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Parakletterin Anoushé Husain im Porträt

Die Unaufhaltsame

Anoushé Husain ist im Luxemburger Sport ein noch eher unbeschriebenes Blatt. Dabei hat die Parakletterin vor wenigen Monaten einen Guinness-Weltrekord aufgestellt und wurde just zur ersten Luxemburger Starterin bei einem World-Cup in ihrer Sportart.

„Luxemburg ist zuhause“, sagt Anoushé Husain bestimmt lächelnd in einwandfreiem britischem Akzent. Ihre Eltern kommen aus Pakistan und England. Anoushé selbst kam im Großherzogtum auf die Welt, verbrachte hier ihre ganze Jugend. Mittlerweile lebt und arbeitet sie in London. Und genau dort wollte die Parakletterin vor wenigen Monaten Geschichte schreiben. Am fünften April im Castle-Climbing-Center in London forderte Anoushé Husain einen Weltrekord heraus. Husain wollte die erste einhändige Frau der Geschichte werden, die mehr als 200 vertikale Meter in einer Stunde zurücklegt.

Aber von vorne. Zumindest fast. „Ich muss acht gewesen sein“, erinnert sich Husain an einen Schulausflug der ihr Leben verändern sollte. Sie sei immer schon sportlich gewesen, erinnert sie sich. Martial Arts, Schwimmen, Tennis, Laufen, Badminton: Es gibt wenig, was Husain nicht ausprobiert hat. „Wir waren in einer Jugendherberge, irgendwo in Frankreich, dort gab es eine Kletterwand. Dort haben meine Schulkameraden und ich viel Zeit verbracht.“ Bereits am zweiten Tag hätten alle ihre Kameraden es bis an die Spitze der Kletterwand geschafft. „Da gab es so ein rundes Ding, auf das man schlagen konnte, wenn man oben war.“ Angetrieben vom Ziel dieses „runde Ding“ zu erreichen, kraxelte also auch Husain bis an die Spitze.

„Ich war sofort verkauft“, erzählt Husain heute, immer noch mit diesem Funkeln in den Augen. Nicht ganz so überzeugt waren ihre Eltern. Es sei zu gefährlich. „Beim Klettern sterben Menschen“, warnten sie. Sie solle doch lieber bei einer anderen Sportart bleiben. Also blieb das Klettern Nebensache, der Sport an sich aber immer präsent. Bis zu ihrem 17. Lebensjahr. „Damals wurde meine Gesundheit schlechter. Ich wurde mit dem EhlersDanlos-Syndrom diagnostiziert. Also habe ich aufgehört mit dem Sport. Im Nachhinein weiß ich, dass der Sport dazu beigetragen hat mich gesund zu halten und nicht das Gegenteil.“ Beim Ehlers-Danlos-Syndrom können die Gelenke eines Menschen ohne augenscheinlichen Grund ausrenken oder brechen.

Ihren Weg zurück zum Sport, dieses Mal zurück an die Wand, ebnete ein anderer Schicksalsschlag. Im Alter von 23 Jahren wurde bei Husain ein Tumor entdeckt. „Es ist schon verrückt. Eine meiner besten Freundinnen, die damals mit auf diesem Schulausflug war und bis dahin immer noch kletterte, meinte, ich solle doch wieder damit anfangen. Ich war mir unsicher. Aber sie meinte immer und immer wieder, ich habe Angst. Am Ende hat sie mir erklärt, dass es mir im schlimmsten Fall nicht gefällt und ich wieder aufhören könne. Im besten Fall könnte es mein Leben verändern und das tat es.“

Seither dreht sich das Leben von Anoushé Husain immer und immer mehr um die Kletterwand. Seit 2016 klettert sie in Parawettbewerben in Großbritannien, kämpft regelmäßig um Turniererfolge und ist selten schlechter klassiert als Platz drei in der nationalen Rangliste. 2018 gründet sie die bis heute größte Parakletterer Community in Großbritannien (Paraclimbing London) und selbst ihren Mann Kenneth Ellacott lernte sie an der Wand kennen. Ellacott ist ebenfalls Parakletterer und machte ihr sogar den Heiratsantrag 2020 vor einer Kletterwand.

Was uns zurück zu ihrem Weltrekordversuch bringt. Dieser sollte eigentlich bereits im April 2020 stattfinden. „Ich wurde Ende 2019 darauf angesprochen und war direkt Feuer und Flamme. Also habe ich begonnen mich vorzubereiten.“ Einen Monat vor dem Versuch infizierte Husain sich mit dem Coronavirus. Der Weltrekord musste warten. Auch ein Jahr später beim dritten Anlauf

Eine Frau mit einer Hand, verletzungsanfälligen und dadurch schwächeren Gelenken klettert in einer Stunde 374 Meter. Husain scheint unaufhaltsam.

kam Corona in die Quere, dieses Mal deutlich kurzfristiger. „Ich war bereits in meiner Konzentrationsphase als wir informiert wurden, dass das gesamte Guinness-Team positiv getestet wurde.“

Erst am fünften April dieses Jahres durfte Husain endlich den Rekord attackieren. „200 Meter musste ich

Eigentlich ist rechts meine starke Seite. Dadurch, dass ich rechts allerdings nur einen halben Arm habe, muss ich mit meiner schwachen Seite klettern. Das ist ungefähr so als müsste man mit der anderen Hand schreiben.

Anoushé Husain

erreichen. Alles darüber war Bonus. Aber ich wollte es meiner Nachfolgerin so schwer wie möglich machen diesen Rekord erneut zu brechen.“ Das Resultat dieses eisenstarken Willens? Husain erreichte 374 Meter und zerschmetterte den aktuellen Rekord. Selbst eine blutende Hand konnte Husain auf ihrem Weg zu den Gesichtsbüchern nicht aufhalten.

Eine Frau mit einer Hand, verletzungsanfälligen und dadurch schwächeren Gelenken klettert in einer Stunde 374 Meter. Husain scheint unaufhaltsam. Dabei sind das noch nicht alle Hürden, die sie nehmen musste. Auch technisch gibt es ein Problem: „Eigentlich ist rechts meine starke Seite. Dadurch, dass ich rechts allerdings nur einen halben Arm habe, muss ich mit meiner schwachen Seite klettern. Das ist ungefähr so, als müsste man mit der anderen Hand schreiben.“

Und selbst ihren Fitnesszustand bemängelt die ambitionierte 35-Jährige: „Vor Corona war ich deutlich fitter. Es ist mir gerade während Corona und Lockdown immer schwerer gefallen in Form zu bleiben.“ Also wurde Husain kreativ. Bei jeder Alltagsaktivität musste sie irgendwelche Fitnessübungen ausführen. Während des Wasserkochens machte sie Kniebeugen. Während ihr Essen in der Mikrowelle aufwärmte, balancierte sie auf einem Bein. „Das erlaubte mir immer fitter zu werden, ohne das Gefühl zu haben extra trainieren zu müssen. Ich habe einfach diese freien Sekunden und Minuten effektiv ausgenutzt.“

Und davon will sie auch in naher Zukunft weiter profitieren. Mit dem Weltrekord in der Tasche will Anoushé Husain jetzt nämlich wieder an den richtigen Wettbewerben teilnehmen und das als Teil von „Team Lëtzebuerg“. Den ersten Auftritt für Luxemburg hatte sie bereits vor einem Monat beim Worldcup in Innsbruck. Spielt der Körper weiter mit, will sie auch in den nächsten Jahren weiter angreifen. Ihre Erfolgschancen macht sie dabei an einer Einstufung fest.

„Aktuell starte ich in der Kategorie, wo Menschen mit Armbehinderungen antreten. Dabei ist das viel größere Problem mein restlicher Körper. Gerade werden die Regeln diesbezüglich umgeschrieben und mit etwas Glück kann ich kommendes Jahr dann in einer anderen Kategorie antreten.“ In dieser Kategorie würde Husain ihre Chancen auf Erfolg dann deutlich höher einschätzen. Selbst das Podium auf Weltebene schätzt sie dann als realistisch ein.

Aber selbst, wenn daraus nichts wird, will Husain weiter Gas geben. Gemeinsam mit dem Luxemburgischen Paralympischen Comitee arbeitet sie daran, eine Parakletterer Community in Luxemburg aufzubauen, ähnlich wie vor wenigen Jahren in London. „Luxemburg ist kleiner, nicht so weit entwickelt in Sachen Parasport. Aber das macht es so interessant. Wir haben ein weißes Blatt Papier und können etwas neues aufbauen.“ Ihr Wunsch ist es möglichst viele Menschen mit Behinderung an den Parasport, vor allem das Paraklettern, zu bringen: „Vielleicht ist ja dann auch irgendwann der eigene Nachfolger dabei.“

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