ICH TONI ROTH. Ein Dorf erfindet eine Künstlerin

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Ein Dorf erfindet eine Künstlerin

ICH TONI ROTH

Ich bin ich und du bist du. Ich bin du und du bist ich!

Toni Roth wurde 1939 in Proschwitz an der Neiße geboren und 2022 in Elmstein und Umgebung erfunden. Sie ist eine vielseitig aktive Künstlerin und leider seit den 80er Jahren verschollen. Rot(h) ist ihr Kunstname.

Auch wenn es für viele ein Rätsel bleibt, wer Toni ist, so wird auf diesen Seiten klar, dass Rot ihre große Liebe war, ihre künstlerische Passion.

Toni Roth wurde in, für und mit Elmstein erfunden. Kaum jemand dort hat gefragt warum? Warum auch? Oder vielleicht besser: warum nicht?

Weil es in Elmstein noch nicht genug Künstlerinnen gibt oder nicht genug, die sichtbar sind. Weil es dort genug leerstehende Räume gibt, die Orte für alle Menschen werden können, die gerne kreativ zusammen sind.

Weil Toni Roth Menschen miteinander verbindet, die nah beieinander leben, sich aber im Alltag nicht oft begegnen.

Weil jedes Dorf ein Recht auf Kunst hat.

Toni Roth hätte eine bekannte Filmemacherin sein können, die in der Künstlerkolonie lebte, und deren Filme in Elmstein und an vielen anderen Orten präsentiert wurden ...

… oder eine Aktionskünstlerin, die sich für mehr Gleichberechtigung einsetzte und die in der Kommune viele kreative Initiativen gestartet hat, die bis heute aktiv sind …

… oder eine Autorin, die mit ihrer Lebensgefährtin ein Haus in Speyerbrunn bezog, um dort ungestört schreiben zu können …

Sie hätte eine Künstlerin sein können, die so bekannt wurde mit ihrer Arbeit, dass heute auch eine Straße in Elmstein nach ihr benannt wäre. Die Toni­Roth­Straße. Ihre Kinder würden vielleicht in größeren Städten leben, ihre Enkel wären aber in den Pfälzerwald zurückgezogen, um dort kreativ zu arbeiten und sich mit vielen anderen Menschen gemeinsam zu engagieren.

Es war für Toni nicht einfach, Künstlerin zu werden, weil es für Frauen ihrer Zeit schwierig war, gesehen und gehört zu werden – nicht nur in der Kunst.

Toni Roths frühe Arbeit wurde in der Grundschule in Elmstein entworfen. Dort haben 70 Schüler*innen rote Pullis gemalt, um Tonis frühen Verlust der Mutter in Bildern zu verarbeiten. Viele Kinder sind später mit ihren Großmüttern in die Ausstellung gekommen, um ihr eigenes und Tonis Werk zu bewundern.

Im protestantischen Pfarrhaus wurde Toni Roth weiter erfunden. Dort gab es genug Raum für rote Farbe, rote Wolle, bunte Ideen: mehr Bilder, Fotos, Skulpturen und Texte wurden geschaffen und so entstand die Ausstellung, die am 20.10.2022 eröffnet wurde.

Sie wurde im ehemaligen Forstamt Elmstein Süd erfunden, wo eine Gruppe von Menschen im Sommer 2022 viele alte Fotos und Dias betrachtet hat, um darin ihre Geschichte zu erkennen und erzählen zu können. Es wurde gestöbert, gerätselt, erzählt, entworfen, gelacht, sich gewundert, verworfen, die Vergangenheit zerfurcht, um die Zukunft zu entwerfen.

Dann wurde die Biografie geschrieben – mehrfach und mit vielen Stimmen. Es fehlte dann nur noch ihr Werk für die Ausstellung ICH TONI ROTH.

Die Erfindung gibt Toni eine Stimme und Kraft, sie wird hörbar – und im Oktober 2022 wurde Elmstein zwischen Forstamt und Pfarrhaus, Minigolfanlage und „Schwarzer Katz“ und rund um das „Dorflädsche“ zur kreativen Szene, zu einer großen Leinwand, zur Tanzfläche, zum Livekonzert und zum Kino. Über mehrere Wochen wurden Elmsteiner*innen immer wieder Toni Roth, indem sie zeichnen, sticken, schreiben konnten, sie suchen und finden konnten als gemeinsames Projekt.

Toni Roth wurde auf dem Rehfelsen erfunden, weil dort ein experimenteller Film gedreht wurde, basierend auf ihrem Gedicht „Rote Beine“. Das Gedicht wurde 1969 bei einem Besuch in Elmstein geschrieben – wissend, dass sie, Toni Roth, dorthin nicht mehr oft zurückkehren würde.

Toni Roths französische Phase wurde wiederum im Forstamt erfunden, und ihre aktivistische Phase, zu der sie in Paris inspiriert wurde, am Speyerbach mit roter Tinte wiederbelebt.

Und einen ganzen Monat lang wurden Toni Roth und ihre Kunst auf den Straßen in Elmstein erfunden: von jungen und alten Menschen vor Ort, die Toni als kleines zartes Pflänzchen mit roten Beinen auf den Arm genommen und vorsichtig durch die Straßen getragen haben. So wurde Toni Roth doch noch sichtbar.

Danke!

Wir wünschen viel Vergnügen beim Stöbern, Finden und Erfinden auf den kommenden Seiten.

deufert&plischke und Matchbox

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2020er Jahre 2022

BIOGRAFIE

Antonia Gütermann kommt als Tochter eines Ehepaars von Kurzwarenhändlern im heutigen Proseč nad Nisou (Proschwitz an der Neiße) zur Welt. Ihr genaues Geburtsdatum ist unbekannt.

Sie lebt seit dem frühen Tod der Eltern bei ihren Großeltern. Im Zuge der Vertreibung Sudetendeutscher aus der Tschechoslowakei muss die Familie 1946 nach Deutschland umsiedeln.

Nach Stationen in Sachsen und Franken erhält die Familie eine provisorische Unterkunft im Dorf Elmstein in der französischen Besatzungszone der Bundesrepublik. Bald darauf bezieht Antonia Gütermann mit Großeltern, Tante und Onkel ein Siedlungshaus im Ortsteil Schafhof. Hier im Pfälzerwald verbringt sie prägende Jahre, in denen sie erste künstlerische Versuche mit Fundstücken macht: sie sammelt Zweige, Federn, Zapfen und Schneckenhäuser im Wald sowie Scherben aus Glas, Keramik und Porzellan im Speyerbach. Sie vervollständigt das Unvollständige und bringt die rekonstruierten und veränderten Fundstücke zurück an ihre mit roter Wolle markierten Fundorte. Aus später gefundenen Briefen ist nachzuvollziehen, dass sie zu dieser Zeit auch ein Vertrauensverhältnis zu der Elmsteiner Kurzwaren­ und Textilhändlerin Hedwig Roth entwickelt.

Antonia Gütermann, die sich bereits Toni nennt, reist 1961 per Anhalter zum ersten Mal nach Paris. Sie lernt dort zahlreiche Künstler*innen kennen, darunter Niki de Saint Phalle, und nimmt selbst den Kunstnamen Toni Roth an. Inspiriert von de Saint Phalles Schießbildern (französisch: Tirs), die heute als bedeutende Werke der Aktionskunst gelten, versucht sich Toni Roth zurück in Elmstein an eigenen Farb­Experimenten mit Schüssen auf Leinwand. Es folgen mehrere Aufenthalte in Paris und die Eröffnung der kollektiven Galerie Réserve de Chasse (deutsch: Jagdrevier).

Die Spur von Toni Roth verliert sich an der Ostküste der USA.

Eine kleine Kiste mit Briefen und Fundstücken aus dem ehemaligen Elmsteiner Textil­ und Kurzwarenladen Roth taucht auf. Das Geschäft war bereits Anfang der 1980er Jahre aufgelöst worden, in etwa zur gleichen Zeit, zu der sich die Spur von Toni Roth verliert. In der Kiste befindliche Notizen, Briefe und Postkarten von Toni Roth richten sich an die Besitzerin Hedwig Roth und erzählen vom Leben und Wirken der Künstlerin in Frankreich und den USA.

Ausgehend von den Spuren beginnt die Recherche, wie das Leben und Werk von Toni Roth ausgesehen haben könnte. Elmsteiner Bürger*innen tragen gemeinsam mit deufert&plischke Fundstücke zusammen, erfinden Toni Roths Leben und vervollständigen ihr Werk. Entlang der Geschichte des Ortes und den Erinnerungen der Einwohner*innen werden sie selbst Toni Roth, Künstlerin aus und für Elmstein. So ist die Suche nach Toni Roths Leben in Elmstein auch eine Reise in die Vergangenheit des Ortes.

Im Oktober 2022 eröffnete die Ausstellung ICH TONI ROTH. Ausgewählte Arbeiten und der künstlerische Prozess standen im Mittelpunkt der Präsentation im protestantischen Pfarrhaus. Zwei in Elmstein entstandene Filme feierten Premiere: eine Dokumentation* über das Leben und Wirken von Toni Roth und der live vertonte Film „Rote Beine“** nach einem ihrer Gedichte. Ein performativer Rundgang führte am Eröffnungswochenende zu Orten, an denen sich das Leben von Toni Roth nachvollziehen ließ und lud gleichzeitig ein, ihre künstlerische Praxis selbst auszuprobieren. Die Ausstellung war bis Ende 2022 zu sehen und wird durch die vorliegende Dokumentation vervollständigt.

1939 1946
1950 bis 1961 1961 bis 1982 1982
’39 ’82 * **

Die Mordkammer, ein Talkessel in Elmstein, in dessen Mauerresten Toni Roth Fundstücke und Vervollständigtes sowie klein gerollte Zeichnungen auf Papier versteckt.

Ein handgestrickter, roter Pullover ihrer Mutter begleitet die Künstlerin als Kleidungs­ und Erinnerungsstück.

Roter Pullover im ehemaligen Textilgeschäft Roth in der Elmsteiner Hauptstraße.

Ansichtskarte an Frau Roth von 1961

Ausstellung in der Galerie Réserve de Chasse, Wachsarbeiten von Elfriede Voss, Datum unbekannt

Letzter Brief von Toni an Hedwig Roth von 1982 (Ausschnitt)

Mit roter Wolle umwickelte Wurzel aus dem Elmsteiner Wald (Rekonstruktion)
’55
’82 5
’64

WIR TONI ROTH

14.10.2022:

Offenes Atelier – Besuch im Pfarrhaus

Es ist 15:58 Uhr, als sich das mittlere Fenster im oberen Stockwerk des Pfarrhauses an der Hauptstraße öffnet und die rote Fahne an einem großen Ast an der Halterung angebracht wird.

Andere Kinder, die das Mädchen aus der Schule kennt, kommen angerannt. Sie sind eine Klasse über ihr. Ein bärtiger Mann mit langem Haar öffnet die Tür und die älteren Kinder huschen an ihm vorbei. Sie ist ein bisschen zögerlicher, bevor sie das Haus betritt.

Sie folgt den Stimmen in einen Raum, in dem haufenweise rote Sitzsäcke, Teppiche und rote Wollknäuel verteilt sind. Auf einem Bildschirm erzählt eine Frau etwas – sie hat sie schon öfter in Elmstein gesehen. Sie sieht wichtig aus und spricht ernst. Sie erzählt von Toni und Paris. Der Ton aus dem Lautsprecher kommt gegen die aufgeregten Stimmen der anderen Kinder jedoch nicht an. Ein Junge begrüßt sie und fragt, ob sie Fingerstricken lernen will. Sie nickt, holt sich ein schönes Knäuel der dunkelroten Wolle und setzt sich neben ihn auf den Boden. Fingerstricken ist gar nicht so schwer.

Sie läuft einen Raum weiter. Dort ist es etwas ruhiger. Ganz viele Scherben liegen auf einem Tuch auf dem Boden. Sie soll sich selbst eine Scherbe nehmen und mit einem Nagel ihren Namen in sie ritzen.

Außerdem braucht es viel Kraft, bis ihr Name wirklich eingraviert ist und nicht beim Darüberwischen mit der Hand direkt ganz verblasst. Sie umwickelt die Scherbe mit einem roten Faden. Ihren Namen erkennt man jetzt nur noch bruchstückhaft, genauso wie auf der Fahne im Wind vor dem Pfarrhaus. Ihre Namensscherbe soll gleich im Garten zu den anderen an einen Baum gehängt werden.

Davor will sie sich noch ein bisschen umschauen.

Der Wind verfängt sich in der Fahne und lässt ihre blau­weiße Aufschrift nur unvollständig von unten erkennen. Irgendwas mit ICH und N und TH. Das Mädchen, das schon gespannt vor der Tür wartet, ist nicht auf einen Moment der Windstille angewiesen, sie weiß schon so was dort geschrieben steht: ICH TONI ROTH

Eigentlich wollte sie schon gestern hereinschauen, nachdem sie in ihrer Grundschule Besuch bekam und ihren ersten roten Pulli malte. Da musste sie allerdings zu Hause bleiben, weil ihre Oma vorbeigekommen war. Jetzt ist sie noch aufgeregter, mehr über die Frau zu erfahren, deren Namen sie gestern zwar zum ersten Mal hörte, der ihr aber irgendwie doch so bekannt vorkam.

Die Scherben sind wohl aus dem Speyerbach, in den sie an heißen Sommertagen auch ab und zu ihre Beine taucht. Inzwischen ist er aber viel zu kalt und das Gras am Ufer ist matschig. Die Scherbe, die sie sich aussucht, ist glatt und sieht ein bisschen aus wie eine eckige Wolke. Sie setzt den Nagel an und zuckt kurz zusammen, das Geräusch erinnert sie an abrutschende Kreide auf einer Tafel.

In einem großen Raum mit grünen Wänden sind Tische in der Mitte aufgestellt. Sie sind voll mit alten Fotos, Stiften, verschiedenen Papieren, Scheren, Kleber, Zweigen, Schneckenhäusern, Stoffresten und vielen weiteren Dingen. Sie setzt sich auf einen der Stühle am Tisch und schaut, was die Frau neben ihr macht: Durch ein transparentes Papier paust sie ein schwarz­weißes Foto von einer Blume ab und gibt ihr mit den Wachsmalstiften wieder ihre Farbe zurück. Daneben malt sie Blumen in anderen Farbtönen, bis eine ganze Wiese entsteht. Das Mädchen nimmt ein Bild von der Mitte des Tisches, auf dem eine Gruppe fein säuberlich aufgereihter Personen zu sehen ist. Es erinnert sie an Familienfotos, die sie an Weihnachten immer machen. Sie malt die Umrisse der Personen mit roten Filzstiften nach und rahmt das Foto mit einem Wollfaden. Dann legt sie das Foto wieder zurück in die Mitte. Vielleicht will es jemand anderes noch vervollständigen.

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Sie geht durch die offene Tür in einen weiteren Raum, der ganz weiß und hell ist. Durch die großen Fenster kann man in den Garten schauen. Es sitzen Menschen an einem Tisch mit rotem Tuch vor einem großen Berg weiß­schwarzer Vierecke. Man kann sie in ein kleines Gerät stecken und wenn man durchschaut, sieht man plötzlich ein Foto. Dias heißen sie. Das Mädchen nimmt sich eines vom Tisch. Wenn sie da so liegen, sehen sie alle gleich aus.

Sie macht sich auf die Suche nach Spuren von Toni, nach roten Details, nach Mädchen und Frauen und einem roten Pullover. So einen, wie sie ihn gemalt hat. Sie findet Fotos von Bäumen mit roten Blättern, von Kindern, die mit einem roten Ball spielen und sogar eines, auf dem im Hintergrund ein rotes Auto zu sehen ist. Nur eine Person in rotem Pullover sucht sie vergeblich. So gerne hätte sie Toni in ihrem Pulli gefunden. In dem Pulli, der etwas zu groß und schon ein wenig ausgebeult ist, der sein leuchtendes Rot aber nie verloren hat. In dem Pulli, den sie in der Schule gemalt hat. Gestern in der Schule haben sie erzählt, dass der rote Pullover Toni an ihre Mutter erinnerte. Das Mädchen kann das nachvollziehen. Zwar ist es kein Pulli, sondern ein Schal und auch nicht ihre Mutter, sondern ihr Opa, an den er sie erinnert. Nachdem er gestorben ist, hat sie den grün­braunen Seidenschal aus seinem

Schrank genommen und ihn seither immer wieder angezogen. Ihn zu tragen, stimmt sie traurig, aber holt gleichzeitig die schönen Erinnerungen hervor. Es tut weh, weil sie ihren Opa durch das Tragen des Schals mehr vermisst, ihn aber auch irgendwie wieder ein wenig näher bei sich hat. Es ist eine andere Art der Traurigkeit: keine, die stumpf und kalt einfach da ist, sondern eine die leuchtet und Platz für Hoffnung lässt.

Ihr Blick schweift immer öfter nach unten in den Garten. Ein paar der anderen Kinder spielen dort bereits Fangen und ihr Gelächter klingt bis in das Haus. Sie legt die Dias zur Seite und macht sich auf den Weg. Die eckigen Kanten ihrer Scherbe, die bereits neben den anderen am Baum hängt, erkennt sie auf den ersten Blick.

Vielleicht sucht sie morgen weiter nach Toni. Nach Toni Roth in ihrem Pulli.

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16.10.2022:

Filmdreh „Rote Beine“

Es ist noch ziemlich früh, als ich meinen Wecker ausstelle, mich aus dem Bett schäle und die rote Wollstrumpfhose aus der Schublade hole. Sie fühlt sich weich an und es ist inzwischen schon so kalt draußen, dass ich mich freue, sie unter meine Jeans zu ziehen.

Wir treffen uns im Pfarrhaus. Alle ziehen ihre Wollpullis an und ihre Hosen über den Strumpfhosen aus. Wir lachen, das Bild unserer roten Beine gefällt uns jetzt schon. Nachdem uns erzählt wurde, an welchen Orten wir filmen werden, ziehen wir die Gummistiefel über unsere roten Füße und laufen mit einem leeren Flechtkorb und einem Eimer mit Äpfeln zum Speyerbach. Wir suchen uns eine flache Stelle für den Einstieg. Die Gummistiefel halten erstaunlich warm, aber man muss aufpassen, dass kein Wasser von oben hineinläuft. Wir haben noch ein paar Stationen des Filmdrehs vor uns. Es braucht ein bisschen, bis die Kamera richtig eingestellt ist. Ich fange an, auf dem Grund des Baches nach Scherben zu suchen, sie den anderen zu zeigen, mit ihren Fundstücken zu vergleichen, zu überlegen, von welchem Ganzen sie einmal Teil waren, sie einzuritzen, in den Korb zu legen. Das Wasser wird von den anderen roten Beinen um mich herum aufgewühlt. Deswegen halte ich einen Stein für eine Scherbe, hole ihn aus dem kalten Wasser und werfe ihn wieder zurück. Das Rauschen des Wassers vermischt sich mit den Stimmen um mich herum und dem Quietschen der Nägel auf den Scherben. Eine Wandergruppe läuft vorbei und schaut fragend. Gebückte Körper und rote Beine, die staksend das Wasser durchqueren, suchende Hände, rot vom kalten Nass. Erst durch die Blicke der Wandernden fällt mir wieder auf, dass eine Kamera auf uns gerichtet ist.

Wir steigen aus dem Bach und laufen Richtung Rehfelsen, dem einäugigen Kater Rambo hinterher. An der Kamera vorbei, gehen wir den bunten Herbstwald hinauf. Der Weg ist steil und die Gummistiefel finden schlecht Halt auf den rot­orangenen Blättern. Simon und Moritz sind schnell, denn ihre Kinderbeine sind geübter im Gang auf unebenen Pfaden. „Heute habe ich auch rote Kinderbeine“, sag ich mir und beschleunige meine Schritte.

Wir tanzen und lachen, reißen unsere Arme hoch über Elmstein in die Lüfte, rennen aneinander vorbei, aufeinander zu, ineinander hinein. Ein Chaos, dessen einzige Ordnung die leuchtend roten Beine sind, die uns vereinen. Die Scherben aus dem Speyerbach legen wir als kleine Häufchen in das Gras. Gemeinsam schreiben wir mit ihnen in das Grün. Sie sind eckig, rund, groß, klein. Sie sind gebogen oder schief, manche bunt und andere ganz grau. Mal verschätzen wir uns und lassen zu viel Platz für die Buchstaben an denen die anderen arbeiten, mal legen wir sie dicht gedrängt aneinander. Dennoch sieht man deutlich, was da geschrieben steht: ICH TONI ROTH. Zufrieden betrachten wir unser Werk.

Wir setzen uns auf die Bank, auf der wir gerade noch getanzt haben. Äpfel werden geschnitten und verteilt. Das Geräusch vom Zerkauen der knackigen Äpfel vermengt sich mit Gesprächen darüber, was Glücklichsein für uns bedeutet.

Wir laufen zurück zum Pfarrhaus. Meine Zehen sind nass und ein bisschen kalt. Aus meiner roten Strumpfhose will ich dennoch nur ungern raus. In ihr bin ich Sammlerin, Wanderin, Tänzerin, Künstlerin, Filmemacherin, ein Bruchstück von etwas Ganzem, Kind, Toni Roth. Ich behalte die rote Strumpfhose noch für einen kurzen Moment an.

Scherben aus dem Elmsteiner Speyerbach

TONI WACHSEN LASSEN

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TONI ERFINDEN

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„… Ich mußte an die Kinder in Iggelbach denken mit den VALAN­Schachteln, weil die Amis auch einfach malen, was man so kauft, wie Zigarettenschachteln oder Waschmittelkartons. Manches wäre für zuhaus ziemlich schlimm. Aber hier ist es nicht so …“ Aus einem Brief an Frau Roth, 12.7.1961

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„Liebe Frau Roth, danke, daß Sie mir das Kettchen geschickt haben. Ich hätte nicht gedacht, daß Sie in den Bach steigen und auch nicht, daß es nach so langer Zeit noch dort liegt. Ich hoffe Sie sind nicht barfuß gewesen. Das Wasser ist ja eisig. Nochmals DANKE! …“ Aus einem Brief an Frau Roth, 1.3.1965

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TONI GESTALTEN

Toni Roth beim Arbeiten: Wald, Dorf, Bach, Schule, Werkraum, Pfarramt, Forstamt, Internet, Schneideraum, Dachboden, Schrottplatz …
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Rote Beine

Rote Beine über Elmstein Tausend Scherben bringen Glück.

Im Bach stehe ich so oft und gerne Nur das Glück schwimmt nicht zurück.

Rote Beine

Roter Pulli

Rote Steine

Rotes Glück

Das Glück im Abstand ohne Sprache Tanzend, fliegend Stück für Stück.

Jetzt schreib ich leise aus der Ferne Ins Tal find ich nicht mehr zurück.

Rote Beine

Rote Blätter

Rote Rosen

Roter Rost

Die Last der Zeit wenn sie mir fehlt Lässt mich rennen Schritt für Schritt.

Wo seh ich Menschen die sich nah sind Nah sind mir Äpfel die ich pflück.

Rote Stimmen

Rote Lieder

Rote Tränen

Roter Wald

5. Oktober 1969

vimeo.com/780375763

Gedicht „Rote Beine“, Vorlage für den gleichnamigen Film
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TONI ZEIGEN

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Rote Pullover (Mama) | 2022

Wasserfarbe auf Papier, Wachskreide auf Papier, Mischtechnik auf Papier

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Betonkopf in Rot(h) | 1965 Beton, Draht, Holzbügel, Wollkleid Überbleibsel | 2022
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Wollpullover, Pfarramtsstuhl
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Je suis à Paris ! | 1963

Kugelschreiber auf Quittungsblock, Kugelschreiber und Nähfaden auf Ansichtskarte

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alle ohne Titel | 2022

Wachskreide auf Papier, Wasserfarbe auf Papier, Wachskreide und Porzellanklemme auf Papier, Foto auf Papier

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Eléphant (mon ami coco) | 1963 Benzinkanister Stahl, Stadtplan
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Ohne Titel | 2022 Wasserfarbe auf Papier

Éclat 7 | 1962

Éclat 22 | 1962

Éclat 109 | 1962

„Liebe Frau Roth,

Ich habe wieder angefangen Scherben zu sammeln. Sie sind anders als im Speyerbach, französischer. Aber in den Bächen liegen genauso viele wie zuhaus. Nur sind die Bäche, die ich gut erreiche, meistens etwas eklig.

Gut daß man in Paris einfach alles auf dem Flohmarkt findet. Auch Gummistiefel. Ich habe welche mit Hosen dran für Angler bekommen. Sehr billig aber mit einem Loch …“

Aus einem Brief an Frau Roth vom 6.6.1962

Keramikscherbe, Wollfaden Keramikscherbe, Wollfaden Keramikscherben, Wollfaden
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Mordkammer 1­5 | 1976

Tinte auf Fotografien

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Kammer (Ausschnitt) | 2022

Wachskreide auf Fotografien

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Titel | 2022
Ohne
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Geritzte Scherben, Wollfaden

Roth

Elfriede Voss, Schwelm / Leihgabe Spinnerei Schwelm

In Wachs eingegossene Blätter

Die kollektive Galerie Réserve de Chasse, Mitte der 60er­Jahre, in der Toni Roth Wachsplatten von Elfriede Voss ausstellt

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Im Eimer (Scherben) | 1964

Glasscherben in Blecheimer, Acrylglas, Gummihandschuh

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Ohne Titel | 1967

Krebspanzer, Nitrofrottage auf Papier, Hängeetikett der Samenklenge Elmstein

Erwann, ma petite puce 1 | 1965

Krebspanzer, Nitrofrottage auf Papier, Lackspray

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„Liebe Frau Roth, ich war wieder viel mit der Metro unterwegs. Im Verlag verschenken sie den Leuten Ansichtskarten mit Fehlern (wie diese). Ich habe keinen gefunden. Erwann hat mir von seinen Eltern aus Camaret Crabbes mitgebracht. Sie waren schon gekocht und schmeckten sehr besonders. Die Gehäuse habe ich aufgehoben, obwohl er mich ausgelacht hat. Vielleicht mache ich etwas daraus. Sie sind schön rot. Nur müssen sie aufhören zu riechen!

Liebe Grüße

Ihre Toni“

Ansichtskarte an Frau Roth vom 24.10.1964

Panzeressen 1­4 | 1964

Krebspanzer, Nitrofrottage auf Pappteller, Stahlbesteck, Wolle

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Aufstellung | 2022
| 2022
Foto, Nähfaden, Moos, Fineliner und Wachskreide auf Papier
Vertrieben
Bleistift und Wachskreide auf Papier
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Ro(t)he Kerle | 2022 Teddystoff auf Papier
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Ohne Titel | 2022

Porzellanfassung und Filzstift auf Papier, Christbaumkugel und Filzstift auf Papier, Eichenlaub und Filzstift auf Papier, Schneckenhaus, Rinde, Blatt, Feder, Sand und Filzstift auf Papier

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Beine | 1969
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Rote
Gedicht von Toni Roth

TONI DER FILM

ICH TONI ROTH | 2022 Filmdokumentation, 23 Minuten vimeo.com/762608835

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ÜBER UNS

deufert&plischke

Das Künstler*induo deufert&plischke arbeitet seit 20 Jahren an der Schnittstelle von Tanz, Gesellschaft und Medien. Im radikalen Zusammenschluss von Leben und Arbeit und in größtmöglicher Nähe entstehen ihre Arbeiten ohne singuläre Autorschaft aus offenen Prozessen und in Partizipation mit Menschen auf der Grundlage von Erinnerungen und Geschichten. Mittels Choreografie, Fotografie, Text und Video erfinden sie transdisziplinäre Räume, die einladen darin Zeit zu verbringen. Über spielerische und rituelle Praktiken und in Einbeziehung des Publikums wird aus Begegnungen eine gemeinsam hergestellte Choreographie. Ihre zahlreichen Tanz­ und Kunstprojekte wurden mehrfach ausgezeichnet und werden international gezeigt. Der Lebensmittelpunkt von Kattrin Deufert und Thomas Plischke liegt seit 2021 im ländlichen Raum bei Wuppertal, wo sie aktuell die Spinnerei Schwelm als Ort für experimentelle Kunst für alle etablieren.

Matchbox

Das Kulturbüro der Metropolregion RheinNeckar lädt mit Matchbox, dem wandernden Kunst­ und Kulturprojekt, international renommierte Künstler*innen ein, gezielt den ländlichen Raum abseits der urbanen Zentren zu bespielen. So erschließt Matchbox Schritt für Schritt die Landkarte der Region Rhein­Neckar mit ortsspezifischen Kunstprojekten und ­residenzen. Im Mittelpunkt dieses einzigartigen Programms stehen der künstlerische Prozess und das Erleben von Kunst direkt vor der eigenen Haustür. Dabei entstehen durch die besonderen Herangehensweisen der ausgewählten Künstler*innen immer neue Arten der Begegnung und unmittelbaren Teilhabe für die Menschen vor Ort.

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DANK

Matchbox dankt Antonia Gütermann/Toni Roth und allen Beteiligten.

Besonderer Dank gilt der Gemeinde Elmstein mit Bürgermeister Rene Verdaasdonk und erstem Beigeordneten Stefan Kobel sowie der protestantischen Kirchengemeinde Elmsteiner Tal mit Pfarrer Volker Mayer und Annette Aull als Mitglied des Presbyteriums.

Toni Roth sind: Alena Butscher, Philipp Czychon, Kattrin, Moritz, Simon und Thomas Deufert, Bernd Fink, Lea Gerschwitz, Carlos Gomez, Kirstin Graichen, Jutta Grünenwald, Franca Jäger, Kerstin Kräck, Martin Müller, Nico Netzer, Beate Preun, Tom Roth, Friederike Schülke, Julia Katharina Thiemann, die Grundschüler*innen der Heinrich­Weintz­Schule und Elmsteiner*innen, die ihre Erinnerungen, Gedanken und Ideen einbrachten.

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Impressum

Diese Publikation erscheint als Dokumentation der Künstler*innenresidenz und Ausstellung

ICH TONI ROTH (10. – 22. Oktober 2022) von deufert&plischke und Matchbox im Rahmen des Projekts KÜNSTLERINNEN ERFINDEN

(1. Juni – 31. Dezember 2022) in der Gemeinde Elmstein.

Herausgeber

Metropolregion Rhein­Neckar GmbH

Kulturbüro, Matchbox

M 1, 4­5

68161 Mannheim

deufert&plischke spinnereischwelm

Römerstraße 7

58332 Schwelm

Kontakt

E­Mail: matchbox@m­r­n.com

www.matchbox­rhein­neckar.de

Facebook und Instagram:

@matchbox.rheinneckar

E­Mail: deufertundplischke@ spinnereischwelm.net

www.spinnereischwelm.net

Team Leitung Kulturbüro: Robert Montoto

Projektleitung Matchbox: LeaGerschwitz, JuliaKatharinaThiemann

Projektmanagement Matchbox: FriederikeSchülke

Kommunikation und Redaktion Matchbox: AlenaButscher

Praktikum Matchbox: FrancaJäger

Künstlerische Leitung KÜNSTLERINNEN

ERFINDEN / ICH TONI ROTH: KattrinDeufert und ThomasPlischke

Produktion KÜNSTLERINNEN ERFINDEN / ICHTONIROTH: PhilippCzychon, NicoNetzer

Publikation

Redaktion: Alena Butscher, Kattrin Deufert, Bernd Fink, Jutta Grünenwald, Franca Jäger, Thomas Plischke, Friederike Schülke, Julia Katharina Thiemann

Gestaltung: GreenwoodFinch / Bernd Fink & Jutta Grünenwald

Druck: dieUmweltDruckerei GmbH

Matchbox dankt den Förderern und Unterstützern von KÜNSTLERINNEN ERFINDEN / ICH TONI ROTH

Premiumpartner

Kooperationspartner

Unterstützt durch das NATIONALE PERFORMANCE NETZ – STEPPING OUT, gefördert von der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien im Rahmen der Initiative NEUSTART KULTUR. Hilfsprogramm Tanz.

Bildnachweise

Archiv Klaus Kullmer (16 unten) | A. Kupper (23 Mitte links) | deufert&plischke (Umschlag, 5 mittlere Spalte oben links, 7 links, 8­9, 10­15, 16 oben, 16 Mitte, 17 oben, 22 alle mit Ausnahme von links unten und Mitte, 23 rechts oben, 23 links unten, 23 Mitte rechts, 23 rechts unten, 24 Mitte oben, 24 Mitte, 25 links oben, 25 rechts oben, 26­27, 28 links oben, 30­31, 35 mit Ausnahme von links unten und rechts unten, 36 unten, 37­40, 50­52) | Bernd Fink (5 links oben, 5 links unten, 5 rechts oben, 5 rechts Mitte, 5 rechts unten, 17 unten, 18­19, 24 links oben, 28 rechts, 29 rechts oben, 29 rechts unten, 32­34, 35 links unten, 36 oben, 42 oben, 43­45, 46 Mitte, 46 rechts, 47­49, 53) | Fotopersbureau De Boer (5 Mitte, 42 unten) | Jutta Grunenwald (23 Mitte) | Tony Henshaw (alamy) (Titel) | Andreas Neumann (line36.com) (2, 5 mittlere Spalte oben rechts, 6, 7 rechts, 20­21, 22 links unten, 22 Mitte, 23 links oben, 24 rechts oben, 24 Mitte links, 24 unten, 25 rechts unten, 27, 28 links unten, 29 links, 35 rechts unten, 41, 46 links, 55)

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Es braucht ein ganzes Dorf, um eine Künstlerin zu erfinden. Toni Roth ist eine Künstlerin aus Elmstein, die es so nie gab – aber hätte geben können.

Ein Kunstprojekt von deufert&plischke erweckt sie zum Leben: Elmsteiner Bürger*innen geben mit ICH TONI ROTH ihrem Leben und Werk die verlorene Sichtbarkeit zurück.

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