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Familienzuwachs ganz anders Die Geburt des Vaters

Familienzuwachs ganz anders

Alle Kinder brauchen Sicherheit, Verlässlichkeit, gute Versorgung, Verständnis, Liebe und Geborgenheit. Doch manchmal können die leiblichen Eltern dies vorübergehend oder auch dauerhaft nicht leisten. In solchen Fällen können Kinder in Pflegefamilien ein neues Zuhause finden. In Kiel betreut der Pflegekinderdienst Kinder, Pflege- und Herkunftsfamilien, damit die Mädchen und Jungen eine Chance haben, in einer sicheren und haltgebenden Umgebung aufzuwachsen.

Wie sind die Zahlen für Kiel? Der Pflegekinderdienst Kiel betreut aktuell zeitgleich 249 Kieler Kinder in 198 Vollzeitpflegefamilien, verstreut über ganz Schleswig-Holstein. Die Unterbringungsperspektive ist auf Dauer angelegt oder befristet für eine längere Zeit. Die Altersspanne beläuft sich vom Säugling bis zum jungen Volljährigen. Neben der dauerhaften und befristeten Unterbringung von Kindern in Pflegefamilien bringen wir auch Kinder im Rahmen von Inobhutnahmen in sogenannten Bereitschaftspflegefamilien unter. Diese Pflegefamilien sind bereit, Kinder von jetzt auf gleich aus einer Krisensituation heraus für eine begrenzte Zeit in Obhut zu nehmen. In diesem Rahmen bringen wir im Laufe eines Jahres zwischen 70 bis 90 Mal Kinder unter, die Unterbringungsdauer ist nicht immer von vornherein einschätzbar und kann zwischen einem Tag und mehreren Monaten liegen. Wie ist der Bedarf und wie viele Pflegefamilien gibt es? Wir haben 198 Vollzeitpflegefamilien belegt, das heißt, dass wir in einigen Familien auch mehr als ein Kind untergebracht haben. Bei der Vermittlung von Kindern in Pflegefamilien ist ein gutes Matching unerlässlich, um langfristige Überforderungen und damit Pflegeabbrüche zu verhindern. Jährlich erhalten wir ca. 40 Anfragen von Bürgern, die Interesse an der Aufnahme von Pflegekindern haben. Da jedes Kind einen individuellen Betreuungsbedarf mitbringt, kommt nicht jede Pflegefamilie für die Aufnahme jedes Pflegekindes infrage. Aus diesem Grund benötigen wir immer mehr Pflegestellen als wir Pflegekinder zu vermitteln haben. Insbesondere haben wir zu wenig Pflegestellen für Kinder mit einer befristeten Unterbringungsperspektive, für Kinder mit einem erhöhten Förderbedarf und für Kinder mit einer Behinderung und suchen für diese Kinder dringend Pflegeeltern. Darüber hinaus arbeiten wir mit gut 30 Bereitschaftspflegefamilien zusammen. Auch hier haben wir einen durchgehenden Bedarf an neuen Pflegeeltern, die bereit sind Säuglinge und Kleinkinder kurzfristig und für eine begrenzte Zeit aufzunehmen. Wie viele der Kinder gehen wieder zurück in ihre Herkunftsfamilien? Ca. 5% der Kinder, die wir in Vollzeitpflegefamilien untergebracht haben, kehren zu ihren Herkunftsfamilien zurück. Wie viele werden zu Adoptivkindern? Lediglich ein sehr geringer Prozentsatz der Pflegekinder wird durch seine Pflegeeltern adoptiert. Eine Adoption ist nur möglich, wenn die leiblichen Eltern damit einverstanden sind und die Adoption dem Wohl des Kindes dient. Werden viele Kinder in der Verwandtschaft als Pflegekinder betreut, durch Großeltern, Tanten, Onkel etc.? Ca. jedes fünfte Pflegekind wird von Verwandten, in der Regel von den Großeltern betreut. Wie werden die aufnehmenden/abgebenden Eltern begleitet? Pflegeeltern werden durch viele Vorgespräche mit uns und durch ein entsprechendes Seminar auf die Situation vorbereitet. Die tatsächliche Aufnahme eines Pflegekindes ist dann trotz aller Vorbereitung immer sehr emotional. Die Aufnahme eines neuen Familienmitglieds ist nachvollziehbar mit Aufregung und vielen Fragen verbunden, weshalb wir die Pflegeeltern während dieser Zeit eng begleiten. Für die Eltern ist es sehr schwer, ihre Kinder in die Obhut der Pflegeltern zu geben, die nun die Hauptbezugsperson für ihre Kinder werden. Ihnen wird emotional viel abverlangt, was uns und den zukünftigen Pflegeeltern bewusst ist. Um allen den Übergang zu erleichtern, initiieren wir vor der Vermittlung ein Treffen zwischen den Eltern und Pflegeeltern, das wir begleiten. Hier werden neben dem gegenseitigen Kennenlernen z.B. auch wichtige Fragen geklärt, Besonderhei-

ten des Kindes weitergegeben, die Eltern können Wünsche für ihre Kinder äußern und es werden Absprachen zum weiteren Vorgehen getroffen. Eltern und Pflegeeltern haben eine feste Ansprechpartnerin bzw. einen festen Ansprechpartner im Pflegekinderdienst, die bzw. der den Prozess begleitet. Auch bei den dann folgenden Besuchskontakten sind die MitarbeiterInnen zur Unterstützung und für Fragen der Eltern anwesend. Mit der Pflegefamilie gibt es einen engen persönlichen und telefonischen Austausch zu allen anfallenden Fragen, der Entwicklung des Kindes und weiteren Schritten. Was wird getan, um Kindern die Situation zu erleichtern? Mit den Kindern wird bereits im Vorwege offen und altersgerecht über ihre Situation gesprochen. Die Kinder wechseln erst in die Pflegefamilie, wenn sie diese über einen angemessenen Zeitraum näher kennen gelernt haben und sich ein vertrauensvolles Verhältnis entwickelt hat. Es wird darauf geachtet, dass die Kinder z. B. ihr lieb gewordenes Spielzeug oder Kuscheltiere mitnehmen. Je wertschätzender, ehrlicher und wohlwollender die Haltung aller Erwachsenen gegenseitig ist, desto leichter fällt den Kindern der Wechsel und sie kommen dann nicht unnötig in größere Loyalitätskonflikte. Dies merkt man den Kindern deutlich daran an, dass sie zum Beispiel im Kindergarten stolz erzählen, dass sie zwei Mamas und Papas haben oder beim Besuch offen über Erlebtes in der Pflegefamilie berichten. Da es nicht immer leicht ist, diese schwierigen Lebensthemen für die Kinder in verständliche Worte zu fassen, bieten die MitarbeiterInnen Hilfe an, u.a. auch in Form von Seminaren zu diesem Thema. Wie halten die Kinder den Kontakt zu den Herkunftsfamilien? Kinder und Eltern sehen sich regelmäßig bei den Besuchskontakten, die wir bei Bedarf begleiten. Ältere Kinder sind zusätzlich auch im telefonischen Kontakt mit den Eltern. Wie schaffen sie es, die Zugehörigkeit zu zwei Familiensystemen auszubalancieren? Je wohlwollender und wertschätzender die Haltung zwischen Eltern und Pflegeeltern ist, umso unbelasteter gehen die Kinder mit ihrer familiäre Situation um. Konflikte zwischen Eltern und Pflegeeltern führen zu Loyalitätskonflikten bei den Kindern bis hin zum Rückzug. Immer jedoch ist es wichtig, dass die Kinder ihre Geschichte nachvollziehen können und somit ihre Situation verstehen lernen. Dabei hilft die Biografiearbeit. Was ist Biografiearbeit und warum ist sie wichtig? Biografiearbeit ist die Aufarbeitung der Lebensgeschichte, damit diese stimmig wird. Das geschieht, wenn das Erlebte mit den äußeren überprüfbaren Faktoren übereinstimmt. Jeder/Jede kennt seine Geschichte aus eigenem Erleben, welches bestenfalls mit den Bildern, Videos, Erzählungen bei Familienfesten, Zeugnissen usw. übereinstimmt. Daraus entwickeln wir unser Selbst, so war ich, so bin ich oder so habe ich mich entwickelt und diese oder jene Aufgaben habe ich bewältigt. Stärken und Schwächen werden so in das Selbstbild integriert. Biografiearbeit unterstützt die Entwicklung der Identität. Diese ist für ein selbstbestimmtes Leben wichtig, denn nur ein starkes Selbst kann in allen Lebenslagen sich selbst treu bleiben und für sich passende Entscheidungen treffen. Außerdem fördert eine klare Identität die Resilienz, also Abwehrkraft bei Krisen und in schwierigen Lebensphasen. Für Pflegekinder ist Biografiearbeit so wichtig, weil in ihrer besonderen Situation ihre Wurzeln oft gekappt sind, unbekannt sind oder auch beschämend oder erschreckend sein können. Informationen sind oft nicht vorhanden, vergessen, verdrängt oder tabuisiert. Hier kann Biografiearbeit helfen, die Vergangenheit für das Kind bewusst und verständlich zu machen, damit es diesen Teil seiner Geschichte in sein Selbst integrieren kann. Dabei werden Fragen geklärt, zum Beispiel: Warum lebe ich hier und nicht bei meiner Mutter oder meinem Vater? Was ist mit mir passiert, wo habe ich gelebt, bevor ich hierher kam? Alte Wunden und seelische Verletzungen können heilen, wenn mit Kindern ehrlich und offen über ihre Vergangenheit gesprochen wird. Dabei ist eine wertschätzende Haltung gegenüber den Personen aus der Vergangenheit besonders wichtig, denn auch diese sind Teil der Biografie des Kindes. Wird die Vergangenheit des Pflegekindes aus Unsicherheit, Unwissenheit oder Befürchtungen verschiedener Art nicht besprochen, kann dies zu einem verunsicherten Selbstbild oder Phantasiegebilden wie der Überhöhung der Eltern mit anschließender Enttäuschung führen. Auch können Schamgefühle entstehen, weil die Eltern als unzulänglich erlebt werden. Da Kinder sich mit den Eltern gleichsetzten, kann dies zur Überzeugung der eigenen Minderwertigkeit führen. Wie sieht für Sie eine Erfolgsgeschichte aus? A. wurde mit sechs Monaten in die Pflegefamilie vermittelt, weil seine Mutter mit ihm überfordert war. Danach schaffte sie es nicht, den regelmäßigen Kontakt zu ihm halten. A. wurde in der Pflegefamilie sehr liebevoll angenommen und geduldig gefördert. Es musste davon ausgegangen werden, dass er möglicherweise eine Intelligenzminderung hat. Heute ist A. 19 Jahre, hat den Förderschulabschluss erreicht, lebt nach vielen Höhen und Tiefen noch in der Pflegefamilie und macht über die Rehaabteilung des Arbeitsamtes eine berufsvorbereitende Maßnahme. Über seine Mutter sagt er: „Sie hat eine Sache richtig gut gemacht. Durch die Vermittlung in eine Pflegefamilie, konnte ich größtmöglich gefördert werden. Dafür bin ich dankbar.“

Der Pflegekinderdienst der Landeshauptstadt Kiel sucht ständig neue Pflegeeltern. Interessenten können sich an die Leiterin des Pflegekinderdienstes Edda Lilienfein, Tel. 901-3640 wenden oder sich über die Homepage www.kiel.de/pflegekinderdienst informieren.

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