das „Frea“ in Berlin-Mitte hat sich nicht nur dem Zero-Waste-Konzept, sondern auch dem kleinstmöglichen ökologischen Fußabdruck verschrieben und bietet rein pflanzliche, saisonale Gerichte aus der Region. Lebensmittelreste werden kompostiert, Möbel aus Recyclingmaterialien hergestellt: Das erste Zero-Waste-Lokal war 2014 das „Silo“, mittlerweile von Brighton in ein Londoner Warehouse übersiedelt.
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Sonderangebote, Mengenrabatte und Großpackungen führen zu einem Überschuss an Lebensmitteln in der eigenen Küche. Der Konsument kann und will aus verschiedenen Gründen die großen Mengen dann doch nicht verarbeiten, und vieles landet letztendlich im Müll. Zudem müssen auch Singles zu unnötig großen Packungen greifen, weil keine kleineren Gebinde verfügbar sind. Was noch dazukommt: Supermarktkunden wollen bis Ladenschluss noch das volle Angebot.
Die Folge: Supermärkte führen deutlich mehr, als tatsächlich gekauft wird.
Eine gute Alternative sind Märkte oder verpackungsfreie Geschäfte, die sich einer immer größeren Beliebtheit erfreuen: etwa „Lieber Ohne“ in Wien, „Das Gramm“ in Graz, „Flinse & Co“ in Düsseldorf oder „Die Auffüllerei“ in Frankfurt am Main, um nur ein paar Beispiele zu nennen. In solchen Läden wird nur die benötigte Menge an Pasta, Müsli, Gemüse und
Co in mitgebrachte Gefäße gefüllt und somit nicht nur Verpackungs-, sondern auch Lebensmittelmüll vermieden. „Food Waste“ ist seit geraumer Zeit auch für die Gastronomie eines der brennendsten Themen. Immer mehr Köche von Weltrang, wie der Italiener Massimo Bottura, rufen wegweisende Initiativen ins Leben, um gegen Lebensmittelverschwendung vorzugehen. Werden doch jährlich weltweit 1,3 Milliarden Tonnen weggeworfen, was einem Drittel aller Lebensmittel entspricht.
In den USA landen sogar 40 Prozent aller Lebensmittel im Müll, wie der Kochexzentriker Anthony Bourdain für seinen sehenswerten Film „Wasted! The Story of Food Waste“ recherchiert hat. Spitzenkoch Bottura ließ im Rahmen der EXPO 2015 in Mailand prominente Kochkollegen einfliegen, die im „Refettorio Ambrosiano“ mit essbaren Überschüssen aus der EXPO-Verpflegung Bedürftige bekochten. Mittlerweile gibt es vier Refettori weltweit, die mit nicht verkauften frischen Lebensmitteln arbeiten.
In der Filiale in London – Großbritannien ist in Sachen „Food Waste“ zweifellos Vorreiter – geschieht das mithilfe von „The Felix Project“: Dieses Vorzeigeprojekt verteilt nicht genützte Lebensmittel, teilweise direkt von den Produzenten, an Hilfsorganisationen um. Ein Kernsatz der „Zero Waste“-Bewe-
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Die Geschwister Cornelia und Andreas Diesenreiter von „Unverschwendet“ kaufen Bauern landwirtschaftliche Überschüsse, die von großen Handelsketten abgelehnt werden, zu fairen Preisen ab. Zu finden am Schwendermarkt im 15. Bezirk in Wien (links). Verena Kassar betreibt mit ihrem 15-köpfigen Team die verpackungsfreie Greißlerei „Das Gramm“ in der Grazer Innenstadt (Mitte). „Die Auffüllerei“ ist die Adresse in FrankfurtNordend, wo bedarfsgerechte Mengen an regionalen, vorwiegend biologischen Lebensmitteln ohne Verpackung abgefüllt werden können (rechts).
Im „Nolla“ in Helsinki leben Carlos Henriques, Luka Balac and Albert Franch Sunyer eine Vision: kreative, großartige und nachhaltige Küche.
gung lautet schließlich: Der Abfall des einen ist die Ressource des anderen.
Ein inspirierendes Beispiel ist der amerikanische Kochintellektuelle Dan Barber, der mit seinen Gastro-Pop-ups namens „Wasted“ in New York und London zeigte, dass man auch aus Grünkohlstielen einen köstlichen Eintopf kochen kann. Oder wie sich die Flüssigkeit aus Kichererbsendosen zu steifem Schaum schlagen lässt und man Rote-Rüben-Tresterrückstände aus Saftbars als Fleischersatz für vegane Burger einsetzen kann. Bei diversen Symposien wie „Care’s – The Ethical Chef
Days“ in Südtirol thematisieren Köche Fragen zu Lebensmittelverschwendung. Etwa jene, ob man Gästen nicht öfter zumuten könne, ein bestimmtes Gericht nicht mehr bestellen zu können, anstatt zu viel bereitzuhalten, damit jeder Gast die volle Auswahl hat.
Der RELAX Guide ist schon längst dazu übergegangen, in der Wellnesshotellerie jene Frühstücksangebote höher zu bewerten, die auf Qualität anstatt Quantität am Buffet setzen: Wenn möglich, Bioprodukte von regionalen Erzeugern – und davon lieber geringere Mengen. Der renommierte WellnessGuide plädiert vor allem auch für Frühstück à la carte, das für jeden Gast individuell zubereitet wird. Denn dadurch können erhebliche Mengen an Lebensmitteln eingespart werden.
Um fertig gekochte Speisen aus Hotels, Restaurants und Supermärkten, die trotz einwandfreien Zustands entsorgt werden müssten, geht es den Gründern von „Too Good To Go“, einer App, die mittlerweile zu den am schnellsten wachsenden in Europa zählt. Das Konzept dieser Plattform: Übrig gebliebene Speisen können vor Geschäftsschluss zu einem deutlich geringeren Preis abgeholt werden. Eine Win-Win-Situation – der Kunde spart Geld, der Anbieter verdient noch etwas und gewinnt womöglich neue Kunden, die Umwelt profitiert.
Gegen Lebensmittelverschwendung richten sich nicht nur die „Zero Waste“-Bars, die etwa in London aus dem Boden schießen. Es gibt mittlerweile auch Esslokale, in denen ohne „Food Waste“ gekocht wird. Das weltweit erste war 2014 das „Silo“ in Brighton, das mittlerweile nach East London übersiedelt ist. In Helsinki findet man das „Nolla“, und in Deutschland ist das vegane „Frea“ in Berlin-Mitte ein Beispiel für ein Lokal ohne Mülltonnen. In Kooperation mit gleichgesinnten Lieferanten wird weder Verpackungs- noch Lebensmittelabfall produziert. Herzstück des „Frea“ ist ein Gerät namens „Gersi“: Was an essbarem Abfall anfällt, wird innerhalb von 24 Stunden in dieser hauseigenen Kompostiermaschine zu einem Bodenersatzstoff umgewandelt. Und geht zurück an die Produzenten. Womit sich der Kreis schließt. ■
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