Portfolio / Julian Bertram

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PORTFOLIO Julian Bertram



MENSCH HAUS ORT AUGUST, 2012

WEISSENHOF UND KOCHENHOF JANUAR, 2011

DIE JÃœNGERE RESTAURIERUNGSGESCHICHTE VON ST. MARTIN UND ST. JAKOB IN BAMBERG APRIL, 2010

DIE SAINTE-CHAPELLE IN PARIS MAI, 2010

JULIAN BERTRAM



Julian Bertram M.A. e.: julian.bertram@web.de


BUCHINHALT


Lebenslauf ......................................................... 8 Urkunde, Akdemischer Grad ................................. 12 Mensch Haus Ort .............................................. 15 WeiĂ&#x;enhof und Kochenhof ..................................259 Die jĂźngere Restaurierungsgeschichte von St. Martin und St. Jakob in Bamberg ....................................351 Die Sainte - Chapelle in Paris................................431


LEBENSLAUF


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Persönliche Daten Julian Bertram Staatsangehörigkeit: deutsch 19.05.1985 in Köln geboren Ausbildung

2013 Abschluss: Magister Artium 2007-2013 Studium der Kunstgeschichte, Denkmalpflege und Archäologie des Mittelalters und der Neuzeit an der Universität Bamberg 2006-2007 Studium der Kunstgeschichte und Musikwissenschaft an der Universität Münster 2005-2006 Studium der Architektur an der RWTH Aachen 1993-2005 Privatunterricht: Klavier, Gitarre, Cello 2004-2005 Zivildienst: Krankenhaus Köln-Merheim 1995-2004 Kaiserin-Theophanu-Schule (Gymnasium) Köln, Abschluss: Abitur 1991-1995 Grundschule Köln-Merheim Studienschwerpunkte Architekturgeschichte Entwicklung des Wohnbaus


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Zeitgenössische Architektur Geschichte und Theorie der Denkmalpflege Städtebau Wiederaufbaukonzepte nach dem Zweiten Weltkrieg Architektur der Klassischen Moderne Architektur des 19. Jahrhunderts Russischer Konstruktivismus Niederländischer Barock Klassizismus/Romantik Restaurierungswissenschaft Französische/Deutsche Gotik Spatial Turn Weserrenaissance Surrealismus Orphismus Amerikanischer Realismus Pop-Art Praktische Erfahrungen 2015-2017 Galerie-Assistent 401contemporary, Berlin 2011 Studentische Hilfskraft am Lehrstuhl für Musik-


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pädagogik und Musikdidaktik der Universität Bamberg 2007-2011 Ehrenamtliche Tätigkeiten im Universitäts-

orchester Bamberg 2002 Praktikum in der Architekturbuchhandlung der Fach-

hochschule Köln 2001 Praktikum im Architekturbüro Kierdorf (Köln)

Sonstiges 2007-2011 Cellist im Bamberger Universitätsorchester 2003-2007 Cellist in verschiedenen Ensembles

Sprachkenntnisse Englisch, sehr gute Kenntnisse (Leistungskurs) Französisch, Grundkenntnisse Latein, Latinium EDV-Kenntnisse Microsoft Office (Excel, Powerpoint, Word), SketchUp, Adobe Indesign, Adobe Photoshop



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Otto-Friedrich-Universität Bamberg Geistes- und Kulturwissenschaften Abschlussurkunde und Akademischer Grad



Magisterarbeit im Magisterstudiengang der Otto-Friedrich-Universität Bamberg Abgabetermin: 01. August 2012 Betreuer: Prof. Dr. Stephan Albrecht Zweitgutachterin: Prof. Dr. Ada Raev

MAGISTERARBEIT


MENSCH HAUS ORT


Diese Arbeit richtet sich an Menschen, die eine Leidenschaft für Architektur empfinden. Mit spielerischer Freude werden sie auf eine labyrinthische Entdeckungsreise gehen. Doch diese Arbeit ist zudem ein Appell für ausgereifte und humanitäre Architektur. Sie richtet sich also besonders auch an Menschen, die keine Leidenschaft für Architektur und ein rücksichtsvolles Leben empfinden, da sie in ihrer Wahrnehmung nicht sensibilisiert sind. Der sinnlich erfahrende Mensch wird trotzdem immer nach der Tiefe suchen sowie reflektieren und sich nicht an der Oberfläche mit hektischen Moden zufrieden geben. Wenn im Text vom Architekten oder vom Haus des Architekten die Rede ist, handelt es sich immer um den Entwurf von Rostislav Komitov, den er Ende des Sommersemesters 2012 an der RWTH Aachen als Diplomarbeit unter dem Titel Das Haus meiner Selbst vorlegte. Alle entstandenenWerke, die Diplomsowie die Magisterarbeit und alle beigefügten Bücher, sind im gedanklichen Austausch zwischen dem Architekten und dem Kunsthistoriker entstanden.


INHALTSVERZEICHNIS

I. Das Haus des Architekten ............................ 20 1. Hausbegehung ............................................... 21 2. Resümee ...................................................... 44 3. Analyse des Entwurfs ....................................... 49 3.1 Gedanken eines Unwissenden ....................... 49 3.2 Der architektonische Raum .......................... 51 3.3 Das Grundstück ........................................ 53 3.4 Das Spiel ................................................ 58 3.5 Kreation eines Raumes ............................... 63 3.6 Die Innenräume des Hauses ......................... 66 3.7 Zusammenfassung ..................................... 73 II. Inspiration und Vergleiche ......................... 90 1. Theoretische Beispiele ...................................... 91 1.1 Van der Laan ............................................ 91 1.2 Cage.....................................................101 1.3 Le Corbusier...........................................107 1.4 Vitruv/Alberti/Palladio .............................113 1.5 Tanizaki .................................................123 2. Konkrete Beispiele .........................................143 2.1 Boltshauser.............................................143 2.2 Aires Mateus ...........................................151


2.3 Pezo von Ellrichshausen .............................157 2.4 Loos .....................................................166 3. Zumthor .....................................................173 3.1 Bruder-Klaus-Kapelle ................................173 3.2 Kolumba-Museum ....................................192 III. Schluss ....................................................232 1. Zusammenfassung ..........................................233 2. Intention und Kritik .......................................239 IV. Anhang ....................................................246 1. Literaturverzeichnis .......................................247


I. DAS HAUS DES ARCHITEKTEN


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1. Hausbegehung Unweigerlich denke ich an diesem Morgen an Nina Hagen. Ich folge einer Einladung, ein Wohnhaus zu besichtigen, in dem der Architekt selbst lebt. Die letzten Tage waren kalt, regnerisch und nebelverhangen. Umso erfreulicher präsentiert sich der heutige Tag. Keine Wolke am Himmel, es ist angenehm warm und der Wind umschmeichelt die Passagiere, die auf dem Oberdeck der Fähre Platz genommen haben. Das Wohnhaus liegt auf einer Ostseeinsel, die nur per Schiff zu erreichen ist. Die Fähre setzt sich in Bewegung, auf dem offenen Meer wird der Wind stärker und eisig. Ich schließe die Augen, denke an Nina und höre sie quäken:


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„Hoch stand der Sanddorn am Strand von Hiddensee.“1 Wie hoch der Sanddorn nun wirklich steht, werde ich heute selbst herausfinden. Ein langgezogener Landstreifen taucht aus dem Wasser auf, im Süden ganz flach, im Norden sind Hügel zu erahnen. Auf meiner Einladung lese ich, das Haus sei auf einer Klippe im Norden der Insel zu finden, in Sichtweite des Leuchtturms (Abb. 1). Die Fähre legt in Vitte an. Viele Inselbewohner laufen mit Ziehwagen, in denen sie Güter vom Festland transportieren, an mir vorbei. Ich bewege mich zum nächsten Fahrradverleih und breche in Richtung Leuchtturm auf. Der Wind macht das Fahren mühsam, so dass ich kurz neben einer Schafherde raste. Bei dieser Gelegenheit überprüfe ich, ob ich mich auf dem richtigen Weg befinde (Abb. 2). Wieder auf dem Sattel, beginne ich die Bergetappe. Immerhin liegt das Haus 70 Meter über dem Meeresspiegel. Der Pfad windet sich hinauf, die Vegetation wird dichter und endlich scheine ich angekommen zu sein. Ich stelle mein Fahrrad auf einem natürlichen Vorplatz ab, der an

1. Evelyn Finger: Unter Verdacht (online).Verfügbar unter: http://pdf.

zeit.de/2003/11/farbfilm.pdf Zugriff: 23.06.2012.


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den Rändern dicht mit Sanddorn bewachsen ist. Im Norden erkenne ich eine Art Tor, zwei parallele Stampfbetonwände, die in der Mitte einen Durchgang frei lassen, der zum Haus zu führen scheint (Abb. 3). Ich gehe hindurch und laufe auf die Klippenkante zu. Steil bricht hier der sandige Felsen ab. Ich denke, jeden Moment abstürzen zu können. Doch wo ist das Haus des Architekten? Ich drehe mich Richtung Osten und erkenne ein Gebilde, das nur wenig aus dem Sanddorn herausragt (Abb. 4). Zunächst sind weder eine Tür noch Fenster zu erkennen. Sichtbar sind nur ineinander verschränkte und unterschiedlich proportionierte Kuben. Ich komme näher, berühre das Äußere und stelle fest, dass der Bau, wie das Tor, aus Stampfbeton besteht. Diesem scheint Sand der Umgebung beigemischt zu sein. Ich stehe auf einem niedrigen Podest, von dem aus eine Treppe nach unten führt. Da ich keine andere Möglichkeit sehe in das Haus einzutreten, steige ich hinab in die Erde. Nach einigen Stufen beginnt über mir eine Decke, ich gehe tiefer hinunter und die Treppe endet in einem Vorraum, der an der östlichen Seite halbrund ist, sich nach oben hin öffnet und die Sicht auf den Himmel wieder frei gibt. Die Haustür steht offen,


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ich trete in das Haus hinein und befinde mich in einem hell gestrichenen und sehr hohen Empfangsraum mit einer langen Sitzbank. Mir gegenüber erkenne ich in Entfernung einen Tisch und Stühle. Der Essraum liegt eine halbe Ebene höher als der Empfangsraum und ist durch einen Durchblick teilweise einsehbar. Doch führen keine Treppen dorthin. Ich nähere mich diesem Durchblick, steige eine Stufe höher und entdecke links eine Garderobe. Ich hänge meine Jacke auf und gehe zurück in den Empfangsraum. Da ich mich um 180° gedreht habe, wird ein weiterer Durchblick sichtbar. Ein kleines Fenster, kurz über dem Boden, zeigt Ausschnitte des Schlafraums. Ist der Architekt womöglich voyeuristisch veranlagt? Vom Eingang, also dem öffentlichsten Bereich des Hauses, blickt der Besucher direkt in den Schlafraum, in einen der sehr privaten Räume. Ich suche nach Erklärungen und frage mich, wo der Gastgeber bleibt. Da entdecke ich einen Brief auf der Sitzbank. Ich lese folgendes: „Ein Wohnhaus – die tektonische Projektion meiner Selbst. Als Archetyp ist das Wohnhaus ein Bau, der einer bloßen Nutzung unterworfen wird. Die Intention dieser Arbeit ist


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jedoch die Transponierung der wesentlichen Bestandteile einer menschlichen Persönlichkeit in architektonisches Vokabular, so dass letztlich die Kreation eines tektonischen Organismus entsteht. Eine architeture parlante.“2 Zum einen ist dieses Haus anscheinend eine Art Selbstporträt, eine Übertragung des Wesens des Schöpfers in architektonische Form, zum anderen ist dieser Bau wohl auch ein eignständiger Organismus. Ich lese weiter und erfahre, dass ich mich auf das Haus einlassen muss, alles entdecken darf und mich treiben lassen soll. Falls ich den privatesten Raum finde, werde ich dort den Architekten treffen. Gespannt suche ich nach einem Ausweg aus dem Empfangsraum, ich entdecke das Oberlicht in der östlichen Ecke des Raumes. Auf der rechten Seite beginnt, eine Stufe höher, ein schmaler Gang, in dem die rohe Materialität des Stampfbetons der Außenwände sichtbar ist. Am Ende des Ganges erkenne ich eine Treppe, auf der ich nach oben steige.

2. Rostislav Komitov: Gedanken eines Unwissenden, Aachen 2012.


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Ich drehe mich und bevor ich ganz oben angekommen bin, lässt ein weiteres kleines Fenster den Durchblick nach unten auf den Empfangsraum zu. Ich stehe vor einer weiteren Tür, die ich öffne und gleich darauf wird mein Blick von einer Außenwand abgefangen. Blick- und Laufrichtungen scheinen sich ständig zu ändern. Ich beginne zu verstehen, immer dem Licht zu folgen. Dem Licht nach, an einem rechts von mit liegenden Abstellraum mit Gartenmöbeln vorbei, gelange ich in einen Innenhof. Ich laufe etwas orientierungslos umher, entdecke weitere Höfe und Eingänge. Am östlichen Ende der Höfe wird ein ebenerdiger Ausgang durch garstige Sanddornbüsche versperrt. Ein beklemmendes Gefühl steigt in mir auf. Doch im größten der Höfe hatte ich eine Treppe gesehen, die nach oben führt. Diese Treppe wirkt ein wenig surreal, da sie weder unten noch oben ein Podest aufweist, so dass die Benutzung kompliziert anmutet. Ich wage es trotzdem, hangle mich hinauf, sehe die bewachsene Dachlandschaft, die unzähligen Aufbauten, auch den versperrten Hofausgang, doch viel schlauer bin ich nicht geworden. Ich steige wieder hinab und suche nach einem Eingang,


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um nun endlich den Essraum zu finden, den ich doch schon teilweise gesehen hatte. Im Anfangshof finde ich den Eingang zu einem weiteren Gang, der acht Stufen hinunter führt und unten die Wahl zwischen der linken oder rechten Fortführung des Weges zulässt. Ich entscheide mich für rechts, dem Licht nach. Denn obwohl hier die Decke recht niedrig ist, befindet sich darüber eine seitliche Öffnung zum Hof hin. Durch einen schmalen Spalt in der Decke des Ganges wird dieser mit Hoflicht versorgt. Am Ende des Ganges wird es auf der linken Seite noch heller. Ich trete eine Stufe hinab und befinde mich unter einem großen und weit hinauf ragenden Schacht, der sich nach oben hin vollständig öffnet. Der Fußboden ist mit Eichenholz belegt. Die Wände scheinen mit Lehmputz gestrichen zu sein. Auf der rechten Seite erkenne ich nun den Durchblick zurück zur Eingangstür des Hauses. Links davor befindet sich ein Abstellraum für Utensilien des Esszimmers. Der Blick schwingt zurück, es erscheinen ein Holztisch, Holzstühle und ein eingebautes Regal. Im Gegensatz zum Schacht, ist der Bereich über dem Esstisch sehr niedrig. Leicht unterbrochen wird der Raum nach Westen durch ein dreiteiliges Fensterelement, das den


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Blick auf einen Patio freilässt. Da die Decke noch ein Stück über die innere Raumkante hinausgezogen ist und da Wände und Boden in gleichem Material nach außen fortlaufen, wird der Innenraum zum Außenraum und umgekehrt (Abb. 5). Ich verlasse den Essraum, befinde mich wieder im Gang, gehe bis zur Treppe, dann aber weiter geradeaus Richtung Westen. Auf der linken Seite befindet sich eine offene Schiebetür, der Durchgang ist frei und ich trete eine Stufe hinunter in die Küche. Ähnlich wie zuvor im Gang, wird dieser auch hier knapp unter der Decke von der Küche aus beleuchtet. Die hell gestrichene Küche selbst zeigt Einbauten, die sich aus einer Schicht der Betonwand fortzusetzen scheinen. Hier findet sich der Herd mit einem großen Abzug darüber und auch genügend Arbeitsfläche. Rechts daneben erkenne ich eine Tür, dahinter beginnt eine zweite Außentreppe, die zu einem kleinen Weg in den Sanddornbüschen führt. Zurück in der Küche erkenne ich im Westen noch eine kleine Spülnische, die durch einen Vorhang vom übrigen Raum getrennt ist. Da ich das Schlafzimmer ebenfalls vom Empfangsbereich aus sehen konnte, laufe ich zurück in den Hof und setzte


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meine Suche fort. An der Treppe vorbei, die auf das Dach führt, kommt hinter der nächsten Ecke ein weiterer Eingang zum Vorschein. Geradeaus werde ich an einer Scheibe gestoppt. Der Blick führt hinunter und ein Waschbecken ist zu erkennen. Nach einer Drehung erscheint auf der rechten Seite eine geöffneteTür, die den Blick auf einen Gang freigibt, der in einer Treppe mündet. Hinunter in einer Drehung, sehe ich vor mir zunächst einen Vorhang, hinter dem sich die Waschmaschine versteckt. Durch eine Schiebetür gelange ich in den Nassraum, den ich von oben gesehen hatte. Boden und Wände dieses Raumes sind mit Keramikfließen beklebt. In der Mitte steht solitär ein elegantesWaschbecken, daneben die Wasserleitung und ein Handtuchhalter als eigenständiges Element. Der Raum wirkt sehr hoch, ist nach oben hin leicht gewölbt und mit kleinen Glasbausteinen durchbrochen. Ich folge nun dem Licht am Ende eines Ganges Richtung Osten und befinde mich vor der Toilette, die ebenfalls mit einem Vorhang vom Gang getrennt ist. Die Wände der Toilette sind unbehandelt, der Beton ist also sichtbar. Auf dem Boden befinden sich allerdings Holzdielen. Auch dieser Raum wird durch ein Oberlicht beleuchtet. Zurück im Gang, gehe ich


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durch das schon besichtigte Bad hindurch, bis ich links und rechts zwei weitereVorhänge entdecke. Ich ziehe den rechten zur Seite und schaue in einen kleinen Raum mit tief hinunter gezogener Decke, unbehandelten Betonwänden, aber poliertem Betonboden. Ich vermute, es handelt sich hierbei um eine Nische zum Baden. Demnach fehlt die Dusche, die sich hinter dem gegenüberliegenden Vorhang verbirgt. Dieser Raum ist in gleicher Weise behandelt, doch gibt es hier eine Besonderheit: Die westliche Wand der Dusche ist offen. Durch eine Glasscheibe wird der Blick nach unten in das Schlafzimmer frei, das ich nun endlich erreichen will. Ich gehe zurück durch das Bad, in den Gang, bis zur Treppe und weiter hinunter. Ich öffne eine Schiebetür und steige vom Gang aus eine Stufe hinunter in das Schlafzimmer. Die Besonderheiten dieses Raumes waren durch die Öffnungen in den anderen Räumen nicht vollständig zu erkennen. Der Raum ist vollkommen mit unterschiedlichen Hölzern verkleidet. Knapp über der Türöffnung zieht sich die Decke zu einer Pyramide zusammen, der die Spitze fehlt. An ihrer Stelle befindet sich eine Öffnung, die Tageslicht in das Schlafzimmer durchlässt. Der Boden des Raumes ist


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mit Eichenparkett belegt, die Wandflächen sind unterteilt. Im unteren Bereich vermute ich Eichenholz, darüber Ebenholz. Auf einem Teppich steht ein Sessel, daneben das Bett und eine Stehlampe. Dem Bett gegenüber erkenne ich einen weiteren Vorhang. Dahinter ist, eine Stufe höher, die Kleiderkammer untergebracht. Hier, wie auch in allen bis jetzt gesehenen Nebenräumen, ist die unbehandelte Betonwand sichtbar. Zurück im Schlafzimmer wird mir bewusst, dass der Durchblick zum Empfangsraum wohl eher der Kontrolle dient, Besucher zu erkennen und den Eingang zu überwachen. Da ich den Architekten noch immer nicht gefunden habe und da vom Dach aus weitere und bisher undurchschrittene Betonmasse zu erkennen war, bewege ich mich zurück, steige zwei Etagen höher und befinde mich dann wieder im Hof, wo mir gegenüber im Süden ein weiterer Eingang erscheint. Ich betrete den Gang und tauche in die Masse ein. Ich bin gefangen und umgeben von Wänden. Schnell zweimal links, dem Licht nach, das sich in einem Schacht versteckt. Das massige Volumen der Schächte wird immateriell im Licht. Nun noch rechts um die Ecke, fünf Stufen hinunter und


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vor mir liegt ein langgestreckter, saalartiger und doch nicht besonders hoher Raum, der mich zur hinteren Wand ziehen will. Denn dort scheint von Norden und Süden Tageslicht hinein. Wie das Schlafzimmer, so ist auch das Wohnzimmer mit Eichenparkett belegt und die Wände sind zweiteilig mit Holz verkleidet. Ein großer Teppich liegt auf dem Holzboden und definiert so die schützende Insel, auf der die Möbel stehen. Da der Teppich weniger Fläche als der Boden einnimmt, bildet der Holzboden ein Art Umrahmung. Rechts erkenne ich einen Durchbruch, etwas erhöht liegen ein Gang und ein weiterer Raum. Ein Gitter hindert mich daran, diese Räume zu betreten. So durchwandere ich weiter das Wohnzimmer. Auf der südlichen Seite, ungefähr in der Mitte der längeren Raumwand, wächst ein Kamin aus der Betonwand hinaus. Aber auch hier ist der Beton mit Holz verkleidet. Direkt gegenüber befindet sich ein Sofa mit dazugehörigem Couchtisch. Schräg davor entdecke ich einen filigranen Sessel. Dieser Bereich wirkt dunkel und behaglich. Doch auch weiter hinten im Raum steht ein Sessel, hell erleuchtet vor den großen Öffnungen. Auf der südlichen Seite finde ich ein großes Fenster, das den Blick


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auf einen kleinen Innenhof lenkt, der sich nach oben hin völlig öffnet. In der äußeren Innenhofwand sitzt ein Fenster, doch der Durchblick weist nicht nach draußen. Ich blicke auf die Wand eines weiteren Innenraums, dessen Funktion nicht ersichtlich ist, aber Vermutungen weckt. Ist dies der privateste Raum? Ich drehe mich nach Norden und sehe fünf breite Stufen, die durch eine unendlich massig anmutende Wand nach oben führen. Zwischen der obersten Stufe und der Raumdecke ist ein bodentiefes Fenster eingespannt. Ich steige hinauf, öffne das Fenster und befinde mich in einem Hof, der von Sanddorn umgrenzt wird (Abb. 6). Das Haus weist doch eine größere Interaktion mit der Umgebung auf, als anfänglich vermutet. Zurück im verwinkelten Gang, an weiteren Lichtschächten vorbei, finde ich eine Treppe, die abwärts führt. Unten angekommen weist das Licht den Weg geradeaus, dann rechts. Anscheinend habe ich die Bibliothek gefunden. Ein langgestreckter hölzerner Raum. Boden, Decke, Wände und Regale bestehen allesamt aus hellem Holz. Die Raumwände sind vollkommen durch Regale verdeckt, die mit unzähligen Büchern gefüllt sind. In regelmäßigem Abstand ragen zusätzliche Regale in den


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Raum hinein, bis unter die Decke. Öffnungen darunter ermöglichen den Durchgang unter den Regalen und führen in eine Welt aus Büchernischen. Oberhalb dieser Nischen strahlt durch Öffnungen Tageslicht in den Raum hinunter. Gegenüber des Eingangs findet sich eine Nische mit einem eingebauten Sitz. Geschützt und ruhig in der Wand, kann hier gelesen werden, beleuchtet durch ein Oberlicht im nördlichen Bereich. Zuvor im Gang bemerkte ich aber einen weiteren Nebenraum. Ich gehe zurück und trete in ein kleines Zimmer mit unbehandelter Betonwand ein. Hier finde ich einen Tisch, einen Stuhl und Zubehör zum Drucken und Binden.Vor dem Eingang diese Raumes sah ich eine kleine Treppe, die ich nun hinaufsteige. An der Stelle, wo unten der Gang weiterlief, befindet sich nun eine Wand, die den Durchgang versperrt. Mir bleibt nur eine Möglichkeit. Ich drehe mich nach Süden und erkenne einen weiteren Nebenraum mit grober Ausgestaltung. Hierin befinden sich Regale und Kommoden mit Modellen und Plänen. Immerhin handelt es sich um das Haus eines Architekten. Ein Vorhang trennt mich von einem Gang. In diesem kann ich im Westen durch eine Scheibe hinunter in


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die Bibliothek blicken, im Süden lässt ein Spalt im Boden die Sicht in den Druck- und Binderaum zu. Ein helles Licht zieht mich Richtung Osten. Ein Stufe tiefer liegt der Arbeitsraum, gut erkennbar an Schreibtisch, Stuhl und Büchern. Der hell verputzte und doch warm wirkende Raum wird im Süden durch ein, über die gesamte Raumbreite reichendes, Oberlicht beleuchtet. Auf einem grauen Teppich erkenne ich den gleichen filigranen Sessel wie er auch im Wohnzimmer anzutreffen war. Davor wird eine massive Holzplatte von zwei Stahlstangen, die an der Raumdecke hängen, gehalten. Diese Stangen bilden gleichzeitig ein Regal. An der östlichen Wand ist eine hölzerne Schiebetür zur Seite gezogen. Dahinter sind Stufen zu erkennen (Abb. 7). Ich merke schnell, mich wieder in dem Gang zu befinden, der zum Wohnzimmer und in die Höfe führt. Doch im Arbeitszimmer gab es auch noch einen Durchgang im Norden. Ich gehe zurück und hoffe, bald mein Ziel zu finden. Eine Stufe hoch, wieder in einem Gang, finde ich zunächst links von mir, hinter einem Vorhang, einen weiteren Aufbewahrungsraum. Hier bin ich falsch. Also gehe ich weiter und stehe nun auf der anderen Seite des Gitters,


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hinter dem der Wohnraum liegt. Nach Osten gedreht, ziehe ich einen weiteren Vorhang zurück und gehe einen schmalen Gang entlang, auf eine Wand zu. Hinten rechts finde ich eine Schiebetür. Ich schiebe die Tür zur Seite, es wird heller, ich trete in einen kleinen länglichen Raum ein und werde direkt zum einzigen Fenster im Osten hingezogen. Links bemerke ich schnell noch das Fenster, durch das man über den kleinen Innenhof bis in das Wohnzimmer schauen kann. Ich drehe mich um, nehme den Raum in seiner ganzen Länge wahr und erkenne in der westlichen Ecke den Architekten auf einer Sitzbank, den Kopf hinter einem Buch versteckt. Ich habe den privatesten Raum, die Denknische, entdeckt und den Architekten gefunden. Er zeigt mir Grundrisse und Schnitte und ich beginne zu verstehen (Abb. 8-18).




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Abb. 3 Rostislav Komitov Das Haus meiner Selbst Zugang zum GrundstĂźck Komitov, Juli 2012



Abb. 4 Rostislav Komitov Das Haus meiner Selbst Das Haus in der Umgebung Komitov, Juli 2012



Abb. 6 Rostislav Komitov Das Haus meiner Selbst Wohnraum Komitov, Juli 2012


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2. Resümee Die Grundrisse verschaffen mir einen Gesamtüberblick, so dass ich gedanklich noch einmal durch das Haus gehen kann (Abb. 8-10). Einiges erschließt sich mir erst jetzt. Ich bin also die nordwestliche Außentreppe hinabgestiegen und befand mich vor der Eingangstür. Im ersten Untergeschoss trat ich in den Empfangsraum, von wo aus ich in die Garderobe ging und auch in den Essraum sowie in das Schlafzimmer blicken konnte. Ich stieg die Treppe hinauf, gelangte in den Innenhof und kletterte schließlich auf das Dach. Eine etwas tiefer gelegene Terrasse oberhalb des Essbereichs hatte ich dabei übersehen. Wieder herabgeklettert, tauchte ich erneut ein Stück unter die Erde und gelangte in den Essbereich, von dem aus man einerseits den Empfang sehen konnte, eine Abstellkammer erreichte und andererseits in einen Außenraum treten konnte, der sich nur zur Hälfte nach oben öffnet. Weiter ging die Reise Richtung Küche. Hier fand ich eine Spülnische und auch eine zweite Außentreppe, die zu einem abgelegenen Weg in den Sanddornbüschen führt. Danach lief ich die Gänge zurück in den Hof und auf der


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Nordseite sah ich in den Waschraum hinunter. Anschließend stieg ich eine Treppe hinunter, sah die unterschiedlich proportionierten und ausgestalteten Badräume und blickte hinab in das Schlafzimmer, welches der tiefste Raum des Hauses ist. Nachdem ich das Schlafzimmer und die Kleiderkammer inspiziert hatte, ging ich zurück nach oben in den Hof, überquerte diesen Richtung Süden und tauchte in den wohl labyrinthischsten Gang des Hauses ein, der mich zunächst nach Nordosten in das Wohnzimmer führte. Der flächenmäßig größte Raum des Hauses wirkt wegen der Holzvertäfelung, der vergleichsweise geringen Raumhöhe und auch wegen des Wechselspiels von hellen und dunklen Raumteilen, anheimelnd. Nach dem Wohnzimmer begab ich mich zurück in den Gang, hinunter in Bibliothek. Der gesamte Raum wird von Bücherregalen eingenommen, die auskragen und auch in die Wände eingebaut sind. Hinzu kam die kleine Lesenische, die zwischen massiven Wänden und dem Erdreich auch einen der privatesten Bereiche des Hauses bildet. Am Druck- und Binderaum vorbei, gelangte ich über eine kleine Treppe in den darüberliegenden Nebenraum des Arbeitszimmers, welches ich sodann betrat. An einem


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weiteren Abstellraum vorbei, mit Blick durch das Gitter zum Wohnzimmer, erreichte ich schließlich die Denknische, von der aus ebenfalls ein Blick in das Wohnzimmer möglich ist. Im Grundriss ist nun auch die unterschiedliche materielle Behandlung der Räume zu erkennen, so beispielsweise die Holzvertäfelung im Wohnzimmer. Durch verschieden starke Schattierungen, wird zudem die Aufteilung zwischen den acht Haupträumen und den vielen Nebenräumen, Gängen und Treppen deutlich. Letztere scheinen aus der Wand herausgegraben zu sein. Von oben betrachtet entsteht noch einmal mehr der Eindruck eines Labyrinths. Der Bewohner kann sich zurückziehen und will womöglich nicht gefunden werden. Doch auch das Haus zieht sich zurück, vergräbt sich im Boden und duckt sich unter dem Sanddorn. Haus und Bewohner verschmelzen und bedingen sich gegenseitig. Das Haus entsteht aus dem Wesen des Erbauers, entwickelt aber gleichzeitig ein Eigenleben, das wiederum prägend auf den eigenen Schöpfer wirkt. Auch die Schnitte lassen bisher Ungesehnes erkennen (Abb. 11-18). Anschaulich zeigt sich hier die Lage der einzelnen


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Zimmer zueinander und im Höhenverhältnis zur Umgebung. Auch die Belichtung der Zimmer und Gänge ist nun klarer. Über der pyramidenartigen Decke des Schlafzimmers befindet sich ein Regenwasserspeicher. Auffällig ist auch der Höhenunterschied zwischen dem am tiefsten gelegenen Schlafzimmer und dem recht hoch liegenden Wohnzimmer. Nach der Durchsicht einiger Schnitte fällt zudem auf, dass alle Räume – bis auf die über das Dach hinausgehenden Objekte wie z. B. Schornsteine – gleich weit aus dem Boden nach oben ragen und sich nur in ihrer Tiefenausdehnung in den Boden hinein unterscheiden. Zudem scheint das Haus aus dem Boden herauszuwachsen und eine von außen undurchdringliche und abwehrende, geschlossene Masse zu bilden, die sich mit der Masse des unzugänglichen Sanddorns vergleichen lässt. Die weichen und belebenden Früchte, finden sich jedoch im übertragenen Sinne in den wohnlichen Innenräumen. Kontraste werden sichtbar: enge Gänge neben luftig hohen Räumen, der niedrige Essbereich, der schlanke Rauchabzug in der Küche, die Bibliothek als ein Kernstück, umgeben von kleineren Volumen. Bewusst gesetzte Belichtung neben ebenso bewussten Dunkelheiten.


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Erkennbar wird auch das Ineinandergreifen von eigentlich unabhängigen

und

unterschiedlich

proportionierten

Zimmern zu einem spannungsreichen und dennoch ruhigen Gefüge. Jeder einzelne Raum scheint einerseits vorbestimmt und andererseits genau der Nutzung angepasst zu sein. Festzuhalten bleibt der Eindruck eines intimen Gebildes, dass sich nach außen massiv zeigt und innen unerwartet sanft ist. Die eigentlichen Wände sind oft nahezu dünn, wirken aber übermäßig massig. Fast an jeder Stelle wurde vermieden, die wahre Wandstärke zu zeigen. Hinter unzähligen Windungen verbergen sich Nebenräume, Einbauten und Lichtschächte, die in ihrer Ganzheit nicht erfasst werden können und somit den Eindruck ungeheurer Masse erwecken. Die Proportionen und die Positionierung der Räume wirken determiniert und spielerisch zugleich. Wie kam es dazu?


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3. Analyse des Entwurfs 3.1 Gedanken eines Unwissenden Am Anfang steht die Suche nach einem architektonischen Thema. Naheliegend wirkt

das Wohnhaus. Als Urtyp,

als Beginn der menschlichen Bautätigkeit, sind hier alle Elemente auf ein Minimum reduziert, diese resultieren aber gleichzeitig aus den grundlegenden Lebensnotwendigkeiten. Es soll ein Gebäude als eigenständiger Organismus erschaffen werden, dessen physische Bestandteile aus den analysierten psychischen Merkmalen des Architekten bestehen. So entwickelt sich ein Selbstbildnis, das dem Betrachter erlaubt, einen Teil der wahren Persönlichkeit des Schöpfers hinter der oberflächlichen Fassade zu entdecken. Ein Selbstporträt folgt genau festgelegten Regeln, doch wird der innerste Kern nur freigelegt, wenn diese Systematik an einigen Stellen gebrochen wird. Das Gebäude entwickelt ein Eigenleben, eine erzählende Architektur, es beginnt seine eigene Geschichte weiterzuschreiben.3 In Gedanken eines Unwissenden

3. Vgl. KOMITOV 2012 b, S. 8f.


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hat der Architekt in drei Sätzen seine Vorüberlegungen zusammengefasst, um in sich ein Bild vom architektonischen und metaphysischen Raum reifen zu lassen. Im ersten Satz nähert er sich der Kreation eines Raumes. Zwei Wände lassen etwas dazwischen entstehen, eine dritte Wand, ein Boden und eine Decke kommen dazu. Das Bild des Raumes wird klarer. Licht fällt hinein und breitet sich ungleichmäßig auf die verschiedenen Raumelemente aus. Eine Wand bleibt offen, doch jenseits der Öffnung ist kein Außen. Der Raum wächst weiter, unterschiedliche Materialien kommen hinzu und plötzlich breiten sich lebendige Atmosphären aus. Die Beschreibungen werden detaillierter, der Mensch und seine jeweilige Geschichte tritt hinzu.4 Im zweiten Satz sammelt der Architekt Assoziationen zu Begriffen, die für die weitere Entwicklung des Wohnhauses von Bedeutung sind. Beispielhaft sei hier die Schwelle herausgenommen, der Unterbegriffe wie Grenze, Hemmung, Anfang,

Niveauunterschied,

Übergang

4. Vgl. KOMITOV 2012 b, S. 12-15f.

oder

Dazwischen


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zugeordnet werden.5 Der dritte Satz stimmt auf die für den Entwurf so wichtige Kreation von Atmosphäre ein, auf die Geschichten, die im Innern warten.6 3.2 Der architektonische Raum Der architektonische Raum entsteht, wenn zwei Wände ein Dazwischen bilden. Das Dazwischen wird genauso von der Wand geprägt, wie die Wand vom Raum (Abb. 19-21). Eine reine Dualität kann im architektonischen Sinne nicht existieren, da die dritte Komponente fehlt. Die einzelne Wand bildet möglicherweise einen Ort. Das Dazwischen, zwischen zwei Räumen, ist ebenfalls ein Raum, ob körperlich oder geistig. Der Reiz der Aufgabe besteht für den Architekten in der Untersuchung dieses Zwischenraums. Dabei ist nicht festgelegt, ob man von Raum zu Raum oder von Masse zu Masse geht. Interessant ist die Umkehrung

5. Vgl. KOMITOV 2012 b, S. 22f. 6. Vgl. ebd., S. 48f.


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des Raumes in Masse, bei einem Wechsel des Standpunktes, beziehungsweise die Wahrnehmung dieser neu entstandenen Masse als Raum. Es entsteht der Raum als Metaebene, losgelöst vom körperlichen Empfinden. Die Überlegung von der Expansion des Raumes beruht auf einem einfachen Beispiel: Wenn man sich in einem Raum befindet und aus dem Fester hinausschaut, wo befindet man sich dann? Ist man außen oder innen? Oder entsteht in dem Akt des Hinausschauens im Innern eine Wandlung in einen dritten Raum, den Metaraum? Der Betrachter projiziert sich nach außen in den Gedankenraum. Doch zurück zur Masse. Da es keinen Zustand des Nicht-Raumes gibt, ist Masse Raum und umgekehrt. Oft wird nur in Räumen gedacht, um die sich dann automatisch Masse legt. Das Haus des Architekten funktioniert anders: Der Raum definiert hier nicht die Masse, sondern Masse und Raum entstehen gleichzeitig. Wenn also Raum und Masse gleichwertig sind, wie kann zwischen ihrer Aufteilung, Proportion und Positionierung entschieden werden? Der Architekt nutzt hierzu die Methode des kontrollierten Zufalls, bei dem einige der ansonsten unzähligen und


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unbewussten Faktoren bekannt sind. Somit kann das Gefüge des Gebäudes festgelegt werden. 3.3 Das Grundstück Es muss zwischen Grundstück und Ort unterschieden werden. Erst durch den Eingriff des Menschen, durch ein Subjekt, entsteht ein Objekt, also der Ort. Der Standort des Hauses wird nach bestimmten subjektiven Kriterien festgelegt und soll in natürlicher Umgebung liegen. Folgendes muss dort zu finden sein: Wasser, ausgeprägte Vegetation, Felsen und vor allem ein besonderes Licht. Der Architekt begibt sich auf eine Reise, dem Licht nach, Richtung Norden. Er erreicht die Ostsee und fährt im Nebel an der Küste entlang. Kurz bevor das Finden eines Grundstücks, das den oben genannten Kriterien entspricht, aussichtslos erscheint, taucht eine sonnenüberströmte Insel aus dem Meer auf. Der Architekt ist sofort begeistert, er weiß, dass sein Haus irgendwo hier einen Platz findet. Es beginnt eine freudige Suche, die ihr Ziel dort hat, wo es nicht mehr weiter geht. Die Steilküste im Norden erfüllt alle Kriterien:


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der Felsen, darunter das Meer, dicht gewachsener Sanddorn und nördliches Nordlicht bis zum Horizont. In Gedanken ist schon ein Ort entstanden, eine wahrlich sublime Lage, durch das Zusammenspiel von geografischen Gegebenheiten und Licht, nahezu außerhalb der gewohnten Wahrnehmung liegend. Die Masse des Sanddorns ist elementar für die Bestimmung des Ausdrucks der Bauvolumen. Letztere sollen genauso homogen und verschlossen von außen wirken und eine Verbindung mit dem Sanddorn eingehen. Es gilt in der Sanddorn-Masse durch das systematische Überlagern architektonischer Parameter ein Gebilde zu entwerfen, das gleichzeitig Masse und Raum definiert und dabei ein wenig aus der Masse hervorsteht, von der es umgeben ist. Die beschriebene Umgebung wird als strukturierte Strukturlosigkeit angesehen. Zunächst wird ein chaotisch wirkendes Gefüge wahrgenommen, das nicht überblickt werden kann und deshalb als zufällig wahrgenommen wird. Diese Überlegung macht sich der Architekt später als Zufalls-Spiel für den Entwurfsprozess zu Nutze, so dass ein vorerst nicht vollständig erfassbares, aber einheitlich wirkendes Hausgefüge entsteht. Der Bezug zur Masse


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und Struktur des Sanddorns bietet zwei Varianten der Einfügung architektonischer Volumen: Zum einen können die unabhängig voneinander stehenden Volumen willkürlich im Sanddorn verteilt werden, zum anderen ist eine von der Umgebung unabhängige und in sich geschlossene Hauseinheit mit eigenem Zentrum möglich. Der Architekt wählt die Kombination beider Vorschläge: eine auf den ersten Blick chaotische und zentralistische Struktur, die aufgrund ihrer Geometrie mit der Umgebung verschmilzt. Es sollen verschieden proportionierte Kuben entstehen, die versetzt und trotzdem miteinander verzahnt sind, die sich gleichzeitig um ein Zentrum gruppieren und sich in die Umgebung öffnen (Abb. 22). Gedanklich und auf Skizzen nimmt das Haus langsam konkretere Formen an. Es wird in drei Trakte unterteilt. Zwei der drei Trakte beherbergen die Nutzung. Der dritte Trakt ist das Ergebnis des Zusammenspiels der zwei ersten (Abb. 23). Er stellt die gedankliche Verschmelzung des Hauses mit der Umgebung dar und bildet gleichsam das Herzstück des Gefüges. Hier befindet man sich nicht in einem architektonischen Raum, das Kulissenartige


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entfällt, hier gibt es keine künstliche Umrahmung. Die zwei Haupttrakte konzentrieren sich also um ein Zentrum. Dieses stellt das Erschaffen des Ortes dar, das Herz des Hauses. Der Ort wird im weiteren Entwurfsverlauf und im Spielvorgang durch die Erschließung ersetzt. Somit erhält der Ort zusätzlich eine zentrale Bedeutung als Verkehrsader, wird gleichzeitig aber auch zu einem Nicht-Ort, da alle Wege sowohl dorthin führen, als auch von dort weg. Das Zentrum wird zu einem Durchgang, es ist nicht das Ziel. Die schon beschriebene äußere Hoftreppe kann ein Ziel sein und den dritten Trakt zu einem Ort machen. Sie ist das letzte architektonische Element vor der unarchitektonischen und zerlegten Dachlandschaft. Die beiden Nutztrakte können nun weiter untergliedert werden. Im ersten Trakt werden diejenigen Räume untergebracht, die einer eindeutigen Nutzung unterliegen. Im Gegensatz zum zweiten Trakt wird diesen Räumen ein geringerer Stellenwert zugestanden. Hier finden sich der Empfangs-, Ess-, Koch-, Nass-, und Schlafraum. Im zweiten Trakt liegen Wohnräume mit höherem Stellenwert. Neben dem Wohnzimmer sind hier auch der Arbeitsraum und die


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Bibliothek untergebracht. Diese Räume wirken wie Orte des persönlicheren Rückzugs und des ruhigen Nachdenkens. Einige Zahlen sind bestimmend für den Entwurf des Hauses und werden nachfolgend im Spiel beschrieben (Abb. 24). In der für den Architekten sinnvollen Zahlenreihe 2-3-4-8-(9) sind alle für den Entwurf bedeutenden Werte enthalten. Die 2 lässt zwei Elemente entstehen, die sich gegenüber liegen können. Durch die 3, die dritte Komponente, entsteht das Dazwischen, 2 und 3 bilden eine Einheit, der Raum entsteht. Die 4 steht für die Himmelsrichtungen, vier Wände ergeben zudem einen geschlossenen Raum und bilden ein Zentrum. Weiterhin steht die 4 für die Standort bestimmenden Faktoren und für die Kreation des ausgewogenen Quadrats. Die als himmlische Zahl geltende 8 leitet zum Oktogon über. Dieses ist die Vereinigung zweier gedrehter Quadrate, deren Ecken miteinander verbunden werden. Wie bei der 4, ergibt sich auch bei der 8, in diesem Fall beim Oktogon, ein Zentrum, so dass schließlich neun Elemente entstehen. Die 9 lässt sich natürlich wiederum aus der 3 erklären. Das Oktogon dient als Grundelement der Anzahl und Verteilung der Räume. Insgesamt finden sich also acht Haupträume und


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ein neunter als Zentrum und Verbindung. Wie entstanden nun die Räume und das Gesamtgefüge? Wie erwähnt bediente sich der Architekt des kontrollierten Zufalls. Dazu wurde ein Zahlensystem nach seinen eigenen Körpermaßen (Rostilor) entwickelt und durch ein Spiel in Architektur übertragen (Abb. 25-27). 3.4 Das Spiel Ziel des Spiels ist die systematische Anordnung von architektonischen Elementen. Durch den Spielvorgang entstehen Volumen von unterschiedlichem Ausmaß, die ineinander nach bestimmten Regeln verschnitten werden. Das Konstrukt eines jeden Volumens resultiert aus den Körpermaßen des Verfassers. Zu Anfang wird ein Grundvolumen entwickelt, das den äußersten Maßen des Architekten entspricht. Dies sind in der Höhe 240 Zentimeter, in der Breite 192 Zentimeter und in der Tiefe 160 Zentimeter. Hieraus ergeben sich aber auch unzählige Zwischenmaße, die alle durch acht teilbar sind und aus denen jegliche Raummaße des ersten Spielvorgangs


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hervorgehen. Die beschriebene Grundgeometrie wird durch Zufallsoperationen in vorgegebenen Schritten verändert, bis ein fertiges Volumen entsteht, welches im weiteren Spielvorgang erneut deformiert wird. Bei der letzten vom Spiel vorgegebenen Deformation, entstehen die Masse und der Raum. Nach dem Verschnitt der einzelnen Volumen ergibt sich ein geschlossenes und in sich gekehrtes räumliches Ensemble. Raum und Masse – die Masse wird im Spiel auch Poché genannt – entstehen gleichzeitig durch den Verschnitt der Volumen. Nach Verlängerung der kurzen Schnittkanten bildet sich der Pochébereich, der wiederum den Raum definiert. Die Einheit des Volumens wird zerstört, die Geometrie wird umgeschrieben. Dadurch entwickelt sich aus der Einheit die Dualität, Masse und Leere werden gebildet. Das Spiel besteht aus einem Spielschema pro Raum (Abb. 2829). Acht Räume ergeben acht Schemata pro Spielvorgang. Ein Schema besteht wiederum aus acht Kategorien: Tiefe, Breite, Höhe, Umriss, Leseart, Licht, Stoß und Atmosphäre. Jede Kategorie besteht aus drei Subkategorien: Konstrukt, Interpretation und Inszenierung. Letztere sind die grundlegenden


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Parameter zur Formulierung einer Architektur. Der Aufbau des Spiels besteht aus dem einfachen Algorithmus: SubjektObjekt-Subjekt. Im Entwurf wird das subjektive Empfinden in objektartige Parameter umgeschrieben, die wiederum nach dem Spielvorgang die Grundlage für das subjektive Auffüllen des Hauses bilden. Den Subkategorien Konstrukt und Interpretation werden Zufallszahlenkombinationen zugewiesen, deren Bedeutung nur in Bezug auf die dritte Subkategorie Inszenierung deutlich wird. Die Subkategorie Inszenierung kann frei vom Verfasser bestimmt werden. Die Inszenierung stellt das subjektive Empfinden und Eingreifen des Verfassers, in den von festgelegten Maßen und somit vom kontrollierten Zufall bestimmten Entwurfsprozess, dar. Ein genauerer Blick auf das Spielschema zeigt, Kategorie Tiefe ermittelt dieTiefe desVolumens, bei Breite und Höhe verhält es sich entsprechend. Die Höhe desVolumens entsteht aber auch in Abhängigkeit mit dem Flächenmaß des Volumens. Hierfür wird der größere Faktor von den ersten zwei Kategorien übernommen. Aufgrund des Aufbaus der Variationen entsteht folgendes Prinzip: je größer die Fläche, um so niedriger der Raum und andersherum. Dieser Parameter


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trägt dazu bei, dass die Wahrnehmung der jeweiligen Räume gebrochen wird. Dabei erscheint ein großer Raum in seiner vollen Größe, die Fläche wird wahrgenommen. Im Fall eines kleinen Raumes, wird dieser so in die Höhe gezogen, dass eine räumliche Komponente, nämlich die Wahrnehmung der Decke, theoretisch verschwindet. Auf diese Weise wird ein bedrückender Raum aufgelockert. Die Kategorie Umriss bestimmt die Stärke der Wände und die Haptik des verwendeten Materials, sowohl außen, als auch innen. Leseart gibt die Position des Raumzugangs an. Der jeweilige Raum kann von der langen oder schmalen Seite aus betreten werden. Weiterhin wird der Zugang auf der jeweiligen Wand links, mittig oder rechts zugeteilt. Die Kategorie Licht bestimmt die Art der Lichtquelle, deren Größe und Intensität. Die vorletzte Kategorie Stoß zeigt auf, an welchen Punkten sich die einzelnen Volumen ineinander verschneiden. In der letzten Kategorie Atmosphäre wird die Ausformulierung des Innenraumes mit unterschiedlichen Materialien bestimmt. Die ermittelten Räume werden im weiteren Spiel in acht nachfolgend beschriebenen Schritten verändert: Zunächst


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erfolgt die Verteilung der Volumen im Rahmen der geschlossenen Geometrie eines Oktogons (Abb. 30). Die Verteilung der Volumen wird nach festgelegten Kriterien bestimmt, so dass die Räume der zwei Haupttrakte nur jene desselben Traktes anziehen. Die Schnittstellen der zwei Trakte werden dadurch markiert, dass an diesen Stellen später keine räumliche Interaktion entsteht. Den Volumen wird ein Wichtigkeitsgrad zugeordnet, der bestimmt, welches Volumen sich einem anderen unterordnen muss. Dies geschieht im zweiten Schritt, bei dem die Räume ineinandergestoßen werden (Abb. 31). An dritter Stelle folgt die Poché-Bildung, da nach dem Verschneiden Schnittflächen entstehen (Abb. 32). Hier bildet sich Masse, die sich so ausdehnt, dass innen wieder geschlossene Rechtecke entstehen. Viertens werden dem Gebilde Umrisse gegeben und die Räume erhalten eine eindeutige Definierung (Abb. 33). Im Poché-Bereich wird fünftens die Erschließung eingefügt (Abb. 34). Es folgt die schon erwähnte Positionierung der Zugänge. Hierbei ist wichtig, dass der Weg zu den Räumen so lang wie möglich ist, so dass der Eindruck von Masse entsteht. Im sechsten Schritt bilden sich


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im Poché-Bereich Nebenräume und Durchbrüche (Abb. 35). Letztere sorgen für die Interaktion zwischen den Räumen. Der vorletzte Punkt gibt an, Poché-Bereiche, die mit keiner Funktion oder Erschließung versehen wurden, wegdenken und mit Vegetation auffüllen zu können (Abb. 36). Somit entsteht erneut der Rückblick auf die grundlegende Idee vom Wechselspiel zwischen dem Haus und der Umgebung. Der letzte Schritt bezieht sich schließlich auf die Definition des Ortes (Abb. 37). Als Gedanken- und Verbindungsraum bildet er das Zentrum. Von hier aus erfolgt das Erreichen des Dachgartens, der durch die Verschmelzung der beiden ersten Trakte den dritten Trakt bildet. 3.5 Kreation eines Raumes An Raum Nr. 1, dem Nassraum, soll der Spielverlauf exemplarisch durchgeführt werden (Abb. 38-41). Zunächst werden die Maße des Raumvolumens ermittelt. Begonnen wird mit der Tiefe. Hier erkenne ich in der Spalte Konstrukt bei Maß eine 4, in der Spalte Interpretation bei Anzahl eine 3 und in der Spalte Inszenierung bei Faktor eine 8. Ich schlage


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in der Konstruktionstabelle nach, in der die verschiedenen Körpermaße des Architekten aufgeführt sind, um die Faktoren für das Tiefenmaß des Nassraums zu errechnen. In der Tabelle Inszenierung finde ich unter 8 eine 2. Dies bedeutet, aus der Tabelle Konstrukt ist der zweite Zahlenwert der vierten Spalte zu entnehmen, um das Maß zu ermitteln. In diesem Fall sind dies 80 Zentimeter. Es fehlt die Anzahl, also der Multiplikator. Die Anzahl ist für den Nassraum mit 3 angegeben, Faktor ist auch hier eine 2, sodass ich in der Tabelle Interpretation den zweiten Zahlenwert der dritten Spalte finde, in diesem Fall eine 3. Somit kann die Tiefe des Raumes berechnet werden: 80 Zentimeter mal 3 ergeben 240 Zentimeter. Dies ist nun der erste der acht Faktoren, die aber immer nach dem gleichen Prinzip ermittelt werden. Für den Nassraum bedeutet dies in der Breite, 88 Zentimeter mal 4, also 352 Zentimeter. Die Höhe wird mit 72 Zentimetern mal 3 errechnet, was 216 Zentimeter ergeben. Hierbei findet sich allerdings eine Besonderheit. Das Haus hat eine Attikahöhe von 240 Zentimetern über dem Boden (Abb. 42-43). Dies ist der Standardwert aller Raumhöhen. Doch auch die Decken


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weisen Poché-Bereiche auf, die mithilfe von Oberlichtern durchbrochen werden können. 192 Zentimeter ist der Architekt ohne erhobene Arme hoch. Dieser Wert dient als Trennlinie, über der ein Halbkreis die Höhe der Oberlichter bestimmt. Die im Spiel und in den Tabellen ermittelten Höhenwerte, verlängern den Raum demnach nach unten in die Erde hinein. Für den Nassraum bedeutet dies, dass zu den 240 Zentimetern, inklusive Oberlicht, 216 Zentimeter nach unten addiert werden, was eine Raumhöhe von 456 Zentimetern ergibt. Als nächstes wird der Umriss des Nassraumes bestimmt, für den 40 Zentimeter mal 2, also 80 Zentimeter errechnet werden. Diese bilden die Wandstärke des Raumes, die sich natürlich durch Verzahnung in andere Räume und durch die individuelle Bespielung verändern kann. Leseart beschreibt den Raumzugang. In diesem Fall zeigen die Tabellen folgende Werte: B und 3. Dies bedeutet, der Nassraum wird von der breiten Seite aus betreten und zwar im dritten Bereich der Wand (Abb. 44). Als nächstes wird die Belichtung bestimmt. Hier unterscheidet man zwischen der Intensität und der Quelle. Für den Nassraum bedeutet dies, ein Viertel Decke


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muss geöffnet werden. Genauso könnte aber beispielsweise auch vorgeschrieben sein, ein Achtel der Wand zu öffnen. Wie beschrieben, zeigt der Stoß, an welcher Stelle sich zwei Räume ineinanderschieben (Abb. 45). Dazu werden die Volumen in ein Koordinatensystem gezeichnet und durch die Werte der Tabellen verschoben. In der letzten Kategorie Atmosphäre werden die Materialien der Raumbekleidung festgelegt. In diesem Fall ergibt die Tabelle: Stein und hell. Genauso könnten Putz und kalt oder Holz und warm entstehen. 3.6 Die Innenräume des Hauses Ich erinnere mich zurück an den Zugang zum Grundstück. Die zwei Wände, die ein Tor bilden, entsprechen dem Grundmaß (240 / 192 / 160 Zentimeter). Sie erzeugen den ersten Raum, den der Besucher betritt. Das gesamte Haus wird in einem Stück erstellt, die rohe Wandstruktur besteht aus Stampfbeton, dessen Farbigkeit dem hohen Tongehalt der Umgebung entspricht. Die Haupträume erfahren eine andere Bespielung als die Gänge, Nischen und Nebenräume,


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die sich in den Poché-Bereichen befinden. Letztere sind bedrückender, enger und dunkler. Hier bestehen die Wände, Böden und Decken aus roh belassenem Beton. Der Boden wird zusätzlich poliert, so dass eine räumliche Auflockerung entsteht. Die Haupträume werden bespielt. Diese Bespielung bildet den letzten (den neunten) Schritt des Gebäudeentwurfes. Gleichzeitig ist dies auch die Vollendung des Subjekt-Objekt-Subjekt-Vorgangs. Das Haus entzieht sich seiner groben Struktur und wird wieder personifiziert. Jeder Raum erfährt eine individuelle Inszenierung, sei es im Umgang mit Material oder mit Licht. Jeder Hauptraum schafft neuen Raum für die vielen ungeschriebenen Geschichten, die eine Wohnarchitektur letztlich bestimmen. Jeder Raum wird mit einer Schwelle vom Gang getrennt, beziehungsweise mit diesem verbunden. Der Hauptraum ist immer das Ziel. Durch einen jeweils eigenen Gang davor, gelangt der Besucher dorthin. Man steigt in den Raum hinab, was einerseits den fließenden Übergang vom Gang in den Raum unterstützt, andererseits bildet die Schwelle eine eindeutige Teilung. Die Einheit der Räume bleibt durch das Einsetzen der


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Schwelle erhalten. Kanten spielen die Rolle der Schwelle in der Vertikalen. Lichtöffnungen und Durchbrüche bilden eigenständige Elemente und laufen nicht bündig in den Raum über. Durch das Einsetzen der Kante wird der Raum in seiner Einheit nicht zerstört und behält einen eindeutigen räumlichen Charakter. Im Haus finden sich drei unterschiedliche Typen von Türen. Zum einen die Flügeltür, die Übergänge von außen nach innen markiert. Die Haustüren, die in die Umgebung führen, öffnen sich in dieser Weise. Aber auch die Bereiche zwischen Gängen und Hof werden nach dieser Art von einander getrennt. Die Tür, die aufgeschlagen wird, zerstört beziehungsweise beeinflusst den Raum, der durchdrungen wird. Somit entsteht eine architektonische Rangfolge zwischen zwei miteinander verbundenen Räumen. Wichtig ist die Richtung der Türöffnung. Der Raum, in den sich die Tür öffnet, wird zum untergeordneten Raum. Um ein physisches Gefühl des Eintretens zu erreichen, bedarf es dieser Türform. Die Schiebetür bildet den zweiten Typ, sie verbindet Gänge mit Räumen, findet also nur Anwendung im Innern. Die Schiebetür hat die Eigenschaft, weder den einen


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noch den anderen Raum zu durchdringen. Somit bleiben alle Räume, trotz ihrer Verbindung und Unterbrechung, in ihrer Einheit erhalten. Die dritte Form der Abtrennung und Öffnung zwischen Räumen ist der Vorhang. Dieser wird zwischen einem Haupt- und einem Nebenraum oder einem Gang und einem Nebenraum verwendet. Der Vorhang ist eher die Andeutung einer räumlichen Trennung, ohne dabei von einer starren, flächigen Dominanz geprägt zu sein. Jeder Raum verfügt auch über eine individuelle Lichtinszenierung. Diese ist sowohl von der Geometrie, als auch von der Ausrichtung und der Eingangsposition des Raumes abhängig. Die Lichtgestaltung der Räume wurde in Bezug auf den Spielvorgang erläutert. Das Licht kann zu einer optischen Verkürzung oder Verlängerung des Raumes führen, in den meisten Fällen kann sich der Besucher vom Licht durch das Labyrinth führen lassen. Die sich windenden Gänge wirken massig. Masse, die man nicht sieht, ist eine Fläche und somit nicht wahrnehmbar. Im Haus des Architekten wirkt aber vieles massiger, als es in Wirklichkeit ist. Die Masse der Poché-Bereiche bleibt wahrnehmbar, auch dort, wo sie ausgehöhlt wurde. Dies


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liegt an unzähligen Vor- und Rücksprüngen. Selbst dünne Wände machen vor Öffnungen einen Knick und wirken somit vielfach stärker. Diese Umgangsweise entspricht der Entdeckung des Lebens, einer Persönlichkeit oder eines Hauses, vom Augenscheinlichen zum Detail. Entscheidend ist nun die Inszenierung der Räume, die vom Verfasser bestimmt wird. Nebenräume, Nischen und Gänge bleiben unbehandelt, die Betonstruktur ist sichtbar. Die Haupträume erhalten eine Verkleidung. Dabei werden nur die Innenflächen der Räume bespielt, so dass die tatsächliche Betonstruktur immer wahrnehmbar bleibt. Die Verkleidung der Räume muss immer als Verkleidung empfunden werden. Diese Vorgabe beruht auf dem Akt des Auffüllens des Raumes mit Subjekten. Diese Subjekte behalten stets einen Abstand vom Objekt, dem Haus, sodass der Raum als ein Behälter wahrnehmbar bleibt. Dieser Raum wird mit der Architektur der Gegenstände gefüllt. Ein genauerer Blick auf die Räume verrät bisher Unbemerktes: Im Essraum wurde ein Trick angewandt. Denn der Raum wirkte in seinen Proportionen und in der Belichtung nicht zufriedenstellend. Ohne den Raum in


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seiner Gesamtheit zu ändern, wurde er verkürzt. Durch ein Glaselement unterbrochen und dadurch gleichzeitig auch verbunden, trennt sich nun der Essbereich vom Patio. Wände und Boden laufen ungebremst vom Innenraum in den Außenraum, die Decke kragt ein Stück weit aus, so dass Innen und Außen immer noch als Einheit erlebbar sind und die ursprüngliche Raumproportion trotzdem nicht zerstört wurde. Obwohl es im Innern keine wirkliche Nische gibt, wirkt der Essbereich maßvoll und angenehm. Darüber wurde die Decke abgesenkt, so dass nördlich und südlich des Esstischs Licht den Raum erhellt, der Essbereich selbst aber nicht direkt belichtet wird. Optisch entsteht hier also eine Nische. Gleichsam wurde durch die Absenkung der Decke darüber Platz für eine geschützte Dachterrasse. Der Schlafraum war zu groß, vor allem zu hoch, so dass nach einer Möglichkeit gesucht wurde, den Raum zu verkleinern, ohne dabei die Grundrissgeometrie zu korrigieren. Dazu wurde der Raum mit zwei unterschiedlichen Holzarten versehen, die sich auch farblich voneinander absetzen. Ab einer Höhe von 192 Zentimetern wird die helle Eichenholzverkleidung vom dunklen Ebenholz abgelöst, was


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dazu führt, dass der Raum nach oben hin optisch verkürzt wird. Die pyramidenartige Verjüngung kommt diesem Phänomen noch entgegen. Auch im Wohnzimmer wurde ab einer Höhe von 192 Zentimetern die Holzvertäfelung gewechselt. Der dunklere obere Bereich verliert seine Raumkanten, weswegen der Raum eine Tiefe erfährt. Da dieses Zimmer recht langgezogen ist, wurde es durch zwei große Öffnungen im hinteren Raumteil optisch verkürzt. In der Bibliothek sind die Bücher nicht nur an den Wänden positioniert, wodurch die Bücherwand die Haptik einer Textur erhalten würde. Die Bücher füllen den Raum aus, greifen in diesen ein und verändern ihn. Die Belichtung ist zentral und kommt von oben, so dass sich der Raum auf seine Mitte hin konzentriert. Die Seitenwände sind dunkler und verlängern den Raum optisch. Den letzte Punkt bildet der Hof. Die Außentreppe ist hier ein Element der Wand, die Stufen entsprechen der Höhe der einzelnen Wandschichten. Sie sind jeweils 24 Zentimeter hoch, die 10 Stufen entsprechen demnach in der Höhe dem Körpermaß des Architekten mit ausgestrecktem Arm.


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Als Verbindung zum Dach, zum dritten Trakt, ist dieses Wandelement keine Treppe. Die Steigung muss überwunden werden, gleichzeitig empfindet der Besucher das Maßsystem des Haus in körperlicher Weise. 3.7 Zusammenfassung Am Anfang stand die Aufgabe, ein Wohnhaus zu entwerfen. Geschaffen wurde ein Selbstporträt in architektonischer Form. Zunächst besann sich der Architekt auf ein grundlegendes Verständnis von architektonischem Raum, von Masse und Leere. Beides musste eine Form und eine Füllung erhalten, körperlich wie auch geistig. Masse und Raum wurden gleichzeitig gedacht, entscheidend erschien dem Architekten aber das Dazwischen. Er begab sich auf eine Reise nach dem Licht sowie dem Grundstück und fand beides auf einem Felsen im Meer. Bilder reiften in ihm, verschiedene Verbindungsmöglichkeiten von Volumen wurden durchgespielt und die Grundidee entstand. Schon jetzt war der Ort geboren, allein durch die Gedanken des Architekten. Es folgten Überlegungen zum Raumprogramm.


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Zwei Trakte mit unterschiedlicher Nutzung kamen ihm in den Sinn, die mit einander verschmolzen und so einen dritten Teil bildeten. Hilfreich waren hierbei bestimmte Zahlen, besonders die 3 und die 8. Acht Nutzräume mussten es also sein, die in ihrer Gesamtheit einen neunten Raum ergaben, vergleichbar einem Oktogon. Doch wie konnte aus all diesen Vorüberlegungen ein Entwurf werden? Der Architekt hielt seine Körpermaße fest und entwickelte daraus Größen, die in Architektur übertragen werden konnten. Er legte dann für jedes Detail Parameter fest, denen mithilfe des Zufalls konkrete Maße oder andere Elemente zugewiesen wurden. Es handelt sich also um einen kontrollierten Zufall, da die Parameter durch den Architekten selbst festgelegt wurden. Zudem beziehen sich alle Maße auf die Körpermaße des Architekten, so dass das entstandene Gefüge auf seinen Schöpfer zurückzuführen ist. Durch den kontrollierten Zufall entwickelte das Haus aber auch ein Eigenleben. Das beschriebene Spiel legte Raumvolumen fest, die nach bestimmten Kriterien an einem Oktogon ausgerichtet wurden. Darauf folgte die Verschneidung der Volumen zu einem aneinanderhängenden Gefüge, dessen


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Überschneidungsflächen zu Masse wurden. Die ermittelten Umrisse kamen hinzu, dann folgte, nach bekannten Regeln, die Einfügung der Raumerschließungen. Im nächsten Schritt kamen Nebenräume hinzu und danach wurden unbespielte Poché-Flächen unterschiedlich aufgefüllt, wie beispielsweise mit Sanddorn, wodurch sich eine zusätzliche Beziehung zur Umgebung ergab. Um vom Subjekt über das Objekt wieder zum Subjekt zu gelangen, fehlte die weitere geistige Reflektion des Architekten. Durch die belebende Bespielung der Räume, durch das Einfügen des Bewohners, entstand die Vollendung. Durchblicke zwischen den Innenräumen lassen eine Interaktion, Kommunikation, aber auch Kontrolle entstehen. Ebenso ist damit die Möglichkeit der Raumexpansion gegeben. Die Projektion des Subjekts in einen anderen Raum wird möglich. Ausblicke in die Landschaft gibt es nicht, die Belichtung erfolgt immer indirekt und doch werden Verbindungen zur unmittelbaren Umgebung geschaffen. Die Masse des Hauses öffnet sich nur in der Masse des Sanddorns, von der sie umschlossen ist. Die Ausblicke in Innenräume führen zu einer architektonischen


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Überlagerung, die Architektur wird gleichsam ausgestellt. So wird nicht das Äußere, sondern das Innere gerahmt und als Kulisse betrachtet. Das Haus wandelt sich zu einem räumlichen Bild. Hierein kommt nun wieder das Subjekt. Der Raum ist ein Behälter, in dem weitere Architekturen nichträumlicher Natur Zwischenräume bilden. Gegenstände werden mit Geschichten verbunden und führen zu geistigen Verzahnungen. Das Haus fügt sich in eine kontrastreiche Topografie, ohne den Blick auf sich zu lenken und ohne die Umgebung als Kulisse zu benutzen. Das Haus verschmilzt vollständig mit der Umgebung. Für ein solches Projekt muss der Architekt aus einer Fülle an Erfahrungen schöpfen können. Zudem bedarf es aber auch der Inspiration durch Werke anderer Künstler. Im zweiten Teil werden zunächst abstraktere und danach konkretere Beispiele herangezogen, die jeweils im letzten Absatz mit den Elementen des Hauses des Architekten verglichen werden.



5.1 5 6.2 6 1

9 1.1

6.1

7.2 7.3

2.3 8 3

7.1 7


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Abb. 8 Rostislav Komitov Das Haus meiner Selbst Erdgeschoss

1. Empfangsraum 1.1 Abstellnische 2.3 Dachterasse 3. Kochraum 4.2Wasserspeicher 5. Nassraum 5.1 Heizkeller 6.Wohnraum 6.1 Patio 6.2 Zugang zum AuĂ&#x;enraum 7. Arbeitsraum 7.1 Modellbaunische 7.2 Abstellnische 7.3 Denknische 8. Bibliothek 9. Ort


5.2 4 5.3

5.4 5 5.5

1 2.1

1.2

2 8.2 2.2 8 3.1

3

8.1


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Abb. 9 Rostislav Komitov Das Haus meiner Selbst I. Untergeschoss/Hauszugang Komitov, Juli 2012

1. Empfangsraum (Zugangsebene) 1.2. Garderobe 2. Essraum 2.1. Abstellnische 2.2. Patio 3. Kochraum (Zugangsebene) 3.1. SpĂźlnische 4. Schlafraum 5. Nassraum 5.2. Badenische 5.3. Duschnische 5.4. Abort 5.5.Waschnische 8. Bibliothek 8.1. Binderei, Druckerei 8.2. Lesenische


9 2.3

3

7

8

2 8.1

Abb. 14 Rostislav Komitov Das Haus meiner Selbst Schnitt DD Komitov, Juli 2012

2. Essraum 2.3 Dachterasse 3. Kochraum 7. Arbeitsraum 8. Bibiothek 8.1. Binderei / Druckerei 9. Ort


1

2.3 2.1

4.1

2 4

Abb. 15 Rostislav Komitov Das Haus meiner Selbst Schnitt EE Komitov, Juli 2012

1. Empfangsraum 2. Essraum 2.1 Patio 2.3 Dachterasse 4. Schlafraum 4.1Wasserspeicher 9. Ort



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Abb. 19 Rostislav Komitov Das Haus meiner Selbst Dualität des Raumes

Abb. 25 Rostislav Komitov Das Haus meiner Selbst Maßsystem (Rostilor), Höhe

Abb. 20 Rostislav Komitov Das Haus meiner Selbst Raumwahrnehmung/Wandelungen

Abb. 26 Rostislav Komitov Das Haus meiner Selbst Maßsystem (Rostilor), Breite

Abb. 21 Rostislav Komitov Das Haus meiner Selbst Klang-Nichtklang/Raum-Nichtraum

Abb. 27 Rostislav Komitov Das Haus meiner Selbst Maßsystem (Rostilor),Tiefe

Abb. 22 Rostislav Komitov Das Haus meiner Selbst Umgang mit der Umgebung

Abb. 28 Rostislav Komitov Das Haus meiner Selbst Schilderung des Spielschemas

Abb. 23 Rostislav Komitov Das Haus meiner Selbst Hausaufteilung

Abb. 29 Rostislav Komitov Das Haus meiner Selbst Erläuterung des Spielschemas

Abb. 24 Rostislav Komitov Das Haus meiner Selbst Magische Zahlen

Abb. 30 Rostislav Komitov Das Haus meiner Selbst Spielvorgang,1.Schritt (Volumenverteilung)



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Abb. 31 Rostislav Komitov Das Haus meiner Selbst Spielvorgang, 2. Schritt (Volumenstoß)

Abb. 36 Rostislav Komitov Das Haus meiner Selbst Spielvorgang, 7. Schritt (Einfügen von Vegetation)

Abb. 32 Rostislav Komitov Das Haus meiner Selbst Spielvorgang, 3. Schritt (PochéBildung)

Abb. 37 Rostislav Komitov Das Haus meiner Selbst Spielvorgang, 8. Schritt (Ortsbildung)

Abb. 33 Rostislav Komitov Das Haus meiner Selbst Spielvorgang, 4. Schritt (Hinzufügung der Umrisse) Abb. 34 Rostislav Komitov Das Haus meiner Selbst Spielvorgang, 5. Schritt (Erschließung) Abb. 35 Rostislav Komitov Das Haus meiner Selbst Spielvorgang, 6. Schritt (Nebenfunktionen)

Abb. 38 Rostislav Komitov Das Haus meiner Selbst Spielschema Volumengeneration Auflistung der Subkategorien Abb. 39 Rostislav Komitov Das Haus meiner Selbst Spielschema Auflistung derVariationen der Subkate­ gorie Konstrukt



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Abb. 41 Rostislav Komitov Das Haus meiner Selbst Spielschema Auflistung derVariationen der Subka­ tegorie Inszenierung Abb. 42 Rostislav Komitov Das Haus meiner Selbst Spielschema Umgang mit der Umgebung Abb. 43 Rostislav Komitov Das Haus meiner Selbst Spielschema Ermittlung der Raumhöhen Abb. 44 Rostislav Komitov Das Haus meiner Selbst Spielschema Leserichtung der Räume Abb. 45 Rostislav Komitov Das Haus meiner Selbst Spielschema Schilderung der Stoßproblematik


II. INSPIRATION UNDVERGLEICHE


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1. Theoretische Beispiele 1.1 Van der Laan Zunächst muss sich der Definition des architektonischen Raumes genähert werden, mit der sich Dom Hans van der Laan besonders ausführlich auseinandergesetzt hat.7 Der Mensch ist nicht wie andere Lebewesen natürlicherweise mit allen lebensnotwendigen Dingen versorgt. Durch den Gebrauch seines Verstandes kann er die Gegebenheiten für sich nutzbar machen. Das Wohnhaus dient somit als Vervollständigung der Natur. Von innen ist das Haus für den Menschen ein Stück bewohnbare Umgebung. Die Elemente des Hauses entstammen dem unbegrenzten Massiv der Erde, die Wände des Hauses werden diesem entzogen, um der Natur ein begrenztes Stück Raum zu entnehmen. Zunächst müssen die für den Hausbau nötigen Materialien aus ihrem natürlichen Zusammenhang gelöst werden, um dann an

7. Dom Hans van der Laan: Der architektonische Raum. Fünfzehn

Lektionen über die Disposition der menschlichen Behausung, Leiden/ NewYork/Köln 1992.



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Abb. 46 Dom Hans van der Laan Abtei Sankt Benedictusberg,Vaals Klosterkirche, Innenansicht Richtung Norden Fotografie, Bertram, 11.03.2012


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einem anderen Ort ein neues tektonisches Gefüge zu ergeben, so dass schließlich das künstliche Ganze, das Haus, entsteht. Dieses soll die Versöhnung von Mensch und Natur bewirken. Die Architektur geht aus dem ursprünglichen Gegensatz zwischen dem horizontal orientierten Raum unserer Erfahrung und dem vertikal orientierten Raum der Natur hervor. Sie beginnt dort, wo der Mensch zur horizontalen Erdoberfläche vertikale Wände hinzufügt. Der vom Menschen geschaffene Raum vervollständigt den natürlichen Raum. Erstgenannten können wir zu unserem Erfahrungsraum in Beziehung setzen, gleichzeitig wird aber auch die Eingliederung des menschlichen Raumes in die Ordnung der Natur ermöglicht. Der in einer Höhle zurückgezogen lebende Mensch, flieht vor dem Raum der Natur, da er diesen nicht an seinWesen anpasst. Die spezifisch menschliche Behausung entsteht also nicht durch bloßes Aushöhlen des Erdmassivs, sondern durch das Abtrennen begrenzter Räume vom großen Raum der Natur mithilfe der massiven Form von Wänden. Um zu verhindern, dass diesem abgetrennten Raum die Erscheinung eines ausgehöhlten Massivs gegeben wird, muss sichergestellt werden, dass die


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Trennungsfläche zwischen dem begrenzten Raum und dem Massiv der Wand, dem Massiv zugeordnet bleibt, so dass die Form nicht vom Massiv auf den Raum übergeht, wie es bei der nicht architektonischen Höhle der Fall ist.8 Van der Laan betrachtet den aufrechten Pfeiler als erste architektonische Gegebenheit des Menschen. Durch die horizontale Verbreiterung dieses Pfeilers, entsteht die Wand als zweite architektonische Gegebenheit. Doch erst zwei Wände erschaffen den architektonischen Raum, der die dritte Gegebenheit bildet. Das Raumbild der Natur, also die Synthese von architektonischem und natürlichem Raum und das Raumbild der Erfahrung ergänzen sich vollständig. Das Raumbild des architektonischen Raumes, das inmitten des natürlichen Raumes liegt, kann als eine von Fülle umgebene Leere gedacht werden, da der architektonische Raum selbst durch massive Wände begrenzt wird. Der in der Mitte des natürlichen Raumes liegende Erfahrungsraum ist ebenfalls als eine Fülle zu verstehen, die von Leere umgeben ist, da dieser Raum selbst durch unsere körperliche Anwesenheit

8. Vgl.VAN DER LAAN 1992, S. 1-10.


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von innen bestimmt wird. Die Leere zwischen den Wänden wird mit dem Raum der menschliche Erfahrung gleichgesetzt. Die Wände des Hauses vermitteln zwischen den Erfahrungen des Menschen und dem unbegrenzten äußeren Raum der Natur. Unsere Erfahrungen füllen die Leere des architektonischen Raumes, dieser wiederum wurde der Leere des ihn umgebenden natürlichen Raumes entnommen. Schließlich bleiben die Gegensätze Innen und Außen übrig, die als Ergebnis des Hausbauprozesses zusammengebracht werden müssen. Das Innen entsteht durch Abgrenzung und somit wird gleichsam ein Außen gebildet, das sich wiederum auf das Innen bezieht.9 Augenscheinlich beruft sich der Architekt auf die von van der Laan beschriebenen Definitionen der Bildung des architektonischen Raums. Auch ihm geht es um die Synthese von Mensch und Natur. Der Mensch erschafft sich künstlich eine Behausung, doch diese muss als ein Fortführen natürlicher Prozesse gedacht werden. Im Haus des Architekten entstand ein Synthese zwischen Mensch und Natur. Schon das Material

9. Vgl. VAN DER LAAN 1992, S. 11-19.


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verbindet die natürliche und die menschliche Seite. Wie van der Laan, sucht der Architekt zunächst nach den Grundlagen der Raumentstehung. Grob entstehen Räume, die der Masse der Natur entnommen werden, eine Form erhalten und ein Gefüge bilden. Plötzlich ergibt sich etwas zwischen der Masse, die wiederum zwischen der Natur und der neu entstandenen Leere vermittelt. Das Haus des Architekten spielt mit diesen Faktoren, Masse bleibt erlebbar und die Leere wird durch den Menschen und seine Erfahrungen zum Leben erweckt. Wichtig, in Bezug auf die Analyse der Arbeit des Architekten, ist auch die Aufteilung des menschlichen Lebensraums nach van der Laan in Zelle, Hof und Domäne. Der Bewegungsraum des Hofes dient der intimen Zelle als Außen. Verglichen mit der weiten Domäne wird dieses Außen jedoch wieder zu einem Innen.10 Der Architekt stellte Überlegungen zur Verteilung der Massen an, zur Interaktion untereinander und auch mit der Umgebung. Zunächst wurde eine Zerstreuung und anschließende Verzahnung von Volumen

10. Vgl.VAN DER LAAN 1992, S. 29f.


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angedacht. Dann konzentrierten sich die Volumen zu einem Gefüge, das nun ein Zentrum hatte, genauso aber auch ein abgeschlossenes Äußeres. Schließlich fügte der Architekt beide Varianten zu einem Gebilde zusammen, so dass eine Art aufgelockerte Verzahnung mit gleichzeitiger Zentralität und Öffnung nach außen entstand. Van der Laan beschäftigte sich zudem, wie auch der Architekt, mit Maßsystemen, Symmetrie, den qualitativen Eigenschaften einer Form und dem Verhältnis dieser Formen zueinander und in einem Gesamtgefüge. Anschaulich zeigen sich die angewandten Untersuchungen in der Klosterkirche von Vaals. Hierbei handelt es sich um einen genordeten basilikalen, dreischiffigen und langrechteckigen Raum ohne Querschiff, der 1967 fertig gestellt wurde (Abb. 46) .11 Der Besucher betritt die Kirche im linken oder rechten Seitenschiff von Süden. Der Boden besteht aus fein-samtigem Estrich. Die Seitenschiffe laufen auf gleicher Höhe zu drei Seiten um das mittlere Hauptschiff herum. Der Boden des

11. Vgl. Alberto Ferlenga/Paola Verde: Dom Hans van der Laan.Works and words, Amsterdam 2001, S. 54.


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Mittelschiffs senkt sich von Süden aus leicht Richtung Norden und Altar ab, so dass dort eine Stufe hinauf in die Seitenschiffe führt. Der gesamte Raum besteht neben dem erwähnten Estrich aus weiß gestrichenen Ziegeln und hellgrauem Beton. Hinzu kommen die braunen Holzdecken und die bläulich gestrichenen Kirchenbänke. Ziegelpfeiler trennen die unbelichteten Seitenschiffe vom hellen Hauptschiff. Ein an allen vier Wänden durchgezogener Betonsturz leitet im Hauptschiff zur mit Öffnungen durchbrochenen Obergadenzone hin. Auf den Sturz folgt eine Schicht Ziegel, dann wieder ein durchgezogener Betonstreifen, darüber wieder Ziegelpfeiler, zwischen denen die Fensteröffnungen frei gelassen sind. Darüber findet sich ein weiterer durchgezogener Betonsturz und schließlich wieder Ziegel, die bis unter die Decke reichen. Die Fensterscheiben sind völlig durchsichtig, doch trotzdem geht eine möglicherweise gewünschte Sakralität nicht verloren, da die Fenster so hoch sitzen, dass einerseits nur indirektes Licht einfällt (der Blick geht Richtung Norden) und andererseits nur einige sich ruhig im Wind bewegende Baumkronen erkennbar sind. Durch die bereits erwähnte Absenkung des Mittelschiffs, durch höhere


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Raumproportion und durch die ausschließliche Belichtung in diesem Bereich, erhält das Mittelschiff Eigenständigkeit und wird hervorgehoben. Gleichzeitig entsteht ein Kontrast zwischen dem hellen Innern und den dunkleren äußeren Nischen, die sich schützend darum legen. Auf den ersten Blick wird ein symmetrischer und vielleicht unspektakulärer Raum vermutet. Wie entsteht aber diese ruhige und gleichzeitig spannungsreiche Wirkung? Bei genauerem Hinsehen zeigt sich die Anwendung der von van der Laan untersuchten Verhältnissysteme. Die subtilen Veränderungen der Höhen und das Spiel mit hell und dunkel wurden bereits erwähnt. Nicht sofort sieht der Betrachter aber, dass sich die Abstände zwischen den Pfeilern verändern. Zur Mitte hin nehmen sie zu, so dass beinahe eine quadratische Form zwischen den Pfeilern entsteht, zu den Seiten nehmen sie zu hochrechteckigen Formen ab. Das gleiche geschieht bei der Fensterzone. Allerdings sind dies zwei von einander unterschiedliche Systeme, die sich symmetrisch nicht entsprechen. Ein oberer Pfeiler korrespondiert also nicht mit einem der unteren. Nebeneinander existieren also verschiedene, in sich geschlossene Systeme, die trotzdem ein


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harmonisches Gefüge ergeben. Beispielsweise folgen auch die Deckenlampen des Mittelschiffs einem gleichmäßigen System, die Lampen der Seitenschiffe folgen einem anderen. Ein auf den ersten Blick ruhig erhaben scheinender Raum, besteht eigentlich aus einem subtil kontrastreichen System mit Unterkategorien. 1.2 Cage John Cage als Musiker oder Komponisten im gewöhnlichen Sinne zu bezeichnen, wäre wahrscheinlich eine Beleidigung. Er experimentierte mit Klängen und Nicht-Klängen und veränderte die menschliche Wahrnehmung. Er bewegte sich weg von der Tonalität und hin zu Geräuschen. Struktur (der Aufbau eines Werks oder Ereignisses) und Material (in diesem Fall Klänge) können seiner Meinung nach verbunden werden oder entgegengesetzt sein. Das Material kann man organisieren, die Form nicht. Struktur kann zudem nicht improvisiert werden. Für ihn ist Stille genauso bedeutsam wie Klang. Struktur wird entweder mit Stille oder Klängen verdeutlicht. Stille ist aber auch Klang. Wenn es also nur


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Klänge gibt, bedarf es keiner Struktur mehr. Das Nichts muss sich wie die Stille selbst aufheben. Klang und Stille auszutauschen bedeutet vom Zufall abzuhängen. Solange es Struktur und Methode mit Geistesbezug gibt, bilden sich Menschen ein, die Zeit zu beherrschen. Wenn man sich aber vom Maß der Zeit befreit, kann man die Struktur nicht mehr ernst nehmen. Cage bediente sich des I Ging, um Zufallsoperationen durchzuführen.12 Der Mensch baut sich ein Regelsystem auf, um einfacher und vielleicht sinnvoller oder weniger ängstlich zu leben. „Es kann, es muss Ereignisse geben, die sich, sofort oder nacheinander, ohne eine Verbindung entfalten. Wenn man diesen Standpunkt akzeptiert, beschäftigt man sich nicht länger mit Wiederholungen und auch nicht mit Variation.“13 Man braucht sich also nicht länger mit Wiederholungen

12. Vgl. John Cage/Daniel Charles: Für die Vögel. Gespräche mit Daniel Charles, Berlin 1984, S. 29-39. 13. Ebd., S. 42.


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zu beschäftigen, wenn man den Zufall akzeptiert. Der Zufall beinhaltet gleichzeitig gegenseitige Durchdringung und Nicht-Behinderung. Simultaneität entsteht, etwas verschwindet, ist gleichzeitig aber auch noch da. Das Nächste wird zum Entferntesten. Wenn der Zufall akzeptiert wird, verschwinden gleichsam Vorurteile über eine gewohnte oder anerzogene Ordnung. Nach Cage geht nichts jemals verloren, es gibt ein bewusstes Pendeln zwischen Leben und Tod. Das Leben wird aber von den meisten Menschen vorgezogen, so dass eine gewisse Ordnung oder Struktur akzeptiert werden muss. Cage behält von der Organisation nur so viel wie er zum Leben braucht. Menschen handeln gewöhnlich anders. Sie organisieren alles Unnützliche, wie zum Beispiel die Musik und verzichten deshalb darauf, das Nützliche zu organisieren. Zeit muss so belassen werden können wie sie ist, ohne sie zu strukturieren.Viele Ereignisse müssen miteinander verbunden werden, von denen jedes seine eigene Zeit hat und die sich nicht behindern, aber sich gegenseitig durchdringen können. Der Augenblick ist immer


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eine Wiedergeburt.14 Cage versucht nie etwas abzulehnen. Emotionen, Geschmack und das Gedächtnis sind für ihn aber zu stark mit dem Ego des Menschen verbunden. Emotionen zeigen innere, der Geschmack äußere Betroffenheit. Menschen dürfen sich nicht von Emotionen beherrschen lassen. Cage ist nicht gegen Emotionen, sondern gegen die Pflicht, Gefühle haben zu müssen. Von den Emotionen ist nach Cage die Ruhe am wichtigsten. Das Ego muss geöffnet werden, weg vom Objekt, hin zum Prozess, um verschiedene Interpretationsmöglichkeiten zuzulassen. Das menschliche Ohr ist für jegliche Töne offen, nicht nur für Musik, die als schön empfunden wird, sondern vor allem für Musik, die das Leben selbst ist.15„Wenn wir akzeptieren, all das außer Acht zulassen, was sich Musik nennt, würde das ganze Leben zur Musik.“16 Für Cage wirken Klänge deshalb abstrakt, weil man sich mit

14. Vgl. CAGE/CHARLES 1984, S. 44f. 15. Vgl. ebd., S. 55-65. 16. Ebd., S. 65.


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dem Hören ihrer Beziehungen zufrieden gibt, anstatt den Klängen an sich zuzuhören. Klänge haben kein Ziel. Musik ist das Leben der Klänge. Es entsteht die Kontinuität der Diskontinuität. Die Dinge durchdringen sich, behindern sich nicht, bleiben sie selbst und bilden die Zahl 1, die somit eine Pluralität in sich vereint. Cage betrachtet die reale Welt als einen Prozess, nicht als ein Objekt. Denn das, was wir wahrnehmen hängt nicht von uns ab, wir sind davon abhängig. Die als stabil empfundene Logik ist in Wahrheit nur ungenau und beschreibt Vorgänge unzureichend.17 Der Architekt ließ sich beim Entwurfsprozess von Gedanken Cages leiten. Cage setzt den Zufall ein, um an das Absichtslose, das Wesen der Dinge heranzukommen. Dies scheint banal, wird als kompositorisches Mittel aber selten angewandt. Der Zufall scheint sinnlos und somit das geeignete Mittel, um die eigentlichen Klänge wahrzunehmen. Denn nicht die Thematik oder die Struktur sind interessant, sondern die unmittelbaren Klänge an sich. Die Musik ist in ihrer Grundform sinnlos, was sehr positiv verstanden

17. CAGE/CHARLES 1984, S. 86-90.


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werden kann. Für Cage gibt es keine Stille, Klang und Nicht-Klang sind eins. Würde die Wahrnehmung durch den Menschen enden, entstünde Stille. Durch die Anwesenheit des Menschen entstehen Orte. Somit gibt es doch immer einen Urheber. Cage nähert sich seinem Ziel, kann es aber nicht gänzlich erreichen. Die Suche nach der Sinnlosigkeit wird zum Sinn. Trotzdem gibt es immer einen ordnenden Charakter, jemanden der dem Zufall einen Rahmen gibt. Es findet eine Annäherung statt und dem Entwerfenden wird ein Teil der Entscheidung abgenommen.Wichtig ist, dass der Urheber bestehen bleibt. Cage und der Architekt bedienen sich als Schöpfer also des eingeschränkten Zufalls, bei dem bestimmte Parameter (Rostilor) bekannt sind. Cages Klänge sprechen den Zuhörer dennoch direkt an, da die Parameter für den Außenstehenden nicht bekannt sind. Es entstehen magische Geschichten, da die Komposition (Zufall) nicht lesbar ist. So beginnt der Zuhörer eigene Geschichten zu erfinden. Genauso verhält es sich auch mit dem Haus des Architekten, denn der Zufall arbeitet mit Parametern, die einen bestimmten Urheber haben. Daraus entwickelt sich etwas bedingt Zufälliges, das zurückführt zu


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den Grundelementen eines Zustands und dann doch wieder auf das Subjekt wirkt und neue Geschichten entstehen lässt. Cages Klangexperimente lassen sich aber auch konkreter auf das Haus des Architekten übertragen, denn Klänge können als Volumen gesehen werden. Ein Klang innerhalb einer Stille ist ein Ort mit Bedeutung, obwohl er eigentlich keine Bedeutung hat oder wir sie nicht verstehen. Zwei aufeinanderfolgende Klänge bilden, wie zwei massige Volumen, ein Dazwischen.Wie Cage, denkt auch der Architekt sein Gebilde als Kontinuum, als etwas Gleichzeitiges. 1.3 Le Corbusier Le Corbusier zufolge mussten Zeichen erfunden werden, die den Tönen entsprechen, um Musik festlegen zu können. So wurden die Töne aber auch ihrem ununterbrochenen Zusammenhang beraubt. Gleichsam sollte auch das Bauen durch ein der Notenschrift ähnliches lineares Maßsystem erleichtert werden. Menschliche Maße wie Elle, Finger, Fuß und Schritt dienten als Hilfsmittel zur Errichtung von Bauten und zur Einteilung in ein System. Der menschliche Körper


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folgt laut Le Corbusier einer anmutigen Mathematik. Dieses eigene und natürliche Maß wird als Quelle der Harmonie angesehen, die der Mensch als schön empfindet. Das heißt, die vom Menschen empfundene Schönheit beruht auf dem innersten Verständnis des eigenen menschlichen Maßes. Anders gesagt, wird das nicht menschlich-maßvoll Gestaltete als unschön empfunden? Schönheit wäre demnach nicht absolut messbar, könnte nicht allgemeingültig erfasst werden. Ist das Ebenmaß aber verstanden, kann der Mensch Schönes kreieren.18 „Die Natur bedeutet Ordnung und Gesetz, unbegrenzte Einheit und Mannigfaltigkeit, Feinheit, Kraft und Harmonie [...].“19 Da die Natur einer mathematisch nachvollziehbaren Ordnung folgt, sind Meisterwerke der Kunst immer im Einklang mit der Natur zu sehen.20 Le Corbusier entwickelt erste Proportionsregeln, die aus einer Reihe Goldener Schnitte bestehen und deren Maße

18. Vgl. Le Corbusier: 1. Der Modulor. Darstellung eines in der Architektur und Technik allgemein anwendbaren harmonischen Maßes im menschlichen Maßstab, 3. Auflage, Stuttgart 1978, Bd. I, S. 15-19. 19. Ebd., S. 25. 20. Vgl. ebd., S. 30.


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er vielfach in europäischen Wohnhäusern bestätigt sieht. 173 Zentimeter gelten für ihn als französisches Idealmaß. In England werden sechs Fuß als Ideal angenommen, was ungefähr 183 Zentimetern entsprechen. Le Corbusier rechnet seine Maße um und kommt zu folgendem Ergebnis:21 In Zentimetern stehen 43, 70 und 133 in Beziehung des Goldenen Schnitts. 43 + 70 ergeben 113 oder 113 – 70 ergeben 43. 113 + 70 sind 183, 113 + 70 + 43 ergeben 226. Diese drei Maße (113/183/226) sind Merkmale des Raumes, den ein 183 Zentimeter großer Mensch einnimmt. Das Maß 113 liefert den Goldenen Schnitt 70 und führt zu einer ersten Reihe, die Le Corbusier die rote Reihe nennt: 4 – 6 – 10 – 16 – 27 – 43 – 70 – 113 – 183 – 296 usw. Das Maß 226 (also 2 mal 113), das Doppel, liefert den Goldenen Schnitt 140/86 und führt zur zweiten, der blauen Reihe: 8 – 13 – 20 – 33 – 53 – 86 – 140 – 226 – 366 – 592 usw. Einige dieser Maße hingen für Le Corbusier in charakteristischer Weise mit der menschlichen Gestalt zusammen. Der Modulor

21. Vgl. LE CORBUSIER 1978, S. 48-56.


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war entstanden.22 „Der Modulor ist ein Maßwerkzeug, das von der menschlichen Gestalt und der Mathematik ausgeht. Ein Mensch mit erhobenem Arm liefert in den Hauptpunkten der Raumverdrängung – Fuß, Solarplexus, Kopf, Fingerspitze des erhobenen Arms – drei Intervalle, die eine Reihe von Goldenen Schnitten ergeben, die man nach Fibonacci benennt. Die Mathematik andererseits bietet sowohl die einfachste wie die stärkste Variationsmöglichkeit eines Wertes: die Einheit, das Doppel, die beiden Goldenen Schnitte.“23 Der Modulor beschreibt nach Le Corbusier Längen, Flächen und Körper, er legt überall den menschlichen Maßstab an, bietet eine unendliche Anzahl von Kombinationen und sichert die Einheit in der Verschiedenheit.24 Ziel war es mit Anwendung des Modulors variantenreiche Produkte und 22. Vgl. LE CORBUSIER 1978, S. 65. 23. Ebd., S. 55. 24. Ebd., S. 92.


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Wohnungen für unterschiedliche Menschen harmonisch zu gestalten. Nur der Architekt kann nach Le Corbusier den Einklang zwischen dem Menschen und seiner Umgebung herstellen.25 Für ihn muss Architektur ebenso sinnlich und körperlich wie auch geistig sein.26 Im Gegensatz zu Cage, liegt der eigentliche Schlüssel des Lebens für Le Corbusier in der Ordnung.27 Doch gerade Cage will durch Akzeptanz der Unordnung zum eigentlichen Kern der natürlichen Ordnung vorstoßen. Dass Le Corbusier in vielen Gebäuden Maße des Goldenen Schnittes fand, ist nicht verwunderlich, denn auch vorherige Generation wandten menschliche Maße und Goldene Schnitte an. Le Corbusier bewertet die Maße allerdings neu. Für ihn ist das menschliche Maß in der Renaissance überschattet von kosmisch-philosophischen Gedanken. Er war aber ein Praktiker, der physisch-sinnlich, theoretisch und sozialistisch dachte.28 25. Vgl. LE CORBUSIER 1978, S. 109-113. 26. Vgl. ebd., S. 61. 27. Vgl. ebd., S. 77. 28. Vgl. ebd., S. 150.


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Le Corbusier hat den Goldenen Schnitt gewählt, weil dieser für besonders harmonische Proportionen steht und gleichzeitig eine Regelhaftigkeit der natürlichen Schönheit beschreibt. Um den Menschen darin einzupassen, musste er dessen Maße künstlich auf richtige Verhältnisse bringen. Wenn das Ziel ist, Standardmaße zu schaffen, die zusätzlich einem Schönheitsidealmaß entsprechen, hat Le Corbusier sein Ziel erreicht, auch wenn hierfür menschliche Maße geschönt wurden. Da Menschen bekanntlich unterschiedlich bemessen werden, sind standardisierte Maße, die allen gleich nützlich sind, schwierig umzusetzen. Um ein internationales Maß zu entwickeln, erhöhte Le Corbusier seine Werte, da die Anpassung von klein nach groß einfacher schien als umgekehrt. Bei der Entwicklung von Wohnmaschinen oder Planstädten, ist ein allgemeingültiges Standardmaß natürlich trotzdem sinnvoll. Die Ähnlichkeiten zum Haus des Architekten sind unübersehbar. Der Architekt wollte hier jedoch kein Standardmaß schaffen, das einigen Menschen dient und anderen nicht. Er vermaß seinen Körper und entwickelte daraus ein individuelles und angepasstes Entwurfssystem.


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Mit einigen Maßen könnten 173 Zentimeter große IdealFranzosen wohl Probleme haben. Festzuhalten bleibt aber die Suche nach einem sinnvollen natürlichen, also auch menschlichen Maß, das aus der eigenen natürlichen Harmonie entsteht. Zwangsläufig richten sich diese Prozesse gegen Standardisierungen. Der heutige Stand der Bauindustrie lässt solche Individualmaße durchaus zu. Doch davor steht die Selbstbetrachtung, die den meisten Menschen zu aufwendig scheint. 1.4 Vitruv/Alberti/Palladio Da sich die Grundbedürfnisse des Menschen und seine Fähigkeit zur sinnlichen Wahrnehmung nicht verändern, lohnt der Blick in die Vergangenheit. Genauer zu Vitruv, dessen de architectura29 das einzig erhaltene antike Schriftwerk zur Baukunst ist. Auch seine Nachfolger in der Renaissance beschäftigten sich mit den technischen und künstlerischen

29. Vitruv: Zehn Bücher über Architektur, hrsg. von Curt Fensterbusch, Darmstadt 1964 (Nachdruck Darmstadt 1991).


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Bereichen der Architektur, für diese Arbeit ist aber ihr Verständnis der Schönheit wichtiger. Nach Vitruv verbinden sich im Beruf des Architekten Wissenschaft und Handwerk. Doch weder Begabung ohne Schulung, noch Schulung ohne Begabung, können seiner Meinung nach einen Meister hervorbringen. Architekten sollten auch in folgenden Disziplinen unterrichtet sein: Rhetorik/Schreiben, Zeichnen, Geometrie, Geschichte, Philosophie, Musik, Medizin (Gesundheit), Recht und Astronomie. Durch die Vereinigung einer Vielzahl an Disziplinen, stellt Vitruv die Architektur auf die höchste Stufe der Wissenschaften.30 Grundbegriffe der Baukunst sind für ihn Maß, Komposition, Proportion, Harmonie, Dekor aber auch Wirtschaftlichkeit.31 Er macht sich Gedanken zu Proportionen von geometrischen Grundelementen und ihrer Anwendbarkeit auf den Bauprozess. Alle Glieder eines Baus sollen aus einem Grundmaß entstehen. Diese Maße resultieren nach Vitruv aus den Maßen des Menschen.

30. Vgl.VITRUV 1964/1991, S. 23-31. 31. Vgl. ebd., S. 39.


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Mit ausgestreckten Gliedern und dem Bauchnabel als Mittelpunkt, entsteht um den Menschen herum ein Kreis. Hieraus lässt sich natürlich ebenso ein Quadrat entwickeln.32 Neben Gedanken zur Anpassung der Wohnhäuser an das jeweilige Klima und die genaue Analyse des in Frage kommenden Grundstücks, empfiehlt Vitruv die Trennung der privaten und öffentlichen Räume eines Hauses. Zudem müssen diese immer den Tätigkeiten oder der Nutzung der Bewohner entsprechen.33 „Eine große Sache ist die Architektur, und es kommt nicht allen zu, eine so gewaltige Sache in Angriff zu nehmen. Einen hohen Geist, unermüdlichen Fleiß, höchste Gelehrsamkeit und größte Erfahrung muss jener besitzen und vor allem eine ernste und gründliche Urteilskraft und Einsicht haben, der es wagt, sich Architekt zu nennen.“34

32. Vgl.VITRUV 1964/1991, S. 137ff. 33. Vgl. ebd., S. 283. 34. Leon Battista Alberti: Zehn Bücher über die Baukunst, hrsg. von M.

Theuer,Wien 1912 (Nachdruck Darmstadt 1991), S. 515.


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Nach Alberti muss ein Architekt Leidenschaft für die Baukunst empfinden und Freude an der Bauanalyse und am Entwerfen haben.35 Am Anfang steht für ihn die gedanklich konzipierte und dann auf Materie übertragene Zeichnung, die von einem emotional und rational gebildeten Menschen ausgeführt wird. Alberti nennt sechs Elemente, die bestimmend für die Baukunst sind: Ort, Baustelle, Grundriss, Mauer, Decke und Öffnung. Zudem soll die Architektur vor allem zweckmäßig, dauerhaft und schön sein.36 Zu großen Bauten gehören ihm zufolge auch große Glieder. Jeder Teil soll nicht größer als sein Zweck, aber auch nicht kleiner als sein Wert sein. Die einzelnen Teile sollen in maßvoller Harmonie zueinander stehen.37 Alberti erkennt eine sich in Schönheit immer wieder überbietende Natur. Seiner Meinung nach dient die Schönheit sogar als Macht gegen Zerstörung. Alle Zerstörungen von Menschenwerk in jeglichen Kriegen beweisen leider das Gegenteil. Hier stellt sich die Frage, ob

35. Vgl. ALBERTI 1912/1991, S.12. 36. Vgl. ebd., S. 20ff. 37. Vgl. ebd., S. 48f.


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jeder diese Schönheit wahrnimmt und ehrfürchtig wird oder ob man die Schönheit erkennen und schätzen lernen muss. Selbst eine fundierte Ausbildung scheint nicht ausreichend zu sein. Wie Alberti seinen eigenen Drang nach Erforschung der Architektur beschreibt, bedarf es wohl vor allem einer tiefen, unerklärlichen und unaufhörlichen Leidenschaft, um Schönheit zu erkennen und zu bewahren. Alberti definiert Schönheit als eine gesetzmäßige Übereinstimmung aller Komponenten eines Gegenstands, wo weder etwas hinzugefügt noch weggenommen werden kann, ohne das Objekt weniger anmutig zu gestalten.38 Für ihn besteht jeder Körper aus einzelnen Gliedern, die in einer ursprünglichen oder natürlichen Vollkommenheit zueinander angeordnet sind. Wenn ein Teil verändert wird, ist die Gesamtheit zerstört. So scheint es ein inneres Gefühl für Schönheit zu geben, die nach Alberti aus der Zahl, der Beziehung und der Anordnung besteht, die zusammen das Ebenmaß ergeben. Das Innerste des Menschen wird durch das Ebenmaß angeregt, es steht in einer Verbindung mit dem Gefühl und

38. Vgl. ALBERTI 1912/1991, S. 292f.


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der Vernunft.39 Auch Palladio wählteVitruv als seinen Lehrmeister. Er vermaß und zeichnete antike Bauten und fand immer ein für ihn schönes Ebenmaß.40 Seiner Meinung nach ist die Architektur von der Natur inspiriert und duldet deshalb nichts, was dieser fremd ist.41 Er entwickelte Proportionsregeln für die einzelnen Bauglieder. So soll beispielsweise die Raumhöhe bei flachen Decken gleich der Raumbreite sein. Solche Regeln dienen als Orientierung, die tatsächlichen Höhen und Breiten der Bauelemente müssen sich aber jeweils an das zu errichtende Bauwerk anpassen. Palladio arbeitet mit Grundmaßen und deren Vervielfältigungen und Teilungen.42 Für den Vergleich mit dem Haus des Architekten ist zunächst das Streben nach Schönheit wichtig. Es geht nicht um eine allgemeingültige Definition von Schönheit, sondern darum,

39. Vgl. ALBERTI 1912/1991, S. 491f. 40. Vgl. Andrea Palladio: Die vier Bücher zur Architektur. Nach der

AusgabeVenedig 1570, hrsg. von Andreas Beyer, Zürich 1983 (Nachdruck Zürich, München 1993), S. 17. 41. Vgl. ebd., S. 82. 42. Vgl. ebd., S. 86-90.


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dass Menschen und besonders Künstler in einer gewissen Weise nach ihr streben. Alle Maß- oder Ordnungssysteme des Menschen resultieren letztlich aus der Beschaffenheit des Menschen selbst. Der Mensch kann sich als Teil einer größeren Ordnung sehen, die er zwangsläufig als angenehm empfindet. Er entdeckt nicht die schöne Stimmigkeit der Natur, sondern blickt auf sich selbst und ist zufrieden. Da der Mensch selbst der Ausgangspunkt ist, wird er alles, was sich im Kern tatsächlich auf ihn bezieht, als schön wahrnehmen. Die Wahrnehmung der Schönheit bleibt subjektiv, denn der Mensch muss für ihr Erkennen sensibilisiert werden. Für die Schönheit ist es irrelevant, ob sie wahrgenommen wird oder nicht. Letztlich geht es um das Erkennen des Ichs, um die Freuden der eigenen geschärften Wahrnehmung, die von Menschen als erstrebenswert und angenehm empfunden werden kann. Ein genauer Blick auf sich selbst und die Umgebung führte im Haus des Architekten zu einem Ordnungssystem, das in natürlicherweise mit dem Vorhandenen spielt. Schönheit ist demnach die Sehnsucht nach einer persönlichen Stimmigkeit, das Fortführen einer Ordnung, von der der Mensch bestimmt ist, die er aber auch


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erst erkennen lernen muss. Ebenso wichtig wie ein inneres Bild eines Entwurfs, das in den Gedanken des Architekten reifen muss, ist ein Ordnungsprinzip zur maßvollen Umsetzung. Ein weiterer Vergleich zeigt sich auch im Hinblick auf Albertis Schaffenspraxis. Als Architekt war er Autodidakt. Das Grab des Florentiner Bankiers Giovanni Rucellai in der Krypta seiner Familiekapelle in San Pancrazio in Florenz, zeigt Albertis collagenhafte Art des Entwerfens. Höchst unterschiedliche Motive (Zitate verschiedener Epochen) wurden hier zusammengefügt. In seinen humanistischen und rhetorischen Studien lernte Alberti, die klassischen Autoren zu imitieren und ihre Literatur in seine eigenen Werke einfließen zu lassen.43 Antike Werke sollten jedoch niemals kopiert, sondern durch Veränderungen dem eigenen Werk angepasst werden. Die aus ihrem ursprünglichen Zusammenhang

herausgelösten

unterschiedlichen

Versatzstücke, werden durch Alberti in einen neuen

43. Vgl. Anke Naujokat: Ut rhetorica architectura. Leon Battista Albertis architektonische Collagetechnik, in: Candide 2 (2010), S. 76ff.


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Kontext gebracht und somit auch in ihrer Bedeutung verändert. Um ein schönes Kunstwerk zu erschaffen, muss zur Zeit Albertis nicht auf willkürliche Vorstellungskraft zurückgegriffen werden, sondern auf eine rationale Auswahl von Vorbildern.44 Es gibt keine Kunstwerke ohne Vorbilder oder Inspiration, nur Künstler die dies behaupten. Die Einbettung des eigenen Werks in den Kontext der Werke vorangegangener Generationen ist unumgänglich und notwendig. Zeit und Mode spielen keine Rolle. Die gesamte geschaffene Kunst kann als eine Masse betrachtet werden, aus der ein Künstler schöpfen kann. Natürlich kann auch aus der nicht vom Menschen geschaffenen Umwelt geschöpft werden. Hier geht es jedoch nicht um das Kopieren, sondern darum, den Kern einer Kreation verstanden zu haben. So kann der Architekt ebenso von Albertis Definitionen der Schönheit oder auch von Palladios Experimenten zu Raumproportionen und Deckenhöhen angeregt worden sein. Trotzdem wird er die konkrete Anwendung der damaligen Zeit nicht übernehmen.

44. Vgl. NAUJOKAT 2010, S. 84-87.


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Derselbe Ausgangspunkt führt zu anderen, an die jeweilige Zeit angepassten Ergebnissen. Denn die oberflächlichen Elemente des Lebens, wie Repräsentation oder Schmuck, verändern sich und führen zu einem jeweils anders aussehenden Bild, doch die wesentlichen Elemente sind gleichbleibend. Um uns selbst zu verstehen, schützen und erforschen wir die Werke der Vergangenheit. Palladio macht dies in seinen Studien zu antiken Bauten vor. Derjenige, der die Vergangenheit nicht analysiert und verstehen lernt, kann keine auf die Gegenwart bezogene Kunst erschaffen. Der Antrieb des Menschen bleibt die Neugierde. Das Empfinden von Schönheit lässt sich womöglich auf unspektakuläre emotionale Verknüpfungen zurückführen, doch gerade diese erwecken die Neugier und lassen den Menschen unaufhaltsam streben. Der Mensch denkt, sich rational erklären zu können. In Wahrheit können wir uns gegen vieles nicht wehren, obwohl wir wissen, dass eine andere Vorgehensweise sinnvoller wäre. Nicht der Mensch hat seine Emotionen im Griff, ein Großteil der Verhaltensweisen ist vorbestimmt. So dient die Hinwendung zur Erkennung der Schönheit auch als natürlicher Selbsterhaltungstrieb des


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Menschen. Alberti kam zugute, dass er nicht als Architekt ausgebildet worden war. Durch sein collageartiges Schreiben, hatte er gelernt,Vorlagen sinnvoll für sein eigenesWerk zu nutzen und in einem völlig andersartigen Zusammenhang zu verbinden. Diese Herangehensweise ist in der Architektur genauso gut anwendbar. Wichtig ist hier, dass plötzlich architektonische Geschichten entstehen, die vorher nicht möglich gewesen wären. Dieses Zusammenfügen von Geschichten zu einer bisher ungesehenen und verblüffenden Architektur, die trotzdem unverkennbar ihre Herkunft zeigt, entspricht den Entwurfsprinzipien des Architekten. 1.5 Tanizaki „Seit dem ersten Film, Flavour of Green Tea Over Rice, war ich fasziniert vom japanischen Lebensraum und jenen Schiebetüren, die sich weigern, den Raum zu durchtrennen und die sanft auf unsichtbaren Schienen gleiten. Denn wenn wir eine Türe öffnen, verändern wir die Orte auf gar schnöde Weise. Wir verletzen ihre volle Ausdehnung und fügen ihnen



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Abb. 47 Mimura Clan Schloss Takamatsu (16. Jh.) Innenraum http://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/e/e1/TakamatsuCastle-Building-Interior-M3488.jpg; (28.07.2012)


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ob der schlechten Proportionen eine unbesonnene Scharte zu. Wenn man es recht bedenkt, gibt es nichts Hässlicheres als eine offene Tür. Im Zimmer, auf das hin sie sich öffnet, führt sie gewissermaßen einen Bruch herbei, wirkt sie wie ein provinzieller Störfaktor, der die Einheit des Raumes vernichtet. Im angrenzenden Zimmer erzeugt sie eine Einbuchtung, einen gähnenden und gleichwohl sinnlosen Riss, verloren auf einem Stück Wand, die lieber ganz gewesen wäre. In beiden Fällen beeinträchtigt sie die Ausdehnung ohne anderen Gewinn als die Freiheit, von einem Zimmer ins andere zu gelangen, die doch durch ganz andere Mittel gewährleistet werden kann. Die Schiebetür hingegen umschifft die Klippe und würdigt den Raum. Ohne dessen Gleichgewicht zu verändern, erlaubt sie eine Verwandlung. Wenn sie sich öffnet, kommunizieren zwei Orte, ohne sich gegenseitig zu verletzen.Wenn sie sich schließt, gibt sie jedem seine Integrität zurück. Teilung und Wiedervereinigung geschehen ohne Invasion. Das Leben in diesen Räumen ist ein ruhiger Spaziergang, während es bei uns mit einer langen


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Reihe von Übertretungen einhergeht.“45 Die Schiebetür als architektonisches Element genügt, um zu verdeutlichen, wie feinfühlig das alte Japan mit der Erschaffung und den Beziehungen von Räumen umging. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts adaptierte Japan westliche Lebens- und Bauvorstellungen, ohne diese mit Bedacht an die eigene Kultur anzupassen. Paradoxerweise bezogen sich gerade einige Vertreter des Neuen Bauens in der Schlichtheit und Funktionalität auf japanische Vorbilder (Abb. 47). Schon im 19. Jahrhundert beschrieben europäische Beobachter die Leere in japanischen Wohnungen, wo Möbel zu fehlen schienen. Gerade diese Leere (Stille) ist von elementarer Bedeutung für das Verständnis vom Umgang mit dem Raum, in dem Bewegung und Durchquerung möglich sind. Durch die raumbildenden Elemente, muss sich der Benutzer zudem anpassen. Der Raum wird nicht bloß möbliert, die Benutzung ist demnach nicht exakt

45. Muriel Barbery: Die Eleganz des Igels, München 2008, S. 167f.


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determiniert. Raum und Benutzer bilden eine Einheit. Die Reduzierung wurde als Merkmal der Überlegenheit gesehen. Im Westen finden sich dagegen viele nutz- und sinnlose Gebrauchsgegenstände und Verhaltensweisen, die aus einer anderen Zeit übrig geblieben sind oder als luxuriöses Statussymbol gelten. In Europa stellt man seine Kunstwerke protzig zur Schau, in Japan werden die wertvollsten Dinge versteckt. Im Ganzen ist die japanische Kunst schlicht und rein, doch bis in die kleinsten Details kostbar ausgestaltet.46 Traditionell findet sich in Japan der Holzbau, vor allem der Fachwerkbau. Verschiebbare Türen und Wände können Innen- und Außenraum miteinander verbinden. Das traditionelle japanische Haus kann als einfach, lieblich, rein, maßvoll, fein, zurückhaltend, oder natürlich beschrieben werden. Einige traditionelle europäische Bauten könnten dagegen als kompliziert, prächtig, gewaltig, großartig, überwältigend und monumental bezeichnet werden. Der architektonische Ausdruck ist eng mit der noch heute

46. Vgl. Karin Kirsch: Die neue Wohnung und das alte Japan. Architekten planen für sich selbst, Stuttgart 1996, S. 36-42.


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nachzuvollziehenden japanischen Lebenskultur und Prägung verbunden, deren Ideale Mäßigkeit, uneigennützige Gefühle, Reinheit und feine Empfindungsfähigkeit sind.47 Das traditionelle japanische Haus wird nach der KiwarihoMethode bis in alle Einzelteile genormt. Als Grundmaß dient Shaku, das ungefähr dem englischen Fuß (30,48 Zentimeter) entspricht. Durch das in Tatami-Matten übertragene Maß, werden die Raumproportionen ermittelt und somit die Maße des gesamten Hauses. Was im Westen meistens durch Quadratmeter angegeben wird, entspricht in Japan Matten. Ungefähr 112 Quadratmeter ergeben beispielsweise 35 Matten. Zunächst gab es in unterschiedlichen Regionen auch verschiedene Mattenmaße. Auch die Wandschränke, die Höhe der Schiebetüren und die Fläche darüber, richten sich nach den Mattenmaßen. Zimmer können unterschiedlich benutzt werden. Beispielsweise als Schlaf- und alsWohn- oder Esszimmer. Eine Matte dient einer Person als Schlaf- und auch Wohnfläche. Alle Gebrauchsgegenstände des täglichen Bedarfs finden in Wandschränken Platz. Einige beispielhafte

47. Vgl. KIRSCH 1996, S. 65f.


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Gebrauchsmaße können wie folgt beschrieben werden: Von der unteren Kante der Sohlschwelle bis zur oberen Kante der Führungsschwelle der Schiebetüren können 45,4-66,6 Zentimeter (1,5-2,2 Shaku) gemessen werden. Von der oberen Kante der Führungsschwelle bis zur unteren Kante des Führungsholzes der Schiebtüren finden sich 172,7-175,7 Zentimeter (5,7-5,8 Shaku). Das menschliche Maß wird nie außer Acht gelassen. Die Tatami werden aus Stroh oder Schilf hergestellt, mit Schnüren gebunden und verflochten. Meistens sind diese Matten 5-6 Zentimeter dick und dürfen nicht mit Straßenschuhen betreten werden, sondern nur mit weißen Tabis (Stoffschuhen).48 Eine durchgehende Wand findet sich oft nur an der Nordseite des Hauses. Diese ist aus Lehm. Für die oberste Lehmschicht wird aus 50 verschieden farbigen Lehmsorten gewählt. Diese Auswahl zeigt zum einen, ungeachtet der Normung, die Vielfältigkeit im Detail, zum anderen aber auch die sensible Wahrnehmung von Nuancen. Das Erscheinungsbild des traditionellen japanischen Hauses wird von Holz Stroh, Lehm

48. Vgl. KIRSCH 1996, S. 68f.


131

und Papier geprägt. Diese Häuser sind meistens ein wenig über dem Erdboden aufgeständert, verfügen über einen Boden aus Holzlatten und sind darüber mit Tatami belegt. Ein schräges Dach mit Überstand schütz vor direktem Licht und Regen, ein tiefer ansetzendes Vordach über der Veranda vermittelt zwischen Haus und Garten, nach dem sich auch das Empfangs- und Gästezimmer ausrichten. Durch die Schlichtheit, die natürliche Schönheit der Materialien, durch die Zurücknahme der trotzdem wahrnehmbar bleibenden Konstruktion und das durch Papierfenster getönt und sanft einfallende Licht, soll der Raum an sich wirken. Dafür bedarf es keiner Möbel. Das erwähnte Papier führt zu gefiltertem Licht. Es darf altern, genau wie der Mensch. Japanisches Papier besteht traditionell aus Fasern des Maulbeerbaumes, verschiedener Thymiansorten, der Lärche, der Tanne und anderen Nadelhölzern.49 Besonders auch die Teezeremonie und das dafür unerlässliche Teehaus

sprechen

für

die

traditionelle

japanische

Lebenshaltung. Die Zeremonie kann als höchst verfeinert

49. Vgl. KIRSCH 1996, S. 69f.


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beschrieben werden, sie zeigt die kostbarste Armseligkeit, die ausdetaillierte Unvollkommenheit. Teeraum und Teegarten sind ein Konzentrat an Symbolik, illustriert durch unzählige Geschichten und Bilder. Hier entsteht ein Gleichgewicht zwischen Form und Leere. Der Verzicht auf Konsum sowie die Lobpreisung des Einfachen und Unscheinbaren vereinigen sich in der Teekultur, die somit auch als Protest gegen den Luxus und die Macht der Herrschenden gesehen werden kann.50 Auch wenn sich Teile der Raumgestaltung in westlichen Entwürfen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts auf japanische Wohnhäuser bezogen, gab es in beiden Kulturen doch eine unterschiedliche Auffassung des sozialen Lebens. Walter Gropius bewunderte die einheitliche Formensprache und die Proportionsnormen des alten japanischen Hauses, das persönliche Variationen trotzdem zulässt. Die Klassische Moderne erregte Aufsehen wegen der neuen Form, aber auch wegen der Grundrisse und den damit verbundenen Lebensvorstellungen.

Gropius

50. Vgl. KIRSCH 1996, S. 76f.

übernahm

für

das


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Direktionshaus des Bauhaus in Dessau japanisch anmutende Wandschränke und teilweise Tatami als Bodenbelag. Wichtiger waren jedoch die technischen Neuheiten wie besondere Heizungssysteme und Bäder.51 Das Bauhaus und das traditionelles japanisches Handwerk bezogen sich auf den Nutzen und die Funktionalität, die sich selbstverständlich aus den menschlichen Bedürfnissen und Maßen ableiten ließen, aber im Ganzen auch nie die Ästhetik vernachlässigten. Ästhetisch konnte Japan von der westlichen Kultur wohl nicht viel lernen, technisch aber schon. Alle technischen Hilfsmittel, die den Alltag angenehmer gestalteten, wurden in den 1930er Jahren in Japan übernommen und kollidierten unvereinbar scheinend mit der Tradition. Diese Prozesse und die funktionale Schönheit des traditionellen japanischen Handwerks beschreibt der 1965 verstorbene Schriftsteller Jun’ichiro Tanizaki anschaulich in Lob des Schattens52, das 1933 erschien.

51. Vgl. KIRSCH 1996, S. 140-145. 52. Jun’ichiro Tanizaki: Lob des Schattens. Entwurf einer japanischen

Ästhetik, Zürich 2010.


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In ländlicher Abgeschiedenheit, formuliert Tanizaki, können sich die Teemenschen in ihren Grashütten noch über die Segnungen der Zivilisation hinwegsetzen. In japanischen Städten der 1930er Jahre kommt man um die Einrichtung moderner Technik aber nicht herum. Wegen der japanischen Raumästhetik, muss das Technische jedoch versteckt werden. Dies führt manchmal zu übersensibler Künstlichkeit. So lassen sich beispielsweise Ventilatoren, ihrer Form und ihrer Geräusche wegen, nur schwierig mit dem japanischen Raum in Einklang bringen. Aus Gründen des Geschmacks sollte nach Tanizaki bei Schiebefenstern auf Glas verzichtet werden. Diese Fenster werden nach außen verglast und innen mit Papier bespannt, was einen doppelten Rahmen und somit Mehrkosten zur Folge hat. Die ganze Konstruktion ist aber unzureichend, da von außen der Eindruck einfacher Glastüren und innen wegen des äußeren Glases nicht die behagliche Weichheit entsteht.53 Das Badezimmer sollte laut Tanizaki aus Holz bestehen. Fliesen seien funktionaler, aber weniger geschmackvoll. Die Belichtung muss stets sinnvoll

53. Vgl.TANIZAKI 2010, S. 7ff.


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angepasst und im Fall der Toilette dämmrig sein, denn hier soll auch der Geist Ruhe finden. Diese Orte stehen abseits des Hauptgebäudes, im Schatten eines Gebüschs, mit dem Haus durch einen überdachten Gang verbunden. Von diesem stillen, halbdunklen Raum, mit seinen Papierfenstern und seiner Holzausführung, kann der Garten betrachtet werden. Der Toilettenbesuch wird zu einer Annehmlichkeit, einem physiologischen Wohlgefühl. Für Tanizaki gibt es keinen schöneren Ort zur Beobachtung der Vergänglichkeit der Dinge als die Toilette. Hier habe die japanische Architektur ihren raffiniertesten Ausdruck gefunden. So wird einer der unsaubersten Teile des Hauses, Ort des guten Geschmacks.54 Auch Tanizaki erkennt die Vorteile der Tatami als Grundmaß zur Proportionierung der Räume. Westliche Standards ersparen seiner Meinung nach Mühe, sind aber nie geschmacklich raffiniert, also verfeinert oder natürlich schön. Er verweist hierzu auf glänzende Böden und blendend weiße Wände der westlichen Architektur. Es sei der Gipfel

54. Vgl.TANIZAKI 2010, S. 11ff.


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der Indiskretion, Toiletten so aufdringlich zu erhellen. Auch das eigentliche Klosett, soll nach seinen Worten, aus mit Wachs versiegeltem Holz gefertigt sein. Besonders aber unbehandeltes Holz nimmt mit der Zeit eine schöne dunkle Färbung an, die laut Tanizaki seltsam beruhigend auf die Nerven wirkt. Besonders heutzutage ist man im deutschen Kulturraum darauf bedacht, dass Bauten keinerlei Spuren der Zeit und des Gebrauchs aufweisen.Tanizaki fragt sich, weshalb moderne westliche Errungenschaften nicht rücksichtsvoll auf die japanische Lebensart angewendet werden können.55 Hätte der Osten eine eigenständige moderne Lebensweise entwickelt, wenn die westlichen Standards nicht adaptiert worden wären? Aus dem Westen Übernommenes wird in den 1930er Jahren nicht an die japanischen Gegebenheiten angepasst. Das in Japan so wichtige Papier dient als ein Beispiel: Tanizaki spürt bei chinesischem oder japanischem Papier eine Art Wärme, die das Herz berührt. Im Gegensatz zum westlichen Papier, wird das Licht aufgesogen und reflektiert. Er vergleicht das Papier mit der Berührung

55. Vgl.TANIZAKI 2010, S. 14ff.


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eines Laubblatts. Abgeneigt ist er gegenüber funkelnden und glitzernden Gegenständen, denn in Japan dürfen diese eine Patina bekommen. Ein von Trübungen gedämpfter Schein, ein vertieftes, umwölktes Schimmern, wird dem hellen Glanz immer vorgezogen. Alterspatina wird als Übersetzung des Glanzes, der aus Schweiß und Schmutz der Hände entsteht, gesehen. In China wird ein eigenständiges Wort dafür gebraucht, das Handglanz (shou tse) bedeutet, in Japan entsprechend Abgeriffensein (nare). Die Spuren des Lebens müssen erkennbar sein und bleiben.56 Nach Tanizaki wirken sich westliche Farben, Materialien und Möbelarten sogar negativ auf den Gesundheitszustand von Patienten in modern gestalteten Krankenhäusern aus. Glas und Metall wirken auf ihn einschüchternd. Er präferiert das Dämmerlicht, denn Schönheit braucht Dunkelheit. Tiefe und Würde können entstehen, wenn ein unaussprechlicher Teil bleibt, etwas nicht Definierbares, denn überblickt man ein Gefüge gänzlich, wird es gleichzeitig entheiligt. Durch

56. Vgl.TANIZAKI 2010, S. 18-26.


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das dämmrige Licht entsteht eine meditative Stimmung.57 Tanizaki stellt fest, dass japanische Häuser durch große Dachschirme geschützt werden, wohingegen im Westen zeitgenössische Dächer vor allem gegen Regen schützen, aber gleichzeitig so wenig überstehend wie nötig ausgeführt sind, so dass die Innenräume so viel Licht wie möglich erhalten. Die Schönheit eines japanischen Raumes gründet aber gerade auf der Abstufung der Schatten. Wohnraumwände erhalten einen Sandbelag zur besseren Ausbreitung des unbestimmten Lichts. Von Raum zu Raum gibt es leichte Unterschiede der Hell-Dunkel-Nuancen und dezent vollziehen sich Steigerungen der einzelnen Raumelemente durch ihre Kombination. Die Undeutlichkeit wird zum richtigen Maß. Für Tanizaki liegt das Mysterium des Ostens in der Magie des Schattens.58 Er erklärt weiterhin die Vorzüge der Vergoldung, die zur Reflexion und Erhöhung der Helligkeit führt. Gold bewahrt lange seine Leuchtkraft und erfüllt den Raum mit

57. Vgl.TANIZAKI 2010, S. 26-30. 58. Vgl. ebd., S. 36-42.


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Erfurcht und Würde. Nach Tanizaki ist Schönheit nicht in den Objekten selbst, sondern im Schattenspiel dazwischen. In Japan werden Farben als Anhäufungen von Schatten gesehen.59 Wie schon im Titel zu erahnen, ist für Tanizaki das wichtigste Element der Raumbildung der Schatten. Deutlicher gesagt, das Spiel der Abstufungen und Filterungen des Lichts. Der Schatten bildet den Grundton der traditionellen japanischen Architektur. Diesem Ideal scheint traditionelle europäische Architektur sehr ähnlich zu sein. Man denke an golden schimmernde Barocksäle im dämmrigen Kerzenlicht. Auch die aus östlicher Sicht oberflächlich spektakulär wirkende Art westlicher Repräsentationssucht, scheint von Kirsch richtig beobachtet zu sein. Tanizaki kritisiert jedoch ausschließlich die westliche Moderne und mehr noch ihre schockierend empfundenen Auswirkungen auf die japanische Kultur. Für ihn resultiert die Schönheit aus der Praxis desAlltags. Genauso sahen es wohl die Vertreter des Bauhaus’. Die eigentliche Kritik richtet sich nicht gegen die im Westen erprobten

59. Vgl.TANIZAKI 2010, S. 45-60.


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und dort auch als angenehm empfundenen Neuerungen, sondern gegen die blinde japanische Übernahme, die ohne Anknüpfung an die bestehende Kultur stattfand. Das Haus des Architekten ist in seiner Beschaffenheit eigentlich ein traditionelles japanisches Haus. In beiden Fällen findet sich ein Ordnungsprinzip, das auf den Menschen zurückzuführen ist. Nicht das Subjekt allein lässt den Raum entstehen, sondern ein System wird zur Hilfe genommen. Durch die Tatami oder den Rostilor wird die subjektive Entscheidung zunächst objektiviert. Durch die Stapelung dieses objektiven Gefüges, entstehen aber positive Zwänge oder Probleme, die wiederum subjektiv gelöst werden müssen. Erst durch diese Probleme können Qualitäten entstehen. Das Haus des Architekten und auch traditionelle japanische Häuser leben von der Übereinanderschichtung eigentlich einfacher Elemente zu einem komplexen Gefüge, das im Raum zunächst aber wieder einfach wirkt. Ein Beispiel ist der Umgang mit dem Licht. Je nach der Raumbedeutung wird das einströmende Licht in unterschiedlicher Weise gefiltert. Mit einfachen Mitteln entstehen differenzierte Lichtsituationen, die in vielen Lagen


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zwischen dem Innersten und dem Außen vermitteln. Ebenso wichtig ist die Kommunikation der Räume untereinander. Ähnlich bedeutend wie die Schiebetüren, die Räume nicht zerstören, sind die Gänge traditioneller japanischer Häuser. In der europäischen Architektur wird der Gang und seine Bedeutung, soweit dies möglich ist, reduziert. Gerade diese Gänge, oder auch das Dazwischen, spielen eine große Rolle im Innenleben des Hauses des Architekten, da sie die einzigen unbestimmten Räume sind. Alle anderen Räume sind Zellen mit konkreter Nutzung. Durch die Unbestimmtheit erhalten die Zwischenräume eine Bedeutung höherer Ordnung, denn das eigentliche Leben des Hauses wird vom Dazwischen bestimmt. Wie Tanizaki es bei der Verbindung zwischen dem Haupthaus und der Toilette beschreibt, ist es der Akt des Gehens zwischen den Nutzungen, der das Haus lebendig werden lässt. Durch das Lichtspiel und die Papierwände werden Silhouetten im Gang sichtbar. In traditionellen japanischen Häusern, sowie im Haus des Architekten, kann man beispielsweise im Wohnraum sitzen, der von Gängen umgeben ist, durch die bestimmte Einblicke oder Wahrnehmungen möglich sind. Durch den Gang entsteht


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ein Spiel mit Kontrolle und der Gegensatz von aktiver und passiver Beteiligung. Derjenige, der im Raum ist, fühlt sich wie im Publikum eines Theaterstücks. Er sieht, was passiert, kann die Abläufe aber nicht steuern. Diese eigentlich einfachen Eingriffe entfalten eine komplexe Wirkung. In der Klassischen Moderne übernahmen Architekten wie Gropius in Teilen die oberflächliche Reduktion der japanischen Räume, aber nicht die sich dahinter verbergende vielschichtige Poetik und das inszenierte Innenleben. Unter einer nachfolgend missverstandenen Ausformung der Schlichtheit, leidet der westliche Mensch in überbelichteten, immerweißen Räumen noch heute. Genauso negativ wirkten sich aber auch die ebenso oberflächlich übernommenen Teile europäischer Architektur und Technik in Japan aus. Das traditionelle japanische Haus ist ein Theater, ein bewusstes Spiel. Es zeigt die inszenierte Verkomplizierung des Lebens in einem Haus, wodurch Meditation entsteht.


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2. Konkrete Beispiele 2.1 Boltshauser Das von Roger Boltshauser entworfene Haus Rauch ist neben der gelungenen Form, Ästhetik und Raumaufteilung vor allem wegen der Konstruktion und des verwendeten Materials wegweisend und wichtig für diese Arbeit (Abb. 48-51). Dieses Haus besteht fast ausschließlich aus selbsttragendem Stampflehm, der direkt aus der Baugrube gewonnen wurde. Das Haus befindet sich in Vorarlberg, es ist dreigeschossig, besteht aus ineinanderverschränkten Kuben und liegt an einem Hanggrundstück. Auf das Material bezogen, scheint die Baumasse aus der Erde herausgewachsen zu sein. Nach außen zeigt sich die unbehandelte Stampflehmwand, die horizontal durch eingelassene Lehmziegel gegliedert wird. Diese Ziegellagen erhöhen, von der Mitte ausgehend, ihre Abstände, so dass der Bau optisch gestreckt wird. Große und nicht zu öffnende Holzrahmenfenster sitzen in der Lehmwand. Daneben befinden sich jeweils hölzerne Lüftungsflügel, die geöffnet werden können und somit die Innenräume mit Frischluft versorgen, im geöffneten Zustand


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aber gleichzeitig auch die Wandstärke erkennen lassen. Die gebrannten Lehmziegel, die aus der Fassade hervortreten, schützen die Lehmwand vor Erosionen und verlangsamen das hinunterlaufende Regenwasser. Im Inneren findet eine Verfeinerung der Materialien nach Geschoss statt. Dementsprechend liegen im zweiten Obergeschoss auch die intimsten Räume. Dippelbaumdecken aus halbierten lokalen Rundhölzern, die hinter Putz verborgen sind, überspannen die Räume. Der Eingang befindet sich im Erdgeschoss. Eine ArtVorraum führt zumTreppenhaus. In diesem Geschoss sind die unbehandelte Stampflehmwand und der rohe TrastonBoden zu erkennen. Das erste wohnlichere Element sind die achteckigen bläulichen Fließen, die hinter dem Vorraum zum Treppenhaus hinführen. Die geschlossene Brüstung des Treppenauges ist aus schwarzem Stahlblech. Das entstandene Treppenhaus ist im ersten und zweiten Obergeschoss durch Türen schließbar und bildet ein in sich abgeschlossenes Element des Hauses. Dieses Treppenhaus wird durch eine von Glasbausteinen durchbrochene Kuppel nach oben hin abgeschlossen. Die durchlöcherten Treppenstufen sind aus Trasskalk und wurden in die Stampflehmwand eingespannt.


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Durch die Öffnungen in der Kuppel und in den Stufen fallen Lichtstrahlen in den Treppenraum, die Schichtungen der Stampflehmwand erscheinen hier besonders plastisch. Man wird unweigerlich an orientalische Lehmbauten oder den Lichteinfall eines Hamams erinnert. Im ersten Obergeschoss befinden sich der Koch- und Essbereich, das Wohnzimmer und ein Atelier. Im Gegensatz zum Geschoss darunter, ist die Materialität hier verfeinert. Gewachste Lehmböden lassen die Raumteile ineinanderfließen und feiner heller Lehmputz lässt die Wände schlicht und warm erscheinen.Waschbecken und Abdeckungen der Küche sind wie auch die ornamentiertglasierten Kacheln des Bades im Geschoss darüber aus gebrannter Erde. Im zweiten Obergeschoss befinden sich Schlafräume und das Bad. Die Böden sind hier ebenfalls aus gewachstem Lehm, die Wände wurden mit feinem weißen Lehmputz versehen. Die sichtbare Veränderung der Erde, vom Ausgangsmaterial bis zur feinsten Spachtelung, ist bewusst inszeniert. Der unbehandelte Stampflehm ist dort sichtbar, wo nicht gedämmt wurde. In der untersten Etage befindet sich die Dämmung an der Außenseite zwischen Hang und Haus, in den oberen Etagen hinter dem Innenputz.


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Lediglich das Treppenhaus ist innen und außen ungedämmt und unverputzt.60 Wichtiger als die Innenräume selbst, sind das Baumaterial und die Konstruktion des Hauses. Der Bau und die ihm zugrunde liegende Wirtschafts- und Lebenshaltung entsprechen weder dem Architekturdiskurs, noch dem generell herrschenden wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Wertsystem. Seit den 1980er Jahren verfolgt der Bauherr Martin Rauch das Ziel, Häuser so zu bauen, dass sie sich nach hundert Jahren rücktandsfrei in ihr Ausgangsmaterial dekonstruieren können. Das Haus soll im Einklang mit natürlichen Kreisläufen stehen. Die für die Herstellung, den Betrieb und den Abbau benötigte Energie muss auf ein Minimum reduziert werden. Das reine Erdreich des Baugrundes sollte als naheliegendster und kostenloser Rohstoff, als Material der Architektur genutzt werden. Haus Rauch demonstriert die Einheit von Ort, Prozess und Detail, denn 85 Prozent

60. Vgl. Axel Simon: Bauen am Raum in: Roger Boltshauser (Hrsg.): Haus Rauch. Ein Model moderner Lehmarchitektur, Basel 2011, S. 25-34.


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aller verbauten Materialen entstammen dem Erdaushub der Baustelle. Lehm ist ohne große Transportwege örtlich überall verfügbar, ist vollkommen wiederverwertbar, wirkt wärmedämmend und -speichernd, gibt keine Schadstoffe ab und hält die relative Innenraumfeuchtigkeit konstant auf 4555 Prozent. Beton- oder Ziegelbauten benötigen die zehnbis zwanzigfache Energie für Herstellung, Verarbeitung und Transport. Lehm übertrifft sogar Holz in Hinsicht auf Nachhaltigkeit, wegen des geringeren Aufwands an Primärenergie. Um 1980 war die Stampflehmwand-Technik völlig vergessen, in Bezug auf Normen und Richtlinien schlicht nicht mehr vorhanden. Rauch hat im Austausch mit anderen Lehmbauentwicklern das materialtechnische, handwerkliche und baurechtliche Wissen neu erarbeitet.Von ihm wurde 1999/2000 auch die für Europa bahnbrechende Kapelle der Versöhnung in Berlin ausgeführt, ein neun Meter hoher Stampflehmbau. Martin Rauch beweist mit seinem Wohnhaus, Lehmbau bis zur Perfektion zu beherrschen. Er formuliert aber auch ein global relevantes Leitbild.61

61. Vgl. Otto Kapfinger: Bauen an der Erde 2011, S. 58-62.


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Der erste Schritt des Hausbaus war eine Erdprobe an Ort und Stelle. Ein zwei Meter tiefes Loch wurde ausgehoben und das Erdmaterial unter der Humusschicht wurde analysiert. Mit der Hand allein erkennt Rauch die Qualität. Ziemlich exakt kann er dann vorhersagen, wie viel Schotter oder Ton dem Lehm noch beizumischen ist. Das Haus besteht aus einem homogenen Material. Es wird hier kein möglicherweise unschönes Konstruktionsgerüst verkleidet, verputzt, geschützt oder maskiert. Im Unterschied zu Sichtziegelmauerwerk gibt es keine Trenn- oder Setzfugen und auch kein Schalungsmuster wie bei Sichtbeton. Die 45 Zentimeter dicken Stampflehmwände haben eine Dichte wie Beton, ein Gewicht von etwa zwei Tonnen je Kubikmeter und ihre Festigkeit entspricht einer Massivziegelwand gleicher Stärke. Drei Millimeter starker Innenputz aus weißem Ton und Quarzsand haftet auf Flachsgewebe, das seinerseits eine Schicht von Heizregistern überdeckt, die wiederum auf drei Zentimeter dicke, mit grobem Lehmputz gebundene, Schilf-Dämmmatten montiert sind. So funktionieren die


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Wände rundum als Hypokausten, wobei die Energie dafür vom zentralen Küchenherd, von Solarzellen oder von einem kleinen Pelletofen im Keller stammt. Das Flachdach wird aus einer Ausgleichsschicht aus Holz-Leichtlehm gebildet. Darüber befindet sich eine Schilfisolierung mit Bitumenabdichtung, die mit Wasser speicherndem Lavaschotter belegt ist. Die oberste Abdeckung bilden dunkel gebrannte Schlammziegelplatten. Im gesamten Bau gibt es keine Folien oder Dichtungsschäume, ausschließlich Verfugungen mit feinem Lehm beziehungsweise abbaubaren Naturstoffen. Auch der Trasskalkmörtel dient als Alternative zum energieaufwendigeren Zement.62 Die Herstellung von Portlandzement ist für fünf Prozent der vom Menschen verursachten Treibhausgasemissionen verantwortlich. Rauchs Haus steht als Wendepunkt zu einer dauerhaft zukunftsfähigen Entwicklung. In der westlichen Welt, wo eine Arbeitskraft vergleichsweise teuer ist, gilt ein handwerklich gefertigter Lehmbau als Luxusprodukt.Würde überall so gebaut werden wie es in den Industrieländern

62. Vgl. KAPFINGER 2011, S. 63-68.


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noch Standard ist, ergäbe dies eine ökologische Katastrophe. Das Umdenken ist so schwierig, weil die Kostenwahrheit der Bauindustrie nicht stimmt. Folgekosten und Umwelteffekte werden nicht einkalkuliert. Für Rauch steht fest, dass die uns räumlich umgebende Hülle ebenso atmen können muss wie unsere Körper es tun.63 Bei jedem Planungsschritt von Haus Rauch wurde die soziale, ökonomische und ökologische Nachhaltigkeit einbezogen. Auch das Haus des Architekten besteht zu einem Großteil aus Stampfbeton, der die meisten seiner Inhaltsstoffe aus der Umgebung beziehen kann. In einer Zeit, die durch die vom Menschen hervorgerufene Destabilisierung des globalen Ökosystems geprägt ist, sind Fragen nach der schadlosen Einbindung des menschlichen Lebens in seinen einzigen Lebensraum höchst dringlich. Zum Lebensraum des Menschen gehört auch die Architektur, die mit wenig Mühe zu dessen Erhaltung beitragen kann.Wichtiger als ein direkter Vergleich zum Haus des Architekten, ist die Hinleitung zu einem bewussten Umgang mit Materialen, die letztlich doch

63. Vgl. KAPFINGER 2011, S. 69-73.


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nach freiem Willen durch den Menschen ausgewählt werden können. Martin Rauch zeigt mit seinem Wohnhaus, dass dies möglich ist und weist in eine verantwortungsvollere, aber auch kreativere Zukunft. 2.2 Aires Mateus Die Brüder Manuel und Francisco Aires Mateus sind zwei portugiesische Architekten, die in ihren Projekten vor allem die komplex erscheinende Aushöhlung von Masse auf der Grundlage von klassisch einfachen Formen verfolgen. Anschaulich lassen sich diese Elemente am Furnas-Forschungsinstitut auf der Azoreninsel São Miguel nachweisen (Abb. 52-57). Es entstanden zwei sich ähnelnde eingeschossige Bauten, die Forschungsgäste aufnehmen können. Beide Gebäude zeigen im Grundriss ein verzerrtes Quadrat und beide wurden mit Beton ausgeführt,der äußerlich mit lokalem Basalt und im Inneren mit Holz verkleidet wurde. Der erste Bau erhebt sich auf einer deformiert quadratischen Grundfläche, besteht aber aus drei Flügeln. Der vierte Flügel fehlt, so dass dort ein Eingang entsteht. Die



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Abb. 54 Francisco und Manuel Aires Mateus Furnas Forschungszentrum Grundriss, erster Bau In: LEVENE/MĂ RQUEZ CECILIA 2011, S. 212.


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Außenwände laufen hier spitz in Richtung Mitte und führen den Besucher in einen dreiseitig geschlossenen und nach oben hin offenen Bereich. An den drei Außenseiten befinden sich keine Fenster, die Räume öffnen sich ausschließlich in den kleinen Innenhof. Im Inneren sind drei mit Holz verkleidete Haupträume zu erkennen, die miteinander verbunden sind und von denen aus unbelichtete Nebenräume zu erreichen sind. Die Haupträume haben verschiedene rechteckige Grundformen, die an den Fensterflächen deformiert werden. Durch die vielen Verzerrungen entstehen ungleichförmige Reststücke zwischen den Haupträumen und den Außenwänden, in denen die Nebenfunktionen untergebracht sind. Im Grundriss wirkt dieser Gegensatz wie ausgehöhlte Masse. Gleichzeitig entsteht der Eindruck, dass sich verschiedene Formen ineinander schieben und sich gegenseitig beherrschen. Auch im Schnitt wird die kubische Grundform sichtbar, die mit einem Zeltdach nach oben hin abgeschlossen ist. Da eine der vier Seiten unbebaut ist und sich in der Mitte ein offener Innenhof befindet, wird auch die Form des Zeltdachs unterbrochen. Die Haupträume haben jeweils eine unterschiedliche Deckenform. So finden sich


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ein Satteldach, ein deformiertes Tonnengewölbe oder auch zeltartige Decken, die von allen Wandkanten kommend in einem mittleren Punkt zusammenlaufen. Der zweite Bau ist einfacher gegliedert. Konstruktion, äußeres und inneres Material und auch die grundsätzliche Geometrie gleichen dem ersten Bau. Auch hier erkennt man im Grundriss ein verzerrtes Quadrat, diesmal jedoch mit vier geschlossenen Flügeln. Ein Zeltdach läuft über der Mitte der Grundfläche zusammen. Darunter wird ein inneres Quadrat in vier weitere quadratische Räume geteilt. Diese sind durch Wände voneinander getrennt und über Türen, die zur breiten Außenwand hin liegen, miteinander verbunden. Die vermeintliche Außenwand enthält alle Nebenräume und bildet das äußere Quadrat. Belichtet werden die Innenräume an den Stellen, wo die Nebenraummasse unterbrochen ist. Alle Haupträume sind mit hellem Holz verkleidet, alle Nebenräume sind dunkelgrau gestrichen und haben steinerne Fußböden. Die Decken der Innenräume folgen der Form des Zeltdachs. Das Interesse von Aires Mateus an negativer Masse und dem Aushöhlen einer Form ist unverkennbar. Diese


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Herangehensweise mag für den Entwurf des Hauses des Architekten inspirierend gewesen sein. Für Aires Mateus ist es wichtig, dass sich das Leben in Architektur in natürlicher Weise entwickelt. Wenn Architektur von ihren Benutzern mit Erinnerungen und Emotionen verknüpft wird oder diese durch Architektur ausgelöst werden, erhöht sich das Potential von Lebendigkeit in diesen Räumen. Deshalb berufen sich Aires Mateus auf klassische Archetypen, durch die sie in tiefgründigere Bereiche der Beziehungen zur menschliche Geschichte vordringen wollen.64 Aires Mateus wie auch der Architekt arbeiten mit dem Erfahrbarmachen der Masse. An Stellen der Durchbrechung wird diese Masse sichtbar und in beiden Fällen verbergen sich dahinter Nebenräume. Die Haupträume bilden durch ihre Anordnung Nebenflächen, die der Architekt und Aires Mateus zu PochéBereichen machen. Schon dadurch, dass ein Volumen seine Form behält und somit in ein anderes Volumen eingreift und

64. Vgl. Ricardo Carvalho: On the permanence of ideas. A conversation with Manuel and Francisco Aires Mateus, in: El Croquis 154 (2011), S. 11f.


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dessen Form verändert, wird eine Hierarchie deutlich. Beide Arbeitsweisen gehen von grundsätzlich einfachen Formen aus, die in Beziehungen zueinander gebracht werden und ein grafisch komplexes Gebilde ergeben, das im räumlichen Erleben aber wieder logisch und nicht verwirrend wirkt. 2.3 Pezo von Ellrichshausen Pezo von Ellrichshausen leiten ein junges chilenisches Architekturbüro. Sie realisierten bis jetzt vor allem Wohnhäuser,

viele

davon

in

einer

übermächtig

erscheinenden natürlichen Umgebung. In ihren Entwürfen spielen sie mit Grundformen und ihren Durchbrechungen, mit dem Gegensatz von dienenden und bedienten Räumen, mit der Suggerierung von Masse sowie ihrer Auflösung und mit dem Erfahrbarmachen der reinen Form. Pezo von Ellrichshausen isolieren ihre Gebäude von der Umgebung. Dadurch entsteht ein surrealer Idealzustand, denn Fragen nach dem Bauprogramm, den Bauvorschriften und der Projektgeschichte treten in den Hintergrund. Somit wird es ermöglicht, der Musik der Formen an sich zuzuhören.



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Abb. 59 Mauricio Pezo und Sofia von Ellrichshausen Poli-Haus Innenansicht, I. Obergeschoss http://www.flickr.com/photos/ gustavo_burgos/5382641083/; (31.07.2012)



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Abb. 60 Mauricio Pezo und Sofia von Ellrichshausen Poli-Haus Grundriss, I. Obergeschoss In: PALLASMAA 2012 a, S. 36.


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Als Beispiel dient das Poli-Haus, das von 2002-2005 auf einem schroffen Felsen über dem Pazifik bei Coliumo in der Region del Biobío gebaut wurde (Abb. 58-60).65 Dieses Haus steht in roher, atemberaubender und beängstigender Natur. Der Standort dient als natürliches Podium, umgeben von unendlicher Weite. Das Haus zeigt sich nach außen als massiv wirkender Betonkubus, durchbrochen von quadratischen Öffnungen. Von Weitem wirkt das Haus monumental und größer als es eigentlich ist. An einigen Stellen scheint der Beton meterdick zu sein, an anderen sehr dünn. Im Grundriss zeigen sich mehrere Quadrate, die jedoch durchbrochen und aufgelöst werden. Durch Halbebenen und die Durchdringung von Räumen, wirken die Innenräume viel komplexer als es der Grundriss vermuten lässt. Das Besondere dieses Hauses ist seine Aufteilung, die Wegeführung und Hierarchisierung der Räume. Ein inneres Quadrat wird von einem äußeren umschlossen. Das äußere Quadrat könnte auch als bespielte Masse gesehen werde.

65. Vgl. Mauricio Pezo/Sofía von Ellrichshausen: Poli House, Coliumo. 2002-2005, in: 2G 61 (2012), S. 32.


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Das Hausprogramm pendelt zwischen einem Rückzugsort und einer kulturellen Institution, das Innere musste deshalb öffentlich und privat sein. Den Räumen wurden weder Namen noch Funktionen zugeordnet. Alle Nebenräume befinden sich in der riesigen durchbrochenen Außenwandmasse, die somit auch als Pufferzone dient. Bei Bedarf können die Haupträume von ihrem Mobiliar befreit werden. Letzteres wird in den Nebenräumen der äußeren Masse verstaut.66 In dieser Wandzone befinden sich auch die Küche, die vertikale Erschließung, Bäder, Schränke und innere Balkone. Außen wie innen ist die Holzverschalung des Betons deutlich sichtbar. Außen und auch in den teilweise geöffneten Nebenräumen der Wandmasse, ist der Beton unbehandelt, in den Innenräumen wurde der Beton weiß gestrichen. Die rohe Kraft des Felsens verbindet sich mit der Behandlung des Betons. Unzählige Fenster lassen den Blick durch die verschiedenen Raumkategorien schweifen. Nicht immer ist klar, wo ein Innenraum oder ein Außenraum, wo etwas offen oder geschlossen ist. Alles ist durchdrungen, aber nicht

66. Vgl. PEZO/VON ELLRICHSHAUSEN 2012, S. 32.


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unbedingt direkt erreichbar. Einige Treppen führen nur zu bestimmen Ebenen und Räumen, an anderen aber vorbei. Es entsteht ein Labyrinth, jedoch kein beängstigendes, da das Meiste sichtbar ist oder wird, nur eben nicht unmittelbar zu erreichen ist. So wird eine spielerische Erwartung aufgebaut, mit einem Wunsch der Erkundung des Hauses. In ursprünglicher Weise bildet das Haus die Hülle, die lediglich die Grundbedürfnisse befriedigt und somit zunächst als ein Bild wahrgenommen werden kann. In einem zweiten Schritt können die Räume aber wohnlich gemacht werden. Pezo von Ellrichshausen spielen in diesem Haus mit Erwartungen, die durch ständige Richtungs- und Blickwechsel hervorgerufen werden. Der Bau wirkt durch Lufträume und optische Verzerrungen surreal. An einigen Stellen sieht es beispielsweise so aus, als würde der Besucher auf einer sehr dünnen Außenwand sitzen, ohne das eine Treppe zu sehen ist, die dorthin führt. Im Vergleich mit dem Haus des Architekten fällt zuerst der Ort auf. In beiden Fällen entsteht durch die Gedanken des Architekten ein beinahe entrückter Ort. Den Besucher überkommt am Abgrund über dem Meer ein morbides


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Gefühl. Im Zusammenhang mit der erdachten Architektur, also mit der Wahrnehmung und Weiterentwicklung des Vorgefundenen, entwickelt sich ein sublimer Ort. In beiden Fällen ermöglicht die Architektur eine an den Bewohner angepasste Nutzung.Weiterhin wurde die Rohheit des Materials bei beiden Projekten aus der Umgebung abgeleitet, an bestimmten Stellen sichtbar gelassen und an anderen verändert. Die Räume präsentieren sich als angepasste Hülle, die jeweils durch den Bewohner bespielt und personalisiert wurde. Hier wie dort finden sich die Entwicklung und Nutzbarmachung von grundlegenden räumlichen Motiven sowie die Unterscheidung von Masse und Leere sowie von Neben- und Haupträumen. Zu erwähnen bleiben schließlich die unterschiedlichen Raumproportionen und die vielen Durchbrechungen, die in beiden Fällen zur Durchdringung der unterschiedlichen Raumschichten führen und die Grenzen zwischen dem Inneren und dem Äußeren aufzulösen scheinen. In beiden Entwürfen verstärkt die surreal wirkende Umgebung den Ausblick nach innen.


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2.4 Loos Ende des 19. Jahrhunderts ist im deutschen Kulturraum vor allem das Dekorative wichtig, die Funktion steht an zweiter Stelle. Loos wendet sich gegen die ohne Kontext zusammengeklauten Elemente verschiedener Stile, die für ihn zu unsinnigen Ornamenten im Wohnungsbau führen. Er ist an japanischen Häusern interessiert und bewundert die dortige absichtliche Missachtung der Symmetrie und die Entkörperlichung der Gegenstände.67 Bei musterhaften Wohnungsausstellungen beklagt sich Loos über die Zwänge der Wohnbauindustrie, die zu massenhaften und unpersönlichen Wohnungen führen.68 Er bewundert Menschen, die sich in das, was sie entwickeln, hineindenken können. Wichtig sind für ihn Fachleute mit hohem künstlerischen Niveau, die individuelle Planungen umsetzen können. Schön kann für ihn nur sein, was auch praktisch ist. Er stellt fest, dass

67.Vgl. Adolf Loos: Ins Leere gesprochen. 1897 – 1900, hrsg. von Adolf Opel, Paris/Zürich 1921 (NachdruckWien 1987), S. 37f. 68. Vgl. ebd., S. 68.


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aber nicht alles, was praktisch ist, automatisch auch schön wirkt. Weiterhin wendet er sich gegen die übermächtige Theorie und gegen das akademische Zeichnen. Er ermutigt Künstler in der Praxis zu lernen und nach den tatsächlichen Bedürfnissen des Lebens handwerklich hochwertige Produkte zu entwickeln.69 Nach Loos ist die Umsetzung dieser lebensnahen Handwerkskultur im 19. Jahrhundert nur in England geglückt. Wichtig ist für ihn die Ehrfurcht vor der Arbeit an dem Material, nicht am Material selbst. Er bewundert die Ehrlichkeit im Umgang mit dem Material bei englischen Künstlern. Der Architekt muss seiner Meinung nach zuerst die Wirkung, die er entstehen lassen will, fühlen, danach ergeben sich gedanklich die Räume.70 Der Raumplan von Loos ist ökonomischer, als es in der Architektur seiner Zeit sonst der Fall war. Seine Räume liegen in verschiedenen Niveaus und haben je nach ihrer Bedeutung und ihrem Zweck unterschiedliche Größen und Höhen. Er komponiert die verschiedenen Volumen zu

69. Vgl. LOOS 1921/1987, S. 81-91. 70. Vgl. ebd., S. 134-140.


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einem harmonischen Ganzen und erschafft mit denselben Baumitteln mehr Wohnfläche. Seine Bauten sind außen schlicht, innen reich beziehungsweise teuer ausgestattet, niemals aber überflüssig. Im Gegensatz zu anderenVertretern der Moderne, bleiben bei Loos die Grenzen zwischen innen und außen immer bestehen, werden sogar verstärkt und inszeniert. Durch die englische cosiness inspiriert, bezeichnet Loos die neue bürgerliche Bequem- und Gemütlichkeit als Komfort.71 Als Meister der Ausgestaltung von Räumen und der komplexen Zusammenfügung und Durchdringung von unterschiedlichen Nutzungen, ist Loos inspirierend für den Umgang mit den Beziehungen der Innenräume im Haus des Architekten. In den von Loos gestalteten Räumen verbinden sich Rohheit und Sanftheit. Er bedient sich geradliniger und asymmetrischer Elemente, hat aber immer den Raum als Ganzes im Blick. Es entsteht ein stimmiges Gesamtbild, das aber über das Bildhafte hinausgeht, da hier Individualität

71. Vgl. August Sarnitz: Adolf Loos 1879 – 1933. Architekt, Kulturkritiker, Dandy, Köln 2010, S. 13ff.


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und Leben beginnt. Loos benutzt teure und ausgefallene Materialien wie Marmor und Onyx, doch im selben Raum auch Ziegelkamine. Es entsteht eine Verbindung von Repräsentation und Gemütlichkeit. Materialien mit verschiedensten Eigenschaften und Erscheinungen werden sorgsam kombiniert. BesonderenWert legt Loos auf ein hohes handwerkliches Niveau und eine qualitätvolle Bearbeitung. Seine Innenräume wirken bis ins letzte Detail ausgeklügelt und trotzdem nicht überladen. Er bewirkt eine Balance zwischen dem absolut Nötigen und der persönlichen Individualität. Es finden sich an die Bedürfnisse der Bewohner angepasste und platzsparende Möblierungen. Halbhohe und teilweise dunkle Holzvertäfelungen sowie eingebaute Sitznischen und Regale versprechen anhaltende Gemütlichkeit und bieten Platz für Persönliches. Besonders wichtig scheint die Wirkung der einzelnen Elemente und Materialien im Licht. Es gibt glatte, glänzende, harte, dunkle, weiche und grobe Oberflächen, die zu nicht fassbaren und ständig wechselnden Stimmungen führen. Loos baut theaterartige Kulissen, in denen sich aber das wahre Leben abspielt, da im Gegensatz zu den beziehungslos zusammengewürfelten Interieurs vom


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Ende des 19. Jahrhundert, hier die Persönlichkeiten der Hausbewohner in die Gestaltung einbezogen werden. Loos belichtet nicht bloß die Räume, er bringt sie an gewünschter Stelle zum Leuchten. Die für die damalige Zeit ungewöhnliche Durchdringung und Öffnung der Innenräume ist neben dem differenzierten Umgang mit Materialien, vergleichbar mit der Ausgestaltung der Innenräume im Haus des Architekten. Hier wie dort werden den unterschiedlichen Nutzungen auch angepasste Proportionen verliehen. Es entstehen Nischen mit niedrigeren Decken und bewusst gesetzten Dunkelheiten. Andere Bereiche werden erhöht, so dass von dort aus weitere Raumteile überblickt werden können. Loos und der Architekt arbeiten gleichsam mit der Kontrolle eines Raumes. Bestimmte Elemente sind sichtbar, aber auf den ersten Blick nicht erreichbar. Es beginnt ein Spiel der Beziehungen und Abhängigkeiten, die das räumliche Empfinden spannender machen, niemals aber maßlos wirken. Durch die Bekleidung werden die Räume jeweils inszeniert. In beiden Fällen ist aber sichtbar, dass es sich um Bekleidungen und nicht um Verkleidungen handelt.


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Im Haus des Architekten ist die Schnittstelle, zwischen der rohen Materialität der Wand und der sie stellenweise bedeckenden Verkleidung, an Wandöffnungen sichtbar. Auch in den Innräumen der Häuser von Loos sind konstruktive Elemente wie Deckenbalken zwar verkleidet, bleiben in ihrer statischen Funktion aber immer erkennbar. So werden Räume einerseits personalisiert, erhalten sich andererseits aber immer auch ihre materielle Ehrlichkeit. Der Wohn- und Essraum von Haus Moller in Wien (1927-1928) veranschaulicht die zuvor beschriebenen räumlichen Mittel (Abb. 61). Auf den ersten Blick ist das komplexe Raumsystem mit unterschiedlich hohen Ebenen, verschiedenen Treppen, eingebauten Nischen, Konstruktionselementen und Verkleidungen sichtbar. In den Häusern von Loos ist es bedeutend, wo sich der Mensch und wo sich die Räume befinden. Es macht einen Unterschied, ob man eine Treppe hinauf oder hinunter steigt, ob man in einer geschützten Nische oder in einem offenen Saal sitz. Loos spielt mit diesen Hierarchien und beeinflusst bewusst das Leben und Verhalten der Hausbewohner oder Besucher. Im Haus Moller erreicht der Besucher den Wohnraum, der


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Gastgeber könnte in der Sitznische Platz genommen haben. Diese Nische liegt jedoch fünf Stufen erhöht, wie auf einem Podest. Der Besucher muss also zum Gastgeber hinaufsteigen, letzterer behält die Kontrolle und macht gleichzeitig seine Position klar. Einen Bereich von einem anderen aus einsehen zu können, ist ein immer wiederkehrendes Motiv in der Architektur von Loos. Die Stellung des Gastgebers wird noch durch ein anderes Element hervorgehoben, da der Hausherr mit dem Rücken zum Fenster sitzt. Das dort einfallende Licht kann den Besucher blenden und lässt gleichsam vom Gastgeber nur Konturen erkennen. Somit wird auch durch das Licht eine Hierarchie und Kontrolle an dieser Stelle gefördert.


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3. Zumthor 3.1 Bruder-Klaus-Kapelle Das Haus des Architekten und seine Entwurfsprinzipien lassen sich am besten mit dem Werk und der Arbeitsweise von Peter Zumthor vergleichen. Hier finden sich die meisten Ähnlichkeiten. Zunächst sollen zwei in ihrer Nutzung ganz unterschiedliche Bauten von Zumthor vorgestellt werden. Seine Bauwerke sind Unikate und doch finden sich unter ihnen immer Gemeinsamkeiten. Es folgt der Blick auf die Bruder-Klaus-Kapelle bei Wachendorf in der nördlichen Eifel (Abb. 62-69). Dieser Bau ist dem Heiligen Nikolaus von Flüe (genannt Bruder Klaus) gewidmet und wurde von einem strenggläubigen Bauernehepaar der Region in Auftrag gegeben, um für ein ertragreiches landwirtschaftliches Leben zu danken.72 Nikolaus von Flüe suchte als Einsiedler

72. Vgl. Michael Kimmelman: Mehr Licht, mehr Sinn!, in:Welt am Sonntag, Nr. 15 vom 10.04.2011, S. 65.



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Abb. 64 Peter Zumthor Bruder-Klaus-Kapelle AuĂ&#x;enansicht Fotografie, Bertram, 18.09.2011



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Abb. 65 Peter Zumthor Bruder-Klaus-Kapelle Innenraum, dem Himmel entgegen Fotografie, Bertram, 18.09.2011


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in der Natur das Wesentliche.73 Der von 2005 bis 2007 auf einem Feld der Bauernfamilie errichtete zwölf Meter hohe Bau, wirkt von außen wie ein großer monolithischer Betonturm.Die äußere Grundrissform ist ein deformiertes Fünfeck mit unterschiedlich langen Seiten. Im Innern wurden 112 Fichtenstämme der Umgebung zu einem Zelt verbunden, welches als Schalung für den darum gestampften Beton diente. Anschließend ließ Zumthor diese innere Schalung in ein dreiwöchiges Schwelfeuer versetzen. Nach Entfernung der verkohlten Stämme, blieb ein geschwärzter Beton zurück.74 Schon der Weg zur Kapelle lässt den Menschen fühlen, wie viel Einfluss die Gestaltung auf das Leben hat. Wenn man den Bau sonntags besucht und mit dem Zug anreist, weil Busse nur spärlich fahren, ist man gezwungen, auf einer

73. Vgl. Katja Thimm: „Seht ihr, ich habe recht gehabt.“ Der Schweizer Architekt Peter Zumthor über die Proteste gegen Neubauten in Deutschland, sein Selbstverständnis als Künstler und seinen Ruf, der Schrecken aller Bauherren zu sein, in: Der Spiegel, Nr. 50 vom 13.12.2010, S. 146. 74. Vgl. ebd., S. 146.


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Schnellstraße ohne Bürgersteig zu laufen oder über Felder. Letzteres ist sicherer und sofort fällt hier die leicht rötlichbraune Erde auf. Nach einigen Hügeln und Tälern und einem langen Fußmarsch, taucht die Kapelle in der Ferne auf. Wie ein Menhir scheint sie unverrückbar auf dem Feld zu stehen. Die Pilgerreise wird fortgesetzt, die Kapelle verschwindet wieder aus dem Blickfeld, das Dorf wird durchquert und dann ist die Kapelle zum Greifen nah. Den ganzen Weg über hat sich ihre Form verändert, denn je nach der eigenen Perspektive, vermutet man im Grundriss ein Quadrat, ein Rechteck, ein Oktogon oder ein Dreieck. Besonders nach der Erntezeit zeigt sich die materielle und somit auch farbige Verbindung zwischen der Erde des Feldes und dem Beton der Kapelle. Endlich angekommen, fallen sofort die 23 übereinanderliegenden und unterschiedlich hohen Schichten rohen Stampfbetons auf, die jeweils ein wenig anders gefärbt und deren Trennungslinien leicht gewellt sind. Der von Weitem monolithisch wirkende Bau lässt somit von Nahmen seinen Aufbau erkennen. Gleichzeitig wird dadurch die ruhig wirkende Einheit der Wand belebt und aufgelockert. Dies wird noch durch unzählige kleine Löcher in jeder


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Schicht unterstützt. An drei der fünf Seiten wurde über dem Boden jeweils eine schmale Schicht polierter Stampfbeton vorgelagert, so dass dort Sitzflächen entstanden, von denen aus in Landschaft geschaut werden kann. Einmal um die Kapelle herum gegangen, befindet man sich vor dem Eingang im Osten. Die schwere Stahltür wurde in der Form eines nach oben hin spitz zulaufenden gleichschenkligen Dreiecks gestaltet. In Fortführung der oberen Spitze befindet sich ein kleines und filigranes Griechisches Kreuz aus Messing. Das Gewicht der Tür ist deutlich beim Öffnen zu spüren und scheint notwendig, da hier in einen massiv wirkenden Felsen eingetreten wird. Durch den physischen Akt des Öffnens, unterstützt die Tür das Gefühl der Bewegung von Schwere, die wiederum zur Masse der Wand überleitet. Möglicherweise verwundert die dreieckige Form der Tür zunächst. Doch schon von außen betrachtet, ist keine andere Form vorstellbar. Eine runde Tür wäre unpraktisch und eine viereckige würde in der rechteckigen Wand kontrastlos verschwinden. Mit der dreieckigen Tür wurde genau der stimmige Moment zwischen deutlicher Wahrnehmung und unauffälliger Einfügung abgepasst. Die Form lässt sich


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natürlich auch durch den dreieckigen Gang erklären, der hinter der Öffnung beginnt. Einen Moment lang ist noch die äußere ockerfarbene Betonwand zu erkennen, doch schon befindet man sich in einer Höhle, die nicht viel mit der äußeren Gestalt gemein zu haben scheint. Im Gegensatz zum hellen und scharfkantigen Außen, ist das Innere dunkel, geschwungen und verjüngt sich nach oben. Ein schmaler und niedriger Gang führt durch ein schwarzes und reliefartiges Gerippe, das seine Prägung durch die halbrunden Negativabdrücke der Fichtenstämme erhielt. Um nicht anzustoßen, muss man darauf achten, in der Mitte zu laufen. Dem Licht nach, wird der schmale Gang in einer leichten Kurve Richtung Westen enger, um sich kurz darauf in einen amorphen und doch abgerundeten größeren Raum zu öffnen. Hier befindet sich der Besucher in einem hohen Zylinder, der nach oben hin schmaler wird und dort völlig offen ist. Ungeschützt können hier Wind, Kälte, Regen und vor allem Licht in die Kapelle eindringen. Auf der gesamten Wandfläche sind kleine Löcher zu erkennen. Diese entstanden durch die Verbindung der inneren und äußeren Verschalung. An der Innenseite wurden


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in die Löcher kleine Glaskugeln gesetzt, die das von oben einströmende Licht reflektieren und den Raum dezent zum Funkeln bringen können. Der gesamte Boden des Innenraums ist mit Blei ausgegossen. Der Andachtsraum weist nicht viele Gegenstände auf. Eine Bank lädt zum Hinsetzen ein, Kerzen können erworben, angezündet und in einen mit Sand gefüllten Kasten an der Wand aufgestellt werden. Daneben befindet sich eine Bronzeplastik, die den Heiligen darstellt. An der Wand ist zusätzlich das Zeichen des Nikolaus von Flüe angebracht, ein Rad aus Messing. Auch der Rückweg führt dem Licht entgegen, da die Tür im geschlossenen Zustand nicht bündig an die Wand anschließt und somit von einem schmalen und hellen Lichtstreifen umrahmt wird, der wieder hinaus weist. Zumthor studierte die Bauaufgabe, den künftigen Gebrauch und den Bauort. Bei Ortsbegehungen ließ er Stimmungen auf sich wirken, versuchte zu verstehen, was er wahrnahm. Er erinnerte sich an Eindrücke seiner Kindheit und Burgen des Basler Jura, die dort aus der Landschaft hinauszuwachsen scheinen und gleichzeitig mit ihr verschmelzen. Etwas Ähnliches wollte er in der Eifel schaffen, einen Andachtsraum,


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der Energie ausstrahlt. Hierzu wurde ein riesiges Modell der Eifellandschaft mit Hügeln, Feldern, Bäumen und Wegen erstellt, nur um dann einen einzigen Strich einzufügen. Nach ausreichender Auseinandersetzung mit dem Ort und der Bauaufgabe, entsteht bei einigen Architekten plötzlich ein Bild, dass als Anfangspunkt der Entwicklung dient und in dem auch schon die Gesamtheit des Projekts vorhanden ist. Dieses geschlossene Bild wird dann ausgearbeitet. Die Form des Innenraumes hat Zumthor jedoch über Jahre entwickelt. Er fragte sich, wie ein Raum zum Nachdenken oder auch zum beten, in dem es keine Liturgie gibt, in der heutigen Zeit aussehen könnte.75 Zumthor verzichtete für den Bau der Kapelle auf ein Honorar, dafür folgten ihm die Bauherren in allen Entscheidungen.76 Zudem minimierten sich die Kosten, da die Bauernfamilie und einige Helfer an der Errichtung des Bauwerks beteiligt waren. Auch die Fichtenstämme wurden aus einem

75. Vgl.THIMM 2010, S. 146. 76. Vgl. KIMMELMAN 2011, S. 65.


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naheliegenden Wald der Familie bezogen.77 Besonders das gewählte Material lässt sich mit dem Haus des Architekten in Verbindung bringen. In beiden Fällen wurde Stampfbeton gewählt, denn dieser kann selbstständig mithilfe weniger Menschen Tag für Tag geschichtet und verdichtet werden. Die kleine Kapelle wirkt komplex und einfach zugleich. Komplex wegen der äußeren Geometrie, die sich ständig zu ändern scheint und vor allem wegen des Innenraums, dessen Form nicht vollständig greifbar wird und dessen Materialität sich nicht unmittelbar erschließt. Nach reiflicher Überlegung konnte Zumthor den Bau auf wesentliche Elemente reduzieren. Die Erscheinung wird einfacher, das Gefüge bleibt komplex. Feuer, Erde, Luft und Wasser sollten sich in der Kapelle vereinigen und erlebbar sein. Durch Beimischungen von Böden der Umgebung im Beton, wird das Gefüge im wörtlichen Sinn geerdet. Auch in den verwendeten Fichtenstämmen finden sich Erde, Wasser und Licht. Diese Stämme waren notwendig als Verschalung, ihre Formen hinterließen Abdrücke im Beton. Durch das 77. Vgl.THIMM 2010, S. 146.


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Feuer gingen die Stämme in einen anderen Zustand über, ihre Spur bleibt aber im Beton wahrnehmbar. Nicht nur visuell durch die verbliebene Schwärze, sondern auch olfaktorisch, da man das verbrannte Holz noch immer in angenehmer Weise riechen kann. Auch der Bleiboden ist mit Bedacht gewählt. Die Erde bildet die Außenhülle, im Inneren gibt es eine Steigerung, das Material ist edler und wirkt beinahe wie aus einer anderen Sphäre, so dass der Raum eine fast überirdische Bedeutung erhält. Der Innenraum ist klein und dennoch nicht bedrängend. Die Beschaffenheit der Wände lässt den Eintretenden im Gang langsamer gehen, gleichsam wird man vom eigentlichen Kapellenraum angezogen. Dort überkommt den Besucher eine befreiende Leere. Durch die obere Öffnung tropft der Regen die Wände hinunter und sammelt sich auf dem Bleiboden. Eine Synästhesie verschiedener Elemente und Abläufe ist wahrnehmbar. Alle Sinne werden gleichzeitig angesprochen, aber nicht überfordert. Es ist eine vollendete Kapelle. Sie schenkt Geborgenheit, Freiheit, Ruhe, Konzentration und Entrückung. Sie ist rätselhaft und klar, archaisch und ihrer Zeit entsprechend. Diese Gegensätze


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und diese Vielzahl an Vorgängen und Veränderungen in ein stimmiges, unaufdringliches und nicht übertriebenes Gefüge zu bringen, ist der künstlerische Verdienst des Architekten. Diese Kapelle ist wahrscheinlich ein Bau ohne konkrete Vorbilder, wie sie in Lehrbüchern anzutreffen sind. Zumthor schöpfte ganz selbstverständlich aus seinen Gedanken und Erfahrungen, sowie aus der endlos scheinenden Kraft der Natur. Im gewählten Material und auch im Umgang damit, finden sich Parallelen zum Haus des Architekten. Doch bedeutsamer als die äußere Erscheinung, ist in beiden Fällen das Innere. Bei beiden Projekten resultiert die Gestalt aus dem Gebrauch. Zumthor stellte sich die komplexe Nutzung eines Andachtsraumes vor und kam nach reiflichen Experimenten zum oben beschriebenen Ergebnis. Da vor allem Baustoffe der Umgebung Anwendung fanden und da die Kapelle technisch relativ einfach zu errichten sein sollte, ist der Bau direkt mit den lokalen Elementen verbunden. Diese wiederum bedingen durch ihre Eigenschaften die Konstruktion. An sich ursprüngliche Rohstoffe wie Fichtenstämme, wurden durch einen geschärften Blick,


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zu einem vielschichtigen Gefüge. Die Reduzierung auf das Grundlegende setzt jedoch ein hohes Maß an Wissen über das jeweilige Material voraus. Auch im Haus des Architekten richtet sich die Entwicklung nach der Nutzung, in diesem Fall sogar direkt mit der Persönlichkeit des Schöpfers verbunden. Auch hier entstand irgendwann ein grobes Bild, das gefüllt, verändert und ausgebaut wurde. Die Anzahl der Räume ergab sich aus dem Gebrauch. Die Ausgestaltung wurde durch den auf die Wesensmerkmale des Architekten bezogenen, kontrollierten Zufall bestimmt. Dieser ersetzte die Rohstoffe, die bei Zumthor zur äußeren und vor allem inneren Form führten.



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Abb. 67 Peter Zumthor Bruder-Klaus-Kapelle Innenraum, Richtung Ausgang Fotografie, Bertram, 18.09.2011



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Abb. 68 Peter Zumthor Bruder-Klaus-Kapelle Grundriss http://ad009cdnb.archdaily.net/wp-content/ uploads/2010/10/1288297979bruder­klaus­chapel­floor­plan.jpg; (31.07.2012)

Abb. 69 Peter Zumthor Bruder-Klaus-Kapelle Längsschnitt http://www.archdaily.com/85656/ multiplicity-and-memory-talkingabout-architecture-with-peterzumthor/bruder-klaus-chapel-section01/; (31.08.2012)


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3.2 Kolumba-Museum Obwohl es sich um ein Museum handelt, ist das Haus des Architekten auch in anschaulicher Weise mit dem Ausstellungsbau Kolumba der Kölner Erzdiözese zu vergleichen (Abb. 70-85). Das Museum befindet sich an einem historisch bedeutenden Ort in der Kölner Innenstadt in Sichtweite des Opernhauses. Nach schweren Zerstörungen im Zweiten Weltkrieg wurden in Köln alle denkbaren Konzepte eines Wiederaufbaus angerissen. So präsentiert sich die Stadt heute teils mit Nachkriegsbauten unterschiedlicher Qualität auf altem oder verändertem Stadtgrundriss, andererseits mit Rekonstruktionen, aber auch durch einschneidende Straßenschneisen.An den meisten Stellen ist das in 2000 Jahren gewachsene Siedlungsgefüge nicht mehr zu erkennen. Am Standort des Kolumba-Museums ist dies anders. Hier stand eine in mehreren Bauphasen errichtete fünfschiffige, gotische Hallenkirche, die im Zweiten Weltkrieg fast vollständig zerstört wurde. Teile der Außenwände, ein Turmstumpf und eine Marienfigur hielten den Bomben


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stand. Bald kam der Wunsch auf, der erhaltenen Madonna ein neues Gehäuse zu geben. Gottfried Böhm lieferte 1949 die Pläne für einen Kapellenneubau im Westen des Areals. Am 7. Dezember 1950 erfolgte die Weihe der Kapelle, die 1956 um einen oktogonalen Anbau erweitert wurde. Für die vom frühen Christentum bis zur zeitgenössischen Kunst reichende Sammlung des Kölner Diözesanmuseums, sollte über 50 Jahre später ein neuer Ausstellungsort entstehen. Die Grundsteinlegung des Neubaus fand am 01. Oktober 2003 statt, am 15. September 2007 wurde der Bau in Anwesenheit des Kardinals eingeweiht.78 Zumthor hatte also die Aufgabe ein Museum innerhalb eines städtischen Gefüges, aber auch in Verbindung mit bestehender Baumasse, zu errichten. Von außen wirkt der Bau wie eine massive ocker-graue Burg mit unterschiedlich hohen Türmen, die sich an den Gebäudeecken aus der Baumasse erheben. Da kein Element in die Horizontale

78. Vgl. Doris Kleilein: Eine Kirche für die Kunst, in: Bauwelt 39 (2007), S. 18-21.



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Abb. 70 Peter Zumthor Kolumba-Museum AuĂ&#x;enansicht, Richtung Nord-Westen Fotografie, Bertram, 04.03.2012



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Abb. 76 Peter Zumthor Kolumba-Museum Innenansicht, Treppe zum II. Obergeschoss Fotografie, Bertram, 16.06.2012


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auskragt, entsteht trotzdem der Eindruck einer Einheit. Wie ein weicher und kleinteiliger Stoff erscheint die homogene Fassade. Der Neubau fügt sich nahtlos an die erhaltenen Außenmauern der Kirchenruine an. Das massig wirkende Museum scheint sich nach außen zu verschließen. Doch riesige Fenster mit Stahlrahmen hängen an den oberen Außenwänden, lassen große Räume dahinter vermuten und lockern die Erscheinung auf. Bei näherer Betrachtung wird der Aufbau der Fassade erkennbar. Diese besteht aus niedrigen und ungewöhnlich langen, übereinandergeschichteten Ziegeln. Letztere verbinden sich im Material und auch farblich, harmonisch mit den Tuffen, Basalten und Ziegeln der Ruine. Zwischen Wand und Öffnung findet sich aber auch noch eine Unterkategorie, die das Innen und Außen zögerlicher miteinander verbindet. Filigran wirkendes Filtermauerwerk hebt an einigen Stellen die Massivität der Wände auf. Durch kleine Lücken in der Mauer dringen Licht, Luft, Kälte und die Geräusche der Stadt wie durch einen Filter nach innen. An der Südseite befindet sich der Eingang zur bestehenden Kapelle, von deren Vorraum auch in das dahinterliegende Grabungsfeld geschaut werden kann.


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Der eigentliche Zugang des Museums liegt unscheinbar an der Westseite. Der subtile und spielerische Umgang mit Masse und Leichtigkeit wird auch hier spürbar, denn ein unheimlich niedriger und langer Sturz scheint die gesamte Ziegelmauer darüber zu tragen. Der Besucher tritt zunächst in einen schmalen und völlig verglasten Raum ein, der wie ein Schaufenster wirkt, das Passanten zum Eintritt locken soll. Zunächst befindet man sich vor einer weiteren Mauer aus Ziegeln. Die Richtung muss nach Norden geändert werden, um das Foyer zu erreichen. Beim Eintritt wird auch die gesamte Mauerstärke erfahrbar, ca. 60 Zentimeter. Eine so massive Ziegelmauer muss tragend sein, da ansonsten unglaublich viel Material verschwendet worden wäre. Gleichzeitig ist aber eine dritte, innere Ziegelmauer aus günstigerem Material zu vermuten. Die Mauerstärke vermittelt also einerseits den Eindruck von Massivität, andererseits wird der Bau durch diese enorme Masse klimatisiert. Die gräuliche Ziegelmauer setzt sich im gesamten Erdgeschoss fort. Eingetreten, befindet sich der Besucher vor der Kassentheke aus Roseneiche, die dahinter an drei Seiten, von in der Wand eingebauten


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Regalen, gerahmt wird. Da die Ausstellungsräume und die in ihnen gezeigten Kunstwerke nicht durch Schilder erklärt werden, erhält der Gast an der Kasse eine Broschüre, in der alle wichtigen Information zum Gebäude und zur Kunst zu finden sind. Der Boden des Erdgeschosses ist vollständig mit leicht ockerfarbenen, polierten und unterschiedlich großen Kalksteinplatten belegt. Gegenüber der Theke befindet sich in einer niedrigeren Holzstube die fensterlose und wohlig dunkle Garderobe. Die rötlich-braune Holzbekleidung dieses Raumes zieht sich bis über die Kanten der ihn umgebenden Mauer und leitet somit hinaus oder hinein. Die durch einen braunen Ledervorhang vom Foyer zu trennende Garderobe, weist schon zu Beginn auf die spielerischen und dezent gesetzten Materialkontraste hin. Das Volumen der Garderobe versperrt den Blick von außen in das Foyer. Denn hinter dieser Masse verbirgt sich im Osten die eigentliche Eingangshalle mit einer Sitzbank aus Leder. Ein vom Boden bis zur Decke reichendes Fensterelement belichtet diese Halle und gibt den Blick auf die mit Kies aufgeschüttete Gartenfläche frei. Dieser Garten wird von einer Stampflehmwand begrenzt, die Assoziationen zur


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äußeren Gestalt der Bruder-Klaus-Kapelle weckt. Vom Hof aus scheint die Begrenzungswand ungefähr zwei Meter hoch zu sein, so dass die Bauten der Stadt dahinter sichtbar bleiben. An der Außenseite ist das Niveau tiefer, der Einblick von dort in den Garten wird erschwert. Innerhalb des Hofes kann der Besucher in der Mitte der Stadt geschützt unter einigen Bäumen sitzen, zur Ruhe kommen oder die Einbindung der Ruine in den Neubau betrachten. Zurück in der Eingangshalle führt eine hohe zweiflüglige Stahltür in den größten Raum des Museums, der die Ausgrabungen und die Kapelle einhaust. Ein weiterer Ledervorhang trennt das Foyer vom teilweise offenen Ausgrabungsraum

und

vermittelt

zwischen

dem

warmen Innern und dem kälteren Zwischenraum. Der Ausgrabungsraum kann auf einem zackig verlaufenden Steg aus rotem Tropenholz begangen werden. Unter diesem Steg erkennt der Besucher Gebäudereste unterschiedlicher Bauten und Bauphasen. Die Kapelle von Böhm und die Ausgrabungen werden von einer Decke geschützt, die von zwölf Meter hohen, filigranen Rundpfeilern getragen wird. Diese stehen wie Nadeln im Ausgrabungsfeld, um


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dieses nicht zu stören. In ihrer Reihung folgen sie nicht den Säulenabständen der ehemaligen Kirche, unterteilen die neuen Kirchenschiffe aber dennoch in drei gleich hohe Hallensegmente. Zumthor ergänzte die stehengebliebenen Kirchenwände und schloss sie bis unter die Decke mit Filtermauerwerk, das ein weinig Licht, Luft und gedämpfte Verkehrsgeräusche in die dämmrige Halle eindringen lässt. Am Ende des Steges gelangt man in einen nach oben hin offenen Raum, die ehemalige Sakristei. Erst auf dem Rückweg wird die oktogonale Kapelle von Böhm mit ihren bläulichen Glasfenstern gänzlich wahrgenommen. Da Zumthor seine Schutzhalle exakt auf den Mauern der alten Kirche errichtet hat, findet sich gegenüber der Kapelle wieder ein dreiseitiger Chorabschluss mit durchbrochener Mauer, die ebenfalls Licht einströmen lässt. Je nach Tageszeit erscheint der Raum in andersfarbigen, fast magischen Lichtern. Durch den Ledervorhang und die Stahltür geht es zurück in das helle Foyer. Vier Treppenstufen weisen den Weg hinauf durch die Ziegelmasse in die Ausstellungsräume des ersten Obergeschosses. Die Treppe führt zunächst Richtung Süden um die Garderobe herum, dann nach Westen und Norden,


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so dass sich der Besucher einmal um die eigene Achse gedreht hat. Schon beim ersten Richtungswechsel weisen die Materialien auf die unterschiedliche Behandlung der verschiedenen Raumkategorien hin. Hier verschwindet das Mauerwerk hinter weich schimmerndem Lehmputz. Dieser wird in allen weiteren Ausstellungsräumen zu finden sein. Ein Indikator für einen Wechsel der Bedeutung ist aber vor allem der Bodenbelag. Die Terrazzo-Stufen der Treppe lösen die Kalksteinplatten des Erdgeschosses ab.Terrazzo wird sich weiterhin bei allen großen durchlaufenden und öffentlicheren Raumfolgen zeigen. Die davon abgehenden privateren Räume wurden mit Mörtelböden versehen. Auch die massiv wirkenden Abhangdecken bestehen aus Mörtel. In ihnen sind neben Leuchten auch Zuluftrohre zu erkennen. Doch zurück zur Treppe. Die glatt polierten und hellen Terrazzostufen korrespondieren mit den etwas dunkleren und rauweichen Lehmputzwänden. Deckenlichter weisen den steilen Weg durch die bedrängend dunkle Lehmmasse. Durch einen Absatz wird die Treppe auf der Geraden in zwei gleichlange Hälften geteilt, die glücklicherweise das vorgeschriebene DIN-Maß überschreiten. Der Umstand schnellstmöglich im


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ersten Obergeschoss anzukommen, wird somit verstärkt. Die Treppe und auch der übrige Terrazzoboden wurden mit einer Schattenfuge von der Wand abgesetzt. Da die Decke in einem mit Boden und Wänden harmonisierenden, aber unterschiedlichen Material ausgeführt wurde, setzten sich alle Raumglieder voneinander ab, bilden aber gleichzeitig auch eine ruhig ineinanderfließende Symbiose. Die Schattenfuge lässt sich aber auch in einer anderen Weise erklären, da erkennbar ist, dass hier die Abluft angesaugt wird, so dass eine nahezu unmerkliche Luftzirkulation entsteht. Im ersten Obergeschoss sind alle Räume fensterlos. Wäre man nicht gerade die Treppe hinauf gestiegen, könnte man meinen, sich tief unter der Erde in einem Labyrinth zu befinden. Das gleitende Raumgefühl der öffentlicheren Hauptausstellungsräume entsteht durch den fugenlos gegossenen Terrazzoboden, der an den Nebenräumen vorbeifließt. Drei flächenmäßig unterschiedliche Haupträume bieten im ersten Obergeschoss Platz für Ausstellungsstücke. Davon abgehend finden sich noch zwei Kabinette, die durch einige Elemente vom Hauptraum abgegrenzt werden. Generell werden alle Nebenräume durch Schwellen und


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den angesprochenen Bodenbelagswechsel materiell, optisch und physisch hervorgehoben. Daneben sind die Öffnungen zu diesen Räumen höchsten zwei Meter hoch, was das Gefühl des Eintretens in einen anderen Bereich verstärkt. Durch das Herausziehen des erhöhten Bodens bis unter die Durchgangsöffnung, entsteht zudem der Eindruck eines abgeschlossenen Raumes im ihn umgebenden größeren Raum. Der nördliche dieser beiden Nebenräume ist ein langgezogenes Rechteck mit zwei Durchgängen. Der südliche Nebenraum wirkt beinahe wir eine Chorscheitelkapelle. Auch hier steigt man eine Schwelle höher und die gesamte Materialität des Raumes zieht sich hinaus bis über die Eingangsöffnung. Hier wird die Dunkelheit des ersten Obergeschosses noch verstärkt, denn der zweite Nebenraum ist völlig mit schwarzem Stoff ausgekleidet. Hierin befinden sich Monstranzen und andere goldene Gegenstände in Glasvitrinen. Der Besucher taucht in einen funkelnden und blendenden Diamanten ein, die Raumproportionen verschwinden völlig. Noch etwas benommen stolpert man wieder hinaus in den Hauptraum. Von hier wird eine Treppe sichtbar, die weiter hinaufführt. Anders als im Geschoss


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darunter, wird der Besucher hier von einem grellen Licht hinaufgezogen, das die oberen Räume völlig aufzulösen scheint. Im zweiten Obergeschoss fällt demnach zunächst die große Öffnung der Westwand auf, durch die das einfallende Licht den Weg weist. Die Behandlung der unterschiedlichen Räume mit verschiedenen Materialien wurde auch in diesem Geschoss beibehalten. Der Raumeindruck ist hier jedoch völlig anders, denn riesige Wandöffnungen lassen Tageslicht in die Räume eindringen und weisen dem Besucher den Weg. Die Fenster stellen eine Besonderheit dar, denn ihre Scheiben sind in Stahlrahmen eingespannt, die größer als die Wandöffnungen sind. Diese Rahmen sitzen vor der Öffnung an der Fassade. Boden, Decke und Lehmputz setzen sich bis zur äußersten Außenwandkante fort. Hier werden diese Elemente durch eine schmale Fuge von der Scheibe getrennt. Eine surreal und beinahe beängstigend wirkende Situation erscheint, da die Rahmen der Scheiben nicht zu sehen sind und die Öffnung wirklich als Loch in der Wand und nicht als Fenster wahrgenommen wird. Es entsteht der Eindruck hinausfallen zu können. Leichte Stoffvorhänge sollen an


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dieser Stelle die direkt einfallenden Sonnenstrahlen filtern. Dieses Geschoss wird vom Licht bestimmt und so wirken die schon ein Geschoss tiefer angetroffenen Materialien plötzlich völlig anders. Licht und Schatten lassen wechselvolle Spiele auf den weichen und immer wieder andersfarbigen Wänden entstehen und der polierte Boden wird zur Spiegelfläche. Der Raum und die Kunst werden wie durch eine seidig und leicht wellige Seeoberfläche reflektiert. Alle unterschiedlichen Stofflichkeiten verschwimmen zu einer beruhigenden Einheit. Im zweiten Obergeschoss gibt es fünf von einander versetzte und gleich hohe Räume, die durch den Boden und Blickbeziehungen miteinander verbunden sind und ein Gefüge bilden. Über der Ausgrabungsfläche nimmt dieses verwinkelte Raumgebilde die größte Fläche ein. Drei Trakte gruppieren sich um dieses gewaltige Zentrum. Jeder Trakt besteht aus einem Nebenraum, der nur vom Zentrum aus erreichbar ist und der durchquert werden muss, um in einen der drei Türme zu gelangen, die schon von außen aus der Baumasse herauszuwachsen schienen. Alle Haupträume werden durch die zuvor beschriebenen raumhohen


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Fenster belichtet, die Nebenräume sind fensterlos und die Turmräume erhalten jeweils Licht von einer schmalen Öffnung unter der Decke. Weißliches, sandgestrahltes Glas filtert hier das einströmende Licht und lässt die Räume gedämpft erscheinen. Wie im Geschoss darunter, so sind auch hier die Böden der Nebenräume aus Mörtel, der rauer wirkt als der spiegelnde Terrazzo und das Licht stärker in sich aufnimmt. In einem dieser Nebenräume wurde eine Wand vergoldet. Wie Tanizaki es bewundert, nimmt diese Fläche in der Dunkelheit das wenige Licht auf und lässt eine ungeheuer warme Tiefe entstehen. Eine Besonderheit dieses Geschosses bildet der vollständig mit Mahagoni ausgestatte Leseraum, der eine Verbindung zur hölzernen Garderobe schafft. Der bis über die Lehmputzwand hinausgezogene Türrahmen verweist schon von Weitem auf den Eingang. Die besondere Stellung dieses Raumes wird auch dadurch deutlich, dass dies der einzige schließbare Nebenraum ist. Ein Schwelle trennt Terrazzo vom Holz und den Türen des Raumes, der Leseraum erhält Eigenständigkeit. Scheinbar verbindungslos treffen die Hölzer aufeinander und ergeben zusammen ein reliefartiges


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Muster. Das edle Material lässt den Raum gleichzeitig erhaben und behaglich wirken. Auf einer eingebauten Holzbank vor dem raumfüllenden Fenster, kann der Besucher lesen oder einfach nur hinausschauen. Beim Hinabsteigen Richtung Erdgeschoss wird ein weiteres Detail spürbar. Denn über der unteren Treppe ist ein hoher rechtwinkliger Luftraum zu erkennen und nicht die Stufen oder Schräge der darüber zu vermutenden Treppe. Der Grundriss lässt erkennen, dass die obere Treppe näher an der Außenmauer liegt als die untere. Obwohl die Richtungswechsel beibehalten werden, entsteht somit doch der Eindruck einer anderen Position im Raum. Zusammenfassend sollen einige Elemente des Gebäudes festgehalten werden. Zumthor erschafft mit grundlegenden Mitteln und Materialien ein im Detail kompliziertes Gebilde, dass auf den Besucher aber wieder beruhigend wirkt. Die Mauerwerksziegel verweisen auf die Baumaterialtradition der Stadt und bewirken eine Verbindung zwischen dem Bestand und dem Neubau ohne Brüche. Von Weitem wirkt der Bau, durch seine großen Volumen und durch die einheitlich erscheinende Fassade, monumental. Die niedrig-langen und


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hellen Ziegel, die eingebundenen Ruinen, die riesigen Fenster und auch das Filtermauerwerk, lockern die Erscheinung auf und lassen den Bau von Nahmen feingliedrig wirken. Das massige und gleichzeitig subtil elegante Äußere, tritt in der Bedeutung zum Inneren etwas zurück. Das Gebäude scheint von innen, aus seiner Nutzung heraus entstanden zu sein. Die Gestalt der Innenräume resultiert aus wenigen Elementen, die doch eine nahezu unendliche Variationskraft entwickeln. Verwendet wurden ursprüngliche Materialien wie Ziegel, Mörtel, Naturstein, Terrazzo, Lehm und Holz. An Skizzen wird deutlich, wie Zumthor dachte: Er übernahm zunächst die Grundstücksgrenzen und fügte dann die Raumvolumen ein. Schon hier ist der Unterschied zwischen Masse und Raum erkennbar, der gleichzeitig gedacht wurde. Gelb schraffiert wurde die Fläche des ineinander übergehenden Hauptausstellungsraums, schwarz schraffiert wurden die massiger wirkenden, geschlossenen Nebenräume. Der Weg um diese Masse herum wird vom Licht vorgegeben, das durch raumhohe Fenster einfällt. Um den Besucher zu leiten, ist also nicht der Ausblick wichtig, sondern die angestrahlte Wand. Von einem Teil des Hauptraumes


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kann immer nur die hell erleuchtete Wandfläche eines nachfolgenden Hauptraumes wahrgenommen werden, nie ein direkter Ausblick. Der Besucher wird also wie von selbst durch die Ausstellung gezogen. Dieses Phänomen wird durch den spiegelnden Terrazzoboden noch verstärkt, da er den Raum in unterschiedlichem Licht aufzulösen scheint. Der Besucher schwebt beinahe durch die Räume, kann sich treiben lassen und scheint sich nahezu selbst aufzulösen. Mit ausbalancierter Genauigkeit wird dieser Vorgang an einigen Stellen sensibel gebrochen. Die unbelichteten Nebenräume wirken trotz gleicher Wandmaterialität warm, stumpfer und rau, anstatt glatt und tiefgründig. Die beinahe immateriell erscheinenden Räume des zweiten Obergeschosses bilden zudem einen starken Kontrast zum ausschließlich mit künstlichem Licht beleuchteten ersten Obergeschoss. Auch hier wird trotz gleichbleibender Materialität eine völlig andere Atmosphäre erzeugt. Die Masse der Wand und das Erdige des Lehms und Mörtels sollen spürbar erlebt werden. Um diese Gefühle zu erzeugen, muss die Masse der Nebenräume versetzt in die Haupträume hineinragen. Der Besucher ist gezwungen in labyrinthischen Wegen um diese Nebenräume


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herumzugehen, so dass ein Gefühl der Wahrnehmung von Masse entsteht. Gleichzeitig wird man durch die räumlichen Elemente dazu bewegt, sich treiben zu lassen, auf eine Entdeckungsreise zu gehen und sich zu verlieren. Doch auch dieser Vorgang scheint berechnend genau ausbalanciert, da sich der Besucher nie verloren oder hilflos fühlt. Bewusst sind alle Wege vorgeben. Dieses geschieht jedoch auf subtile Weise, so dass sich der Besucher nicht bedrängt, genötigt oder gelangweilt fühlt. Der Museumsdurchgang bietet also ein geleitetes Verlorengehen. Die wenigen Materialen harmonieren so gut miteinander, dass die Räume eine fast sakral übernatürliche Aura erhalten. In einem Diözesanmuseum ist dies vielleicht nicht unangebracht. Die schon angesprochenen räumlichen Brüche mildern jedoch diesen Eindruck. Neben der je nach Belichtung unterschiedlich scheinenden Materialität,behalten alle Elemente ihre Eigenständigkeit. Der Terrazzoboden ist von der Wand abgesetzt, die Holzbekleidung einiger Räume zieht sich hinaus bis über die Wandkante, wo sie ebenfalls mit einer Fuge abgesetzt ist. Die intendierte Atmosphäre geht somit sicherlich nicht verloren, womöglich wird sie


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eher verstärkt, das gesamte Gefüge löst sich keineswegs in eine undefinierbar immaterielle Stofflichkeit auf. Gerade dieses präzise Wechselspiel verschiedener Zustände lässt den Bau einerseits vor Ausstellungsstücken unterstützend zurücktreten, behält andererseits aber immer seine unaufdringliche Präsens. Stille Nachdenklichkeit kommt selbst in Museen oft nicht auf, da Installationen, geführte Besuchergruppen und Audioguides mehr Aufmerksamkeit beanspruchen als die damit zum Schweigen gedrängten Ausstellungsstücke. Im Kolumba-Mueum ist dies anders: Schon die Materialität und der damit hervorgerufene Widerhall in den Räumen, lassen die Besucher flüstern. Zudem sind Gruppenführungen nur vor oder nach den regulären Öffnungszeiten möglich. Ein stummer Dialog des Betrachters mit der Kunst wird durch das Ausstellungskonzept möglich. Auf gegebenenfalls störende Beschriftungen neben den Kunstwerken wurde verzichtet. Der Besucher kann sich völlig unbefangen auf das einlassen, was er vorfindet. Bei aufkommender Erklärungsnot hilft das kleine Begleitheft mit Informationen zu allen Ausstellungsstücken. Kunstwerke nahezu jeglicher


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Epochen stehen sich gegenüber, herausgenommen aus ihrem kulturgeschichtlichen Kontext, so dass einige Kritiker sich zu vorschnellen Äußerungen hinreißen lassen: „Zeitgenössische Kunst wird religiös aufgeladen, kirchliche Werke müssen sich ästhetisch behaupten. Auch wenn man Kunst nicht immer erklären muss, hier wird sie verklärt.“79 Diese Behauptung setzt eine Kategorisierung von Kunst nach naiven Prinzipien voraus. In einem Museum mit konventioneller Ausstellungsorganisation, könnte

der

Besucher demnach beruhigt wahre Kunst betrachten, die nach Epochen sortiert wurde. Da dieseWerke beschriftet in einem Museum hängen, müssen sie einen hohen künstlerischen und gesellschaftlichen Wert haben. In einem Diözesanmuseum wird ein seelsorgerischer Ansatz wohl kaum zu leugnen sein, weiterhin zeigt die Katholische Kirche hier aber einen sehr intelligenten Grundgedanken. Weg von vorbestimmten Einteilungen, kann sich der Rezipient unmittelbar auf die

79. KLEILEIN 2007, S. 23.


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gezeigten Objekte einlassen und gleichzeitig ist er gezwungen seinen eigenen Kunstbegriff infrage zu stellen und sich tatsächlich mit dem Wesen der Werke zu beschäftigen. Die Annahme der Verklärung von Kunst scheint irrelevant, da der Besucher ganz im Gegenteil zu mehr Aufmerksamkeit erzogen wird. Mehr kann von einem Museum wohl nicht erwartet werden. Auch der Umgang mit den bestehenden Gebäuden und Ruinen wurde kontrovers diskutiert. Der Schutzbau über der Kapelle und den Ausgrabungen wurde als unzensierte Erinnerungslandschaft

konzipiert.

Dem

Besucher

werden keine narrativen und vorbestimmten Meinungen aufgezwängt. Der Ort, der Raum und die Objekte sprechen für sich. Feinfühlig wurde alles so konserviert wie es vorgefunden wurde. Gleichzeitig erschafft Zumthor einen neuen Kirchenraum mit Böhms Kapelle als Reliquienschrein. Einerseits wird die Kapelle selbst zu einem Ausstellungsstück. Da sie aber nicht direkt vom Innern des Museums zugänglich ist, behält sie andererseits ihre Eigenständigkeit. Besser hätte es nicht gelöst werden können, da kein Element ein anderes bedrängt, alle Teile ihre volle Wirkung entfalten können und


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trotzdem ein harmonisierendes Gefüge entsteht. Viele Museen wollen Orte der Offenheit sein. Dieses wirkt verschlossen, will aber entdeckt werden. Es entstanden geheimnisvolle

Raumfolgen

mit

stets

wechselnden

Proportionen und Lichtsituationen, inszenierten Ausblicken und auch sorgfältig ausgearbeiteten Details und edlen Oberflächen, die wahrscheinlich noch nach vielen Jahren nichts von ihrer würdevollen Aura verloren haben werden. Zumthor ist ein Meister der komplizierten Kunst des Einfachen.Anders gesagt, das einfach erscheinende Sichtbare, setzt eine sehr komplizierte unsichtbare Struktur voraus. Kolumba ist kein Museum, das mit schrillen Formen als Teil einer Marketingstrategie nach Aufmerksamkeit schreit. Es ist ein unaufgeregter Bau, ein Ort des ruhigen Nachdenkens und eine angemessene Hülle für eine großartige Kunstsammlung. Denn Kunst und Gebäude verschmelzen hier. Die Kunst wird von der Architektur dennoch nicht vereinnahmt, sondern gegenteilig durch diese hervorgehoben. Aber auch die Architektur bleibt in gleichzeitig prägnanter und unterschwelliger Weise stets spürbar. Obwohl man sich architektonisch sicherlich gegen den Bilbao-Effekt und die


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Produktion von Events stellen wollte, sichert auch der Name Zumthor Besucherströme, die jedoch nicht den unzivilisierten Formen des Massentourismus angehören. Der Entwurfsvorgang des Kolumba-Museums und der vollendete Bau selbst, weisen viele Gemeinsamkeiten mit dem Haus des Architekten auf, die nachfolgend erläutert werden. Beide Entwürfe funktionieren grafisch, obwohl sie ausschließlich räumlich gedacht wurden. Der Grundriss des Kolumba-Museums würde nach heutiger Lehrmeinung als unsauber bezeichnet werden. Eine Wand trifft in ihrer Fortführung beispielsweise nicht auf die Wandkante eines Fensters, sondern auf die Glasscheibe. Dass Beziehungen zwischen räumlichen Elementen dadurch spannungsreicher wirken, untermauert dieThese, dass Zumthor räumlich denkt. Der Grundriss dient in beiden Fällen der groben Festlegung der Volumen, die danach durch Reduzierung zu einem stimmigen Gefüge verbunden werden. Genau wie Zumthor, markiert auch der Architekt zunächst großflächig Masse und Leere. In beiden Entwürfen werden die Nebenräume später in die dunkleren Flächen eingefügt. Jeweils soll Masse entweder suggeriert oder tatsächlich wahrgenommen


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werden. Dort wo Zumthor den Besucher um mehrere Räume herumführt, wird eine enorme Massivität vermutet. Erst bei Durchgängen zeigt sich die wahre Wandstärke. Zum einen taucht der Besucher somit in die Masse ein, zum anderen wird er aber auch nie bedrängt oder erschlagen, da das Wechselspiel zwischen Masse und Luftigkeit ausgeglichen ist. Besonders im Erdgeschoss zeigt sich die tatsächliche Masse bei den Zugängen zum Museum und zum Hofgarten. Im Haus des Architekten wird die eigentliche Wandstärke beinahe nie bemerkt, da unendlich scheinende Gänge, Kanten, Spiralen und Ecken ständig zwischen Raum, Masse und dem Dazwischen vermitteln. Selbst bei Öffnungen wird zunächst Masse und kein Nebenraum vermutet, da zusätzlich eingezogene Wände den Blick auf die ausgehöhlte Masse versperren. Beide Entwürfe wirken im Grundriss zunächst verwirrend, es scheint schwierig zu sein, sich zurecht zu finden. Im Kolumba-Museum spielt Zumthor pro Geschoss mit drei ganz unterschiedlichen Atmosphären und Raumwahrnehmungen, obwohl sich die Materialien nicht wesentlich verändern. Dem Besucher werden also verschiedene Möglichkeiten suggeriert, den


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Raum zu durchwandern, obwohl er eigentlich nur eine hat. Entscheidend sind hierfür in beiden Entwürfen das Licht und vor allem die Dunkelheit. Beide Architekten arbeiten aus der Dunkelheit heraus, was nicht selbstverständlich ist. Heutige Bauten werden oft nicht den Bedürfnissen angepasst belichtet, sondern komplett geöffnet und somit an den unpassendsten Stellen völlig überbelichtet. Ein sich überall wiederholendes, kaltes Weiß, verstärkt bedauerlicherweise diesen Vorgang. Der Besucher empfindet es angenehm, das jeweilige Gebäude entdecken zu dürfen und ein Teil der Räume zu werden. Trotzdem wird man sich nicht verlieren, denn der einzig mögliche Weg wird vom Licht bestimmt. Unbewusst folgt der Besucher dem vorgegebenen Pfad und behält trotzdem ein Gefühl der Neugier und Sicherheit. Mit fast kindlicher Leichtigkeit darf alles ergründet werden, da sich die Entdeckungsreise in einem geschützten Rahmen bewegt. Aus der dunklen Masse auftauchend, weist das Licht auf den Wänden den Weg. Es geht nicht um den Ausblick, sondern um die präzise gesetzte Belichtung bestimmter Raumteile. Der Besucher sieht zunächst nicht direkt hinaus.


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Aus der dunkleren Masse heraus, erahnt er im Hellen weiter entfernt liegende Räume. Im Haus des Architekten wird diese Lichtführung besonders deutlich, da es sich teilweise unter der Erde befindet und direkte Ausblicke meist sowieso nicht möglich sind. Durch die Belichtung von oben wird der Masse im Haus des Architekten teilweise die Schwere genommen. Auch Zumthor spielt mit Masse und Leichtigkeit. Im Erdgeschoss wirkt dieser Gegensatz fast gleichberechtigt, da die Räume teilweise stark belichtet werden, aber auch die Mauerstärke erkennbar bleibt. Die dunkle Masse der Garderobe bildet einen Gegenpol zum raumhoch durchbrochenen und hellen Gartenfoyer. Darüber befindet sich im ersten Obergeschoss eine Höhle, die ganz ohne Tageslicht auskommt. Man steigt also in die Masse hinauf, was die gewohnte Wahrnehmung in positiver Weise umkehrt. Das oberste Geschoss scheint sich im Kontrast an einigen Stellen völlig im Licht aufzulösen. Dort, wo nicht nur das Licht sichtbar gemacht wird, sondern ein direkter Ausblick möglich ist, entsteht ein surreales Bild. Da die Räume im Licht ihre Starre verlieren, bildet sich ein fast sakral-übernatürlicher Zustand. Der Ausblick auf die profan


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und unrein wirkende Stadtlandschaft wird zur Nebensache. Der Besucher blickt nicht hinaus auf ein Bild der Stadt, er befindet sich längst selbst in einem Bild. Er ist zu einem Teil des räumlichen, inneren Bildes der Architektur geworden. Dieses Phänomen wird im Haus des Architekten vielleicht noch deutlicher, da Ausblicke zwar möglich sind, aber direkt vom Sanddorn, vom Licht oder anderen Räumen abgefangen werden. Der Mensch blickt nicht hinaus, er blickt in ein inneres Bild, in sich hinein. Zumthor, sowie der Architekt, gingen in ihren Überlegungen vom Raum aus, nicht vom Grundriss. Im ersten Schritt sollte kein Bild erzeugt werden, dieses hat sich im Laufe des Prozesses selbst erzeugt. In vielen Fällen bleibt zeitgenössische Architektur bei diesem äußerlichen Bild stehen. Es kann ein kurzweilig beeindruckender, aber oberflächlicher Effekt entstehen. Die auffallende Hülle ist hier das Wichtigste. Die dahinter hinein gezwängten Räume, können inhaltsleer werden. Dagegen wirken die Räume des Kolumba-Museums und die des Hauses des Architekten in ihrer ursprünglichen Kraft. Reduziert auf die Grundlagen der Architektur, gibt es in beiden Fällen nur Licht und Raum,


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so dass ein direkter emotionaler Anspruch entsteht, der den Besucher zu einem Teil des Raumes werden lässt. Dieses Gefühl wird dadurch hervorgerufen, dass konstruktive und technische Störfaktoren nicht wahrnehmbar sind. Wie bei einer Architekturstudienübung niedriger Semester, konzentriert man sich zunächst auf den Raum, technische Details spielen keine Rolle. Im vollendeten Entwurf sind natürlich alle Elemente eines Gebäudes bedeutend, so dass klar wird, wie komplex einerseits beide Entwürfe sein müssen, da alle notwendigen Faktoren berücksichtigt wurden und wie viel Wert andererseits auf den reinen Raum gelegt wird, da das komplexe Gefüge nicht direkt zu erkennen ist. Beide Entwürfe wirken in der Begehung atemberaubend einfach, entstammen aber doch einem sehr komplizierten und dennoch sinnvollen System. Oft verhält es sich in zeitgenössischen Bauten andersherum, da die notwendigen und komplexen Elemente sichtbar bleiben, um beispielsweise die bedeutende ingenieurtechnische Leistung zu zeigen. Das Gebäude wird dadurch aber keineswegs anschaulicher erklärt, sondern sorgt für unbehagliche Verwirrung. Viel schlimmer ist aber, dass dadurch vom eigentlichen Raum


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abgelenkt wird, der im Falle des Kolumba-Museums und im Haus des Architekten immer den Menschen und seinen Ausdruck unterstützt. Die Räume können hier an sich wahrgenommen werden, doch ihre Berechtigung erhalten sie erst durch das Individuum. Im Gegensatz zu Bauten, die oberflächliche Bilder bleiben, muss nochmals festgehalten werden, dass Mensch und Raum im Kolumba-Museum und im Haus des Architekten eine Synthese bilden, die nur im Zusammenhang einen Sinn ergibt. Auch in der detaillierteren Ausgestaltung und Bespielung der Räume finden sich Ähnlichkeiten zwischen beiden Entwürfen. Jeweils wird zwischen Haupt- und Nebenräumen unterschieden.Durch Schwellen,Stufen und unterschiedliche Raumhöhen und -proportionen, werden die verschiedenen Räume und Funktionen von einander getrennt. Im KolumbaMuseum stolpern die Besucher regelrecht in Nebenräume hinein, da die Schwellen fast unmerklich sind, den Raumfluss also nicht stören und doch anzeigen, dass dort ein anderer Bereich beginnt. Das physische Erleben des Raumes ist hier Teil des Spiels, das Gebäude kennenzulernen. Der sparsame Gebrauch von miteinander kommunizierenden Materialien


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im Haus des Architekten, scheint ein direktes Zitat der Arbeitsweise Zumthors zu sein. Hier wie dort werden ihrer Bedeutung nach abgestufte Materialien im Zusammenhang mit der Bedeutung eines bestimmten Raumes verwendet. Die Gänge im Haus des Architekten zeigen unvermittelt die Rohheit des Stampfbetons. Holzverkleidungen lassen Räume ebenso edel wie gemütlich erscheinen. In beiden Fällen ist die Bekleidung jedoch sichtbar. Im Wohnzimmer des Hauses des Architekten ist die Stärke der Holzvertäfelung beispielsweise an allen Wandöffnungen zu sehen, deren Seiten nicht verkleidet wurden, um deutlich zu machen, dass dort die eigentliche Wand beginnt. Und auch Zumthor zieht seine Holzverkleidungen über die Räume hinaus und zeigt außerhalb die eigentliche Wand aus einem anderen Material. In beiden Projekten lässt sich zusammenfassend die Suche nach einer übergreifenden Ordnung, nach Maß und Proportion und nach Schönheit feststellen. Der Mensch und sein Wahrnehmung, seine Sehnsüchte und Erfahrungen stehen im Vordergrund und werden durch die Architektur beinahe unmerklich unterstützt. Die Kunst ist es in beiden


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Fällen, selbstverständlich wirkende Gebäude zu erschaffen, die eigentlich sehr komplex sind.



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Abb. 77 Peter Zumthor Kolumba-Museum Innenansicht, II. Obergeschoss, Leseraum Fotografie, Bertram, 16.06.2012



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Abb. 80 Peter Zumthor Kolumba-Museum Innenansicht, II. Obergeschoss Hauptraum Fotografie, Bertram, 16.06.2012



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Abb. 84 Peter Zumthor Kolumba-Museum Grundriss, II. Obergeschoss In: KLEILEIN 2007, S. 25.

10. Ausstellungsgeschoss 2 11. Ostturm 12. Nordturm 13. SĂźdturm 14. Lesezimmer


III. SCHLUSS


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1. Zusammenfassung Am Anfang stand die ausführliche Beschreibung und Analyse der Diplomarbeit Das Haus meiner Selbst. Der Entwurf und der Entwurfsvorgang wurden umfassend geschildert. Am Beschreibungsverlauf ist erkennbar, in welcherWeise sich der Architekt auf das Thema vorbereitet hat. Zunächst begab er sich auf eine Suche nach Gedanken, Bildern und natürlichen Gegebenheiten. Die Idee eines in Architektur übertragenen Selbstporträts kam auf und die Aufgabenstellung wurde konkreter. Erste Parameter und Atmosphären entstanden, die zu einer Grundstückssuche führten. Viele Areale wurden auf ihre Tauglichkeit hin analysiert und doch wieder verworfen. Schließlich fand sich ein geeigneter Bauplatz auf einem Felsen über der Ostsee. Das Grundstück erfüllte die gewünschten Faktoren und ließ sofort neue Bilder und einen Ort entstehen. Nach Überlegungen zur architektonischen Raumbildung, die durch Dom Hans van der Laan inspiriert wurden, musste eine Möglichkeit gefunden werden, die physische Beschaffenheit des Architekten in bauliche Elemente und räumliche Volumen zu übersetzen. Hierzu


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wurden John Cage und Le Corbusier herangezogen, denn Letzterer verweist durch das Maßsystem Modulor auf die Übertragung von menschlichen Abmessungen in Architektur. Die wenigen Anhaltspunkte und Beschränkungen, die das Grundstück bot, reichten nicht aus, um entwerfen zu können. Denn nahezu völlige Freiheit erschwert eine sinnvoll bezugnehmende Kunst. Eine Art determinierende Beschränkung musste gefunden werden, um ein Gefüge zu entwickeln, dass später subjektiv bearbeitet werden konnte. Der Architekt ließ sich von John Cage leiten, der mit Zufallsoperationen arbeitet, deren Parameter durch die eigene Person festgelegt wurden und somit einen Urheber haben. Hieraus entstand das beschriebene Spiel zur Erschaffung der Räume und des Gesamtgefüges. Im nächsten Schritt wurde das Haus des Architekten weiter personalisiert. Unzählige Künstler und Werke waren für die Diplomarbeit bedeutend, einige davon wurden für diese Arbeit als Beispiele ausgewählt. Hervorzuheben sind traditionelle japanische Häuser mit ihren fein inszenierten Atmosphären und Lebensabläufen. Aber auch der durch Loos verbildlichte Umgang mit sich durchdringenden


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sowie kontrollierenden Innenräumen und ihrer sorgsam an das Leben angepassten Materialität, waren wichtig für die Anregung zur Gestaltung des Hauses des Architekten. Am inspirierendsten aber war die Arbeitsweise Peter Zumthors, die zu den meisten Vergleichen führte. Am Anfang steht bei Zumthor sowie beim Architekten die Entstehung des Ortes, der mit Bildern gefüllt wird. Nicht die genaue Beobachtung ist wichtig, sondern der besondere Eindruck, der zurückbleibt, also die eigene Erinnerung einer Situation. Erinnerungen werden eingefärbt, mit anderen Bildern verknüpft und zu neuen verdichtet. Zumthor wie auch der Architekt versuchen diesen Atmosphären nachzuspüren und sie für Entwürfe zu nutzen. Dies ist ein vielfach verschränkter und langwieriger Prozess, der genaue Analysen und vor allem Geduld voraussetzt. Mit allen Sinnen lassen sich Zumthor und der Architekt auf den Ort ein, lassen Bilder reifen und versuchen den Entwurf körperlich zu denken. Bilder einer Atmosphäre können dann auf ihre Wirkung hin analysiert und nachempfunden materiell konstruiert werden. Um den emotionalen Anspruch einer Atmosphäre zu erhalten, müssen Mittel


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gefunden werden, eine Übertragung der Emotion auf die Zeichnung oder das Material zu ermöglichen, bevor der Verstand die Komponenten der Konstruktion einer Atmosphäre verstanden hat. Die Kunst des Entwerfens besteht demnach in einem ständigen Wechselspiel zwischen Gefühl und Verstand. Die Kraft eines guten Entwurfs liegt also in den Menschen selbst und in der Fähigkeit, die Welt sinnlich und gedanklich wahrzunehmen. Die Welt besteht jedoch aus Zeichen und Informationen, die für Dinge stehen, die niemand vollends versteht. Das Wahre bleibt verborgen. Trotzdem existieren Zusammenhänge, die keine künstlichen Botschaften tragen und deren Gegenwart selbstverständlich ist. Die Wahrnehmung jenseits der Zeichen ist still, unvoreingenommen und nicht besitzergreifend. Zumthor und der Architekt verweisen deshalb auf die besondere Kraft des Selbstverständlichen. Die beschriebenen komplexen Entwurfsvorgänge beider Architekten zeigen, dass es eine Kunst ist, ein Gebäude selbstverständlich erscheinen zu lassen. Die Unbestimmtheit einer Atmosphäre berührt den Menschen, verlangt aber nach Präzision im Detail. Das


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wahre Wesen der Einzelheiten muss erkannt, zugelassen und zu einem Ganzen gefügt werden. Die Qualität dieser Verbindungen bestimmt in hohem Maße die Qualität des fertigen Objekts. BeideArchitekten arbeiten mit der japanisch wirkenden Herangehensweise der Vervollkommnung bis zur Unscheinbarkeit. Würde und Tiefe entstehen, wenn etwas verborgen bleibt. Die Konstruierung der Atmosphäre ist nicht wahrnehmbar, die präzise erschaffenen Räume lassen Emotionen zu. Wenn die Materialeigenschaften im Kern verstanden sind, wenn das Zusammenfügen gelingt, können die Materialien zum Strahlen und Klingen gebracht werden. Beide Architekten scheinen Meister des subtilen Zusammenfügens zu sein, des Vereinens von Gedanken, historischen Motiven, Erfahrungen und Emotionen. Auf den ersten Blick sind die konstruktiven Elemente nicht wahrzunehmen. Bevor der Verstand seine Analyse beginnt, sind die Räume beider Architekten schon empfunden. Die komplex konstruierten Gebilde, die einfach und schlicht erscheinen, können unmittelbar auf das Empfinden des Besuchers wirken, da alle vom eigentlichen Raum ablenkenden Elemente verborgen bleiben. Diese in sich


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geschlossene Gestaltung kann einen magischen Zauber auslösen. Der gebaute Raum soll den Benutzer aufnehmen und unauffällig unterstützen. In den Räumen Zumthors und des Architekten wird ein Wechselspiel zwischen Führung und Verführung wahrgenommen. Es entsteht eine spannungsreiche und wohltuende Balance zwischen Verständnis und Unverständnis, zwischen Anziehung und Verstörung, zwischen dem Neuem und der Erinnerung. Ein zu errichtendes Gebäude muss aus der Stille heraus gedacht werden. Ebenso wichtig sind der menschliche Maßstab und das Licht. Beide Architekten begreifen Gebäude als Schattenmasse, in die Licht einsickert und beide verstehen den Entwurf als Aushöhlungsprozess. Zumthor und der Architekt setzen sich zum Ziel, zur Essenz der Dinge zu gelangen. Wenn nichts fehlt und nichts hinzugefügt werden muss, beginnt das Werk zu leuchten. Es bedarf dann keiner Erklärung. Der offene Betrachter wird es wahrnehmen und auf unterschiedlichen Ebenen verstehen.


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2. Intention und Kritik Verschiedene Gründe führten zur vorliegenden Arbeit. An der Universität Bamberg erlebte ich einen Vortrag einer promovierten Kunsthistorikern zu Werken Cy Twomblys. Die Vortragende merkte gegen Ende ihrer Ausführung an, nicht genügend herausgefunden zu haben, obwohl sie lange Zeit zu den Vortragsthemen geforscht hatte. Weiterhin erklärte sie, dass der Künstler zu keinerlei Interviews bereit gewesen war. Ich kann nicht abschätzen, inwieweit nachfolgende Generationen das zusammengetragene Wissen unserer Zeit für sich nutzen können, trotzdem fehlt mir bei solch einer Forschungsarbeit der Bezug zur Praxis. Falls Künstler ihre Werke ernst nehmen und zur selben Zeit leben wie Wissenschaftler, die sich für diese Kunst interessieren, sollte ein unaffektierter Informationsaustausch möglich sein. Kunstgeschichte ist sicherlich die anschaulichste Geisteswissenschaft, darüber hinaus aber möglicherweise auch die wichtigste. Denn sie konzentriert sich auf die Geschichte der Kunst. Erst durch Kunst erkennt sich der Mensch selbst. Wer die Kunst nicht verstehen lernen will,


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wird sich selbst nicht verstehen. Wenn die Kreation von Kunst also ausschlaggebend für die Existenz des Menschen ist, muss auch das erarbeitete Wissen darüber den Weg zurück zum Menschen finden. Kooperationen zwischen verschiedenen Disziplinen bieten sich also an. Was nützt es dem Kunsthistoriker, wenn er theoretisch versteht, in welcher Weise ein Kunstwerk oder auch ein Gebrauchsgegenstand am besten ausgeführt wurde oder werden könnte? Und was nützt dem Architekten eine Ausbildung, in der er die Errungenschaften der Vergangenheit nicht erkennen lernt? In einer Kooperation können die Recherchen des Kunsthistorikers dem Architekten als Inspiration dienen. Gleichsam wird das vollendete Werk dann in den Kontext der Kunstgeschichtsschreibung aufgenommen. Für diese Arbeit sollte ein künstlerischer Entwurfs- und Werkprozess von Beginn an begleitet und verfolgt werden. Durch die umfangreiche Recherche nimmt die Kunstgeschichte direkten Einfluss auf die Entwicklung des architektonischen Werks und kann dieses nach der Vollendung in den kunsthistorischen Kontext einbinden. Ausführlich wurden die Arbeitsweise und der Diplom-


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Entwurf des Architekten beschrieben. Das Experiment der Verbindung von kunsthistorischer Recherche und architektonischer Entwurfspraxis, zu einem gemeinsamen Projekt, ist geglückt. Wie Alberti es beschrieben hat, muss ein Architekt in vielen Disziplinen ausgebildet sein, um den komplexen Berufsanforderungen gerecht zu werden. Nicht jeder Architekt ist auch ein Entwerfer, obwohl dies natürlich eine Vorraussetzung für die sinnvolle Ausübung dieses Berufs sein sollte. In der heutigen Zeit kann jeder Mensch Architekt werden, ob die erwünschte Leidenschaft nun vorhanden ist oder nicht. Ein Vergleich zwischen einem beliebigen Neubaugebiet und allen bisher im Text erwähnten Beispielen, zeigt große Unterschiede in der Qualität. Woran liegt das? Sind die unpassionierten Architekten an allem Schuld? Wohl kaum. Schon Loos beklagt sich Ende des 19. Jahrhunderts über die Schattenseiten der Marktwirtschaft und der Regentschaft des Geldes. Cage spricht sich danach noch stärker gegen die Übermacht der Politik und des Geldes aus, gegen ein System, das niemand völlig nachvollziehen kann. Nicht die Architekten, sondern die Politik und die daraus resultierende unterlassene Bildung sind Schuld


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an einer auf Gewinnmaximierung und vermeintlicher Wirtschaftlichkeit ausgerichteten Bautätigkeit. Architektur ist aber so bedeutsam, weil sie unser Leben lenkt und prägt. Ein Architekt, der sich nicht auf die wesentlichen Bedürfnisse des menschlichen Lebens einstellen kann, der kein Gefühl für den Umgang mit Materialien hat und der durch Inspiration jeglicher Art zu keinen gedanklichen Bildern gelangt, darf sich nicht Architekt nennen. Leider finden sich allerorts gefühl-, inspirations- und gedankenlose Bauten, die von ausgebildeten Architekten entworfen wurden. Ein Problem unserer Zeit ist die Ablenkung, die Konzentration auf das Unbedeutende. Menschen empfinden ihre Ausbildung als anspruchsvoll, kräftezehrend und zeitintensiv.Wieso entsteht trotzdem so viel Mittelmäßigkeit? Möglicherweise liegt es an der Organisation der Gesellschaft. Im Vordergrund steht eine oberflächliche und schnelle Bedürfnisbefriedigung, für Geduld, Stille und das Maßvolle scheint wenig Zeit zu bleiben. So verwundert es auch nicht, dass unausgereifte Architektur entsteht. Denn diese muss vor allem einem Zeitplan entsprechen. Architekten und Bauherren, aber auch alle anderen Bewohner und Benutzer von Architektur, müssen


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ihre Rechte einfordern und der Politik entgegentreten und für eine menschliche Architektur und gegen zerstörerische Ausbeutung der Umwelt kämpfen, die durch Gier und Wahnsinn getrieben wird. Doch zurück zur Architektenausbildung. Baugeschichte wird im Architekturstudium zwar angerissen, genauso auch Architekturtheorie, beides ist für den Studierenden aber nebensächlich eingeplant und nach zwei Semestern abgehackt. Ein größeres Problem besteht aber im Umgang mit den wenigen vermittelten Informationen dieser Fachbereiche. Der Student lernt lediglich eine zeitliche Einordnung von Bauten auswendig. Dass diese für das zu erlernende Entwerfen hilfreich sein könnten, wird vergessen. Hier geht es nicht um die genaue Übernahme von Elementen vergangener Zeiten, sondern um eine Analyse, die den Kern eines Werks aufdeckt. In selbstverständlicher Weise schöpfen Palladio und Alberti aus der Architektur der Antike. Genauso lassen sich auch Zumthor und der Architekt von Werken der Antike, der Renaissance oder einer anderen Zeit inspirieren. Heutzutage wirkt Architektur oft entmenschlicht. Gerade deshalb muss das Entwerfen-Lernen den größten Stellenwert


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in der Architektenausbildung einnehmen. Der Mensch zerstört als Parasit nicht nur seinen Wirt, sondern auch sich selbst. In Zeiten eines durch die Menschheit ausgebeuteten Planeten, werden verträgliche Baumaterialien wichtiger. Verschwenderisch mit Rohstoffen umzugehen ist verwerflich und langfristig tödlich. Der Mensch muss doch verstehen, dass sein Handeln Konsequenzen hat, die den Planeten und die eigene Existenz bedrohen können. Wie kann er gegen besseres Wissen in Gier und Bequemlichkeit verharren, obwohl alle Möglichkeiten eines friedvollen, rücksichtsvollen und für den gesamten natürlichen Kreislauf verträglichen Lebens möglich sind, ohne auf die Annehmlichkeiten der Moderne verzichten zu müssen? Ein Architekt muss sich deshalb auch Gedanken zu ökologischen Problemen machen. Die vorliegende Arbeit und alle darin enthaltenen Beispiele zeigen einen anderen Weg und weisen in eine respektvollere Zukunft. Überall wehren sich Stadtbewohner gegen den Abriss einzelner Bauten oder ganzer Viertel, gegen Gentrifizierung, gegen gated communities und gegen business improvement districts. Schon die globalen wirtschafts-


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englischen Begriffe verweisen auf den fehlenden und so wichtigen lokalen und menschlichen Bezug. Viele Menschen nehmen die zuvor beschrieben Probleme ernst, haben umgedacht und richten sich gegen Ausbeutung und billige Quantität. In jedem Bereich kann verantwortungsvoll und kreativ gearbeitet werden. Der in dieser Arbeit analysierte Diplom-Entwurf dient als gelungenes Beispiel einer solchen Herangehensweise und auch als Beleg der erfolgreichen Kooperation der Vertreter zweier Fachgebiete. Rostislav Komitov erhielt fßr seine Diplomarbeit die Bestnote, schloss sein Studium mit Auszeichnung ab und wurde fßr einige Preise nominiert.


IV. ANHANG


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1. Literaturverzeichnis Quellen/Sekundärliteratur ALBERTI 1912/1991 Leon Battista Alberti: Zehn Bücher über die Baukunst, hrsg. von M. Theuer, Wien 1912 (Nachdruck Darmstadt 1991). AUSST.-KAT. LUZERN 2010 Laurent Stadler (Hrsg.): Valerio Olgiati, Zürich, Eidgenössische Technische Hochschule 2008 u. Mendrisio, Accademia di Architettura 2009, Luzern 2010. BAIER 2000 Franz Xaver Baier: Der Raum. Prolegomena zu einer Architektur des gelebten Raumes, Köln 2000. BARBERY 2008 Muriel Barbery: Die Eleganz des Igels, München 2008. BOLTSHAUSER 2011 Roger Boltshauser (Hrsg.): Haus Rauch. Ein Model moderner Lehmarchitektur, Basel 2011. BUSSMANN 2003 Klaus Bussmann (Hrsg.): Eduardo Chilida. Hauptwerke, Mainz/München 2003.


248

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KAPFINGER 2011 Otto Kapfinger: Bauen an der Erde, in: Boltshauser (Hrsg.): Haus Rauch. Ein Model moderner Lehmarchitektur, Basel 2011, S. 58-75. KIMMELMAN 2011 Michael Kimmelman: Mehr Licht, mehr Sinn!, in: Welt am Sonntag, Nr. 15 vom 10.04.2011, S. 65. KIRSCH 1996 Karin Kirsch: Die neue Wohnung und das alte Japan. Architekten planen für sich selbst, Stuttgart 1996. KLEILEIN 2007 Doris Kleilein: Eine Kirche für die Kunst, in: Bauwelt 39 (2007), S. 18-27. LE CORBUSIER 1978/1979 Le Corbusier: Der Modulor, 2 Bde., Stuttgart 1978/79. LE CORBUSIER 1978 Le Corbusier: 1. Der Modulor. Darstellung eines in der Architektur und Technik allgemein anwendbaren harmonischen Maßes im menschlichen Maßstab, 3. Auflage, Stuttgart 1978, Bd. I.


251

LE CORBUSIER 1979 Le Corbusier: 2. Der Modulor. Das Wort haben die Benützer, 2. Auflage, Stuttgart 1979, Bd. II. LEVENE/MÁRQUEZ CECILIA 2011 Richard Levene/Fernando Márquez Cecilia (Hrsg.): Aires Mateus. 2002 – 2011, building the mould of space, Madrid 2011. LEVENE/MÁRQUEZ CECILIA 2005 Richard Levene/Fernando Márquez Cecilia (Hrsg.): John Pawson. 1995-2005, Madrid 2005. LEVENE/MÁRQUEZ CECILIA 2010 Richard Levene/Fernando Márquez Cecilia (Hrsg.): Sou Fujimoto. Theory and intuition, framework and experience, Madrid 2010. LIEBL-OSBORNE 1999 Petra Liebl-Osborne: Ein Haus wie ich. Die Casa Malaparte auf Capri, München 1999. LOOS 1921/1987 Adolf Loos: Ins Leere gesprochen. 1897 – 1900, hrsg. von Adolf Opel, Paris/Zürich 1921 (Nachdruck Wien 1987).


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MITSCHERLICH 1972 Alexander Mitscherlich: Die Unwirtlichkeit unserer Städte. Anstiftung zum Unfrieden, Frankfurt am Main 1972. NAUJOKAT 2010 Anke Naujokat: Ut rhetorica architectura. Leon Battista Albertis architektonische Collagetechnik, in: Candide 2 (2010), S. 76-99. NISHIZAWA 2010 Ryue Nishizawa: Conversation between Ryue Nishizawa and Sou Fujimoto, in: El Croquis 151 (2010), S. 5-19. OBRIST 2010 Hans Ulrich Obrist: Interview with Juliaan Lampens, in: Angelique Campens (Hrsg.): Juliaan Lampens, Brüssel 2010, S. 11-13. PALLADIO 1983/1993 Andrea Palladio: Die vier Bücher zur Architektur. Nach der Ausgabe Venedig 1570, hrsg. von Andreas Beyer, Zürich 1983 (Nachdruck Zürich, München 1993). PALLASMAA 2012 A Juhani Pallasmaa (Hrsg.): Pezo von Ellrichshauen, Barcelona 2012.


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PALLASMAA 2012 B Juhani Pallasmaa: In search for meaning, in: 2G 61 (2012), S. 4-9. PAWSON 2005 John Pawson: The simple expression of complex thought, in: El Croquis 127 (2005), S. 6-7. PÉREZ DE ARCE 2012 Rodrigo Pérez de Arce: The music of form, in: 2G 61 (2012), S. 10-19. PEZO/VON ELLRICHSHAUSEN: 2012 A Mauricio Pezo/Sofía von Ellrichshausen: Rivo House, Valdivia. 2002-2003, in: 2G 61 (2012), S. 20-31. PEZO/VON ELLRICHSHAUSEN: 2012 B Mauricio Pezo/Sofía von Ellrichshausen: Poli House, Coliumo. 2002-2005, in: 2G 61 (2012), S. 32-43. PHILIPP 1990 Klaus Jan Philipp (Hrsg.): Revolutionsarchitektur. Klassische Beiträge zu einer unklassischen Architektur, Wiesbaden 1990.


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SOLT 2006 Judit Solt: Atmosphären. Peter Zumthor: Wohn- und Atelierhaus Haldenstein, in: archithese 1 (2006), S. 32-37. STRAUVEN 2010 Francis Strauven: Juliaan Lampens. An authentic modernism produced on flemish soil, in: Angelique Campens (Hrsg.): Juliaan Lampens, Brüssel 2010 S. 49-57. SUDJIC 2005 Deyan Sudjic: The nature of critical dialogue, in: El Croquis 127 (2005), S. 8-13. TANIZAKI 2010 Jun’ichiro Tanizaki: Lob des Schattens. Entwurf einer japanischen Ästhetik, Zürich 2010. THIMM 2010 Katja Thimm: „Seht ihr, ich habe recht gehabt.“ Der Schweizer Architekt Peter Zumthor über die Proteste gegen Neubauten in Deutschland, sein Selbstverständnis als Künstler und seinen Ruf, der Schrecken aller Bauherren zu sein, in: Der Spiegel, Nr. 50 vom 13.12.2010, S. 144-148.


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VAN DEN BERGH/ZWARTS 2006 Wim van den Bergh/Kim Zwarts (Hrsg.): Luis Barragán. The eye embodied, Maastricht 2006. VAN DER LAAN 1992 Dom Hans van der Laan: Der architektonische Raum. Fünfzehn Lektionen über die Disposition der menschlichen Behausung, Leiden/New York/Köln 1992. VITRUV 1964/1991 Vitruv: Zehn Bücher über Architektur, hrsg. von Curt Fensterbusch, Darmstadt 1964 (Nachdruck Darmstadt 1991). ZUMTHOR 2006 Peter Zumthor: Atmosphären. Architektonische Umgebungen, Die Dinge um mich herum, Basel 2006. ZUMTHOR 2010 Peter Zumthor: Architektur denken, Basel 2010.


257

Unveröffentlichte Quellen KOMITOV 2012 A Rostislav Komitov: Zeichnungen und Pläne, Aachen 2012 (im Besitz des Architekten). KOMITOV 2012 B Rostislav Komitov: Gedanken eines Unwissenden, Aachen 2012. KOMITOV 2012 C Rostislav Komitov: Das Haus meiner Selbst, Aachen 2012.



Otto-Friedrich-Universität Bamberg Geistes- und Kulturwissenschaften

WEISSENHOF UND KOCHENHOF


INHALTSVERZEICHNIS

I. Einleitung ..................................................262 II. Weißenhofsiedlung ....................................270 1. Wohnungsnot................................................271 2. Neuer Geist .................................................272 3. Die neue Wohnung .........................................273 4. Werkbund/Ring/Block ...................................276 5. Weißenhofsiedlung: Historie .............................279 6. Le Corbusier, Doppelhaus (Haus 14/15) ..............286 7. Zeitgenössische Kritik an der Weißenhofsiedlung und der Bauausführung .......................................291 7.1 Bodo Rasch ............................................291 7.2 Ludwig Hilberseimer ................................292 7.3 Franz Krause...........................................294 7.4 Werner Graeff .........................................296 7.5 Hermann Muthesius..................................297 7.6 Kurt Schwitters .......................................298 III. Kochenhofsiedlung ..................................302 1. Historie ......................................................303 2. Weitere Aspekte zur Kochhofsiedlung ..................306 3. Schmitthenner, Haus 2/3 .................................310 IV. Einleitung ................................................312


1. Traditionalismus ............................................313 2. Schmitthenners Werk ......................................314 3. Die Gebaute Form .........................................319 4. Das Deutsche Wohnhaus ..................................320 5. Siedlung Bauen und Wohnen, Berlin (1927-1928) ....325 V. AbschlieĂ&#x;ende vergleichende Kritik ............328 1. WeiĂ&#x;enhof/Kochenhof: Vergleich .......................329 2. Schmitthenner ..............................................332 3. Le Corbusier ................................................336 VI. Literaturverzeichnis .................................342


I. EINLEITUNG


263

Lehrstuhl für Kunstgeschichte I Wintersemester 2010/11 Hauptseminar:Was bringt der „spatial turn“ für die Kunstgeschichte? Dozenten: Prof. Dr. Stephan Albrecht, Martin Höppl M.A. Datum: 17.01.2011

Weißenhof und Kochenhof stehen für zwei auf den ersten Blick

sehr

unterschiedliche

Architekturauffassungen.

Durch eine veränderte Gesellschaft und wegen neuartiger technischer Errungenschaften, gelangten die Architekten der Avantgarde in den 1920er Jahren zu einer revolutionären Ästhetik. Dahingegen

wirken

die

Bauformen

der

konservativeren Architekten derselben Zeit beschaulich und traditionell. Beide Strömungen mussten sich angesichts der großen wirtschaftlichen Probleme nach dem Ersten Weltkrieg und vor allem wegen enormer Wohnungsnot, Gedanken um neue Wohnformen machen. Im Vordergrund stand deshalb die Aufgabe des angemessenen, soliden und funktionalen Wohnraums für jeden, auch für


264

Einkommensschwache.

Beide

Architekturströmungen

haben also denselben Ausgangspunkt. Wie unterschiedlich die Aufgabe gelöst wurde, soll im weiteren Verlauf dargestellt werden. Besonders anschaulich wird dies durch einen Vergleich der Arbeitsweisen Le Corbusiers und Paul Schmitthenners. Zudem soll die Frage beantwortet werden, ob sich ein Architekt, der ein Wohnhaus plant, Gedanken über die Bedürfnisse der Bewohner macht oder ein vorher feststehendes künstlerisches Konzept umsetzen will. Zunächst sollen hierzu die Weißeinhofsiedlung und ihre Vorgeschichte erläutert werden. Es folgen

kritische

Stimmen der Zeit und ein genauerer Blick auf eines der Weißenhofhäuser, gebaut von Le Corbusier. Daran schließt sich die Geschichte der Kochenhofsiedlung an, mit einer Beschreibung eines Hauses von Paul Schmitthenner. Danach

soll

seine

Architekturauffassung

dargelegt

werden. Abschließend werden beide Siedlungen und die unterschiedlichen Konzepte kritisch miteinander verglichen. Zur Klassischen Moderne ließen sich unzählige Schriften aufführen. Speziell zur Weißenhofsiedlung seien drei


265

genannt, die für einen Einstieg hilfreich waren: Joedike/ Plath 19771, Kirsch 19872 und Ulmer/Kurz 20093. Zur Kochenhofsiedlung findet sich weniger, erwähnenswert erscheinen: Schmitthenner 19334 und Plarre 20015. Zudem lohnt ein Blick in Paul Schmitthenners Werk: Schmitthenner 19326 und Voigt 2003, in: Ausst.-Kat Frankfurt 2003.7

1. Jürgen Joedicke/Christian Plath: DieWeißenhofsiedlung Stuttgart, Stuttgart 1977. 2. Karin Kirsch: DieWeißenhofsiedlung.Werkbund-Ausstellung „Die Wohnung“ - Stuttgart 1927, Stuttgart 1987. 3. Manfred Ulmer/Jörg Kurz: DieWeißenhofsiedlung. Geschichte und Gegenwart, Stuttgart 2009. 4. Paul Schmitthenner: Die 25 Einfamilienhäuser der Holzsiedlung am Kochenhof. Errichtet in zeitgemäßen Holzbauweisen als „Ausstellung Deutsches Holz für Hausbau undWohnung Stuttgart 1933“, Stuttgart 1933. 5. Stefanie Plarre: Die Kochenhofsiedlung – Das Gegenmodell zur Weißenhofsiedlung. Paul Schmitthenners Siedlungsprojekt in Stuttgart von 1927 bis 1933, Hohenheim 2001. 6. Paul Schmitthenner: Das deutscheWohnhaus, Stuttgart 1932. 7.WolfgangVoigt: Paul Schmitthenner 1884 – 1972. Schönheit ruht in der Ordnung, Frankfurt, Deutsches Architekturmuseum 2003, Tübingen 2003.



Abb. 1 Le Corbusier Doppelhaus,WeiĂ&#x;enhofsiedlung (Stuttgart) AuĂ&#x;enansicht Richtung Norden Fotografie, Bertram 02.03.2010



Abb. 2 Paul Schmitthenner Musterhaus, Kochenhofsiedlung (Stuttgart) AuĂ&#x;enansicht RichtungWesten Fotografie, Bertram 02.03.2010


II.WEISSENHOFSIEDLUNG


271

1. Wohnungsnot Die

Anfangsjahre

der Weimarer

Republik

waren

von politischer Instabilität, Wirtschaftskrisen, hoher Arbeitslosigkeit und heftigen sozialen Auseinandersetzungen geprägt. Für die Masse der Bevölkerung war schon vor dem Ersten Weltkrieg der Mangel an menschenwürdigem Wohnraum das größte Problem. Nach dem Krieg war die Wohnungsnot besonders in den Großstädten verheerend. In Deutschland fehlten 1927 600000 Wohnungen. Desolate Wohnverhältnisse führten besonders zu Krankheiten, wie Rachitis und Tuberkulose. Stuttgart bildete hier keine Ausnahme. 1910 zeigten 80% der amtlich untersuchten Kinder Stuttgarts Mangelerscheinungen.8 Während des Ersten Weltkriegs stand die architektonische Gestaltung beinahe still. In Stuttgart fehlten etwa 5000 Wohnungen für Familien mit kleinem und mittlerem Einkommen.9

8.Vgl. ULMER/KURZ 2009, S. 11. 9.Vgl. Friedemann Geschwind/Theo Rombach:Weißenhofmuseum im Haus Le Corbusier, Ludwigsburg 2008, S. 24.


272

2. Neuer Geist Nach dem Ersten Weltkrieg vollzog die Gesellschaft einen Bruch mit der Vergangenheit. Der bürgerliche Geist sollte überwunden werden, ausgedrückt auch durch neue Lebensformen, die sich in modernen Bau- und Wohnideen materialisierten. Dieser Wandel zeigte sich nicht nur in Deutschland, sondern auch im übrigen Europa und den USA. In Russland lieferten El Lissitzky und Tatlin konstruktivistische Entwürfe, in den Niederlanden wurden Projekte der De Stijl-Gruppe um Gerrit Rietveld umgesetzt. In der Schweiz und in Frankreich baute Le Corbusier seine ersten Gebäude und in den USA wirkte Frank Llyod Wright. Viele dieser Architekten bauten zuvor noch eher traditionalistisch, verzichteten aber zunehmend auf einen lokalen Stil. Entscheidend für die neue Ästhetik und Formensprache waren die Möglichkeiten moderner Bautechniken und Materialien, wie beispielsweise der Stahlskelett- und Betonbau.10

10.Vgl. ULMER/KURZ 2009, S. 13.


273

3. Die neue Wohnung Nach 1918 war es das größte Ziel der Arbeiterparteien, die Wohnungsnot zu lindern. Im Jahr der Währungsreform 1923 konnte auch der Wohnungsbau gesteigert werden. Immer häufiger traten nun Gemeinden, genossenschaftlich organisierte

Wohnungsbaugesellschaften

und

Gewerkschaften als Bauträger auf. Um soliden und günstigen Wohnraum zu schaffen, musste der gesamte Bauvorgang, aber auch die Wohnung selbst, rationalisiert werden. Hierzu bedurfte es neuer Technologien und auch angepasster architektonischer und städtebaulicher Konzepte. Eine Umsetzung solcher Forderungen begann bereits ab 1925 bei der von Bruno Taut gestalteten Hufeisensiedlung in Berlin.11 Bruno Taut schrieb 1924 über die Aufgabe der neuen Wohnung12 Er zeigt zunächst das Wohnungsmodell auf, dass

11.Vgl. ULMER/KURZ 2009, S. 14. 12. Bruno Taut: Die neueWohnung. Die Frau als Schöpferin, Leipzig 2001.


274

sich an biedermeierlichen Vorbildern orientiert. Diese Wohnungen seien museal und mit unnötig vielen Möbeln und Gerümpel überladen, sodass der Bewohner selbst zum Ausstellungsstück verkommt. Weiterhin gibt es laut Taut keine objektive Vorstellung vergangener Zeiten, so dass unzumutbare Zustände übersehen werden.13 Im neuartigen Konzept verlangt Taut nach Sauberkeit und Klarheit im Inneren des Hauses. Weiterhin muss alles Überflüssige entfernt werden. Neben praktischen und wirtschaftlichen Überlegungen, denkt er aber auch an die Gefühlswelt. Der gut gestaltete Raum braucht Bewohner. Ein Bild des Raums allein reicht nicht. Man muss den Raum fühlen und füllen. Auch über Raumproportionen, Raumanordnungen und die gesamten Lebensabläufe innerhalb einer Wohnung, macht sich Taut Gedanken und schlägt optimierte Grundrisse vor. Auch praktische Versuche zum Hausbau und zur Erforschung des Materials sind ihm wichtig. Schönheit ergäbe sich von selbst.14

13.Vgl.TAUT 2001, S. 9-17. 14.Vgl. ebd., S. 31-55.


275

In seinem vermeintlich emanzipatorischen Werk hebt Taut die besondere Rolle der Frau hervor. Um dieser die Arbeit zu erleichtern, müssen praktische und wirtschaftliche Fragen gelöst werden. Es muss sich aber auch ein neues ästhetisches Bewusstsein bilden. „Höchstes Kriterium einer guten Wohnungseinrichtung ist die geringste Arbeit der Frau.“15 Der durch die verbesserte Wohnung perfekt funktionierende Haushalt lässt viel Freiraum für die schöpferische Kraft der Frau. Taut schlägt hierzu hausmeisterartige Tätigkeiten vor oder auch langwierige Projekte, wie das Häkeln von Decken.16 Auch wenn der Frau, die hier immer noch ausschließlich Hausfrau bleibt, eine bedeutende Rolle zukommt, sieht sie Taut dem Mann gegenüber als nicht gleichgestellt. Die Frau darf keiner bezahlten Tätigkeit nachgehen und soll ihre Zeit mit teilweise überflüssigen Arbeiten verschwenden. Trotzdem müssen die Ideen eines reduzierten und in allen Bereichen verbesserten Wohnens anerkannt werden. Aus

15.TAUT 2001, S. 86. 16.Vgl. ebd., S. 97.


276

heutiger Sicht scheinen Tauts Maßnahmen nicht besonders individuell, damals müssen seine Gedanken allerdings revolutionär gewirkt haben. Die Bedürfnisse des Bewohners rückten von nun an mehr in den Vordergrund. Viele der schon beiTaut aufgezeigtenVerbesserungsvorschläge finden sich dann auch generell bei neuen Bauvorhaben: Die Hauswirtschaft musste funktional sein, verbunden mit übersichtlichen und leicht zu reinigenden Räumen, die mit einfachen Möbeln und praktischen Küchen ausgestattet waren. Der Stahlskelettbau sollte eine Individualisierung der Grundrisse und Lebensweise ermöglichen. Gleichzeitig wurde die Kostenreduzierung durch vorgefertigte Bauteile aus neuartigen Materialien angestrebt.17 4. Werkbund/Ring/Block Der Deutsche Werkbund wurde 1907 in München als Vereinigung von Architekten, Handwerkern, Industriellen, Pädagogen und Publizisten gegründet. Ziel war die

17.Vgl. ULMER/KURZ 2009, S. 15.


277

Veredelung der gewerblichen Arbeit im Zusammenwirken von Kunst, Industrie und Handwerk. Seine Mitglieder sahen in der industriellen Entwicklung kein Hindernis, Produkte von hoher Qualität herstellen zu können. Im Gegenteil, die Maschine wurde als verbessertes Handwerk verstanden.18 Der Werkbund

vertrat

einen

ethisch

fundierten,

ganzheitlichen Qualitätsbegriff, der Materialgerechtigkeit, Zweckmäßigkeit, Ästhetik und Nachhaltigkeit umfasste.19 Die Architektenvereinigung Der Ring ging 1926 aus dem 1924 gegründeten Zehnerring hervor. Die Bauaufgaben der Zeit sollten mit den modernen technischen Mitteln gestaltet werden, bewusst wurde auf vergangene Konzepte verzichtet. Mitglieder, wie Richard Döcker, Walter Gropius, Ludwig Mies van der Rohe, Bruno sowie Max Taut und andere sollten auch für die Weißenhofsiedlung entscheidend werden.20 Gegen diese Vereinigung formierte sich 1928 in Berlin Der 18.Vgl. ULMER/KURZ 2009, S. 15f. 19.Vgl. Friedemann Geschwind/Theo Rombach:Weißenhofmuseum im Haus Le Corbusier, Ludwigsburg 2008, S. 20. 20.Vgl. ULMER/KURZ 2009, S. 17.


278

Block mit Vertretern traditioneller arbeitenden Architekten. Der Anlass der Gründung waren die Auseinandersetzungen um den Bau der Weißenhofsiedlung. Paul Bonatz und Paul Schmitthenner wurden als Vertreter der Stuttgarter Schule, die eine traditionellere Baukunst mit Ortsbezug, Materialgerechtigkeit und solidem Handwerk lehrte, von den Planungen zur Weißenhofsiedlung ausgeschlossen.21 Die Architekten des Blocks wollten einen eigenenAusdruck finden, die Lebensanschauungen der jeweils örtlichen Bevölkerung und die Gegebenheiten der Natur des Landes sollten aber genauso berücksichtigt werden. Die Mitglieder des Blocks beobachteten die Entwicklung neuer Werkstoffe und Werkformen genau, wichtiger erschien ihnen aber Ererbtes und Gekonntes beizubehalten. Die im Manifest des Blocks angestrebte gemeinsame Kulturauffassung konnte allerdings nur bedingt umgesetzt werden, da die Ausrichtungen der verschiedenen Architekten zu unterschiedlich waren.22

21.Vgl. ULMER/KURZ 2009, S. 18. 22.Vgl. Magnago Lampugnani 1992, in: Ausst.-Kat. Frankfurt 1992, S. 267.


279

5. Weißenhofsiedlung: Historie Die politische und wirtschaftliche Situation in Württemberg normalisierte sich nach dem Ersten Weltkrieg schneller als im übrigen Reich und die Bauwirtschaft erholte sich. Stuttgart öffnete sich modernen Ideen und aufgeschlossene Beamte, Baubürgermeister Sigloch und der sehr liberale Oberbürgermeister

Lautenschlager

ermöglichten

die

Planungen zur Weißenhofsiedlung. Für den Wohnungsbau wurde ab 1924 stetig mehr Geld ausgegeben. Insgesamt entstanden in Stuttgart von 1919 bis 1927 4112 Gebäude mit 8469 Wohnungen. Die meisten davon wurden städtisch oder genossenschaftlich finanziert. 1919/20 bildete sich die Württembergische Arbeitsgemeinschaft des Deutschen Werkbundes, mit größter Einfachheit der Gestaltung als Gebot. Zweiter Vorsitzender war zu dieser Zeit noch Paul Schmitthenner. Die 1924 vom Werkbund gezeigte Bauausstellung Die Form, mit über einer Million Besuchern, war eine Art Generalprobe für die spätere Weißenhofausstellung. Mies van der Rohe wurde schon ab 1924 mit einbezogen. Möglicherweise


280

entstand deshalb das Projekt der Weißenhofsiedlung.23 1925 konnte derWerkbund die Stadt Stuttgart für die Planung einer Musterausstellung gewinnen, die neue Baukunst präsentieren sollte, errichtet von einer internationalen Architektenschaft (lokale und traditionelle Bauweisen waren somit von vorneherein ausgeschlossen). Neben Wohnbauten sollten auch Wohnungsausstattungen gezeigt werden. Im Frühjahr 1926 beschloss die Stadt Stuttgart, für die Weißenhofsiedlung Mittel aus dem städtischen Wohnbauprogramm zur Verfügung zu stellen. Die Gebäude der Siedlung sollten nach Vorschlägen des Deutschen Werkbunds erstellt, für die Dauer einer Bauausstellung der Öffentlichkeit zugänglich gemacht und danach von der Stadt vermietet werden.24 Im selben Jahr formulierte die Stadt Stuttgart die Bauaufgabe: Günstige und gesunde Wohnungen für den Großstadtmenschen sollten entstehen. Das hierfür vorgesehene Gelände lag am Weißenhof auf dem Killesberg im Stuttgarter Norden. Es handelte sich um einen

23.Vgl. KIRSCH 1987, S. 9-13. 24.Vgl. GESCHWIND/ROMBACH 2008, S. 31.


281

nach Osten abfallenden Hang mit Blick ins Tal. Im weiteren Verlauf bestimmte der Deutsche Werkbund Mies van der Rohe zum Projektleiter.25 Dieser entwickelte zusammen mit Hugo Häring ein erstes Bebauungsmodell, das aus verschachtelten und unterschiedlich großen kubischen Blöcken bestand, die den Hang hinauf eine Art zusammenhängende Plastik ergaben. Mies van der Rohe und Häring sahen eine hohe Bebauungsdichte von 129 Wohnungen in ein-, zwei- und dreigeschossigen Bauten vor. Für Bebauungspläne wurde ein gewandeltesVerständnis gefordert, auf die alte Kleinteiligkeit sollte verzichtet werden. Mies van der Rohe hatte das große Ganze und die Raumbezüge im Blick.26 Sein städtebaulicher Entwurf orientierte sich an der Topographie des Geländes. Höhere Gebäude wurden auf der Bergkuppe, niedrigere davor, terrassenförmig abfallend und auf Lücke den Hang hinunter platziert. Zudem wurde ein breites Spektrum von Gebäudetypen aufgezeigt.27 Durch diese verschiedenen

25.Vgl. ULMER/KURZE 2009, S. 20f. 26.Vgl. KIRSCH 1987, S. 45f. 27.Vgl. GESCHWIND/ROMBACH 2008, S. 31.


282

Gebäudetypen ergab sich die heterogene Ausprägung der Siedlung, die durch geschickte Positionierung der Kuben aber trotzdem eine Einheit bildet. Begrenzt wird die Komposition im Norden und Süden von den hochragenden Bauten Le Corbusiers und Behrens’, das Mietshaus von Mies van der Rohe schließt die Siedlung am höchsten Punkt nach Westen hin ab. Dieser Bau überragt die gesamte Anlage und ist laut Joedicke auch als Stadtkrone zu verstehen.28 Bruno Taut entwickelt in seiner 1919 erschienen Schrift Die Stadtkrone Ideen für Stadtneuplanungen einer gewissen Größe. Die an Gartenstädten orientierten Planungen bieten Platz für 300000 Einwohner, nehmen eine Fläche von 38,5 Quadratkilometern ein, von denen 20 Quadratkilometer zum Wohnen genutzt werden sollen. Zunächst verweist Taut auf die einen Zusammenhang bildenden Bauten der alten Stadt, die auch Lebensfreude und Weltanschauung vereinigen. Weiterhin erkennt er in diesen Stadtgebilden einen sich zur Spitze (Hauptkirche) steigernden Rhythmus. In diesen Sakralbauten konzentrierte sich das Sehnen und

28.Vgl. JOEDICKE/PLATH 1977, S. 11f.


283

Hoffen der Menschen, so dass eine Gemeinschaft entstand. Anfang des 20. Jahrhunderts spielen nach Taut Kirchen keine besondere Rolle mehr.29 „Ohne Religion gibt es [aber] keine wahre Kultur, keine Kunst.“30 Auch heute sei der Mittelpunkt das Erstrebenswerteste. Also muss für Ersatz gesorgt werden. Taut schlägt für seine Musterstädte einen mittleren Bezirk vor, die Stadtkrone. Hier befinden sich Kulturbauten und eine Art Kristallhochhaus (zentraler, spiritueller Bezugspunkt), in dem sich die Gedanken der Stadtbewohner bündeln und materialisieren, so dass eine Sozialgemeinschaft entsteht.31 Tauts Anregungen gelten auch für Erweiterungen oder Umplanungen bestehender Städte. Dies bildet den Verweis zum Bebauungsplan von Mies van der Rohe für Stuttgart. Möglicherweise waren Tauts Ideen hierfür interessant. In vereinfachter Form entstand auch hier ein Gefüge, das einen Zusammenhang bildet und sich aufeinander bezieht und durch

29.Vgl. Bruno Taut: Die Stadtkrone, Jena 1919, S. 52-58. 30. Ebd., S. 59. 31.Vgl. ebd., S. 62-67.


284

Mies van der Rohes Mietshaus bekrönt wird. Ob bestimmte Gebäude der Siedlung wirklich als geistiger Bezugspunkt der Bewohner wirkten, bleibt fraglich. Identitätsstiftend ist die Ausformung der Gesamtanlage sicherlich. Dieses Modell wurde von Bonatz, der nun aus demWerkbund austrat, in der örtlichen Presse stark kritisiert. Mies van der Rohe übernahm von nun an die alleinige künstlerische Leitung und legte einen überarbeiteten Bebauungsplan vor. Gezielt wurden nur avantgardistische Architekten zur Ausstellung eingeladen. Die deutschen Vertreter waren fast ausschließlich Mitglieder des Rings. Insgesamt wurden der Stadt zehn verschiedene Architektenlisten vorgelegt. Zwischen Kommunisten, Nationalsozialisten, anderen Parteien, dem Werkbund und der Bauabteilung gab es große Streitigkeiten, letztlich wurden Bauaufträge an folgende Architekten vergeben: Richard Döcker, der auch die Gesamtbauleitung übernahm, Behrens, Frank, Gropius, Hilberseimer, Le Corbusier, Mies van der Rohe, Oud, Poelzig, Rading, Scharoun, Schneck, Stam sowie Bruno und Max Taut. Victor Bourgeois kam erst 1927 dazu. Diese 16 Architekten bauten 33 Musterhäuser mit insgesamt


285

64 Wohnungen, die für die Zeit der Ausstellung mit zeitgenössischen Möbeln ausgestattet wurden. Am 23. Juli 1927 wurde die Weißenhofsiedlung als Werkbundausstellung DieWohnung verspätet eröffnet. Einige Häuser wurde jedoch erst Ende August fertiggestellt.32 In nur drei Monaten besuchten über 500000 Menschen die Ausstellung. Auch die weltweite Resonanz war groß, was nicht verwundert, da Werke von einigen der berühmtesten Architekten Europas direkt nebeneinander zu sehen waren.33 Nach 1933 wurde die Weißenhofsiedlung zu unwerter Architektur erklärt, um sie baldmöglichst abzureißen. 1939 musste die Stadt Stuttgart die Siedlung an das Reich abtreten. Zum Abbruch kam es nicht. Nach dem Krieg ging die Siedlung vom Reichsvermögen in das Bundesvermögen über und wurde der Stadt nicht zurückgegeben.Von Luftangriffen blieben die Bauten zum größten Teil verschont. Danach sollten sie zu Wohnungen für Bundesbeamte umgebaut werden. Hierzu wurden vier Häuser ganz abgerissen und

32.Vgl. ULMER/KURZ 2009, S. 20ff. 33.Vgl. GESCHWIND/ROMBACH 2008, S. 51.


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acht vollständig umgebaut. Die übrigen ließ man verfallen, um sie später schneller abreißen zu können. 1956 wurde die Siedlung dann doch unter Denkmalschutz gestellt. Ein generelles Interesse begann aber erst ab Ende der 1970er Jahre.34 6. Le Corbusier, Doppelhaus (Haus 14/15) Das Traggerüst dieses Hauses besteht aus Beton und Eisen, die Ausmauerungen aus Bimshohlblocksteinen. Von Paris aus entwarf Le Corbusier ein Doppelhaus mit offener Grundrissgestaltung. Im erhöhten Erdgeschoss finden sich jeweils Bedienstetenzimmer und Abstellräume, darüber liegt im Obergeschoss jeweils der große Schlaf- Wohnraum, der in der südlichen Haushälfte zu drei, in der nördlichen zu zwei separaten Räumen durch Schiebetüren abgetrennt werden kann. Es entstehen Schlafkabinen, die an einen 34.Vgl. Sabine Weißler (Hrsg.): Die Zwanziger Jahre des Deutschen Werkbunds. Gespräche mit Hans Eckstein, Hermann Henselmann, Ferdinand Kramer, Julius Posener, Bodo Rasch, Alfred Roth, Felix Schwarz, Albert Speer, Rudolf Steiger, Edith Tschichold, Gießen 1982, S. 123.


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Eisenbahnwaggon erinnern. Dieser Eindruck verstärkt sich durch einen 70 Zentimeter schmalen Korridor, der die Kabinen im Westen miteinander verbindet. In Betonkästen sind bewegliche Schiebebetten installiert, so dass unterschiedlichste Raumgestaltungen möglich werden. Durch die vollständige Öffnung der nicht besonders großen Räume zu einem Raum, entsteht jedoch ein Gefühl von Großzügigkeit. An diesen großen variablen Raum schließen jeweils im Norden und Süden WC, Küche und Bad an. Im Terrassengeschoss darüber befinden sich die Bibliothek und vor allem der große Dachgarten. Von hier aus wird der Blick Richtung Osten ins Tal gelenkt, die Landschaft wird gleichzeitig durch Pfosten gerahmt. Le Corbusier ignorierte bewusst die Vorgaben der Ausschreibung. Sein Hauptziel war nicht die Errichtung preiswerter Wohnungen, sondern die öffentliche und anschauliche Umsetzung seiner Bautheorie.35 Diese fasste er in fünf Punkten zusammen: 1. Pfosten: Die Trennung von tragenden und nicht tragenden

35.Vgl. ULMER/KURZ 2009, S. 89.


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Teilen eines Gebäudes wird durch die Pfosten ermöglicht. Anstelle von großzügigen Fundamenten, steht das Gebäude nun auf Einzelfundamenten. Anstelle der Mauern finden sich nun einzelne Pfosten. Diese werden nach bestimmten gleichen Abständen angeordnet, ohne auf die innere Ordnung des Hauses Rücksicht zu nehmen. Der Sinn besteht darin, das Erdgeschoss emporzuheben. Die Räume werden laut Le Corbusier somit der Erdfeuchtigkeit entzogen und erhalten Licht und Luft. Unter dem Erdgeschoss kann somit der Garten weitergeführt werden und es sollte Platz für Verkehr entstehen. 2.Dachgarten:Wegen des flachen Dachs soll die freigewordene Fläche ausgenutzt werden. Um den Eisenbeton zu schützen, schlug Le Corbusier eine immerfeuchte Sandschicht darüber vor, worauf dann Betonplatten verlegt wurden. Das Regenwasser fließt somit langsam ab, die Abfallrohre befinden sich im Inneren des Hauses. Für die Stadt sollen Dachgärten die Wiedergewinnung der verbauten Fläche bedeuten. 3. Freier Grundriss: Das Pfostensystem wird durch alle Geschosse weitergeführt. Dazwischen befinden sich Decken.


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Diese stapelbaren Elemente werden mit einer Art Außenhaut geschlossen. Im Inneren entsteht ein großer Raum, der durch variable Trennwände beliebig verändert werden kann. 4. Das Langfenster: Nach Le Corbusier ergibt sich durch ein Fensterband die gleichmäßige Belichtung der Räume. Zudem sei die Belichtungsintensität durch die Verwendung solcher Fenster achtmal stärker als bei Hochfenstern gleicher Fläche. Die Betonkonstruktion bringt somit die Möglichkeit der maximalen Belichtung. 5. Freie Fassadengestaltung: Die Geschossdecken zog Le Corbusier ein Stück weit über die Pfostenebene hinaus, so dass eine völlig entkoppelte Fassade vorgehängt werden konnte. Ohne auf eine innere Einteilung Rücksicht nehmen zu müssen, wies die Fassade ganz eigene ästhetische Formen auf.36 Zusammengenommen ergeben die fünf Punkte eine revolutionär neuartige Ästhetik. Die Baukosten sollten das von der Stadt veranschlagte Budget jedoch um ein Vielfaches übersteigen. Eine hitzige Debatte entbrannte darüber, ob

36.Vgl. JOEDICKE/PLATH 1977, S. 37f.


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man Le Corbusier den Auftrag nicht wieder entziehen sollte. Alfred Roth leitete die Arbeiten in Stuttgart, Le Corbusier besuchte die Baustelle nie. Roth entwarf auch eigenständig, Le Corbusier machte nur selten Angaben. Die feierliche Eröffnung fand ohne den Pariser Architekten statt.37 Im Inneren waren die Räume mit Möbeln Le Corbusiers ausgestattet, bei denen Holz durch Stahl abgelöst worden war. Das Doppelhaus fand zunächst keinen Mieter, die Farbfassungen der einzelnen Architekturglieder wurde während Instandsetzungsarbeiten zwischen 2002 und 2005 originalgetreu rekonstruiert. Neben weiß finden sich außen und innen nun wieder Blau, Rot, Grau, Grün, Ocker und Rosa.38

37.Vgl. KIRSCH 1987, S. 117. 38.Vgl. ULMER/KURZ 2009, S. 94.


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7. Zeitgenössische Kritik an der Weißenhofsiedlung und der Bauausführung 7.1 Bodo Rasch Der Architekt Bodo Rasch äußerte sich 1977 zum Weißenhofprojekt und stellte fest, dass die Siedlung seinerzeit Maßstäbe für die Mindestausstattung der Wohnung setzte. Rasch berichtet, dass Mies van der Rohe darauf bestanden hatte, jedes Haus zentral zu beheizen und mit Bad und WC auszustatten. Viele Ideen einer variablen Raumnutzung wurden vorgeführt. So hatte Mies van der Rohe in zwei Wohnungen die offene Grundrissform mit Sperrholzwandteilen erprobt, die zwischen Boden und Decke eingespannt wurden. Es ging aber nicht nur um die Bauten, sondern auch um den Innenausbau und die Inneneinrichtung. Es wurde der Verzicht von Komplettausstattungen angeregt und die Verwendung von Einzelmöbeln propagiert, um von unnötigem Ballast zu reduzieren. Aber auch die Kosten sollten reduziert werden. Großbürgerliche Prestigeeinrichtungen hatten den Arbeiter


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nicht zu interessieren. Die angesprochene Schicht nahm diese Vorschläge allerdings nicht auf, dafür konnten sich Intellektuelle mit den modernen Ansichten und Möbeln anfreunden. Geistig sehr aufgeschlossene Bürger zogen in die Wohnungen. Die Baukosten der Experimentalbauten und die daraus errechneten Mieten lagen etwa 30% über dem ortsüblichen, ohnehin recht hohen Niveau. Die Nationalsozialisten wollten die Siedlung abreißen, 1939 wurde allen Mietern gekündigt.39 7.2 Ludwig Hilberseimer Auch Ludwig Hilberseimer, der selbst ein Wohnhaus der Weißeinhofsiedlung baute, äußerte sich 1927 zu Wohnungsfragen. Er prophezeit, dass eine Wohnung in Zukunft nach ihrem Komfort beurteilt werde. Die beste Wohnung werde diejenige sein, die zu einem vollkommenen Gebrauchsgegenstand geworden ist und damit dieWiderstände des alltäglichen Lebens auf ein Minimum reduziert. Zuvor

39.Vgl.WEISSLER 1982, S. 108f.


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waren die Wohnungen lediglich repräsentativ. Die Räume und ihre Einrichtungen müssen aber ihren Zwecken und ihrer Funktion entsprechen. Nach Hilberseimer steht jedem ein Wohnraum, ein Schlafraum und ein Bad zur Verfügung. In Mietshäusern soll es Gesellschaftsräume geben. Das Wohnen in der Stadt sei für Einzelpersonen und kinderlose Paare gedacht. Außerhalb der Stadt sollen Familien in Einzelwohnhäusern in Gartensiedlungen leben, die mit der Stadt durch Schnellbahnsysteme verbunden sind. Auch die Grundrissgestaltung ist ihm sehr wichtig. Eine Wohnung soll unter geringstem Platzaufwand ein bequemes, praktisches, allen Bedürfnissen entsprechendes Wohnen ermöglichen. Die Größe und Anzahl der Räume richtet sich nach den Bedürfnissen, die unbedingt erfüllt werden müssen. Kein Raumteil darf ungenutzt bleiben. Voraussetzung für die Ökonomisierung der Wohnung ist der Einbau von Schränken. Das Weißenhofhaus von Hilberseimer wurde für sechs Personen geplant. Alle Räume sind knapp bemessen, nur ein Raum (Wohnraum) im Haus wurde größer gestaltet und ging über das Notwendige hinaus. Größe wird seiner Meinung nach auch dadurch erzeugt, dass der Wohnraum


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mit der Terrasse, dem Garten und dem Essraum verbunden ist, so dass sich der Raum auch nach außen fortsetzt. Eine Schrankwand zwischen Esszimmer und Küche kann alles Notwendige der Küche aufnehmen. Das Arbeitszimmer ist nicht mehr das repräsentative Herrenzimmer, sondern ein ruhiger Arbeitsplatz. Das meiste ist schon vorher eingebaut. Man braucht somit nur sehr wenige andere Möbel. Wie beim Hausbau ist auch beim Möbelbau laut Hilberseimer die Schaffung von Typen das zu erreichende Ziel. Wohnung und Möbel sollen im positiven Sinn Gebrauchsgegenstände sein.40 7.3 Franz Krause Franz Krause übernahm 1927 die gesamte Bauführung der Weißenhofsiedlung. Die erste Aufgabe bestand in der Aufteilung des Geländes, weil nur die Häuser eingereicht worden waren. Es gab nur die untere und die obere Straße, für das dazwischen liegende Gelände legte Krause die Fußwege

40.Vgl.WEISSLER 1982, S. 110ff.


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an mit Treppenanlagen und Zugängen, Einfriedungen und Mauern. Alle Häuser waren für ebenes Gelände geplant und mussten zum Teil umgeändert werden, was Krause selbständig vornahm. Fast alle Pläne waren unfertig, so dass er sich bis zum Türgriff oft um alles kümmern musste. Alle Architekten hatten allerdings ihre eigenen Bauausführer. Für Mies van der Rohe war die Tür ein Stück aufklappbare Wand. Deshalb gingen die Türöffnungen bis zur Decke. Mies van der Rohe und Gropius benutzten Stahlmöbel, Le Corbusier bestand auf Thonet-Stühlen. Die eine Seite des Doppelhauses Frank wurde elektrisch, die andere mit Gas beheizt. Hier wurden laut Krause auch viele Schrankräume intelligent untergebracht. Dies war eine besondere Aufgabe, da bei den Flachbauten der Siedlung Stauraum fehlte, der sonst in großen Dachstühlen Platz fand. Ouds Häuser waren nach Krause gut durchdacht, ausgestattet mit Schuppen für Fahrräder und Mülltonnen. Seine Reihenhäuser wurden innerhalb von drei Tagen in Beton gegossen und sie waren die günstigsten Bauten der Siedlung. Allerdings waren Ouds


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Häuser zu diesem Zeitpunkt noch schlecht isoliert.41 7.4 Werner Graeff Der ArchitektWerner Graeff äußerte sich 1928 zu modernen Bauweisen. Seiner Meinung nach dürften die neuen Materialien die alten Bauweisen nicht nachahmen. Denn so könne keine Kostenreduzierung entstehen. Es müssten Materialien entwickelt werden, die viele alte Bautechniken überflüssig machen. Bei traditionellen Verfahren erkennt Graeff, dass jeder Handwerker teilweise wieder das Werk seines Vorgängers zerstört. Durch ein sehr genaues Konzept, eine gute Vorplanung und durch Normung kann dies verhindert werden. Die Normung aller einzelner Teile und ihre Austauschbarkeit würde nicht nur die Erstellung, sondern auch die Erhaltung des Hauses erleichtern. Die Typisierung von Häusern ist also ein Hauptziel Graeffs.42

41.Vgl.WEISSLER 1982, S. 112f. 42.Vgl. ebd., S. 114ff.


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7.5 Hermann Muthesius Auch Muthesius, einer der Werkbund-Gründer, kritisiert 1927 kurz vor seinem Tod die neuartigen Bauweisen: „Die tatsächliche Benutzung der Häuser wird darüber Aufklärung geben, ob wirklich die neue Generation, für die man angeblich baut, einen wesentlichen Teil ihres Lebens wie in arabischen Ländern auf dem Dach verbringen wird, ob sie wirklich im Winter vor enormen Glasflächen frieren will, ob sie das Gemeinschaftsleben so weit ausdehnen will, dass kein abgeschlossener Raum im Haus vorhanden ist, in dem man geistig arbeiten kann, ob sie wirklich auf jeden Abstellraum verzichten will.“43

Was eigentlich entwickelt wurde und was die Architekten der Zeit bewegte, war laut Muthesius nicht neues Wohnen, sondern die neue Form. Die Form lässt alles andere in den

43.WEISSLER 1982, S. 117.


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Hintergrund treten. Sie verlangt das flache Dach und die maßlose Überbelichtung der Räume. Durch das Weglassen des überstehenden Dachs werden die Außenwände schutzlos dem Wetter preisgegeben. Alle diese Dinge haben weder mit Rationalisierung noch mit Wirtschaftlichkeit oder mit einer Konstruktionsnotwendigkeit zu tun. Es handelt sich nach Muthesius um reine Formprobleme. Das Ideal war, kubische Baumassen zu bilden. Dadurch kommt es zu wild gruppierten Gebilden, die 30 Jahre zuvor als deutsche Villa bekannt waren und die mühsam erlangte Geschlossenheit des Hauses scheint verloren zu gehen. Es kam also auf die Form an. Dies verwundert Muthesius nicht, da künstlerische Strömungen immer formaler Natur seien.44 7.6 Kurt Schwitters Der Maler und Künstler Kurt Schwitters äußerte sich 1927 zur Weißenhofausstellung und den Konstruktionsverfahren: „Zum Beispiel hat Gropius als einziger neue Bauweisen

44.Vgl.WEISSLER 1982, S. 117.


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ausprobiert, während die anderen in ihrer bekannten Bauweise mit oder ohne Anleihe gebaut haben.“45 Nach Schwitters baute Le Corbusier seine Häuser nicht plangemäß, sondern zu groß, so dass der Gesamteindruck gestört wurde. Er hielt ihn für einen genialen Architekten, der allerdings zu romantisch eingestellt sei. Schwitters sieht Le Corbusier sogar als Gefahr für eine gesunde Architektur. Er fragt sich, weshalb ein verputzter Eisenbalken vor dem Fenster in Le Corbusiers Einfamilienhaus zu sehen ist. Er gibt sodann die Antwort und verweist auf die ungeteilte Fensterfläche, die dadurch von außen zu sehen ist. Schwitters deutet hier auf die formellen Aspekte der Architektur Le Corbusiers. Er stellt auch die Nützlichkeit und das Funktionale des Hauses von Le Corbusier in Frage. Das Gebäude passe nicht ins Stuttgarter Klima, da der Galerieraum beim Beheizen unten kalt und oben heiß würde. Die Dachgärten hält er für völlig unbrauchbar. Weiterhin fehlten bei Le Corbusiers Einfamilienhaus, an der Seite mit der besten Aussicht, die Öffnungen. „[...] man kann an dem Studium Le Corbusiers

45.WEISSLER 1982, S. 120.


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genau studieren, was falsch ist für deutsche Verhältnisse.“46 Die Bauten von Bourgeois, Oud und Stam lobt Schwitters dagegen. Auch die Nüchternheit und der Funktionalismus von Hilberseimer erscheinen ihm gelungen.47

46.WEISSLER 1982, S. 121. 47.Vgl. ebd., S. 120ff.



III. KOCHENHOFSIEDLUNG


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1. Historie 700 Meter westlich der Weißenhofsiedlung wurde 1933 durch Vertreter der Stuttgarter Schule die als Ausstellung geplante Kochenhofsiedlung als konservativer Gegenentwurf zur Avantgarde-Ausstellung errichtet. Ein Jahr zuvor gründeten Vertreter der Deutschen Forstwirtschaft und des Werkbunds die Zweckgemeinschaft Deutsches Holz für Hausbau und Wohnung, um die desolate Situation der Forstwirtschaft zu stabilisieren. Deshalb wurde eine Holzsiedlung geplant, deren Bauleitung ebenfalls Richard Döcker übernehmen sollte. Zum Wettbewerb wurden 20 deutsche Architekten eingeladen, darunter 13 aus Stuttgart. Hierzu zählten Hilbereimer, Schneck und Döcker, die auch am Weißenhofprojekt mitgearbeitet hatten. Bis 1933 wurden zahlreiche Modellentwürfe eingereicht. Darunter auch Weiterentwicklungen der Weißenhofideen, allerdings in Holzbau übersetzt. Döcker stellte Flachdachhäuser aus Holz vor und Häring zeigte vier terrassierte Häuser um einen Gartenhof.48 48.Vgl. ULMER/KURZ 2009, S. 177.


304

Auf Anraten Schmitthenners wurde dem Werkbund, nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten, der Auftrag für die Kochenhofsiedlung entzogen. Aus Sicht des neuen Staatskommissars Dr. Karl Strölin, entsprach das vorgelegte Projekt nicht dem deutschen Bauen. Im Folgenden bekamen Schmitthenner und Wetzel die Oberleitung über die Planungen. Schmitthenner ließ nur konservativere Architekten zu, die seinen Vorstellungen entsprachen. 23 Architekten bauten nun für 25 Bauherren eine einheitliche Siedlung, bestehend aus einem Zweifamilienhaus, vier Doppelhäusern und ansonsten freistehenden zweigeschossigen Einfamilienhäusern. Das einzige dreistöckige Gebäude stammte von Bonatz. Zudem gab es einige Beschränkungen in der Gestaltung: Zunächst sollten sich alle Architekten der Führung Schmitthenners unterordnen und weiterhin sollten rein künstlerische Effekte vermieden werden, da die Ausstellung nicht als Versuchssiedlung für neue Konstruktionen gedacht war. Deshalb durften nur bewährte Techniken eingesetzt werden. Die Stellung der Häuser auf den Grundstücken, die Baukuben, die Dachform, Material und Farbe der Fassaden und der Dachdeckung, ebenso wie


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die Gartengestaltung waren genau festgelegt. Die Siedlung wurde in kurzer Zeit fertiggestellt, so dass die Ausstellung unter dem Namen Deutsches Holz für Hausbau undWohnung am 24. September 1933 eröffnet werden konnte.49 Der nationale Bezug wurde durch eine Gedanktafel am Siedlungseingang deutlich: „Im Jahre der nationalen Revolution, da Adolf Hitler die Macht übernommen, wurde diese Siedlung aus deutschem Holz gebaut.“50 Schmitthenner plante hier Wohnraum für den Mittelstand. Besucher konnten sich verschieden große Haustypen mit vollständiger Einrichtung ansehen und nach Ablauf der Ausstellung zogen Bewohner in die Häuser ein. Es kamen aber auch unterscheidliche Holzbautechniken zur Anwendung, so dass Fachwerkbau, Blockbau, Tafelbau und Skelettbau nebeneinander zu besichtigen waren. Im Gegensatz zur Weißenhofausstellung

wurde

die

Kochenhofsiedlung

überregional nicht stark wahrgenommen.51

49.Vgl. ULMER/KURZ 2009, S. 177ff. 50. Ebd., S. 179. 51. Ebd., S. 179f.


306

2. Weitere Aspekte zur Kochhofsiedlung Die Planungen zur Siedlung entstanden schon 1927 als Reaktion auf die Weißenhofsiedlung, also sechs Jahre vor der nationalsozialistischen Machtergreifung. Schon 1927 stand fest, dass Schmitthenner der leitende Architekt der Versuchssiedlung sein würde.52 Zunächst war geplant, vor allem kleinteilige Wohnungen zu errichten. Schmitthenner sah vor, unterschiedliche Bausysteme und Baustoffe an jeweils gleichen Bautypen zu zeigen und gegenüberzustellen. Baugelände, Grundriss und Ausstattung sollten zum besseren Vergleich immer identisch sein. Schmitthenner hielt den Fachwerkbau für die beste Konstruktionsweise und bezeichnete neue Bauweisen als überschätzt. Er wollte vor allem bürgerliche Wohnungen und Einfamilienhäuser zeigen. Die Stadt Stuttgart bewilligte Schmitthenners ersten Plan, damit durch rationale und moderne Bauverfahren dringend benötigte kleine und mittlere Wohnungen entstehen würden, für die nur geringe Mieten gezahlt werden müssten.

52.Vgl. PLARRE 2001, S. 95.


307

Nach Kompetenz- und Finanzierungsstreitigkeiten wurden erneute Planungen erst 1932 weitergeführt. Schmitthenner wandte sich von nun an gänzlich gegen das einstige Konzept, verstärkt kleinere Mietwohnungen zu bauen. Jetzt sollten Einfamilienhäuser entstehen, die von einer vermögenderen Bevölkerungsschicht erworben werden konnten und somit nach Schmitthenner auch für die Stadt wirtschaftlicher sein würden. Diese Planänderung wurde vom Stuttgarter Bürgermeister und auch von den meisten Gemeinderäten befürwortet, da man nicht auf zusätzlichen Wohnraum und Zuschüsse aus Berlin verzichten wollte. Ziel war es auch, Holz als Baustoff für städtische Bauten bei der Bevölkerung populär zu machen. Zum Ausstellungskonzept gehörte weiterhin die Präsentation von Modellen, die die unterschiedlichen Konstruktionsverfahren der Holzbauweisen veranschaulichen sollten. Auch in den Innenräumen sollten die Qualitäten des Holzes als Ausstattungsmaterial verdeutlicht werden. Es gab keinen einheitlichen Auftraggeber. Private Bauherren konnten sich einen der eingereichten Entwürfe aussuchen und dem Architekten anschließend persönliche Wünsche


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mitteilen.53 Die Siedlung gliedert sich durch trennende Straßen in vier Bereiche. Eine zentrale Platzanlage fehlt, ein kleiner Platz entsteht jedoch vor dem dreistöckigen Mietshaus von Bonatz. Es findet sich keine Blockbebauung, sondern eine aufgelockerte Struktur mit versetzt angeordneten Häusern, umgeben von Gärten. Einige Bauten sind nur zu erreichen, indem die Gärten durchschritten werden. Durch Mauern sind die Häuser und Parzellen miteinander verbunden und grenzen sich gleichzeitig vom Straßenraum ab. Das Gelände wurde in unterschiedlich große Parzellen aufgeteilt, die ohne terrassenartige Abstufung nebeneinander liegen, nach Bedarf wurden Häuser aufgesockelt.54 Schmitthenner nennt die Vorzüge des Holzbaus und verweist auf die langeTradition dieser Bauweise in Deutschland.Wegen der Bemängelung des Verlusts der soliden handwerklichen Bauausführung, wurde so viel Wert auf den Holzbau gelegt. Im Hintergrund stand aber auch das

53.Vgl. PLARRE 2001, S. 100-110. 54.Vgl. ebd., S. 25-31.

wirtschaftliche


309

Interesse an einem Aufschwung der Holzverarbeitung im Baugewerbe. Die Wandausfachungen aller Holzbausysteme bestanden aus Schwemm- und Ziegelsteinen beziehungsweise Wandhölzern. Die Satteldächer mussten ziegelgedeckt sein und durften eine Neigung von 35 Grad nicht unterschreiten. Jede Außenwand musste gestrichenes, geöltes oder lasiertes Holz aufweisen, da somit der Charakter von Stadthäusern unterstrichen werden sollte. Im Inneren waren die Architekten frei. Hier findet sich jedoch an allen Flächen verstärkt Holz. Für alle Häusersockel war ein Kalkanstrich vorgesehen. Weiterhin gab es Richtlinien zur Wärme- und Schalltechnik der Häuser. Die Architekten konnten bei der Gestaltung nur innerhalb der festgelegten Vorgaben wählen und mussten den Vorstellungen der Bauherren und Schmitthenners folgen, so dass sie bei ihren Planungen stark eingeschränkt waren.55 Die Kochenhofsiedlung wurde im Krieg ebenfalls stark zerstört und führt heute ein Schattendasein. Keine Tafel informiert Besucher über ihre historische Bedeutung. Der

55.Vgl. PLARRE 2001, S. 33-38.


310

Wiederaufbau der Häuser und deren zahlreiche Umbauten erfolgten ganz im individuellen Geschmack ihrer Bewohner. Obwohl einige Gebäude heute unter Denkmalschutz stehen, sind auch diese nicht von Veränderungen verschont geblieben. Nur einem kleinen Teil der ehemals 25 Häuser sieht man ihr ursprüngliches Erscheinungsbild noch an.56 3. Schmitthenner, Haus 2/3 Auf einer Fläche von 53 Quadratmetern stehen Haus 2 und 3 giebelständig zur Straße. Beide Häuser sind im Grundriss gleich, unterscheiden sich jedoch in der Ausführung. Sie entstanden als Fachwerkbauten im Verbesserten System.57 Haus 2 zeigt sichtbares Fachwerk mit verputzten Feldern. Nahezu alle Elemente sind verkalkt worden. Haus 3 weist hingegen einen hell gestrichenen Scheibenputz auf. Das Holzwerk der Gesimse ist bei beiden Häusern naturbelassen, die Fensterrahmen und -Läden wurden ebenfalls überstrichen.

56.Vgl. PLARRE 2001, S. 18. 57.Vgl. ebd., S. 47.


311

Beide Bauten sind zur Straße durch Mauern und Hecken geschützt und verfügen über nicht einsehbare Höfe, die in Abstufungen als Wirtschaftshof, Eingangshof und Wohnterrasse genutzt werden sollten. Die Privatheit gegenüber der Nachbarschaft wird immer wieder von Schmitthenner betont. Der geschlossene Grundriss zeigt im Keller vier nahezu gleichgroße Räume, von denen drei als Lager- und Stauräume und einer als Waschküche vorgesehen wurden. Von der Waschküche gelangt man durch eine Außentür und über eine Treppe in den Wirtschaftshof. Die innere Kellertreppe endet in der Küche, im Geschoss darüber. Weiterhin finden sich auf dieser Etage der Eingangsflur, von dem ein Bad, ein WC und der große Wohnraum abgehen. Letzterer hat Zugang zur Terrasse und von diesem Raum aus führt eine Treppe zur oberen Etage, die vollständig von der unteren abschließbar ist. Hier finden sich zwei kleinere Schlafräume und ein größeres Elternschlafzimmer. Im Flur führt eine Treppe hinauf zum Dachboden, wo zusätzlicher Stauraum zu vermuten ist.


IV. EINLEITUNG


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1. Traditionalismus Als Alternative zum Historismus wurde die handwerkliche Bauweise der Traditionalisten von der Arts-and-CraftBewegung inspieriert. Es ging um die gestalterische Einheit von Leben und Wohnen, dem Einfamilienhaus galt das Hauptinteresse. Schlagwörter wie Gefühl, Gemütlichkeit oder Lebenswärme wurden häufig angeführt, sollten aber auch gebaut, erfahrbar und bewohnbar werden.

Eine

Umsetzung dieser Begrifflichkeiten zeigt sich beispielsweise auch in asymmetrischen Fassadengestaltungen.58 Sicherlich gaben auch Paul Schultze-Naumburgs Kulturarbeiten weitere Anregungen zum traditionalistischen Bauen.59 SchultzeNaumburg richtet sich hier direkt an die Bauherren, die wachsam die Zerstörung ihrer Umwelt wahrnehmen und verhindern sollen. In Postiv-Negativ-Beispielen stellt er meist abgerissene biedermeierliche Wohnbauten historistischen 58.Vgl. PLARRE 2001 S. 117. 59. Paul Schultze-Naumburg: Kulturarbeiten. Hausbau, einführende Gedanken zu den Kulturarbeiten, 9 Bde., 2. Auflage, München 1904, Bd. I.


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Bauten gegenüber, die an deren Stelle entstanden. Diese neuartigen Wohnhäuser erscheinen ihm als Schwindel und Karikaturen. Mit unsachlichen Gründen entwickelt er ein Wohnungsideal, orientiert am Biedermeierhaus, das im Wesentlichen auch nur übernommen werden soll. Die Diffamierung der Bauten, die zwischen 1870 und 1900 entstanden, gleichen einem Aufruf zum Abriss. In ähnlicher Weise sucht Ernst Ruddorf 1926 im Heimatschutz nach einem vermeintlich ursprünglichen und anzustrebenden Zustand.60 2. Schmitthenners Werk Am Anfang von Schmitthenners Werk stehen Gartenstädte. Einen bedeutenden Platz nimmt hier die Gartenstadt Staaken bei Berlin ein. Er glaubte an gemeinschaftliches Bauen mit verbindenden und verbindlichen Elementen. Auch die Typisierung gewann von nun an in Schmitthenners Werk an Bedeutung. In Staaken wurden die Häuser und Gärten in Erbpacht abgeben. Unterschiedliche Haustypen

60. Ernst Rudorff: Heimatschutz, Berlin 1926.


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wurden verwendet, nach innen ergab sich eine dorfartige Struktur mit Marktplatz, nach außen wurde die Gartenstadt durch die bewohnte Stadtmauer begrenzt. Wie Taut ist auch Schmitthenner der gemeinschaftliche Geist und der Gleichklang der Gestaltung wichtig. Die Lösung der Siedlungsfrage empfindet er als Heilmittel für das durch den 1. Weltkrieg geschädigte Volk. Schmitthenner spricht sich für die überlieferte Handwerkskunst aus, entwickelt aber auch vorfabrizierte und Kosten sparende Fachwerkmodule. Ein Grundmodul ist jeweils 55 Zentimeter lang, Zwischenräume sollten mit Bimsbetonplatten ausgefacht werden. Ein sogenanntes Fafa-Haus errichtete Schmitthenner 1927 in nur sechs Tagen. Die vorgefertigten Teile wurden lediglich aneinander geschraubt, Abbinden war nicht mehr nötig.61 Schmitthenners Erwartungen wurden Ende der 1920er Jahre nicht erfüllt. So besann er sich mehr auf DeutschNationales, da er hoffte, die Rückbesinnung auf traditionelle handwerkliche Tugenden, könnte eine Wende für die seit der Weltwirtschaftskrise pessimistische Stimmung ergeben.

61.Vgl.Voigt 2003, in: Ausst.-Kat. Frankfurt 2003, S. 9-20.


316

1930 gelangte die NSDAP in Thüringen an die Macht. Schulze-Naumburg wurde sodann Direktor der Weimarer Bauhochschule. Moderne Kunstwerke aus thüringischen Museen wurden verbrannt und missliebige Lehrkräfte wurden entlassen. Der Kampfbund für deutsche Kultur wurde 1928 gegründet. Schmitthenner gewann an Beliebtheit, die Nationalsozialisten wurden auf ihn aufmerksam. Er erwartete durch den Nationalsozialismus die Einigung des deutschen Volkes. 1933 hielt er in Berlin einen polemischen Vortrag, in dem er seine Häuser als Positiv-Beispiele und Schäden an Wohnbauten der Moderne als Negativ-Beispiele gegenüber stellte. Schmitthenner bekannte sich offen zur neuen Macht und demonstrierte mit seinen negativen Beispielen eine Art Abschussliste der bevorstehenden Auseinandersetzungen. Viele Kollegen warnten ihn davor, sich von den Nationalsozialisten blenden und missbrauchen zu lassen. Schultze-Naumburg fädelte viele wichtige Treffen für Schmitthenner ein, so dass sich dieser einen Tag nach seinem Vortrag in Berlin mit Mitgliedern des Kabinetts von Göring traf. Neben Aufträgen für Staatsbauten, bot man ihm vier bedeutende Ämter in Berlin an. Schmitthenner


317

hätte der Erste Architekt im Staat werden können. Für die in- und ausländische Presse schien sein Aufstieg beschlossen, doch er lehnte die Angebote ab. Albert Speer trat an seine Stelle.

Schmitthenner

beanstandete

Einschränkungen

der ihm versprochenen Kompetenzen im Bereich der Erziehungsfragen, die ihm die württembergische Regierung nun zusicherte. Der Werkbund passte sich den nationalsozialistischen Konzepten an, bis er 1938 zunächst aufgelöst wurde. In der folgenden Zeit wurde sich Schmitthenner bewusst, wie wenig Handlungsmöglichkeiten sein neuer Posten bot. Die Nationalsozialisten erkannten, dass Schmitthenner eigenständige Ziele verfolgte und drängten ihn von nun an ins Abseits. Bis 1945 erhielt Schmitthenner fast keine öffentlichen Aufträge mehr. Allerdings behielt er seinen Hochschulposten und hielt auch einige Vorträge. In einem äußerte er sich über die Reichskanzlei und Hitlers Arbeitszimmer: „Ein anständiger Architekt nimmt Marmor nur für die Toiletten.“62 Viele von Schmitthenners Bauten wurden im Zweiten Weltkrieg zerstört, auch sein

62.Voigt 2003, in: Ausst.-Kat. Frankfurt 2003, S. 85.


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eigenes Wohnhaus. 1945 wurde Schmitthenner von der amerikanischen Besatzungsregierung aus dem Dienst entlassen. In einer zweiten Entnazifizierungswelle wurden ehemalige Parteimitglieder in Schuldige, Mitläufer und Entlastete aufgeteilt.Viele Schüler Schmitthenners waren als Halbjuden, Kommunisten, Sozialisten oder Widerständler verschiedenen Stufen der Verfolgung ausgesetzt, sagten aber alle zu Gunsten ihres vormaligen Lehrers aus. Letztlich wurde festgestellt, dass Schmitthenner aus idealistischen Gründen und baukünstlerischem Interesse zunächst dem Nazi-Regime folgte, später aber aktiven Widerstand leistete. Er wurde von allen Vorwürfen freigesprochen, eine Entscheidung zur möglichen Wiederberufung auf den Hochschullehrerposten wurde durch Streitigkeiten bis 1948 hinausgezögert. Schließlich vertagte man die Ernennung auf unbestimmte Zeit. Gropius war gegen eine erneute Ernennung Schmitthenners, Mies van der Rohe jedoch dafür.63 3. Die Gebaute Form

63.Vgl.VOIGT 2003, S. 74-97.


319

In Gebaute Form gibt Schmitthenner Anregungen zu einer ihm sinnvoll erscheinenden Entwurfsabfolge. Anhand eines Grundtyps zeigt er Variationen der Konstruktionen, Materialien und Grundrisse, verändert nach natürlichen Gegebenheiten. Für ihn sind Inhalt und Form aufeinander angewiesen. Alles Bauen beginnt mit dem Zweck und den Notwendigkeiten der gestellten Aufgabe. Wichtig sind zunächst der Ort, die Topographie, die klimatischen Verhältnisse und auch die örtlichen Traditionsbezüge. Daraus ergibt sich natürlicherweise das Material oder wie Schmitthenner sagt der Stoff. Der Stoff bedingt die Fügung, also die Konstruktion und auch den Grundriss. Wenn möglich strebt Schmitthenner nach der geschlossenen Grundrissform, nach Einfachheit und Reduzierung. Für ihn ist alles Bauen stoffliche Fügung zu Körper und Raum. Ein harmonischer Zusammenhang zwischen innen und außen muss entstehen, so dass die Ordnung des Ganzen erkannt werden kann. Stoff und Form sind wie Körper und Seele. Das Geistige wandelt sich, der Stoff bleibt. Die Vollkommenheit


320

liegt für Schmitthenner im Zusammenklang.64 4. Das Deutsche Wohnhaus 1932 erscheint das von Schmitthenner verfasste Deutsche Wohnhaus. Hier zeigt er viele seiner unterschiedlichen ausgeführten Projekte und gibt Anregungen zu einer für ihn adäquaten Baugestaltung. Seine Architektur bezeichnet er als menschlich, gefühlvoll und individuell. Die Technik soll dem Menschen dienen, die Gestaltung kommt danach. Diese kann für Schmitthenner nicht nur auf Konstruktion beruhen. Sein Ideal ist orientiert am Bürgerhaus des frühen 19. Jahrhunderts. Vom Typus her wird immer wieder auf Goethes Gartenhaus in Weimar verwiesen, dem Schmitthenners Bauten sehr ähnlich sehen. Durch Goethes Rationalismuskritik in seiner Naturphilosophie wird sein Haus für die Traditionalisten zu einem Symbol

64.Vgl. Paul Schmitthenner: Gebaute Form.Variationen über ein Thema; mit 60 Zeichnungen im Faksimile, Leinfelden-Echterdingen 1984, S. 4-16.


321

einer durch die technische Zivilisation gefährdeten Menschlichkeit. Im Gegensatz zur Ortsbezogenheit, brauche man, laut Schmitthenner, für internationale Werte, auch Gleichgültigkeit im Ausdruck. So entstünden aber Bauten unterschiedlicher Funktion mit gleichem Aussehen. Auch die Konstruktionen der Avantgardisten machen für Schmitthenner keinen Sinn, da Wohnhäuser aus Stahl und Glas später wieder gegen Schall und Kälte isoliert werden müssten.65 Ein Grundriss muss nach Schmitthenner klar, schön und einfach gestaltet sein. Vor allem soll räumlich gedacht werden. Die Größe der Räume ist für ihn eine Frage der Vorstellung. Denn je kleiner das Haus ist, umso größer muss gedacht werden. Die Raumfolgen sollten sich aus dem Grundriss erklären und sinnvoll angeordnet sein. So werden beispielsweise Esszimmer und Küche oder Schlafzimmer und Bad nebeneinander angeordnet. Schmitthenner plädiert für einen großzügigen Eingangsbereich, ein zu lüftender

65.Vgl. Paul Schmitthenner: Das deutscheWohnhaus, Stuttgart 1932, S. 7-11.


322

Vorraum sollte die Küche von anderen Räumen trennen, um Gerüche im ganzen Haus zu vermeiden. In diesem Vorraum könnte alles verstaut werden, was in der Küche nur stören würde. Die Küche kann dann wiederum kleiner ausgeführt werden, dennoch aber so groß wie möglich. Keller und andere Nebenräume sollten in großer Zahl vorhanden und separat von der Küche aus erreichbar sein. Gas, Wasser, Elektrik, Heizung, Kamine und andere Technik müssen durch den Architekten sinnvoll in das Hausgefüge eingesetzt werden. Schmitthenner legt großen Wert auf die Hervorhebung der Treppe im Haus, die wie ein Möbelstück aufgefasst werden sollte, wenn sie frei steht. Durch den Wechsel von Raumgrößen ergeben sich Steigerungen und Weite. So sind Schmitthenner ein großer Raum und ein paar kleinere lieber, als mehrere gleichgroße. Jedes Haus sollte einen Saal haben, der jeweils durch den Vergleich und den Maßstab groß wirkt, egal ob das Haus an sich klein ist. Die Schlafräume können kleiner ausgeführt werden. Wichtig ist ihm hier, dass der Mensch durch gute Gestaltung zur Ruhe


323

kommen kann.66 Auch der Außenraum fließt in Schmitthenners Überlegungen ein: So muss immer die Ausrichtung des Baus nach den Himmelsrichtungen eingeplant werden und auch die sich daraus ergebende Raumanordnung im Inneren. Höfe verbinden verschiedene Bereiche miteinander und grenzen das Gebäude gegen Nachbarn und die Straße ab. Das Dach schützt das Haus und muss deshalb witterungsbeständig sein. Das Dachmaterial ergibt sich aus den Gegebenheiten der Region und aus Bewährung durch Tradition. Für ihn macht ein flaches Dach in bestimmten Gebieten keinen funktionalen Sinn, es ist somit aber auch keine ästhetische Frage. Die Schönheit eines Flachdachs erkennt Schmitthenner bei Bauten des Orients. Die deutschen Verhältnisse, die für ihn so wichtige Tradition und der geschlossene Grundriss, ergeben immer eine klare Dachform. Er erkennt auch in der Dachform an sich eine gewisse Schönheit, von der nicht durch Kamine oder Ähnliches abgelenkt werden darf. Weitere wichtige funktionale Aspekte eines steilen Dachs 66.Vgl. SCHMITTHENNER 1932, S. 13-17.


324

sind für ihn äußerlich, der Schutz gegen Regen und Schnee und innen, ein Luftraum gegen Wärme/Kälte und Platz für Stauraum.67 Für Schmitthenner werden Hausflächen durch das Verhältnis von Öffnung und Wand bestimmt. Dabei ist die Öffnungsgröße an die Raumgröße anzupassen. Auch das Spiel mit Licht ist ihm wichtig. Die Wandkonstruktion beeinflusst die Art der Wandöffnung. Innen und Außen sollen die natürliche Schönheit des Baustoffs und handwerkliche Spuren sichtbar sein. Auch die Achtung vor der Natur ist entscheidend, Bestehendes soll möglichst auch belassen werden.68

67.Vgl. SCHMITTHENNER 1932, S. 17-22. 68.Vgl. ebd., S. 24.


325

5. Siedlung Bauen und Wohnen, Berlin (1927-1928) Schmitthenner baute in der Ausstellungssiedlung der GAGFAH

(gemeinnützige

Aktien-Gesellschaft

für

Angestellten-Heimstätten) drei Häuser. 17 verschiedene Architekten waren eingeladen. Es entstanden 120Wohnungen in Form von Einfamilienhäusern,

Doppelhäusern und

kleinen Mietshäusern. Auch Heinrich Tessenow und Hans Poelzig waren unter den Architekten. Gerade im Gegensatz zur Weißenhofausstellung sollten in Berlin, laut den Veranstaltern, im Wesentlichen nicht nur ästhetische Zwecke verfolgt werden. Die GAGFAH wünschte traufständige Satteldächer über 45 Grad. Es sollten Wohnformen und nicht bautechnische Experimente präsentiert werden. Die Siedlung entstand im direkten Umfeld zu Onkel Toms Hütte, wo Bruno Taut das Neue Bauen mit flachem Dach vorführte. Es entbrannte der sogenannte Zehlendorfer Dächerstreit. Die Dächer wurden zum polemischen Symbol der beiden unterschiedlichen Architekturströmungen. Die Dachform verdichtete viele unterschiedliche Entwicklungen, die zu völlig anderen Wohnformen, Räumen, zu einer anderen


326

Ästhetik und einem unterschiedlichen Bild der Bewohner führten.69 Schmitthenner zu den flachen Dächern: „Nur wenn alle bekannten und bewährten Vorteile des geneigten Daches durch das Flachdach billiger zu erreichen sind, wäre ein zwingender Grund gegeben zum Flachdach überzugehen. Dass man ein dachloses Haus baulich ausgezeichnet gestalten kann, bedarf keiner Erwähnung.“70

69.Vgl.VOIGT 2003, S. 144. 70.Ebd., S. 146.



V. ABSCHLIESSENDE VERGLEICHENDE KRITIK


329

1. Weißenhof/Kochenhof: Vergleich Zu Beginn stand das Problem zur Lösung der Wohnungsnot. Moderne und traditionalistische Architekten verfolgten die Rationalisierung und Typisierung von Baumaterialien und Wohnungen an sich. Taut lieferte hierzu Anregungen, alles Überflüssige zu entfernen und entwarf völlig neuartige Wohn- und Lebensabläufe. Die Weißenhof- und auch die Kochenhofausstellung sollten günstige, solide Wohnungen präsentieren und wurden beide vom Werkbund initiiert. Die

Architekten

der

Weißeinhofsiedlung

konnten

ohne Bauherrenwünsche planen. Somit wurden die unterschiedlichsten Konzepte vorgeführt. Bewusst wurden bedeutende Künstler eingeladen, die ihre Vorstellung von Architektur umsetzen sollten, die Aufgabenstellung war dabei nebensächlich. Wichtig war hier vor allem das Experiment und die Selbstdarstellung, die zu internationaler Beachtung verhelfen sollte. Nur das Flachdach wurde vorgegeben, ansonsten waren die Architekten bei der Gestaltung frei. Die Vertreter beider Architekturströmungen kämpften natürlich auch um Aufmerksamkeit und Aufträge.


330

Somit verwundert es nicht wenn beide Siedlungen von Vertretern der jeweils anderen Architektengesinnung teilweise unsachlich kritisiert wurden. Bonatz bezeichnete die Weißenhofsiedlung

beispielsweise

als

„Vorstadt

71

Jerusalems.“ Beide Lager äußerten sich aber auch positiv, so dass dieser Streit etwas aufgesetzt wirkte. Es ging jeweils um Macht und um die Durchsetzung einer bestimmten Architektur- und Gesellschaftsauffassung. Bei der Kochenhofsiedlung gab es viel mehr Vorgaben und Einschränkungen. Als Reaktion auf die Weißeinhofsiedlung sollten gerade nur bewährte Handwerkstechniken vorgeführt werden, Experimente wurden vermieden. Neben dem spitzen Dach wurde vor allem das Baumaterial (Holz) vorgeschrieben, um die Bauwirtschaft anzukurbeln. Weitere Einschränkungen ergaben sich durch Bauherrenwünsche und die Vorgaben Schmitthenners. So ist es auch ihm zu verdanken, dass an dieser Ausstellung nur deutsche und konservative Architekten teilnahmen, von denen viele auch Schüler Schmitthenners und Bonatz’ waren.

71.Vgl. KIRSCH 1987, S. 128.


331

Beide Siedlungen entstanden an Hanglagen und in aufgelockerter Bebauung, ohne platzartigen Mittelpunkt. Im Falle der Weißeinhofsiedlung orientierte sich die Bebauung am Gelände. Allerdings mussten alle Gebäude hierzu umgeplant werden, da sie zunächst jeweils für die Ebene entworfen wurden. Aus unterschiedlichen Gebäuden ergibt sich hier trotzdem eine Einheit, die durch bestimmte Bauten gerahmt wird. Anders verhält es sich bei der Kochenhofsiedlung. Hier sind die Bauten einheitlich, ergeben zusammen aber keine Einheit. Die Hanglage wurde ignoriert. Jedes Haus ist aufgesockelt und steht wie ein Solitär getrennt von der Umgebung. Diese Abgrenzungen werden durch Mauern noch verstärkt. Beide Siedlungen erfüllten ihre Vorgaben nicht. Jeweils wurde für eine finanzstärkere Klientel gebaut, als zunächst angegeben. In verschwenderischer Weise zeigt die Weißenhofsiedlung den Gegensatz zu rationalisiertem und kostenreduziertem Bauen. Die Kochenhofsiedlung zeigte hingegen althergebrachte Verfahren, konventionelle Grundrisse und vor allem weder eine Weiterentwicklung der Konstruktionsweisen und Materialien, noch der Ästhetik


332

oder Form. Ganz offensichtlich spielte die nationalistische Gesinnung der Kochenhof-Architekten eine bedeutende Rolle bei den Planungen. Beispielhaft erwähnt, sollten die rudimentär gewordenen Fensterläden als deutsches und tief national verinnerlichtes Symbol, ein Gefühl von Heimat und nationaler Identität vorgaukeln. Im Gegenzug wurde bei der Weißenhofsiedlung mit allen Mitteln, auch ohne die Verwendung besonders neuartiger bautechnischer Mittel, eine internationale und allgemeingültige Ästhetik forciert, die sich mit aller Kraft gegen jedwede nationalistische Volkstümelei wandte. 2. Schmitthenner Der natürliche Arbeitsvorgang, aus dem heraus Schmitthenner seine Bauten entwickelt, wurde ausführlich beschrieben. Dieses Konzept scheint auf den ersten Blick logisch. Das Material ergibt sich aus der Tradition und dem Ort, bedingt die Konstruktion, diese führt zum Grundriss und somit auch zur Form. Doch diese Vorgaben entnimmt Schmitthenner


333

einer Baugesinnung, die er in Bauten vom Anfang des 19. Jahrhunderts zu sehen glaubt. Er übernimmt also ein Modell, legt sich selbst Beschränkungen auf, um nicht wirklich weiterentwickeln zu müssen und verharrt somit in einer künstlich geschaffenen Starre, die mit Tradition begründet wird. Seine Bauten scheinen den eigenen Versprechungen zu entsprechen und wirken tatsächlich solide und handwerklich fundiert. Schmitthenner arbeitet dem Material entsprechend und aus dem sinnvoll bearbeiteten Material ergibt sich für ihn immer auch Schönheit. Wenn möglich, versteckt er die Konstruktion nicht. Diese genügt sich selbst aber nicht, sondern unterliegt und dient dem Raum. In dieser Weise plant Schmitthenner seine Bauten sehr räumlich und nicht formell. Wie die Modernisten, so kommt auch Schmitthenner durch Reduzierung zu einer unaufgesetzten Ästhetik. Trotzdem plant er riesige Dächer und Keller mit unwahrscheinlich viel Stauraum. Besonders das Dach erklärt er durch die Klimabedingungen des Hausstandorts. In Wirklichkeit handelt es sich aber um eine ästhetische Frage und in letzter Konsequenz auch um eine gesellschaftliche.


334

Das flache Dach steht für Schmitthenner für eine moderne, technikbegeisterte und seelenslose Gesellschaft, der er durch seine Architektur entgegenwirken will. Die Proportionen und Funktionen der Räume sind ihm wichtig. Er versucht beides in geschlossenen Formen unterzubringen. Trotzdem sind Räume bei Schmitthenner immer auch Zimmer. Und auch jeder Außenraum ist durchdacht und entstand aus für ihn logischen Funktionen. Auf den ersten Blick scheint diese Architektur sehr menschlich zu sein. Am Anfang der Planung steht der Mensch. Alle Lebensabläufe und alle Wünsche der Bewohner scheinen berücksichtigt. Schmitthenner benutzt zudem oft romantisch klingende Begriffe, wie Wärme, Seele, Menschlichkeit usw., um seine Architektur zu unterstreichen. Diese Architektur ist jedoch nicht besonders individuell. Auch wenn sie vorgibt, menschlich zu sein, muss sich der Bewohner doch sehr stark in die Vorgaben Schmitthenners einfinden. Viele überflüssige Räume könnten reduziert werden. Schmitthenner besteht aber auf Stauraum, Dienstbotenzimmer, Salons, unzählige Höfe usw. und erklärt diese Elemente mit Tradition. Für ein gewandeltes Weltbild und veränderte Gegebenheiten findet


335

Schmitthenner keine baulichen Entsprechungen. Er versetzt seine Bauherren in eine vergangene und romantisierte Zeit zurück. Schmitthenners Wohnhäuser

sehen

eben

aus

wie

Wohnbauten, da er sich Elemente der Industriearchitektur für Wohnungen nicht vorstellen konnte. Für ihn sollte eine Turnhalle auch aussehen wie eine Turnhalle, gerne auch mit Stahlbeton konstruiert. In einem Wohnhaus kam solch ein Baustoff aber nicht in Frage. Auch wenn Schmitthenners Arbeit ein recht starres System zugrunde liegt, nimmt der Mensch doch einen großen Stellenwert in seinen Überlegungen ein. Sein Werk ist logisch entwickelt, nur letztlich nicht weitreichend genug. Schmitthenner unternimmt keine Bemühungen, Konstruktionsweisen, Grundrisslösungen oder die Ästhetik zu verändern oder weiterzuentwickeln. Wie

auch

modernistische

Zeitgenossen,

kritisierte

Schmitthenner die mangelhafte Ausführung und die für den Wohnbau unsinnigen Materialien der Weißenhofgebäude. Ein Gebäude aus Stahl, Beton und metallischer Verkleidung entsprach nicht der Vorstellung Schmitthenners von


336

gelungener Isolierung. Gleichzeitig wurden die Kosten durch spätere Ausbesserungen erhöht und nicht reduziert. In den 1930er Jahren machte Schmitthenner Aufnahmen von Bauschäden an Le Corbusiers Haus. Er äußerte sich zum Gebäude wie folgt: „Das Gebilde hält, aber es ist darum noch kein Bauwerk. Erstarrte Gedankenarbeit eines geistreichen Ästheten von Geschmack.“72 3. Le Corbusier Die modernen Bauweisen wurden durch den technischen Fortschritt legitimiert, der ja nicht rückgängig zu machen war. In einer internationalisierten Welt schien eine Ortsgebundenheit überflüssig, so dass auch allgemeingültige Materialien wie Beton eingesetzt wurden. Der neuste Stand der Bautechnik und ein neuartiges Raumverständnis sollten auf dem Weißenhof präsentiert werden, keine maßgeschneiderten Wohnungen. Werkbund-Mitglieder bemängelten aber schon zur Zeit der Ausstellung, dass die

72.Vgl.VOIGT 2003, S. 73.


337

Baukosten nicht reduziert wurden und für viele Bauten auch keine neuartigen Materialien verwendet wurden. Allerdings ist die ästhetische Reichweite der Projekte nicht hoch genug einzuschätzen. Die revolutionären Gedanken beeinflussten vehement die nachfolgenden Architektengenerationen. Und auch auf dem Gebiet der rationalisierten neuen Baustoffe gaben die Avantgardisten einen bedeutenden Anstoß. Zu dieser Zeit waren ihre Methoden noch nicht ausgereift, stellten aber den Beginn einer folgenreichen Entwicklung dar. Schmitthenners Bauten sind logisch entwickelt, auf den Menschen bezogen und funktionieren perfekt, aber verharren in bewährten Konstruktionen und Formen. Ein Schmitthenner-Haus konnte niemals der Ausgangspunkt einer architektonischen Entwicklung von Weltrang werden. Le Corbusier konnte ohne Bauherren planen, was ihm die Umsetzung seiner Bautheorie ermöglichte. Er hatte sein Doppelhaus theoretisch entwickelt und machte sich keine Gedanken über den tatsächlichen Standort. Das Gebäude war für flaches Gelände geplant, so dass der Raum unter dem Obergeschoss hätte genutzt werden können. Das Haus wurde aber am Hang errichtet und die Fläche erscheint


338

nun nutzlos, gerade auch, weil sie nicht von Wohnräumen aus begehbar ist. Auch die vermeintliche Wiedergewinnung der verbauten Fläche durch den Dachgarten beweist, dass Le Corbusier Standort unabhängig plante. Sein Wohnhaus steht nicht in einer dicht bebauten Stadt und hätte somit die Möglichkeit von Gärten, die das Haus umgeben. Nach Meinung der Zeit, passte das Haus nicht in das Stuttgarter Klima. Doch Le Corbusier wollte ebenso wenig auf das vorbestimmte Element des Dachgartens verzichten, wie Schmitthenner auf seine Höfe, Stauräume und Dachstühle. Im Inneren kritisierten Zeitgenossen die von den Räumen unabhängige und somit unangepasste Lichtgestaltung, die eher zu einer Überlichtung führte. Ob die Anwendung der fünf Punkte nun sinnvoll ist oder nicht, die Auswirkungen auf den Innenraum sind nebensächlich. Le Corbusiers Architektur ist formal, da eine Theorie umgesetzt wird. Diese Theorie geht aber nicht vom Bewohner und seinen Bedürfnissen aus, sondern von ästhetischen Konstanten, wie sie in den fünf Punkten dargestellt wurden. Die Konstruktion dient dem Zweck, der Form und der Ästhetik, sie entsteht aber nicht aus


339

dem Raum oder den Wohnbedürfnissen. Räume entstehen gewissermaßen nebenbei. Das vorbestimmte Konzept wird von außen nach innen umgesetzt. Bei Le Corbusier muss sich der Mensch nachträglich in den Raum einfügen. Der Raum ist nicht aus dem Menschen gewachsen. Hierzu scheint der freie Grundriss beste Möglichkeiten zu geben. Durch die festgelegten Konstanten, ergibt sich aber nur eine eingeschränkte Freiheit. Die Konstruktion scheint sich selbst zu genügen, so dass keine natürlichen Räume entstehen, wie sie Schmitthenner bezeichnen würde. Der Raum folgt also der Ästhetik. Die jetzigen Bewohner des zweiten von Le Corbuiser geplanten Wohnhauses, mussten die Räume ändern und anpassen. Sie begreifen den Eingang im Keller als Fehlplanung. Weiterhin vermissen sie Stauraum, den sie von Schmitthenner wohl hätten bekommen können. Zuletzt bestätigen sie die museumshafte Architektur ihres Hauses, das ihren Vorstellungen angepasst werden musste.73

73.Vgl. Interview mit Tilman Osterwold [online], verfügbar unter: http://www.weissenhof.ckom.de/ (16.01.2011).


340

Es wird noch einmal deutlich, dass Le Corbusiers Bauten wie große Plastiken wirken, die durchwandert werden sollen. Der Bewohner wird darin selbst zu einem Ausstellungsstück im Traum des Architekten. Auch sein vermeintlich menschliches Maß Modulor beschränkt sich auf von ihm entwickelte Durchschnittswerte. Der Mensch wird vereinheitlicht. Es entsteht eine unindividuelle Architektur. Die Bedürfnisse des Menschen stehen nicht im Mittelpunkt, sondern die Umsetzung einer Theorie und Ästhetik. Doch auch wenn diese Architektur nicht auf den Bewohner zugeschnitten zu sein scheint, entstanden hier trotzdem fantastische neue Räume, Ideen und eine Ästhetik, die für die weltweite Architekturentwicklung sehr bedeutend war. Ohne Vordenker wie Le Corbusier würde die Architektur im Stillstand verharren.



VI. LITERATURVERZEICHNIS


343

AUSST.-KAT. Frankfurt 1992 Vittorio Magnago Lampugnani: Moderne Architektur in Deutschland 1900 bis 1950. Reform und Tradition, Frankfurt, Deutsches Architektur-Museum 1992, Stuttgart 1992. AUSST.-KAT. Frankfurt 2003 Wolfgang Voigt: Paul Schmitthenner 1884 – 1972. Schönheit ruht in der Ordnung, Frankfurt, Deutsches Architekturmuseum 2003, Tübingen 2003. AUSST.-KAT. München 1993 Bauen im Nationalsozialismus. Bayern 1933 – 1945, herausgegeben von Winfried Nerdinger und Katharina Blohm, München, Architekturmuseum der Technischen Universität und Stadtmuseum, München 1993. BOLLNOW 1980 Otto Friedrich Bollnow: Mensch und Raum, Stuttgart 1980. BONATZ 1950 Paul Bonatz: Leben und Bauen. Mit 45 Zeichnungen des Verfassers, Stuttgart 1950.


344

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345

KELLMANN 1992 Thomas Kellmann: Architektur und Anschauung. Der Raumbegriff in Architektur und

Städtebau der

deutschen und niederländischen Moderne von 1890 bis 1930 im Vergleich, Münster 1992. KIRSCH 1987 Karin Kirsch: Die Weißenhofsiedlung. WerkbundAusstellung „Die Wohnung“ - Stuttgart 1927, Stuttgart 1987. LE CORBUSIER 1978 Le Corbusier: Der Modulor. Darstellung eines in der Architektur und Technik allgemein

anwendbaren

harmonischen Maßes im menschlichen Maßstab, Stuttgart 1978. MAGNAGO LAMPUGNANI 1992 Vittorio Magnago Lampugnani: Vom „Block“ zur Kochenhofsiedlung, in: AUSST.-KAT. Frankfurt 1992, Moderne Architektur in Deutschland 1900 bis 1950. Reform und Tradition, herausgegeben von Vittorio Magnago Lampugnani, Frankfurt, Deutsches ArchitekturMuseum 1992, Stuttgart 1992, S. 267-279.


346

MÜLLER 2004 Ulrich Müller: Raum, Bewegung und Zeit im Werk von Walter Gropius und Ludwig Mies van der Rohe, Berlin 2004. NEUMANN 1997 Dietrich Neumann: Im Brennpunkt der Moderne. Mies van der Rohes Haus Tugendhat, in: Journal of the Society of Architectural Historians 59 (2000), S. 96-100. PLARRE 2001 Stefanie Plarre: Die Kochenhofsiedlung – Das Gegenmodell zur Weißenhofsiedlung. Paul Schmitthenners Siedlungsprojekt in Stuttgart von 1927 bis 1933, Hohenheim 2001. REUTER 2001 Brigitte Reuter: Der Architekt und sein Haus. Architektenwohnhäuser in Deutschland, Österreich und der deutschen Schweiz von 1830 bis 1918, Weimar 2001. ROSER 1992 Matthias Roser: Paul Bonatz. Wohnhäuser, Stuttgart 1992. RUDORFF 1926 Ernst Rudorff: Heimatschutz, Berlin 1926.


347

SCHMITTHENNER 1932 Paul Schmitthenner: Das deutsche Wohnhaus, Stuttgart 1932. SCHMITTHENNER 1933 Paul Schmitthenner: Die 25 Einfamilienhäuser der Holzsiedlung am Kochenhof. Errichtet in zeitgemäßen Holzbauweisen als “Ausstellung Deutsches Holz für Hausbau und Wohnung Stuttgart 1933”, Stuttgart 1933. SCHMITTHENNER 1984 Paul Schmitthenner: Gebaute Form. Variationen über ein Thema, mit 60 Zeichnungen im Faksimile, LeinfeldenEchterdingen 1984. SCHRÖDER 2007 Uwe Schröder (Hrsg.): Der architektonische Raum. I-VI, Materialien zur Architekturtheorie, Tübingen 2007. SCHULTZE-NAUMBURG 1904 Paul Schultze-Naumburg: Kulturarbeiten. Hausbau, einführende Gedanken zu den Kulturarbeiten, 9 Bde., 2. Auflage, München 1904, Bd. I.


348

SPEIDEL/KEGLER/RITTERBACH 2000 Manfred Speidel/Karl Kegler/Peter Ritterbach (Hrsg.): Wege zu einer neuen Baukunst. Bruno Taut, Frühlicht, Konzeptkritik Hefte 1-4, 1921-22 und Rekonstruktion Heft 5, 1922, Berlin 2000. TAUT 1919 Bruno Taut: Die Stadtkrone, Jena 1919. TAUT 2001 Bruno Taut: Die neue Wohnung. Die Frau als Schöpferin, Leipzig 2001. ULMER/KURZ 2009 Manfred Ulmer/Jörg Kurz: Die Weißenhofsiedlung Geschichte und Gegenwart, Stuttgart 2009. WEISSLER 1982 Weißler, Sabine (Hrsg.): Die Zwanziger Jahre des Deutschen Werkbunds. Gespräche mit Hans Eckstein, Hermann Henselmann, Ferdinand Kramer, Julius Posener, Bodo Rasch, Alfred Roth, Felix Schwarz, Albert Speer, Rudolf Steiger, Edith Tschichold, Gießen 1982.


349

ZUG 2007 Beatrix Zug: Die Anthropologie des Raumes in der Architekturtheorie des frĂźhen 20. Jahrhunderts, TĂźbingen 2007.



Otto-Friedrich-Universität Bamberg Geistes- und Kulturwissenschaften

DIE JÜNGERE RESTAURIERUNGSGESCHICHTE VON ST. MARTIN UND ST. JAKOB IN BAMBERG


INHALTSVERZEICHNIS

I. Einleitung ..................................................354 II. St. Martin .................................................364 1. St. Martin ....................................................365 1.1 Baugeschichte .........................................365 1.2 Baubeschreibung des Inneren .......................366 1.3 Baudetails und Ausstattung ..........................368 1.4 Raumwirkung ........................................371 1.5 AuĂ&#x;enfassade...........................................374 1.6 Erste MaĂ&#x;nahmen ....................................378 2. Die Innenrestaurierung zwischen 1979-1984 .........381 2.1 Statische Sicherungen ................................381 2.2 Erster Bauabschnitt ...................................382 2.3 Zweiter Bauabschnitt.................................383 2.4 Dritter Bauabschnitt .................................383 2.5 Vierter Bauabschnitt ..................................384 3. Ein genauerer Blick auf die Innenrenovierung der Martinskirche .............................................387 5. Ergebnis und Kritik ........................................392 II. St. Jakob ...................................................398 1. St. Jakob .....................................................399 1.1 Baugeschichte .........................................399


1.2 Baubeschreibung Innen ..............................400 1.3 Beschreibung der Ostfassade........................402 2. Erste restauratorische Maßnahmen ...................404 3. Frühes 20. Jahrhundert ....................................405 4. Restaurierungen der 1950er Jahre ....................406 5. Maßnahmen von 1960 bis 1990..........................410 6. Die Restaurierungen der 1990er Jahre ...............412 7. Ergebnis und Kritik ........................................416 IV. Schluss .....................................................422 V. Literaturverzeichnis ...................................426


I. EINLEITUNG


355

Lehrstuhl für Denkmalpflege Wintersemester 2009/10 Hauptseminar: Geschichte, Aufgaben und Probleme der Denkmalpflege am Beispiel Bambergs Dozent: Prof. Dr. A. Hubel Datum: 22. April 2010

Die jüngere Restaurierungsgeschichte von zwei Bamberger Kirchen steht im Mittelpunkt dieser Hausarbeit. Zunächst soll die große Restaurierung der Martinskirche, die von 1979 bis 1984 erfolgte, aufgezeigt werden. Es folgt dann ein genauerer Blick auf verändernde Maßnahmen und Eingriffe bei den verschiedenen Restaurierungen der Jakobskirche. Hierbei liegt der Schwerpunkt auf den 1950er und 1990er Jahren. Zum besseren Verständnis werden aber auch die Veränderungen ab dem Ende des 19. Jahrhunderts genannt. Um sich ein genaueres Bild von beiden Bauten machen zu können, werden den Analysen der Restaurierungen jeweils Beschreibungen der Baugeschichte sowie des Innen- und Außenbaus vorangestellt. Beide Themenkomplexe werden durch die Zusammenfassung der Maßnahmen und deren Beurteilung abgeschlossen.



357

Abb. 1 Bamberg, Martinskirche AuĂ&#x;enansicht, Ostfassade Fotografie, Bertram 30.09.2009



359

Abb. 2 Bamberg, Martinskirche Innenansicht RichtungWesten Fotografie, Bertram 30.09.2009



361

Abb. 3 Bamberg, Jakobskirche AuĂ&#x;enansicht, Ostfassade Fotografie, Bertram 26.10.2009



363

Abb. 4 Bamberg, Jakobskirche Innenansicht RichtungWesten Fotografie, Bertram 26.10.2009


II. ST. MARTIN


365

1. St. Martin 1. 1 Baugeschichte Auf dem Gebiet des abgegangen Karmeliterklosters wurde ab 1686 mit dem Bau der ehemaligen Jesuitenkirche begonnen. Am 4. August legte Roman Knauer, Abt von St. Michael, den Grundstein des Kirchenneubaus. Die Umfassungsmauern waren 1688 bis zum Traufgesims hochgeführt, der Dachstuhl wurde im darauf folgenden Jahr errichtet. 1690 war die Fassade vollendet und am 17. Mai 1693 fand die feierliche Weihe der Kirche statt.Als Baumeister wird Johann Leonhard Dientzenhofer genannt, Georg Dientzenhofer, der 1689 verstorben war, soll aber die Ausführungspläne geliefert haben.1 Der Turm konnte erst 1696 vollendet werden. Im selben Jahr wurde auch der Kollegiumsbau begonnen, der sich im Nordwesten an den Kirchenbau anschließt und dessen vier Flügel einen Innenhof umgeben.2 1.Vgl.Tilmann Breuer und Reinhard Gutbier: Stadt Bamberg. Innere Inselstadt, Die Kunstdenkmäler von Bayern, Regierungsbezirk Oberfranken, Bd.VII/5, 2 Bände, München 1990, S. 62. 2.Vgl. ebd., S. 63.


366

1.2 Baubeschreibung des Inneren Die heutige Bamberger Martinskirche und ehemalige Jesuitenkirche befindet sich im Zentrum der Inneren Inselstadt. Es handelt sich um einen nach Westen ausgerichteten, durch Stichkappen gewölbten Wandpfeilerbau mit drei Jochen im Langhaus. Zwischen diesen und der Fassade schließt sich zudem eine Art Vorjoch an, in dessen Abseiten Wendeltreppen eingestellt sind. Über einem Korbbogen erhebt sich an dieser Stelle die Orgelempore. Der heutige neobarocke Orgelprospekt entstand 1894 durch den Öttinger Orgelbauer Steinmeyer. 1938 wurde die Orgel durch die Firma Hindelang auf 56 Register erweitert.3 Zwischen den Wandpfeilern liegen nördlich und südlich des Langhauses tiefe kapellenartige Abseiten. Bei den ersten beiden Jochen schließen diese Vertiefungen mit Rundbögen ab. Sie sind mit Quertonnen überwölbt und weisen in der Außenwand jeweils ein Rundbogenfenster auf. Über ihnen befinden sich Emporen, die ebenfalls überwölbt sind und zum Langhaus

3.Vgl. BREUER 1990, S. 113.


367

hin durch jeweils eine Balustrade begrenzt werden. Darüber findet sich ein weiterer Rundbogen, der die Verbindung zum Langhaus darstellt. Das folgende dritte Joch ist länger als die davor liegenden und bildet im Westen den Übergang zum Chorbereich. Die Emporen sind in diesem Abschnitt weiter zu den Außenwänden eingerückt und werden wegen der gesteigerten Länge von Korbbögen getragen. Breuer und Gutbier bezeichnen das Gewölbe in diesem Bereich als Hängekuppel.4 Durch die veränderten Proportionen entsteht hier eine Art Querhaus mit Vierung. Zum besseren Verständnis soll im weiteren Verlauf auch der Begriff Vierung für diesen Raumabschnitt benutzt werden. Westlich schließt sich der Chorbereich mit halbrundem Abschluss an. Ihn umgeben zur Vierung hin zwei Seitenkapellen und umlaufend Sakristeianbauten. Im Chorscheitel befindet sich der Turm.

4.Vgl. BREUER 1990, S. 71.


368

1.3 Baudetails und Ausstattung Im gesamten Kirchenraum finden sich durchgängig korinthische Pilaster mit gleichem Basis- und Kapitellniveau. Sie erheben sich von hohen Basen und führen mit ihren Kapitellen bis zu den Emporenbalustraden. Darüber liegen Gebälkstücke, von denen aus Gurtbögen im Raster der Pilaster in die Gewölbe führen. Die Basen und Kapitelle der Pilaster sind vergoldet oder ockerfarben gestrichen, ansonsten werden die Kirchenwände von einem gräulichen Putz ohne farbige oder dekorative Elemente beherrscht. Ausnahmen bilden die Stuckdekorationen der Gebälkprofile und das Deckengemälde derVierung. Dieses wurde 1716 von Giovanni Francesco Marchini nach Vorlagen Andrea Prozzos in Frescotechnik geschaffen. In den Gewölbezwickeln sind die vier Evangelisten dargestellt, die Mitte wird von einer gemalten Scheinkuppel dominiert.5 Viele Ausstattungsstücke füllen zudem den Raum. Nach Westen ausgerichtet finden sich in den vier Abseiten

5.Vgl. BREUER 1990, S. 89.


369

Altäre mit Stuckmarmorelementen. Der südliche Altar des ersten Jochs wurde 1714 geweiht. Das Altarblatt zeigt die Unterweisung des Marienkindes durch die heilige Anna und wird deshalb auch als Annaaltar bezeichnet. In der gegenüberliegenden Abseite befindet sich der Ottilienaltar, der ebenfalls 1714 geweiht wurde. Das Altarblatt der davorliegenden Abseite zeigt die Verurteilung des heiligen Laurentius. Der Laurentiusaltar wurde gleichfalls 1714 geweiht. Der Altar der gegenüberliegenden Abseite wird von einem Altarblatt, das den heiligen Sebastian als Helfer der Pestkranken zeigt, dominiert. Dieser Altar wurde 1719 geweiht und auch hier zog man Stuckmarmor zur Gestaltung heran.6 Am nordöstlichen Vierungspfeiler befindet sich die ab 1713 aus Holz mit Stuckmarmor geschaffene Kanzel, die möglicherweise von Giovanni Battista Brenno oder Kaspar Vogel gestaltet wurde. Letzter schuf auch die Nebenaltäre der Abseiten.7 An der westlichen Vierungsseite stehen nördlich und südlich zum Chor hin zwei weitere Altäre, die durch

6.Vgl. BREUER 1990, S. 109ff. 7.Vgl. ebd., S. 112.


370

Diagonalstellung die Vierung mit dem Chor verbinden. Im Norden befindet sich der Marienaltar, dessen üppige Aufbauten bis in die Gebälkzone der Pilaster und zu den Gewölbeanfängen hinaufragen. Das Gnadenbild Maria Trost, eine stehende Muttergottes mit Kind aus Alabaster, wurde 1700 in den 1698 geweihten Altar eingefügt. Nach einem Brand wurde das Gnadenbild 1805 im gegenüberliegenden Kreuzaltar platziert, in heutiger Zeit aber wieder zurückgeführt. Der gegenüberliegende Kreuzaltar wurde dem Marienaltar nachgebildet und 1710 geweiht. In der rundbogigen Nische befindet sich eine Kreuzigungsgruppe aus in Weiß und Gold gefassten Holzfiguren.8 Der in seinen Formen und Proportionen noch gesteigerte Hochaltar, nimmt die gesamte Chorrückwand ein und ragt mit seinen Aufbauten bis in die Gewölbe. 1701 waren die Aufbauten vollendet, 1791/92 wurden allerdings Stipes, Mensa und Tabernakel von Materno Bossi neu geschaffen. Zuvor fügte man 1708 das von Andrea Pozzo geschaffene Altarblatt ein. Bei der Adaptierung der Jesuitenkirche zur städtischen

8.Vgl. BREUER 1990, S. 98-103.


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St. Martinskirche 1803, wurde dieses Gemälde jedoch entfernt und durch ein gegen 1712 von Sebastian Reinhard geschaffenes Gemälde ersetzt. Dieses zeigt den heiligen Martin im Angesicht des Todes und ist bis heute zu sehen.9 1.4 Raumwirkung Dem Betrachter, der die Martinskirche betritt, scheint sich ein einziger großer Raum zu öffnen. Der Blick wird sofort auf den Chor und den Hochaltar gelenkt.Viele Architektur- und Ausstattungselemente tragen dazu bei. Zunächst jedoch ein genauerer Blick auf die Architekturformen und ihreWirkung. Das fast 16 Meter breite Langhaus wirkt monumental. Diese Weitung des Raumes zeigt sich auch in der großen Distanz der Wandpfeiler. Durch diese enorme Größe der einzelnen architektonischen Elemente, bei gleichzeitig relativ geringer Länge des gesamten Kirchenbaus, finden sich nahezu keine Wiederholungen. So sind beispielsweise alle Pilaster unterschiedlich instrumentiert. Vom Vorjoch

9.Vgl. BREUER 1990, S. 96.


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aus betrachtet finden sich an den einzelnen Jochen zunächst über Eck positionierte, dann paarweise und vor der Vierung schließlich gestaffelte Pilaster.10 Dies trägt einerseits zur stärkeren Rhythmisierung des Raumes bei, andererseits wird der Blick durch gleich hohe Basen und Kapitelle zunächst durch das Langhaus zur Vierung hingeleitet. Dort sind beide Altäre diagonal positioniert, so dass sie den Blick direkt zum Hochaltar führen. Diese starke Sogwirkung zum Hochaltar hin wird auch durch die Aufstellung der Kirchenbänke begünstigt, die eine Mittelgasse freilassen. Auch wenn die Abseiten deutlich zu sehen sind, treten sie doch in den Hintergrund. Durch die Proportionen des gesamten Raumes, sowie durch die geringe Länge der Langhausjoche und durch die überschwänglichen Ausstattungsstücke im Vierungs- und Chorbereich, entsteht fast der Eindruck eines Zentralbaus. Auch aus der erwähnten Pilastergestaltung ergibt sich eine Steigerung zur Vierung hin. Diese wird durch Segmentgiebelstücke über den acht Pilastern der vier

10.Vgl. Renate Baumgärtel-Fleischmann (Hrsg.): 300 Jahre Jesuitenkirche, St. Martin Bamberg. 1693 – 1993, Bamberg 1993, S.102.


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Ecken noch verstärkt. Auch wenn das ursprüngliche architektonische Konzept beeindruckt und nachzuvollziehen ist, verblüffen jedoch die Dekoration, die Ausstattung und die Farbigkeit des Kircheninnenraumes. Bis auf die Basen und Kapitelle der Pilaster, erscheinen alle Wand- und Stuckflächen in einem hellgrauen Ton. Besonders oberhalb der Abseiten, aber auch in den Gewölben wirkt die Kirche nackt und unvollkommen. EineAusnahme bildet das Fresko derVierung. Dieses ist zurzeit allerdings auch stark verblasst und vergraut. Diese nackten und grauen Flächen stehen im Kontrast zur Farbigkeit der Altäre. Der Stuckmarmor leuchtet hier stark rosa, weiterhin finden sich viele Vergoldungen sowie kontrastreiche schwarze Umfassungen an den beiden Vierungsaltären. Die Üppigkeit der Chor- und Vierungsausstattung lässt auf eine ebensolche und ursprünglich geplante Dekoration im Langhaus schließen. Denn wie im Chorbereich ausgeführt, ist im Langhaus eine Verbindung der einzelnen Architekturteile nicht vorhanden. Im Chor verschmelzen Altäre, Wand und Skulpturen zu einem Gefüge. Sie bilden einen bewegten und trotzdem harmonischen Farbraum, der im vorderen Bereich


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der Kirche zu fehlen scheint. 1.5 Außenfassade Wie die gesamten Fassaden des Kirchenbaus, besteht auch die imposante Ost- und Hauptfassade aus akkurat gehauenen Sandsteinquadern. Bis heute prägt diese die Silhouette des Grünen Markts. Die dreiteilige Fassade wird an den äußeren Seiten von zwei schmalerenTeilen gebildet, die durch ein hohes Gesims wiederum in zwei Abschnitte unterteilt sind. Diese Seiten flankieren einen Mittelrisalit, der ebenfalls horizontal zweigeteilt ist und die Seitenteile deutlich überragt. Letztere sind durch gekrümmte Giebel ohne Voluten mit dem oberen Giebel des Mittelrisalits verbunden. Die nördliche und südliche Seite des unteren Fassadenabschnitts ist jeweils von dorischen Pilastern begrenzt. Die an den vorspringenden Mittelrisalit grenzenden Pilaster sind halbiert und über Eck gestellt. Zwischen den Pilastern findet sich mittig jeweils ein Portal, das von einem verkröpften Segmentgiebel bekrönt wird. Darüber liegt auf beiden Seiten eine rundbogige Nische mit einer Balustrade und zurückgesetztem Fenster


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mit verkröpftem Dreiecksgiebel. Darüber zieht sich jeweils ein verkröpftes Gesims bis zum Rundbogen des Mittelrisalits. Über diesem Gesims beginnt der zweite Fassadenabschnitt der Außenseiten. Die Pilastergliederung wird hier fortgeführt, allerdings nun in ionischer Ausformung. Zwischen den Pilastern liegt jeweils eine weitere rundbogige Nische, diesmal jedoch mit zwei übereinanderliegenden Fenstern an der zurückversetzten Wand. Abgeschlossen wird dieser Abschnitt nach oben hin durch ein weiteres Gesims, auf dem eine Balustrade und die erwähnten abgerundeten und verbindenden Giebel aufgesetzt sind. Auf den äußersten oberen Ecken der nördlichen und südlichen Außenseiten befinden sich bekrönend Kugeln mit vergoldeten Flammen. Der Mittelrisalit besteht aus zwei übereinander gestellten Triumphbögen und ist eine genauere Betrachtung wert. Jeweils zwei, an den Außenseiten des unteren Mittelrisalits positionierte, dorische Pilaster begrenzen eine rundbogige Nische. Zwischen diesen Pilastern befinden sich jeweils zwei übereinander gestellte Skulpturen in ebenfalls rundbogigen Nischen. In die untere nördliche Nische ist eine Skulptur der Muttergottes eingestellt, in der darüber liegenden


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Nische findet sich eine Skulptur des heiligen Franz-Xaver. In der unteren südlichen Nische steht eine Skulptur, die Christus als Erlöser zeigt. Darüber befindet sich eine Skulptur des heiligen Ignatius. Über den Pilastern setzt sich das verkröpfte Gesims von den Außenseiten kommend fort und bildet gleichsam den Unterbau des darüberliegenden Giebels. Dieses Gesims kann sich jedoch nicht über den gesamtem Mittelrisalit erstrecken, da es durch eine Nische unterbrochen wird, deren Rundbogen bis in das Giebelfeld des unteren Mittelrisalitgiebels hochgezogen ist. In dieser Nische befindet sich das Hauptportal der Kirche mit darüber liegendem Fenster. Das Portal ist von zwei dorischen Säulen umgeben, die einen stark verkröpften Segmentgiebel tragen. Im Bereich des Fensters wiederholt sich diese Anordnung, allerdings hier mit Säulen ionischer Ausprägung. Der gesamte untere Teil des Mittelrisalits wird von einem verkröpften Segmentgiebel überspannt. Die Elemente des unteren Bereichs und deren Anordnung setzen sich mit einigen Ausnahmen im oberen Triumphbogen fort. Die Pilaster sind nun im Komposit-Stil ausgeformt. Dazwischen finden sich auch hier vier Skulpturen in


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Rundbogennischen. In der unteren nördlichen Nische steht eine Skulptur des heiligen Laurentius, darüber befindet sich eine Skulptur der heiligen Ottilie. Auf der südlichen Seite findet sich in der unteren Nische eine Skulptur des heiligen Sebastian, darüber eine Skulptur der heiligen Anna. Die Nische zwischen den Pilastern ist auch hier zweigeteilt. Im unteren Bereich zeigt sich ein großes Fenster, das von ionischen Pilastern und einem verkröpften Segmentgiebel umrahmt wird. Eine Balustrade grenzt den Raum nach vorne hin ab. Im Bogen der Nische befindet sich über dem Fenster ein Ziffernblatt. Darüber folgt ein großer verkröpfter Dreiecksgiebel, der die gesamte Fassade abschließt und auf dem sich, wie auf den Abschlüssen der Außenseiten, insgesamt fünf Kugeln mit vergoldeten Flammen befinden. In Bezug auf Pilasteranordnungen folgt die Fassade klassischen Regeln. Die einzelnen Pilaster steigern sich nach oben hin in ihrer Bedeutung. Die Fassade wirkt durch Vorund Rücksprünge, durch das Wechselspiel verschiedener Giebelformen sowie durch die unterschiedlichen Höhen der einzelnen Abschnitte sehr belebt. Die Durchgängigkeit einiger Gesimse und die Einheitlichkeit im Material


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verbinden jedoch auch alle Architekturteile zu einem Ganzen. Besonders hervorzuheben sind aber die beiden Giebel des Mittelrisalits und die jeweils darunterliegenden Nischen. Die Bögen dieser Nischen durchbrechen jeweils die darüber liegenden Giebelfelder, sodass beide als syrische Giebel bezeichnet werden können. Die Dopplung dieses Motivs mit zwei übereinanderliegenden syrischen Bögen ist einzigartig und tritt so nur in Bamberg auf. 1.6 Erste Maßnahmen HHH1803 wurden an der Außenfassade über dem oberen Triumphbogen zwei gleich hohe Glockentürme aufgesetzt.11 Bei der Abnahme der in den Aufsätzen der Fassade aufgehängten Schlaguhrglocken, die zu Rüstzwecken abgegeben werden mussten, stürzte die eine der Glocken am 9. Februar 1942 ab und beschädigte die Fassade. Diese beiden Glockenträger störten die Proportionen des barocken Bauwerks angeblich empfindlich und wurden deshalb bei

11.Vgl. BAUMGÄRTEL-FLEISCHMANN 1993, S. 95.


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der Kirchenrestaurierung von 1963 beseitigt.12 Im selben Jahr wurden die erwähnten Fassadenfiguren durch Hans Leitherer restauriert und eine Steinfestigung mit KeimFixativ13 durchgeführt. An der Muttergottes ist der rechte Arm sowie der rechte Arm des Kindes in Steingussmasse ergänzt und auch das Lilienzepter erneuert worden. Die linke Hand des heiligen Franz-Xaver wurde mit Kreuz und Unterarm in Steingussmasse vervollständigt, der Nimbus wurde neu gefertigt. Neu geschaffen wurden gleichzeitig auch Nimbus und Pfeile des heiligen Sebastian. Am heiligen Laurentius wurde die linke Hand in Steingussmasse ergänzt und dabei ein neuer Rost und ein neuer Nimbus angebracht. Der Kopf des Marienkindes, bei der Figur der heiligen Anna, wurde 1963 weitgehend ergänzt, die Nimben erneuert. Der Äbtissinnenstab und der Nimbus der heiligen Ottilie wurden ebenfalls 1963 erneuert.14 In heutiger Zeit ist gut zu erkennen, dass einige schadhafte Fassadenteile,

12.Vgl. BREUER 1990, S.68. 13. Flüssiges Kaliumsilikat 14.Vgl. BREUER 1990, S. 78f.


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beispielsweise Gesimsstücke und ähnliches, durch neu geschaffene Werksteine ersetzt wurden. Im April 1945 erlitt die Kirche Kriegsschäden an den Fenstern und am oberen Teil des Turms. Eine erste Instandsetzung des Inneren der Kirche nach dem Zweiten Weltkrieg mit Entstaubung und Neutünchung fand 1948/49 statt. Die Steinschäden am oberen Teil des Turmes wurden 1957 ausgebessert. Zu einer durchgreifenden Instandsetzung der Kirche wurden bereits 1976 von Eberhard Reichelt erste Befunduntersuchungen durchgeführt. Im Frühjahr 1978 waren schon Arbeiten zum Schutz des Dachgerüsts und zur Neudeckung des Kirchendachs begonnen worden. Zwischen 1979-1984 folgte dann die Gesamtsanierung und Inneninstandsetzung der Kirche in vier Abschnitten, denen konstruktive Sicherungsmaßnahmen vorausgingen.15

15.Vgl. BREUER 1990, S. 68f.


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2. Die Innenrestaurierung zwischen 1979-1984 2.1 Statische Sicherungen Das

größte

Problem

war

zunächst

die

statische

Sicherung des Dachstuhls und der Gewölbejoche. Durch Kriegseinwirkungen und Schwerlastverkehr16 hatte sich der Dachstuhl gesenkt und somit die Gewölbedecke belastet, die keine Stützfunktionen ausüben und keine Druckkräfte aufnehmen kann. Dadurch kam es zu bedenklichen Rissen in den Gewölbescheiteln. Die Bögen, die das Gewölbe der Scheinkuppel begrenzen, wurden mit starken Eisenkonstruktionen von unten an einen Betonrahmen im Dachboden aufgehängt und somit dauerhaft vor weiterem Absenken gesichert. Besonders schwierig war es die erforderlichen Träger und Abfangkonstruktionen zwischen das Gewirr von Dachbalken und -streben einzubauen.17

16. Der Grüne Markt war bis in die 1970er Jahre keine Fußgängerzone, sondern eine Hauptverkehrsader der Stadt. 17.Vgl. Pfarrei St. Martin (Hrsg.): St. Martin in Bamberg. Beendigung der Renovation und Altarweihe am 11. November 1984; eine Festgabe, Bamberg 1984, S. 28f.


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2.2 Erster Bauabschnitt Zunächst wurde der alte, auf Sand verlegte Plattenbelag des Fußbodens entfernt und eine solide Unterkonstruktion mit Fußbodenheizung eingebaut. Anschließend wurde das Langhaus bis zur Kuppel eingerüstet und es folgten ergänzende Befunduntersuchungen durch den Restaurator. Unter Verwendung der noch intakten Fenstereisen erneuerte man sodann die Kirchenfenster. Folgend wurde eine Abluftanlage mit Absaugöffnungen in der Kirchendecke eingebaut, die neben der Entlüftung auch einer Verschmutzung des Innenraumes durch Staubablagerungen vorbeugen sollte. Weiterhin wurden alte Farbschichten auf Decken und Wänden der Raumschale entfernt, Kabel für die Beleuchtung und Lautsprecheranlage verlegt, sowie Decken und Wände im Langhaus und in den Seitenkapellen verputzt.18

18.Vgl. PFARREI ST. MARTIN 1984, S. 30.


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2.3 Zweiter Bauabschnitt Als Erstes wurden die Arbeiten an Vierung und Chor fertig gestellt. Es folgte die Restaurierung des Vierungsfreskos. Hier mussten anfänglich Risse geschlossen werden. Das Reinigen und Festigen der abblätternden Malschichten erforderte ein behutsames Vorgehen. Insgesamt dauerten die Arbeiten an allen Decken und Wänden zwei Jahre.19 2.4 Dritter Bauabschnitt Während dieser Phase wurde ein neuer Sandsteinfußboden verlegt

und

eine

Rollstuhlrampe

zum

südlichen

Seitenportal an der Jesuitenstraße angebaut. Es folgten die Restaurierung der wertvollen Ausstattungsstücke und der Anstrich der Kirchenwände. Nach gründlichen Farbuntersuchungen, sollte die Farbigkeit dem ersten Anstrich nach der Fertigstellung der Kirche im 18. Jh. am nächsten kommen. Hierbei handelt es sich um den

19.Vgl. PFARREI ST. MARTIN 1984, S. 30.


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Zustand des Kircheninnenraums zu dem Zeitpunkt, als alle Ausstattungsstücke zusammenhängend zu sehen waren, der Innenraum in seiner Farbigkeit aber schon einmal verändert worden war. Bei vergangenen Renovierungen wurden vor einem Neuanstrich in den Chorkapellen alte Farbschichten nicht beseitigt. So mussten dünne Kalkschichten lediglich entfernt werden und die Originalfassung konnte wieder in Erscheinung treten. Diese musste nur gereinigt, geringfügig ergänzt und einretuschiert werden. Alle Altäre und Figuren wurden den Befunduntersuchungen nach im historischen Sinne restauriert. Hierbei musste die Substanz gesichert, teilweise auch ergänzt und Oberflächen behandelt werden. Abschließend wurden die Altarbilder und sonstigen Ölgemälde nach restauratorischer Behandlung wieder angebracht.20 2.5 Vierter Bauabschnitt Die vierte Restaurierungsphase sollte bis zum Patronatsfest

20.Vgl. PFARREI ST. MARTIN 1984, S. 31.


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am 11. November 1984 beendet sein. Es standen noch Schreinerarbeiten aus. Die überarbeiteten Kirchenbänke wurden auf den erneuerten Holzpodesten befestigt, die Bankheizungen installiert, Beichtstühle und Windfänge wurden repariert, neu zusammengesetzt und wieder platziert.21 Die eingreifendste Änderung im Inneren war jedoch die Neugestaltung des Altarraums. Der Zelebrationsaltar sollte an einer möglichst hohen und vorgezogenen Stelle platziert werden. Altar, Priestersitz und Ambo sollten den Kirchenbesuchern zugewandt und für diese gut erkennbar sein. So entwarf man verschiedene Pläne zur Erhöhung des Altarraums und führte dazu Versuche mit Holzpodesten durch. Die ab 1984 ausgeführte Lösung sieht eine erste Stufe vor, die sich um die Schranken der beiden Seitenaltäre zieht. Zwei weitere geschwungene Stufen kommen in der Mitte zwischen diesen Schranken dem Kirchenschiff entgegen.

Die dadurch gewonnene

3-Stufenhöhe wird über den gesamten Altarraum bis hin zum Hochaltar gezogen und ergibt für den Zelebrationsaltar,

21.Vgl. PFARREI ST. MARTIN 1984, S. 31.


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den Priestersitz und den Ambo die selbe Höhe und damit die selbe Sicht. Um in die Chorseitenkapellen zu gelangen muss man nun erst drei Stufen hinauf und dann wieder eine hinab steigen. Für den neuen Altar wurde ein Künstlerwettbewerb ausgeschrieben. Eine Bedingung dieses Wettbewerbs war es, die beglaubigte Martinsreliquie der Kirche in dem zu gestaltenden Altar einzuarbeiten und für alle Besucher sichtbar zu machen. Weiterhin wurde der geteilte Mantel als Motiv des neuen Altars vorgegeben. Die Altarplatte sollte aus Naturstein sein, ansonsten waren die Künstler bei der Materialwahl freigestellt. Am 30.05.1984 gewann Paul Schinner aus Nabburg den Wettbewerb. Ab August 1984 wurde dann der Altarblock vom Künstler aus einem Block gehauen.22

22.Vgl. PFARREI ST. MARTIN 1984, S. 41-45.


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3. Ein genauerer Blick auf die Innenrenovierung der Martinskirche Die Wandfarbe des Innenraums war vor der Renovierung stark vergraut und die Altäre waren von Staub bedeckt. Zur statischen Sicherung wurden Stahlplatten in den Laibungen einiger Bögen angebracht, weswegen in diesen Bereichen auch der Stuck abgenommen werden musste. Durch den Einbau der neuen Bankstrahler- und Bodenheizung und wegen der Verlegung des völlig neuen Sandsteinbodens, entstanden enorme Verschmutzungen, die eine neue Ausmalung zwangsläufig notwendig machten. Da man alte Farbschichten meist nur reinigte und dann überstrich, sind oft viele übereinanderliegende Schichten vorhanden. Auch in der Martinskirche konnten unterschiedliche Anstriche nachgewiesen werden. Die Befunduntersuchung von 1976 wurde von Herrn Restaurator Eberhard Reichelt aus Gundelsheim ausgeführt. Ihm stand nur ein kleines Gerüst am Marienaltar zur Verfügung. Nach dem Einrüsten des gesamten Innenraums, wurden die Befunde durch die Restauratoren der Firma Schmuck aus Bamberg ergänzt.


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Ab 1700 wurde mit der Errichtung der Altäre begonnen, 1716 war das Deckenfresko von Giovanni Francesco Marchini vollendet und die Chorseitenkapellen wurden 1718 stuckiert und ausgemalt. Somit liegen ungefähr 25 Jahre zwischen der Weihe des Baus 1693 und der Vollendung der Hauptausstattungsstücke. Die Kirche wurde in dieser Zeit jedoch schon als Gotteshaus genutzt. Befunduntersuchungen weisen eine erste Raumfassung nach, als die Hauptaltäre noch nicht errichtet waren. Hinter den Altären der Vierung blieb diese erste Fassung großflächig erhalten. In der Befunduntersuchung finden sich Angaben zu den Farbresten der Fläche hinter dem Kreuzaltar. Die Wandflächen waren weiß gekalkt, Rahmungen und Profile waren ockergelb und grau abgesetzt. Gesimsteile am Sockel und Pilasterbasen bestanden aus graugelbem Sandstein. Diese Werksteine wurden lediglich lasierend gefasst, so dass die Oberflächenstruktur des Steins sichtbar blieb. Nach der Befunduntersuchung von Herrn Reichelt zum übrigen Raum, waren Wand und Gebälk weiß gefasst, die Pilasterschäfte ockergelb, die Pilasterbasen jedoch grüngrau und die Pilasterkapitelle in Ölgold auf gelbem,


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verbräuntem Grund gestrichen. Weiterhin fanden sich weiße Farbreste an den Fensterahmen und rote Spuren an den Emporenbalustraden.23 Die Untersuchung zur zweiten Raumfassung ergab ein helles Grau an Wänden und Pilastern, sowie einen hellroten24 Anstrich in der Apsis hinter dem Hauptaltar und ebenfalls graue Emporenbaluster. Die Befundergänzung von 1982 hat sich auf die zweite Fassung konzentriert, weil von ihr bekannt ist, dass sie nach Vollendung des Hochaltars, der Seitenaltäre und des Kuppelfreskos gleichzeitig mit der Stuckierung der Chorseitenkapellen geschaffen wurde. Nach diesem zweiten Befund wurde versucht, die Farbigkeit des Zustands um 1718 zu rekonstruieren. Die Kapitelle sind wiederholt vergoldet worden, allerdings zeigen sie weniger Schichten als die anschließenden Wandflächen. Offenbar wurde die Vergoldung nicht bei jeder Ausmalung erneuert. So geschah es auch bei der zuletzt ausgeführten Restaurierung in den 1980er Jahren. Das Gold der Kapitelle wurde

23.Vgl. PFARREI ST. MARTIN 1984, S. 46ff. 24. caput mortuum


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nur gereinigt und der Grund zwischen den vergoldeten Partien mit Ocker hinterlegt. Eine Freilegung einer älteren Vergoldung war weder notwendig noch sinnvoll, da viel zerstört und wenig gewonnen worden wäre. Das große Kuppelfresko von Marchini hat vor der Restaurierung als dunkler Bereich die Mitte der Kirche belastet. Die einfache Oberflächenreinigung, bei der Staub und Ruß abgekehrt wurden, hat das Bild spürbar aufgehellt. Am Rand des Bildes wurden zerstörte Teile in Freskotechnik ergänzt. Die Mordentvergoldung auf Brüstungen, Kapitellen oder Rippen der Scheinkuppel wurde erneuert, so dass die Darstellung nun verständlicher wirkt. Auf das Fresko wurden hierzu lineare Wachsstriche aufgetragen, die als Grundierung für Blattgold dienen. Diese Wachslinien waren ebenso erhalten, wie völlig verschmutzte Reste des Goldes. Die Erneuerung des Blattgolds hat dem Deckenfresko die goldenen Striche wiedergegeben, die als letzte Binnenzeichnung das Gemälde wieder verständlich machen und einer Weißhöhung in der Graphik vergleichbar sind.25

25.Vgl. PFARREI ST. MARTIN 1984, S. 48ff.


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Der Zustand der Altäre der Vierung und des Chors war viel schlechter als vor der Einrüstung angenommen. Große Teile der jüngeren Fassungen waren auf polierte und gewachste Flächen aufgetragen worden, hatten folglich keine Haftung auf diesem Grund und standen großflächig ab. Das vorgesehene Reinigen der Altäre versprach kein zufriedenstellendes Ergebnis, da das Niederlegen neuer Fassungen auf den gewachsten Flächen sehr aufwendig gewesen wäre und ein technisch mangelhaftes Resultat mit sich gebracht hätte. Man entschloss sich dann zu einer Freilegung und Wiederherstellung der ersten Fassung. Sehr große Teile dieser Fassung waren authentisch wiederzugewinnen, da die Farben der stuckierten Bereiche der Altäre ebenso erhalten blieben wie die der Stuckglätten26. Die Polierweißflächen und Teile der Vergoldung mussten nach der Freilegung ergänzt werden. In ihrer Farbigkeit wurden die Seitenaltäre nicht nennenswert verändert. Die bei diesen Altären schwarzen Partien waren vor der Freilegung beim Hauptaltar

26. Sehr fein geputzte Kalkflächen, die in der Art des Stucks bemalt, danach geglättet und gewachst wurden.


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rot und grau auf grauem Grund marmoriert. Hauptaltar und Seitenaltäre waren so mit dunkler Farbigkeit einander angeglichen. Nach der Freilegung erscheinen die ehemals grau marmorierten Teile am Hauptaltar beigefarbig hell. Die nachweislich nach Errichtung des Hochaltars rot bemalte Apsis wurde wieder, gegen anfängliche allgemeine Skepsis, rot ausgemalt. Mit der Altarweihe am 11. November 1984 wurde die Restaurierung offiziell beendet.27 5. Ergebnis und Kritik Zusammenfassend

lässt

sich

feststellen,

dass

im

Kircheninneren eine Rekonstruktion der Erstfassung bei der Ausstattung und eine Rekonstruktion der Zweitfassung bei der Raumschale erfolgte. Die ehemals roten Emporenbaluster erscheinen nun in hellem Grau und somit nehmen sie den Farbton aller Wandflächen des Kircheninnenraums auf. Der Grauton auf den Wandflächen ist ein Kalkanstrich, der mit gemahlener Holzkohle getönt

27.Vgl. PFARREI ST. MARTIN 1984, S. 50.


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wurde und ein leicht blaustichiges Grau ergibt. Allerdings wurde befürchtet, die Kirche könnte durch diesen Anstrich zu dunkel werden. Die Farbigkeit, die dem Befund durch Zugabe von etwas Ocker ganz genau entsprochen hätte, wurde von allen Beteiligten als zu unrein verworfen. Heute wird dies bedauert, da eine warme Abtönung des Wandtons zum Ocker hin eine bessere Einbindung des Deckenfreskos mit seinen Ocker- und Goldtönen zu versprechen scheint.28 Als leichte Farbakzente erscheinen die Basen und Kapitelle der Pilaster in Ocker und Gold. Das Kuppelfresko hatte unmittelbar nach der Restaurierung seine beherrschende und belastende Dunkelheit etwas verloren. Die Altäre der Langhauskapellen, die von hellroten, steingrauen und goldenen Architekturteilen geprägt sind, standen im Gegensatz zum dunklen Kuppelfresko und der überwiegend schwarz und rot gegliederten Architektur der Vierungsaltäre und des Hauptaltars. Die Seitenaltäre behielten die schweren schwarzen Flächen und rahmen seitdem den Chor wie ein Bühnenbild. Der Hochaltar wirkt ohne schwarze

28.Vgl. PFARREI ST. MARTIN 1984, S. 49.


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Architekturteile leichter. Zudem wird die obere Zone mit dem Strahlenkranz betont. Alles scheint sich zum Hochaltar und zum liturgischen Zentrum hin zu steigern. Dazu trägt auch die rötliche Wandfarbe der Apsis hinter dem Hochaltar bei. Ungelöst bleibt allerdings die Frage, ob ursprünglich ein aufwendigeres Programm der Ausstattung und Dekoration beabsichtigt war. Die Scheinarchitektur in der flachen Kuppel ist auch nach der Aufhellung im Raum isoliert, was die Vermutung zulässt, es könne sich bei dieser Ausmalung um das Fragment eines ursprünglich umfangreicheren Programms handeln. Abschließend können die Arbeiten wie folgt zusammengefasst werden: Nach behutsamer Restaurierung auf der Grundlage von Befunduntersuchungen, wurde die Farbigkeit der zweiten Raumfassung rekonstruiert. Viele Flächen und Ausstattungsstücke mussten hierzu lediglich gereinigt werden. Der Kircheninnenraum gab nach der Restaurierung ein Bild des Zustandes wieder, wie er zu dem Zeitpunkt war, als zum ersten Mal alle Ausstattungsstücke zusammen in der Kirche zu sehen waren. Im Hinblick auf ein behutsames Vorgehen ohne Eingriffe, die den Charakter des Raumes verfälscht hätten, kann man


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bei der Bamberger Martinskirche von einer gelungenen Restaurierung sprechen. Dem Besucher, der heute die Kirche betritt, zeigt sich aber ein anderes Bild. Der Wandanstrich ist stark vergraut und steht im Kontrast zu den rötlichen Flächen der Altäre. Die meisten Wand- und Gewölbeflächen wirken wie eine nackte Raumschale, der die Verkleidung fehlt. Da im Barock versucht wurde, alle Raumelemente, Architekturglieder und Ausstattungsstücke zu einem Gesamtkunstwerk zu verbinden, wird deutlich, dass hier das Raumkonzept nicht gänzlich verwirklicht wurde. Der Kontrast zwischen Ausstattung und Wänden wird zudem noch durch großflächige Verschmutzungen auf den Wandflächen verstärkt. Die Erneuerung der Elektroinstallationen und der Einbau der neuen Heizung29 waren aus denkmalpflegerischer Sicht sehr bedenklich, da sie maßgeblich zur schnellen Verschmutzung beigetragen haben. Die warme Heizungsluft transportierte jahrzehntelang unablässig Schmutz vom Boden in die Gewölbe und an die Wände. Somit wundert es auch nicht, wenn das Deckenfresko

29. Kombination aus Bankstrahler- und Fußbodenheizung


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heute eher den Beschreibungen vor der Restaurierung gleicht. Es beherrscht isoliert als dunkle, graue Wolke die Mitte der GewĂślbe. Die gelungene Restaurierung war somit nicht nachhaltig genug angelegt und steht in keiner Relation zur der aufgewendeten Arbeit, Zeit oder den Kosten. Trotzdem kann der Kirchenbesucher die Intentionen des Baumeisters nachvollziehen. Denn er befindet sich in einem von den Proportionen her monumentalen und raffiniert ausgeklĂźgelten Barockraum.



II. ST. JAKOB


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1. St. Jakob 1.1 Baugeschichte Der Bausubstanz nach ist die ehemalige Stiftskirche St. Jakob in Bamberg die älteste Kirche der Stadt. Sie wurde 1065 vom Bamberger Bischof Hermann für AugustinerChorherren gegründet. Die Weihe fand 1109 durch Bischof Otto von Bamberg statt. Ursprünglich besaß der Bau einen Chor im Osten und einen im Westen. Unter den Chören befand sich je ein Krypta. Den Ostchor umgaben zwei Türme, von denen der südliche jedoch abgetragen wurde. Der nördliche Turm wurde im 13./14. Jahrhundert erneuert. Im 15. Jahrhundert erweiterte man den Westchor, der von nun an mit einem Chorpolygon abschloss. Beide Krypten wurden im Barock aufgegeben und den Innenraum gestaltete man einheitlicher. Gleichzeitig erhielt letzterer aber auch eine reiche Ausstattung. Heute ist der Ostchor allerdings nur noch zu erahnen, da man diesen im späten 18. Jahrhundert zugunsten einer barocken Fassade aufgab. Diese vollendete man 1771. 1804 wurde das Stift, bedingt durch die Säkularisation, aufgegeben und 1805 der Marianischen


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Herren- und Bürgersodalität von Bamberg anvertraut.30 1.2 Baubeschreibung Innen Die Bamberger Jakobskirche ist eine dreischiffige Basilika mit einschiffigem Querhaus. An die Vierung schließen sich im Westen zwei Chorjoche und ein 5/8-Chorschluss an. Der schon erwähnte Ostchor ist heute als Nische unter der Orgelempore zu erkennen. Im Langhaus finden sich hellgrauocker verputzte Säulen auf rundem Grundriss, die von Würfelkapitellen abgeschlossen werden. Ein Stützenwechsel liegt hier nicht vor. Die heute nicht mehr zu erkennende unterschiedliche Farbigkeit der Säulenschäfte sorgte bis zur Tünchung aber für eine Rhythmisierung des Raumes. Auf den Kapitellen liegen die Anfänge gleichförmiger, schlichter Rundbögen. Die gesamte Arkadenzone schließt 30.Vgl. Achim Hubel: Über die kontinuierliche Anpassung der Denkmale an den jeweiligen Zeitgeschmack, in: Achim Hubel: Kunstgeschichte und Denkmalpflege. Ausgewählte Aufsätze, Festgabe zum 60. Geburtstag, hrsg.Von Alexandra Fink, Christiane Hartleitner-Wenig und Jens Reiche, Petersberg 2005, S. 329.


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mit einem Gesims zur darüber liegenden Wandfläche ab. Ein Triforium ist hier nicht ausgebildet. Lediglich eine Reihe schlichter rundbogiger Fenster durchbricht die weißen oberen Mittelschiffwände. Nach oben hin begrenzt wird das Mittelschiff durch eine flache, dunkel gebeizte Holzdecke. Die Seitenschiffaußenwände sind ebenfalls weiß verputzt und werden von kleinen rundbogigen Fenstern in unregelmäßigen Abständen durchbrochen. Über den Seitenschiffen und den beiden Seiten des Querhauses finden sich gleichfalls flache dunkle Holzdecken. Eine Ausnahme bildet das Gewölbe der Vierung, auf dem sich ein barockes Deckengemälde befindet. Von der Vierung gelangt man über fünf Stufen in den westlichen Chorbereich. Hier finden sich zunächst zwei mit Kreuzrippen überwölbte Joche, an die sich das Chorpolygon anschließt. Die Rippen sind hier dreifarbig gefasst, wobei Rot und ein gräuliches Blau neben einem Ockerton vorherrschen. In der Chorscheitelwand liegt ein rot gefasstes dreibahniges Maßwerkfenster, daneben finden sich zweibahnige. Im Norden schließt sich an den Chor ein Sakristeibau an. Wichtige Ausstattungsstücke sind der Hochaltar im Chor sowie das Chorgestühl und auch die


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beiden Seitenaltäre, die sich im Querhaus befinden. Einige zusätzliche, in der Kirche vorhandene Ausstattungsstücke, sollen im weiteren Verlauf im Kontext ihrer Restaurierung oder Umgestaltung genannt werden. 1.3 Beschreibung der Ostfassade Die steinsichtige Fassade gliedert sich vertikal in drei und horizontal in zwei Abschnitte. Ein leicht hervorspringender Mittelteil wird von zwei schmaleren Seiten begrenzt. Die drei Abschnitte werden im unteren Teil jeweils durch dorische Pilaster voneinander getrennt, die auf hohen Basen stehen. Zwei gleich gestaltete Portale dominieren den unteren Bereich der beiden Seiten. Darüber werden diese mit waagerechten Verdachungen bekrönt. Der untere Bereich wird an den beiden Seiten jeweils durch ein Okulus-Fenster mit abgerundetem Volutengiebel und einer unter den Fenstern liegenden Girlande abgeschlossen. Der Mittelteil wird von paarweise positionierten dorischen Pilastern an den Seiten begrenzt. Hier findet sich ein höheres, rundbogiges Portal, das von Pilastern, zwei


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Volutengiebeln und dem Wappen des Fürstbischofs Adam Friedrich von Seinsheim gerahmt wird. Über letzterem schließt sich ein Rundbogenfenster mit Volutengiebel an. Der gesamte untere Bereich wird durch ein Gesims vom oberen getrennt. Hier setzt sich die Pilasteranordnung fort, nun jedoch in ionischer Ausprägung. Eine rundbogige Nische mit der Skulptur des heiligen Jakobus beherrscht die Mitte des oberen Bereichs. Neben den oberen Pilastern schließen sich zweifach geschwungene Giebel an, die von den Anfängen der Seitenbereiche bis zum Giebel über dem Mittelteil führen. Über den Eckpilastern der Außenseiten befinden sich zwei steinerne Vasen. Ebenso findet man solche über den Pilastern des Mittelteils. Dieser wird nach oben hin noch einmal von einem Gesims abgeschlossen, auf dem ein Dreiecksgiebel liegt. Auf dessen Spitze befindet sich ein Kreuz, das von zwei Engeln umgeben ist. Hinter der Fassade erscheint der verbliebene nördliche Turm. Deutlich zu erkennen sind hier gotische Fenster, die im Gegensatz zur Fassade von älteren Bauphasen zeugen. Dazwischen ist an der Ostseite ein Ziffernblatt angebracht. Bekrönt wird der Turm durch eine Zwiebelhaube mit Laterne


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2. Erste restauratorische Maßnahmen im 19. Jahrhundert Unter der Leitung des Architekten Jakob SchmittFriedrich entfernte man zwischen 1867-1882 die barocken Ausstattungsstücke und die Lattengewölbe des Langhauses und ersetzte diese durch eine Flachdecke. Nur das barocke Vierungsgewölbe mit dem Deckengemälde von Christoph Fesel aus dem Jahr 1770 blieb erhalten. Da die Veränderungen der vorigen Jahrhunderte des Äußeren und Inneren der Kirche als störend empfunden wurden, sollte der gesamte Bau in den mittelalterlichen Zustand zurückgeführt werden. Die verputzten Flächen erhielten eine Quaderbemalung in Natursteintönen, um Steinsichtigkeit im Inneren zu suggerieren. Zudem wurden die Gewölbe des Westchores blau angestrichen. Die monolithen Säulen und die dazu gehörigen Scheidarkaden waren durch echte Werksteinarchitektur gekennzeichnet. An diesen Flächen wurden die gesamten Tünchschichten abgenommen. Dabei stellte man fest, dass die monolithen Säulenschäfte aus unterschiedlich farbigen Steinen gearbeitet worden waren.


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Der jeweils mittlere Säulenschaft der Langhausarkaden bestand aus gelblich-weißem Sandstein, ebenso die je ersten Halbsäulen im Westen und im Osten, alle Säulen dazwischen aber aus rötlichem Miltenberger Sandstein. 1876 waren die Maßnahmen weitgehend vollendet, 1882 alle Restaurierungsarbeiten abgeschlossen.31 3. Frühes 20. Jahrhundert 1902 wurde eine weitere Restaurierung genehmigt. Die Kirche erhielt einen stilgerechten Anstrich, die Segel der Chorgewölbe bekamen eine Rankenbegleitung und hinter den Altären des Querhauses wurden aufwändige Teppichmuster angebracht. Die Farbfenster im Chor, die erst während der Restaurierung von 1867-1882 eingefügt worden waren, ersetzte man durch schlichte einfarbige Scheiben mit gotischen Rahmen. Wegen Absturzgefahr entfernte man die anbetenden Engel des Giebels der Barockfassade. Chor und Seitenschiffe wurden neu verputzt und weiß getüncht, die

31.Vgl. HUBEL 2005, S. 329.


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Säulen abgewaschen, abgeschliffen und ausgebessert. Die Fugen zwischen den Quadersteinen betonte man weiterhin mit einer Marmorierung. 1915 erhielt die Kirche erstmals elektrisches Licht.32 4. Restaurierungen der 1950er Jahre In den Jahren zwischen 1954 und 1957 wurde St. Jakob erneut restauriert. Wiederum sollte die Kirche von stilfremden Zutaten gesäubert werden. Im 2.Weltkrieg erlitt die Kirche leichte Schäden, ein Fenster wurde beispielsweise zerstört. Somit war dann auch die erste Baumaßnahme, die Neuverglasung der Fenster. Im Chor erhielten die einzelnen Scheiben Bienenwabenform, in den Schiffen verwendete man einfache Scheiben in Kathedralglas, jeweils abgetrennt durch Bleiruten. Die Mittelfenster im Chor waren zusätzlich lasiert, damit nicht zu grelles Licht in das Kircheninnere 32.Vgl.Tilmann Breuer, Reinhard Gutbier und Peter Ruderich (Hrsg): Stadt Bamberg. Immunitäten der Bergstadt, 3. Jakobsberg und Altenburg, Kunstdenkmäler von Bayern, Regierungsbezirk Oberfranken, Bd.V, 3.Viertelband, Bamberg und München-Berlin 2008, S. 34.


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einfiel. Den Chor restaurierte man im ersten großen Bauabschnitt 1954. Hierbei wurden die Wände gereinigt und in einem hellen Ton lasiert. Risse besserte man aus und die Gewölberippen wurden steinfarben belassen. Die floralen Ornamente in den Gewölbesegeln des Chores wurden allerdings wieder entfernt. Durch beige-bräunlichweiße Linien betonte man die Fugen. Der Hochaltar und das Chorgestühl wurden heller lasiert. Die Bekrönungen der Apostelfiguren des Chorgestühls wurden entfernt. Man erneuerte die Vergoldungen des neogotischen Hochaltars, in dem eine original gotische Madonna als Hauptfigur erhalten blieb.33 Insgesamt ließ man einen Großteil der neugotischen Ausstattung unangetastet. Die beiden neoromanischen Seitenaltäre im Querhaus verloren ihre Retabelarchitektur. Nur die Predella und die jeweils drei Altarfiguren blieben erhalten. Die bis dahin buntfarbigen Figuren bekamen eine Weißfassung, die

33.Vgl. Sabine Pflauger: St. Jakob zu Bamberg. Eine Kirche imWandel der Zeit, Abschlussarbeit für das Aufbaustudium Denkmalpflege, Manuskript, Bamberg 1995, S. 29ff.


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Predella wurde marmoriert. Über jede der Figurengruppen wurde ein barockes Gemälde aus dem Bestand des Stiftes gehängt und somit eine neue Altarkomposition geschaffen.34 1956/57 wurden die Altäre,

ohne Einwilligung des

Landesdenkmalamtes, zusätzlich farbig neu gefasst und graugrünlich marmoriert. Der Boden des Westchores wurde 1956 um eine Stufe erhöht und eine Tür zwischen Chor und nördlicher Sakristei wurde eingesetzt.35 Im zweiten Bauabschnitt sollten 1955 das innere und äußere Langhaus und Querschiff restauriert werden. Im Inneren wurden die Wände abgewaschen, mit Drahtbürsten behandelt, imprägniert und zunächst mit Kaseinfarbe geweißt. Die Quaderbemalung der Putzflächen wurde entfernt und durch einen leicht rötlich getünchten Verputz ersetzt, dessen Farbigkeit an den rötlichen Säulen orientiert war. Nachträglich passte man den Chor 1955 farblich dem Kirchenschiff an und versah ihn ebenfalls mit einem leicht rötlichen Kolorit. Das Kuppelgemälde musste nur gereinigt

34.Vgl. HUBEL 2005, S. 329ff. 35.Vgl. PFLAUGER 1995, S. 31ff.


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und an wenigen Stellen ergänzt werden. Über dem Querhaus, dem Mittelschiff und den Seitenschiffe wurden abermals neue Flachdecken angebracht, die die Decken des 19. Jahrhunderts ersetzten. Die Deckenteile wurden silbergrau und rötlich-beige lasiert. Alle Deckenarbeiten waren 1956 vollendet und im selben Jahr wurden auch neue Beichtstühle angefertigt. Weiterhin trennte man die Kirchenbänke, die zuvor in der Mitte zusammengeschoben waren. Die Bänke der Seitenschiffe wurden gänzlich entfernt. Zudem erhielten die Kreuzwegstationsbilder einfache Rahmen und die Orgel einen neuen Metallprospekt.36 Am Außenbau entfernte man den schadhaften Putz und besserte lückenhafte Steine aus. Des Weiteren wurden Risse geschlossen und die Wandflächen hellgrau geschlämmt, so dass die Steinoberflächen noch erkennbar blieben. Da einige Teile des Dachgesimses und der Balken abgefault waren, mussten diese ersetzt werden. An der Ostfassade kratzte man die Fugen aus, erneuerte den schadhaften Putz, verfugte die Quadersteine neu oder besserte sie aus.

36.Vgl. PFLAUGER 1995, S. 31-34.


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Die vielen Schichten alter Farbanstriche der Kirchentüren wurden durch Laugen und Säuren entfernt. Der Turm der Kirche war im Bereich der Kuppel stark mit Holzwurm befallen. Daher wurde er imprägniert und die Laterne durch ein Eisenband umfangen. Am 14 Juni 1956 erhielt St. Jakob zudem eine neue Turmglocke. Am 21.01.1957 waren die Renovierungsarbeiten an der Kirche abgeschlossen.37 5. Maßnahmen von 1960 bis 1990 1960 erfolgte eine Entfeuchtung durch Mauerkondensatoren. Diese erzielten allerdings nicht das gewünschte Ergebnis, da trotzdem Feuchtigkeit in das Mauerwerk eindrang. 1968 wurde das Dach teilweise neu eingedeckt. Zwischen 1968 und 1971 folgte die Instandsetzung der gesamten Ostfassade, da zwei Vasen herunterzufallen drohten. Ab 1970 wurde zunächst das Turmkreuz entrostet und dann wieder neu vergoldet. DasWappen des Fürstbischofs Adam Friedrich von Seinsheim über dem Mittelportal wurde entrostet und die

37.Vgl. PFLAUGER 1995, S. 35.


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Sandsteinteile gefestigt. Die von Ferdinand Tietz geschaffene Figur des heiligen Jakobus musste gereinigt werden, zudem ersetzte man eine Hand. An der Treppenanlage mussten Teile ergänzt werden. Zusätzlich verlängerte man diese um ein Stück nach Osten. Das Giebelkreuz erhielt wieder einen vergoldeten Strahlenkranz, die beiden Engelskulpturen daneben wurden 1972 von Hermann Leitherer kopiert. Auch der Turm musste eingerüstet und saniert werden. Die Mauerflächen wurden gereinigt, konserviert und die Fugen mit Mineros38 ausgebessert. Die Steine imprägnierte man mit Silikon, die Maßwerkfenster wurden überarbeitet und einen acht Meter langen Riss zur Straßenseite hin verschloss man mit Stahlklammern.39 16 Jahre später ließ man die beiden Gemälde der Seitenaltäre restaurieren. Der Nordturm wurde 1989 neue eingedeckt. Im selben Jahr wurde auch das Gerüst desTurmhelms gefestigt und sein Dach neu gedeckt. Ein Teil der Holzkonstruktion

38. Steinergänzungsmaterial 39.Vgl. PFLAUGER 1995, S. 37ff.


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musste ersetz werden.40 6. Die Restaurierungen der 1990er Jahre Am Ostermontag, dem 16.04.1990, brach um zwei Uhr morgens ein Feuer in der Kirche aus. Der Brand wurde durch einen Ofen in einem Beichtstuhl des südlichen Seitenschiffs verursacht. Der Beichtstuhl brannte völlig aus, führte aber ausschließlich zu Zerstörungen im Seitenschiff. Der Kirchenraum wurde jedoch durch die Rußentwicklung stark verschmutzt. Infolge der Brandbekämpfung entstand zusätzlich ein großer Wasserschaden. Der Dachstuhl und die Decke des südlichen Seitenschiffes waren fast zur Hälfte ausgebrannt. Im April und Mai 1990 wurden Sicherungsmaßnahmen

und

die

Noteindeckung

des

Daches veranlasst. Im Juli desselben Jahres beschloss der Allgemeine Geistliche Rat des Erzbistums Bamberg neben der Behebung des Brandschadens auch die Gesamtrestaurierung des Kircheninneren. Dabei sollten

40.Vgl. PFLAUGER 1995, S. 42f.


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der Altar und der Zelebrationsraum neu gestaltet, der Mittelgang im Hauptschiff wiederhergestellt und die Orgel überholt werden. Zuerst wurde die Dachkonstruktion des Seitenschiffes vervollständigt. Das Dach wurde hierzu zimmermannsmäßig wiederhergestellt und gedeckt.41 Über dem Mittel- und nördlichen Seitenschiff befinden sich seitdem die Holzdecken von 1957, über dem südlichen Seitenschiff die 1990 erneuerte Decke. Die 1957 hell gefasste Holzdecke ist nun dunkel gebeizt worden und die Deckenrippen erhielten jeweils einen roten und grünen Begleitstrich. Bei einer Untersuchung der Gewölbe des Chores, kamen unter mehreren Schichten Reste einer spätgotischen Farbigkeit zum Vorschein. Daraufhin wurde beschlossen, diese spätgotische Fassung der Rippen und der Maßwerke freizulegen und zu retuschieren. Die Binnenflächen der Gewölbe und die Wände wurden weiß gefasst, die Rippen abwechselnd in Blaugrau, Ocker mit rotem Ornament und Rot gestrichen. Große Risse in Chor

41.Vgl. PFLAUGER 1995, S. 44ff.


414

und Kirchenschiff wurden verpresst.42 Am Chorgestühl schnitzte man fehlende Teile und Attribute der Figuren nach. Anschließend wurden diese lasiert und mit Dammarwachs überzogen. Die gotische Madonna im Hauptaltar wurde nur gereinigt und retuschiert. Im weiteren Verlauf erhöhte man das Altarpodest von drei auf vier Stufen, wobei die unterste Stufe um einen Meter vorgezogen wurde. Die Wände des Quer- und Langhauses wurden dem Chor angeglichen und ebenfalls weiß gestrichen. Im Langhaus reinigte man die Säulen und strich diese sandsteinfarben. Zu dieser Zeit wurde angenommen, die Farbigkeit der Säulen sei ein Produkt der 1950er Jahre. Da dieser Umstand recht verwunderlich ist, kann man annehmen, dass genauere Untersuchungen zu dieser Zeit nicht vorgenommen wurden. Die Basen und Kapitelle beließ man in ihrer steinernen Oberfläche, überstrich sie jedoch lasierend. Am Vierungsgemälde fasste man die bis dahin goldene Rahmung weiß. Das Fresko selbst reinigte man, festigte und retuschierte es in Teilen. Die Seitenaltäre wurden auf 42.Vgl. PFLAUGER 1995, S. 46.


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die Originalfassungen des 19. Jh. zurückgeführt, wobei die Leimfarbenanstriche entfernt und die Erstfassung retuschiert wurde. Die seit 1957 weiß bemalten Figuren wurden jetzt bis auf das blanke Holz abgelaugt und dunkel gebeizt. Zusätzlich versuchte man die Farbigkeit der Predellen nach Befunden zu rekonstruieren und vergoldete diese auch in Teilen. Die Bänke im Mittelschiff wurden in der Längsachse wieder getrennt. Dabei kam zum Vorschein, dass der Bodenbelag nicht vollständig war. Deshalb wurde im gesamten Mittelschiff ein neuer Boden aus Sandsteinplatten verlegt. Die Beichtstühle wurden dem Kirchenraum in weißer Farbe angepasst. Der Orgelprospekt von 1893 wurde nach Skizzen und Photographien rekonstruiert. Die übrige Ausstattung ist in zeitgenössischen Formen neu gestaltet worden. Hierzu zählen der Zelebrationssaltar, das Altarkreuz, der Ambo und die Beleuchtungskörper. Im neuen Altar wurden Reliquien des Bischofs Otto von Bamberg, der heiligen Hedwig von Schlesien und des heiligen Clemens beigesetzt. Am 20. Juni 1993 wurde der neue Altar geweiht und die Renovierung


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abgeschlossen.43 7. Ergebnis und Kritik Zusammenfassend lassen sich verwirrend viele Maßnahmen und Veränderungen in Bezug auf die Ausstattung und Farbigkeit des Kircheninneren feststellen. Willkürlich und nur dem jeweiligen Zeitgeschmack entsprechend wurden diese Eingriffe meist unter dem Deckmantel der Restaurierung nach Befund durchgeführt. Bei der Restaurierung Ende des 19. Jahrhunderts entfernte man die barocken Ausstattungsstücke und die Lattengewölbe zugunsten neuer Flachdecken. Diese wurden dann bei den Veränderungen der 1950er Jahre wiederum durch neue Flachdecken ersetzt. Wegen des Seitenschiffbrands von 1990, musste hier abermals die Decke erneuert werden. Bei gleicher Gelegenheit wurden die übrigen, 1957 hell gefasste Holzdecken, dunkel gebeizt und die Deckenrippen erhielten jeweils einen roten und grünen Begleitstrich. Es

43.Vgl. PFLAUGER 1995, S. 46-49.


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wird deutlich, dass diese Veränderungen nur aus ästhetischen Gründen durchgeführt wurden, da die Decken, bis auf die des südlichen Seitenschiffs, jeweils noch intakt waren und ihre Erneuerungen trotzdem sehr zügig aufeinander folgten. Die Gewölbe des Westchores wurden 1868 blau gestrichen. 1902 erhielten die Gewölbesegel eine Rankenbegleitung, die in den 1950er Jahren wieder entfernt wurde. Dafür erhöhte man den Westchor um eine Stufe. In den 1990er Jahren war man bemüht die spätgotische Fassung der Rippen und der Maßwerke freizulegen und zu retuschieren, so dass ab diesem Zeitpunkt die Rippen abwechselnd in Blaugrau, Ocker und Rot erschienen. Die Binnenflächen der Gewölbe und die Wände wurden weiß gefasst. Das Altarpodest erhöhte man von drei auf vier Stufen und die unterste Stufe wurde zudem einen Meter vorgezogen. Doch auch im Lang- und Querhaus wurde die Farbigkeit mehrmals verändert. 1868 erhielten die verputzten Flächen eine Quaderbemalung in Natursteintönen. Zudem entfernte man die Tünchschichten der monolithischen Säulen, so dass deren ursprüngliche Farbigkeit zum Vorschein kam.


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Doch schon im Zuge der Maßnahmen zwischen 1954 und 1957 wurde die Quaderbemalung der Putzflächen durch einen leicht rötlich getünchten Verputz ersetzt. Wenig später, zwischen 1990 und 1993, glich man diese Flächen der Lang- und Querhauswände der Farbigkeit des Chores an und strich ebenfalls weiß. Da anscheinend genauere Untersuchungen fehlten, hielt man zu dieser Zeit die ursprüngliche Farbigkeit der Säulenschäfte im Langhaus für ein Resultat der Restaurierungen der 1950er Jahre. Die Säulen wurden fortan gereinigt und sandsteinfarben lasiert. Auch wird wieder deutlich, dass eingreifende Veränderungen nur deshalb erfolgten, weil man einen früheren Zustand als unschön empfand. Die Reihe dieser die historische Abfolge verfälschenden Maßnahmen, muss jedoch leider noch ergänzt werden. Die zwischen 1867 und 1882 eingesetzten Buntglasscheiben des Chores wurden schon 1902 durch einfache Glasscheiben ersetzt. In den 1950er Jahren wurden dann die gesamten Fenster der Kirche neu verglast. Und schließlich verfuhr man auch mit den Ausstattungstücken willkürlich in deren Veränderung und Anordnung. Letztere


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wirkt unhistorisch und ist für den Besucher nicht schlüssig nachzuvollziehen. In den 1950er Jahren wurden der Hochaltar und das Chorgestühl heller lasiert. Die Bekrönungen der Apostelfiguren des Chorgestühls entfernte man gänzlich. Die

Seitenaltäre

verloren

in

gleicher

Zeit

ihre

Retabelarchitektur, die Figuren wurden geweißt und die Predellen marmoriert. Zusätzlich hängte man über jede Figurengruppe ein barockes Gemälde, so dass eine Vermischung unterschiedlicher Stile entstand. In den 1990er Jahren führte man die Seitenaltäre auf die Originalfassungen des 19. Jahrhunderts zurück. Die Leimfarbenanstriche wurden entfernt und die Erstfassung retuschiert. Den letzten Punkt bildet die Orgel, die bei denVeränderungen zwischen 1954 und 1957 einen neuen Metallprospekt erhielt, der in den 1990er Jahren aber nicht mehr gefiel. Somit rekonstruierte man schließlich den Orgelprospekt von 1893 nach Skizzen und Photographien. Neben einigen notwendigen Reparaturen am Äußeren der Kirche, sind alle sogenannten Restaurierungen lediglich dem Zeitgeschmack oder dem ästhetischen Empfinden weniger Verantwortlicher entwachsen. Viele davon wären nicht


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nötig gewesen und verwirren nun durch Stilvermischung. Ausstattungsstücke wurden wild zusammengestellt und Farbfassung schlicht dem Empfinden angepasst, so dass auch die nacheinander entstandenen Stilmerkmale der einzelnen Epochen verfälscht wurden und nicht mehr nachvollziehbar sind. Natürlich muss es erlaubt sein, einzelne schadhafte Teile auszutauschen, aber den Gesamteindruck derart beliebig zu verändern, ist wie in diesem Falle fatal und bedeutet einen großen Verlust der historischen Überlieferungen.



IV. SCHLUSS


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Nach genauerer Betrachtung zeigen sich an beiden Kirchen zwei gegensätzliche restauratorische Konzepte mit ebenso unterschiedlichen Ergebnissen. Bei St. Martin wurde auf behutsame Weise versucht, dem Kircheninneren die Raumfassung wiederzugeben, die der Raum nach der Aufstellung aller Ausstattungsstücke aufwies. Viele Teile und Flächen mussten hierzu nur gereinigt werden, andere erhielten einen Neuanstrich. Ohne Zutaten und eingreifende Veränderungen hat man sich auf einen Zustand und eine Raumfassung festgelegt. Anders verliefen die Maßnahmen bei den vermeintlichen Restaurierungen von St. Jakob. Hier wurden Farbigkeit und Ausstattung nach Belieben verändert und neu zusammengestellt. Ohne größere vorhandene Schäden, passte man alle Architekturteile und Ausstattungsstücke des Inneren dem jeweiligen Zeitgeschmack an, veränderte somit mehrfach die gesamte Raumwirkung und ließ einen verwirrenden und unhistorisch wirkenden Raum entstehen. Durch den Einbau der beschriebenen Heizung verschlechterte sich der Zustand des restaurierten Innenraums in St. Martin sehr schnell. Somit zeigte die gelungene Restaurierung schon


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nach wenigen Jahren tiefgreifende negative Veränderungen. Die Raumfassung entspricht heute bedauerlicherweise eher den Beschreibungen des Zustands vor der Restaurierung. Fast schon in ironischer Weise verhält es sich bei St. Jakob entgegengesetzt. Allen unnötigen Restaurierungen zum Trotz, erscheinen die zusammengewürfelten Elemente des Kircheninneren heute in einem guten Zustand. Letztendlich muss aber doch die Achtung vor dem Bauwerk mit seiner spezifischen Baugeschichte an erster Stelle und vor der Willkür des jeweiligen Zeitgeschmacks stehen.



V. LITERATURVERZEICHNIS


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BAUMGÄRTEL-FLEISCHMANN 1993 Renate Baumgärtel-Fleischmann (Hrsg.): 300 Jahre Jesuitenkirche, St. Martin Bamberg. 1693–1993, Bamberg 1993. BREUER/GUTBIER 1990 Tilmann Breuer/Reinhard Gutbier: Stadt Bamberg. Innere Inselstadt, Die Kunstdenkmäler von Bayern, Regierungsbezirk Oberfranken, Bd. VII/5, 2 Bände, München 1990. BREUER/GUTBIER/RUDERICH 2008 Tilmann Breuer/Reinhard Gutbier/Peter Ruderich (Hrsg): Stadt Bamberg. Immunitäten der Bergstadt, 3. Jakobsberg und Altenburg, Kunstdenkmäler von Bayern, Regierungsbezirk Oberfranken, Bd. V, 3. Viertelband, Bamberg und München/Berlin 2008. DEHIO 1999 Georg Dehio: Handbuch der Deutschen Kunstdenkmäler, Bayern I: Franken. Die Regierungsbezirke Oberfranken, Mittelfranken und Unterfranken, München 1999. GRÄN 1990 Sigfried Grän: St. Jakobskirche Bamberg, München 1990.


428

HUBEL 2005 Achim Hubel: Über die kontinuierliche Anpassung der Denkmale an den jeweiligen Zeitgeschmack, in: Achim Hubel: Kunstgeschichte und Denkmalpflege. Ausgewählte Aufsätze, Festgabe zum 60. Geburtstag, hrsg. von Alexandra Fink, Christiane

Hartleitner-Wenig und Jens Reiche,

Petersberg 2005. MERTL 1993 Josef Mertl: 375jähriges Jubiläum der Marianischen Herren- und Bürgersodalität bei St. Jakob in Bamberg mit Weihe des neuen Altares am 20. Juni 1993, Bamberg 1993. PFARREI ST. MARTIN Pfarrei St. Martin (Hrsg.): St. Martin in Bamberg. Beendigung der Renovation und Altarweihe am 11. November 1984; eine Festgabe, Bamberg 1984. PFLAUGER 1995 Sabine Pflauger: St. Jakob zu Bamberg. Eine Kirche im Wandel der Zeit, Abschlussarbeit des Aufbaustudiums Denkmalpflege, Manuskript, Bamberg 1995. RUDERICH Peter Ruderich: St. Martin, Bamberg, Regensburg 2003.




Otto-Friedrich-Universität Bamberg Geistes- und Kulturwissenschaften

DIE SAINTE-CHAPELLE IN PARIS


INHALTSVERZEICHNIS


1. Auftraggeber ................................................439 2. Reliquien ....................................................441 3. Baugeschichte ...............................................443 4. Unterkapelle ................................................450 4.1 Grundriss ..............................................450 4.2 Innenraum .............................................453 4.3 Farbgebung ............................................455 4.4 Raumwirkung .........................................456 5. Oberkapelle .................................................459 5.1 Grundriss ..............................................459 5.2 Innenraum .............................................460 5.3 Konstruktion ..........................................464 5.4 Raumwirkung und Farbgebung.....................466 6. AuĂ&#x;enbau ....................................................468 7. Die Fenster der Sainte-Chapelle .........................472 8. Raumbildende Elemente, die auf die Macht des KĂśnigs hinweisen ..............................................474 9. Funktion der Kapelle .....................................476 10. Literaturverzeichnis ......................................480



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Abb.1 Sainte-Chapelle (Paris) AuĂ&#x;enansicht SĂźdostfassade http://www.flickr.com/photos/ stephanej/5991137644/sizes/l/in/ photostream/ (03.05.2010)



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Abb. 2 Sainte-Chapelle (Paris) Innenansicht Richtung Osten http://www.kenrockwell.com/france/ stcpl750.htm (03.05.2010)



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Lehrstuhl für Kunstgeschichte I Sommersemester 2010 Hauptseminar: Kunst in Frankreich zwischen Bischofs- und Königsthron Dozent: Prof. Dr. Stephan Albrecht Datum: 03.05.2010

1. Auftraggeber Die Sainte-Chapelle entstand unter Ludwig IX. als doppelgeschossige Kapelle innerhalb der Mauern des Königspalastes auf der Île de la Cité in Paris. Der König wurde am 25. April 1214 im Schloss von Poissy bei Paris geboren. Sein Vater war Ludwig VIII., seine Mutter Blanka von Kastilien. Bereits dreiWochen nach demTod seinesVaters wurde Ludwig IX. am 29. November 1226 im Alter von zwölf Jahren in Reims zum König von Frankreich gekrönt. Da er noch nicht volljährig war, übernahm seine Mutter nicht nur die Vormundschaft über ihn, sondern auch die Regierungsgeschäfte und zeigte sich in den folgenden Jahren


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politisch erfolgreich. Im Alter von 20 Jahren, am 25. April 1234, wurde Ludwig IX. für mündig erklärt und trat seine Regentschaft an. Er wurde fromm erzogen und widmete sich Zeit seines Lebens christlichen Glaubensinhalten. Dazu gehörte ein hohes Maß an Selbstdisziplin und ein Leben in Askese. Er trug nur einfache Kleider und speiste in seinen Räumen Arme und Kranke. Für Kranke und Pflegebedürftige ließ er Krankenhäuser errichten und sorgte für deren Unterhalt. Die Frömmigkeit des Königs äußerte sich auch in einer besonders tiefen Verehrung von Reliquien. Er nahm an zwei Kreuzzügen teil und starb dann am 25. August 1270 bei Tunis. Unmittelbar nach dem Tod des Königs wurde sein Leichnam in einzelne Teile zerlegt. Die Gebeine galten als besonders kostbar. Sie wurden nach Frankreich überführt und am 22. Mai 1271 in Saint-Denis bestattet. Während des Rücktransportes der Gebeine nach Paris wurde mehrfach über wundersame Heilungen und Begebenheiten berichtet und so verwundert es nicht, dass schon kurze Zeit später, im Jahre 1272, von päpstlicher Seite über eine Heiligsprechung des verstorbenen Königs nachgedacht wurde. Bis zur


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Heiligsprechung vergingen jedoch noch 25 Jahre. Am 11. August 1297 gab Papst Bonifatius VIII. in Orvieto die Kanonisation Ludwigs IX. bekannt.1 Zusammenfassend entsteht das Bild eines Herrschers mit klaren moralischenVorstellungen, die auch der Beherrschung des Königreichs und der Legitimierung der eigenen Macht dienlich sein konnten. Um zu verstehen, warum die SainteChapelle gebaut wurde, bietet sich ein Blick auf die durch den König erworbenen Reliquien an. 2. Reliquien 1237 weilte der Cousin des Königs, Kaiser Balduin II. von Konstantinopel, in Paris. Er befand sich in Geldnot und verpfändete deshalb wertvolle Reliquien. So auch die Dornenkrone Christi, die durch den französischen König zwei Jahre später erworben wurde. Weitere wichtige Reliquien, darunter Teile des Wahren Kreuzes, kamen in den

1.Vgl. RuthWessel: Die Sainte-Chapelle in Frankreich. Genese, Funktion undWandel eines sakralen Raumtyps, Düsseldorf 2003, S. 12-15.


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folgenden Jahren dazu. Am 11. August 1239 reiste der König nach Villeneuve-l’Archevêque in der Diözese Sens am Ende der domaine royale und nahm die Dornenkrone Christi, die wahrscheinlich bedeutendste Reliquie des Mittelalters, persönlich entgegen.Von dort brachte er sie in die Kathedrale von Sens, die er zusammen mit seinem Bruder Robert von Artois unter Ablegung aller prunkvollen Gewänder und barfüßig betrat. Mit dem Schiff wurde die Dornenkrone dann nach Paris transportiert, wo sie am 18. August eintraf. Auch hier folgte zunächst eine Prozession durch die Stadt. Sie gelangte über Vincennes und Saint-Antoine-des-Champs, vom König und dessen Bruder in gleicher Weise wie zuvor getragen, in die Stadt und wurde dann zunächst in der Nicolas-Kapelle im Königspalast aufbewahrt. Auch die zwei Jahre später eintreffenden zusätzlichen Reliquien wurden durch den König in gleicher Weise dem Volk präsentiert und trugen nochmals zu einem Anstoß des Kapellenneubaus bei.2

2.Vgl.Willibald Sauerländer: Die Sainte-Chapelle du Palais Ludwig des Heiligen, 1977-78, S. 98.


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Resümierend ist zu erwähnen, dass die wohl bedeutendste Reliquie des Mittelalters in die Hände des französischen Königs gelangt. Das Symbol der Macht des mächtigsten vorstellbaren Herrschers, aus der Sicht eines mittelalterlichchristlichen Betrachters, krönt nun den französischen König zum mächtigsten weltlich-christlichen Regenten. Um diesen Anspruch durchzusetzen, präsentiert dieser persönlich dem Volk die materielle und ideelle Legitimation seiner Macht und versichert diesem gleichzeitig eine auserwählte Position. Die Prozession und das Zelebrieren der Reliquienüberführung verstärken zudem eine gewisse Mystifizierung. 3. Baugeschichte Spätestens 1241 wurde mit dem Bau der Kapelle begonnen, da Ludwig IX. in diesem Jahr weitere Reliquien aus Konstantinopel erhielt. Wahrscheinlicher ist aber ein früherer Baubeginn, da schon um 1239 das Eintreffen der Dornenkrone abzusehen war. Die Baukosten beliefen sich auf 40000 Pfund, der Reliquienschrein kostete dagegen 100000 Pfund. Die Dornkrone wurde zum Vergleich


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für 135000 Pfund erworben und war somit mehr als dreimal so teuer wie ihr Gehäuse.3 Die Frage nach dem Baumeister der Sainte-Chapelle ist bis heute offen. In der älteren Literatur wird Pierre de Montreuil genannt, der vermutlich auch die Schlosskapelle von Saint-Germain-enLaye baute. Als Baumeister der Sainte-Chapelle kommen aber auch die beiden Amienser Kathedralbaumeister Robert de Luzarches und dessen Nachfolger Thomas de Cormont in Frage. Wegen der starken Ähnlichkeit zwischen der Amienser Chorscheitelkapelle und der Sainte-Chapelle von Paris, sehen Dieter Kimpel und Robert Suckale Robert de Luzarches als Baumeister beider Orte.4Wessel gibt allerdings zu bedenken, „[…] dass die nahezu zeitgleiche Bautätigkeit an zwei räumlich voneinander gelegenen Großbaustellen […] wohl kaum von einem Baumeister zu leisten war.“5 Der Baubetrieb war wahrscheinlich der Palastbauhütte des Königs unterstellt. Die Hofverwaltung wurde mit der 3.Vgl. Dieter Kimpel (Hrsg.): Die gotische Architektur in Frankreich. 1130 – 1270, München 1995, S. 400f. 4.Vgl. ebd, S. 402ff. 5.WESSEL 2003, S. 26.


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Auftragsbeschreibung, der Kostenschätzung und einer Aufstellung über die bereitzustellenden Geldmittel betraut, die endgültige Entscheidung lag jedoch beim König. Die kurze Bauzeit der Sainte-Chapelle und die Gleichförmigkeit des Baus in Architektur und Dekoration sprechen für Planungen durch eine zentrale Baubehörde und genaue vorherige Zeichnungen.6 Papst Innozenz IV. erteilte in seiner Bulle vom 24. Mai 1243 der neuen Institution besondere Privilegien und betonte die Eigenständigkeit des zu gründenden Kapitels, das nicht dem Pariser Bischof, sondern direkt dem König unterstand. So ernannte Ludwig IX. 1245 im Zuge der Ersten Stiftung ein Domherrenkollegium, dem die Aufbewahrung der Reliquien anvertraut wurde und das für die Ausübung der Gottesdienste verantwortlich war.7 Der Bischof von Paris und der Erzbischof von Sens müssen diesem mit speziellen Privilegien ausgestatteten und eigenständigen Kapitel kritisch gegenüber gestanden haben, da dieses hohe

6.Vgl.WESSEL 2003, S. 27. 7.Vgl. ebd., S. 26f.


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finanzielle Unterstützung erhielt und seine Mitglieder von der Exkommunizierung ausgeschlossen waren. Das Kapitel durfte zudem besonderen Ablass erteilen und war ab 1273 von der Rechtsprechung der regionalen Diözese entbunden. Die angespannte Atmosphäre wird auch dadurch deutlich, dass der Bischof von Paris zur Kapellenweihe nicht eingeladen war. Der eigentlich für die Weihe zuständige Erzbischof von Sens wurde ebenfalls übergangen.8 1790 wurde in Paris die von Sauveur-Jérôme Morand verfasste Histoire de la Sainte-Chapelle Royale du Palais entdeckt, in der alle Urkunden und Nachrichten zusammengetragen wurden, die die besondere Stellung der Chorherren der Sainte-Chapelle historisch und juristisch begründeten. Die Kanoniker der Sainte-Chapelle waren innerhalb Frankreichs nur dem König unterworfen, jedoch keiner kirchlichen Autorität. Die Titelvignette des Buches zeigt die Dornenkrone und die königlichen Insignien nebeneinander und macht die Verknüpfung von religiösen und politischen Absichten deutlich. Aus der Einrichtung

8.Vgl.WESSEL 2003, S. 48.


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eines Kollegiums lässt sich schließen, dass der Abschluss der Bauarbeiten bereits absehbar war. Der Erzbischof von Reims, Eudes de Châteauroux, weihte die Oberkapelle am 26. April 1248 im Namen der Heiligen Dornenkrone und des Heiligen Kreuzes. Die untere Kapelle wurde durch Bischof Pierre Berruyer von Bourges im Namen der Heiligen Jungfrau geweiht. Spätestens das Datum der Weihe kann als Ende der Bauzeit angenommen werden. In der Zweiten Stiftung von 1248 bestätigte und erweiterte Ludwig IX. seine Zusagen an das Kapitel von 1245. Da die Kapelle um 1239 begonnen wurde und 1248 fertiggestellt war, ergibt sich eine Bauzeit von ungefähr neun Jahren. Der liassische Stein, der zum Bau der Kapelle verwendet wurde, stammte von einem Steinbruch unweit der Rue Denfert-Rochereau in Paris.9 In den folgenden Jahrhunderten erfuhr die Kapelle einige An- und Umbauten. Ursprünglich stand sie isoliert in der Cour de Mai, allerdings umgeben von Gebäudeteilen des Königspalastes. Die sie heute umgebenden Gebäude

9.Vgl.WESSEL 2003, S. 28.


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stammen alle aus dem 19. Jahrhundert. An der Außenmauer des Kapellenchores lag der Kleriker-Friedhof, der von Verkaufsständen gesäumt war, an denen bis ins 19. Jahrhundert Handel getrieben wurde. Ursprünglich bestand zwischen der Oberkapelle und den königlichen Gemächern eine Verbindung, die sogenannte Galerie des Merciers. Zudem führte eine nach 1500 errichtete überdachte Treppe an der Südseite der Kapelle hinauf zur oberen Vorhalle. Die Unterkapelle war direkt vom Hof aus begehbar. An der Nordseite der Kapelle befand sich ein dreigeschossiges Annexgebäude, das kurz nach der Kapelle fertiggestellt wurde und in dem sich im Erd- und ersten Geschoss jeweils eine Sakristei und im zweiten Geschoss die königlichen Archive befanden. Hier wurden Siegel, Urkunden, illuminierte

Handschriften, liturgische

Bücher

und

zeitweise auch die Reliquien aufbewahrt. Mit zwei Jochen und fünfseitig geschlossener Apsis nahm dieses Gebäude die Gliederung der Oberkapelle in Verkleinerung auf. Dieser Anbau wurde 1776 abgetragen. Infolge der Französischen Revolution wurde 1793 der Reliquienschrein in der Pariser Münze eingeschmolzen. Die Dornenkrone befindet heute


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in der Schatzkammer Notre-Dames. Die Orgel, der Lettner und das Chorgestühl wurden entfernt und gelten seitdem als verschwunden. Ein Teil der Skulpturen wurde zerstört und alle herrschaftlichen Insignien abgeschlagen. Zudem entfernte man 1793 den Dachreiter. Schon ab 1790 und in den folgenden Jahren, nutze man die Kapelle als Klublokal und Lager. Zwischen 1803 und 1837 beherbergte die Oberkapelle das Archiv für Gerichtsakten, die Unterkapelle wurde in diesen Jahren wieder als Kirchenraum genutzt. Nach einem Gesinnungswechsel und im Zuge der jeweils nationalen Romantik kamen 1835 erste Vorschläge zu einer Restaurierung auf, die jedoch erst einige Jahre später begannen. Félix Duban leitete die Bauarbeiten bis 1849. Ihm folgte Jean-Baptiste Lassus, der die Bauleitung bis zu seinem Tod im Jahr 1857 inne hatte. Die noch ausstehenden Arbeiten wurden 1863 durch den Architekten Boeswillwald abgeschlossen. Heute wird die Kapelle nicht mehr zu liturgischen Zwecken genutzt.10 Festzuhalten ist, dass ein sehr teurer und aufwendiger Bau

10.Vgl.WESSEL 2003, S. 28ff.


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entstand der eine noch wertvollere Reliquie beherbergte, die zudem höchsten ideellen Wert besaß. Dem König wurde vollkommene Autonomie gewährt und das eingesetzte Kapitel unterstand weder dem Pariser Bischof noch dem Erzbischof von Sens. Zudem bestand die Möglichkeit der Erteilung von Ablässen. 4. Unterkapelle 4.1 Grundriss Vor der eigentlichen Kapelle befindet sich im Westen eine einjochige, dreiteilige und doppelgeschossige Vorhalle, die jeweils von vierteiligen Kreuzrippengewölben überspannt wird. Von hier aus gelangt man durch ein zweigeteiltes mittiges Portal in die untere Kapelle. Zwischen Vorhalle und Kapelle liegen tiefe Außenmauern, in deren äußeren Ecken sich nach innen öffnende Wendeltreppen eingestellt sind. Die Dreiteiligkeit der Vorhalle setzt sich im Kapelleninnenraum fort, der aus vier Jochen besteht, an die sich ein 7/12Chorpolygon als östlicher Abschluss anschließt. Da die Säulen des vierteilig überwölbten Mittelschiffs ein Stück von


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der Außenwand zur Mitte hin gerückt sind, wird zu beiden Seiten jeweils ein weiteres Schiff gebildet. Diese schmalen Seitenschiffe schließen nach oben hin ebenfalls mit einem vierteiligen Kreuzrippengewölbe ab. Auch im Chor wird diese Unterteilung beibehalten, so dass eine Art Umgang entsteht. Da das Mittelschiff und die Seitenschiffe gleich hoch sind, kann man die Unterkapelle als dreischiffige Halle bezeichnen. Die Außenmauern sind massiv und werden umlaufend von ebenso massigen wie tiefen Strebepfeilern umgeben. Am vierten Joch, direkt vor Beginn des Chores, befindet sich vor der geschlossenen Außenwand und zwischen den Strebepfeilern eine überwölbte Nische, die nach Süden hin geöffnet ist. Die bereits erwähnte Dreischiffigkeit der Unterkapelle lässt sich durch die Vorgaben der Raumproportionen erklären. Der Fußboden der Oberkapelle sollte auf dem gleichen Niveau wie der von schon bestehenden und angrenzenden Palasträumen liegen, so dass die Unterkapelle nur knapp über sechs Meter hoch werden durfte. Die Überspannung des 11 Meter breiten Raums führte zu keinerlei technischen, jedoch zu ästhetischen Problemen. Da die Gewölbe eines


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einzelnen Schiffs bei dieser Breite und Raumhöhe beinahe auf dem Boden angesetzt hätten, wurden drei gleich hohe Schiffe eingezogen.11 Diese Dreischiffigkeit steht nach Kimpel nicht in der Tradition des Bauschemas von Unterkapellen. Neben den ästhetischen Aspekten, sprechen aber auch statische Gegebenheiten für eine Dreiteilung, da Drucklasten somit besser verteilt und geleitet werden. Die Unterkonstruktion musste den Fußboden der Oberkapelle sowie im Polygon auch die darüber liegende Reliquienbühne tragen. Die Gewölberippen wurden von Anfang an mit Schienen aus Schmiedeeisen verstärkt, was laut Kimpel einen in der mittelalterlichen Architektur einmaligen Befund darstellt. Weiterhin leiten strebebogenartige Maßwerkelemente den Gewölbeschub des Mittelschiffs über die Seitenschiffe zu den Strebepfeilern nach außen ab. Zusätzlich verhindern Eisenstangen Zuganker.

Druckverschiebungen

12

11.Vgl. SAUERLÄNDER 1978, S. 103. 12.Vgl. KIMPEL 1995, S. 401f.

und

dienen

als


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4.2 Innenraum Die Gewölberippen ruhen auf einfachen runden Säulen, die auf mehrfach abgestuften Basen stehen. Über den Säulenschäften befinden sich Knospen- und Blattkapitelle, die von sternförmigen Abakusplatten nach oben hin abgeschlossen werden. Hier laufen die Kreuzrippen und die Rippen der Scheid- und Gurtbögen zusammen. Die vierteiligen Gewölbe werden von floral ausgeschmückten Schlusssteinen abgeschlossen. Über sozusagen halbierte Kleeblattbögen sind die Schiffe miteinander verbunden. Nach oben hin werden diese Elemente gerade abgeschlossen, in den Zwickeln befinden sich offene Dreipässe. Die Säulen der Seitenschiffe stehen ein Stück weit vor der Außenwand. An sie schließen sich westlich und östlich direkt kleinere Säulen an, auf denen die Schildbögen ruhen. Diese Säulen gehören zu der wiederum etwas zur Außenwand hin versetzten freistehenden Blendarkade. Die Säulenschäfte und die Kapitelle erreichen hier dieselbe Höhe wie im Mittelschiff. Eine umlaufende Sockelbank ist auf die halbe Höhe der Basen der Mittel- und Seitenschiffsäulen


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hochgeführt. Darauf befinden sich die proportional kleineren Basen der Blendarkadensäulen, die aber in der Höhe dem übrigen Basenniveau angeglichen sind. In den vier Jochen des Langhauses findet sich jeweils ein fünfteiliges Blendarkadenelement mit sechs runden Säulen, die durch Kleeblattbögen miteinander verbunden sind. In den Bogenzwickeln zeigen sich kleine Dreipässe. Die gesamte Arkade ist bis in Fläche des Schildbogens hochgeführt. Im Chorpolygon ist die Arkadenfläche verkleinert, so dass hier jeweils drei Säulen mit Dreipassbögen auftauchen. Eine Besonderheit bilden zwei weitere Rundsäulen im Chor, die aus statischen Gründen eingefügt wurden, da sich hierüber die Reliquientribüne der Oberkapelle befindet. Über den Blendarkaden leitet ein schräges Gesims zu den Maßwerkfenstern hin, die noch weiter nach außen liegen. Die Fenster der Unterkapelle bestehen aus einem Sechspass in einem gedrückten sphärischen Dreieck mit zwei Dreipässen in den Ecken. Dieses Motiv geht auf die Emporenumbauten Notre-Dames in Paris von 1220/30 zurück, die genaue Ausformung bezieht sich jedoch auf die von Robert de Luzarches geschaffenen Fenster über den Seitenportalen an


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der Westfassade von Amiens.13 Im Chorpolygon finden sich zweibahnige Maßwerkfenster mit Kleeblattbögen, die von einem Sechspass bekrönt werden. 4.3 Farbgebung Drei Farbtöne sind in der Unterkapelle vorherrschend. Die Säulen erscheinen mitsamt ihren Basen dunkelrot. Sie sind jedoch mit goldfarbenen Mustern versehen, die das Wappen von Blanka von Kastilien aufweisen. Die Kapitelle sind ebenfalls golden abgesetzt. Dieser Goldton setzt sich an allen Rippen, sowie an allen Maßwerkund Gesimsflächen fort. Auch die Rippen an sich sind gegeneinander

durch

verschiedenfarbige

Ornamente

abgesetzt. Die Gewölbekappen sind dunkelblau gestaltet. Darauf sind goldene Fleur-de-Lys-Muster als Zeichen des französischen Königs zu erkennen. Die einzelnen Rippen werden auf den Gewölbekappen zusätzlich von einem roten Begleitornament flankiert, in dem sich wiederum 13.Vgl. KIMPEL 1995, S. 403.


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goldene Lilien in einem blauen Kreis befinden. Das Blau der Gewölbekappen setzt sich an den Säulenschäften der Blendarkaden fort. Im Chorpolygon ist die Wand hinter den Blendarkaden rot gestrichen, ansonsten finden sich an den Wänden halbhoch aufgemalte, vorhangartige Flächen mit Medaillons in Rot- und Grüntönen auf goldenem Untergrund. Dieser Goldton zeigt sich auch an der darüber liegenden Wandfläche. Die Bemalung der Unterkapelle ist ein Produkt des 19. Jahrhunderts. Die originalen Glasfenster gingen verloren und auf der Nordseite wurden diese wegen späterer Anbauten blind. Das Innere wirkt heute deshalb noch dunkler. Die Ausstattung fehlt völlig, geblieben ist nur das architektonische Gehäuse.14 4.4 Raumwirkung Die Unterkapelle bildet mit ihren starken Außenmauern und der geringen Raumhöhe eine Art Sockel für die Oberkapelle. Da durch die relativ kleinen Fenster nur wenig Licht in den

14.Vgl. SAUERLÄNDER 1978, S. 106.


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Innenraum fällt, entsteht der Eindruck einer Krypta.15 Trotz der geringen Raumhöhe wirkt das Innere nicht gedrungen. Die unzähligen Säulen und Bögen lassen den Raum größer wirken. Hierzu trägt auch die Blendarkade bei, die vor der Wand steht, so dass der Eindruck einer Doppelschaligkeit entsteht. Der Innenraum wirkt wie ein eigenständiges Gerüst, das losgelöst von der äußeren Begrenzung existiert. Die Außenwand scheint ungebremst um den Raum herumzufließen. Das gesamte Innere ist auf Durchsichtigkeit hin angelegt. Das Quadermauerwerk wurde ab der Zeit der Erbauung der Kapelle als profiliertes Werkstück ausgeführt und die gesamte Wandfläche trat gegenüber den Fensterflächen, den filigranen Stützen, Bögen und Maßwerkformen stark zurück. Die Steinmetzarbeiten sind zwischen 1210 und 1240 immer verfeinerter und subtiler geworden. Für die Durchsichtigkeit der Raumwirkung wählte man deshalb im Mittelschiff filigrane Säulen auf rundem Grundriss, die den Blick schweifen lassen. Es finden sich hier übliche gotische Knospenkapitelle, die 15.Vgl.WESSEL 2003, S. 39.


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Kämpferplatte ist allerdings sternförmig, so dass sie mit den aufsteigenden Rippen und Gurten korrespondieren kann.16 Die einheitlichen achtzackigen Abakussterne treten in der Saint-Chapelle erstmals auf.17 Schwere und Massivität sollten in diesem Raum vermieden werden. Dies zeigt sich auch an den Maßwerkelementen zwischen dem Mittelschiff und den Seitenschiffen. An dieser Stelle hätten auch Pfeiler die Durchsichtigkeit des Raumes zerstören können. Alle Formen wirken zart und straff zugleich. Das in der SainteChapelle angewandte System ist von energischer Klarheit geprägt und will nicht zwischen den einzelnen Formen vermitteln. Dies wird beispielsweise am Übergang von den Blendarkaden zu den darüber liegenden Fenstern deutlich.18 Ein weiterer Aspekt der Raumwirkung ist die Farbigkeit der einzelnen architektonischen Elemente. Die matten Farbtöne und besonders die roten und goldenen Flächen tauchen den Raum in ein würdevoll und erhaben wirkendes Licht. Die

16.Vgl. SAUERLÄNDER 1978, S. 103f. 17.Vgl. KIMPEL 1995, S. 403. 18.Vgl. SAUERLÄNDER 1978, S. 104f.


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blauen Flächen lassen das Innere zudem größer erscheinen. Zusammenfassend findet sich in der Unterkapelle ein ausgeklügeltes konstruktives System, verbunden mit einer würdevoll wirkenden Formensprache und Farbgebung. Wichtig sind die Dekorationen, die auf das Königtum verweisen. 5. Oberkapelle 5.1 Grundriss Über die erwähntenTreppen gelangt man in die Oberkapelle. Ihr ist das zweite Geschoss der Vorhalle vorangestellt. ZwischenVorhalle und erstem Joch liegen wiederum massive Außenmauern, in deren Mitte sich ein zweiteiliges Portal befindet. Beide Kapellen liegen exakt aufeinander, so dass sich die Anordnung der Joche in der Oberkapelle wiederholt. Somit finden sich hier ebenfalls vier kreuzrippenüberwölbte Joche, die von einem 7/12-Chorschluss im Osten begrenzt werden. In dem zuletzt genannten Bereich verlaufen auf dem Fußboden von Norden nach Süden zwei Stufen, die zur Mitte ausschwingen und weiter nach Westen ragen.


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In dieser Mitte befindet sich ein zusätzliches Podest. Zudem sind neben dem Chorscheitel, unmittelbar vor den Außenwänden zwei weitere Wendeltreppen zu erkennen. Da die Oberkapelle einschiffig ausgeführt ist, kann diese als Saalkirche bezeichnet werden. Schon im Grundriss ist die filigranere Beschaffenheit der oberen Kapelle zu erahnen. Durch die Schnittebene des Bauplans zu erkennen, treten hier die Außenmauern zugunsten von Maßwerkfenstern stärker zurück. Letztere nehmen die gesamte Fläche zwischen den Strebepfeilern ein, die in diesem Geschoss zudem weniger tief und schmaler sind. 5.2 Innenraum Die obere Kapelle ist 33 Meter lang, mit 10,7 Meter fast so breit wie das Schiff der Kathedrale von Laon und mit 20,5 Metern ähnlich hoch wie das Mittelschiff der Kathedrale von Noyon. Die vier Joche des Langhauses sind gleich gestaltet und vierteilig überwölbt. Eine Sockelbank sorgt für die gleiche Höhe aller Säulenbasen, die polygonal geformt und unterschiedlich proportioniert sind. Über den massigsten


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Basen des Raumes erheben sich vor der Sockelbank die kräftigen Dienste, die zu den Rippen der Gurtbögen führen. Die Dienste der Kreuzrippen liegen nördlich und südlich des Gurtbogendienstes zurückversetzt und sind weniger stark ausgeführt. Entsprechend der Bedeutung sind so alle verschiedenen Architekturglieder auch unterschiedlich instrumentiert. Weiter zur Außenwand und zu den Maßwerkfenstern hin, liegen die wiederum schmaleren Dienste der Schildbögen. Die Gewölberippen sind weit in den Raum hinuntergezogen, so dass sich unterschiedlich hohe Kapitellanordnungen ergeben. Die Knospenkapitelle der Schildbögen liegen sehr viel höher, als die ebenfalls mit floralen Ornamenten geschmückten Kapitelle der Gewölbedienste. Wären die Gewölbeanfänge auf die Höhe der Schilbogenkapitelle hochgezogen, würde sich eine flachere Wölbung ergeben. Ein Stück zur Außenwand hin versetzt finden sich auf der Sockelbank Blendarkaden. Diese sind im Langhaus sechsteilig. Die Säulen werden jeweils durch Dreipassbögen miteinander verbunden und paarweise von einem Spitzbogen übergriffen, in dem ein Vierpass zu finden ist. Die Arkadenbögen werden an der


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dahinter liegenden Wandfläche von einem ornamentalen Fries und Engeln begleitet. Direkt darüber befindet sich ein weiterer Fries, von dem aus eine schräge Sohlbank zu den vierbahnigen Maßwerkfenstern hinleitet. Die Aufeinanderfolge der Blendarkaden wird im dritten Joch, von Westen aus gesehen, durch zwei Nischen unterbrochen, die jeweils von einem flachen Bogen überfangen werden. Als Sitzgelegenheit diente die südliche Nische der Königin, die nördliche war dem König vorbehalten. Beide konnten durch Vorhänge geschlossen werden.19 In Höhe der Blendarkadenbögen befinden sich an den Gurtbogendiensten Konsolen,auf denen zwölfApostelstatuen unter Baldachinen stehen. Jede der Skulpturen trägt ein Weihekreuz und ragt bis in die Fensterzone hinein. Sie sind über dem Betrachter erhoben, aber dennoch von diesem zu sehen. Sechs Apostelfiguren sind Originale und stammen aus der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts.20 Innerhalb des 19.Vgl. SAUERLÄNDER 1978, S. 36. 20.Vgl. Monuments Nationaux,http://sainte-chapelle.monumentsnationaux.fr/fichier/m_docvisite/145/docvisite_fichier_09C. sainte.chapelle.DE.pdf, S. 2


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dritten Jochs von Westen aus, gab es in der Oberkapelle eine Abschrankung. Rechts und links standen Altäre, in der Mitte war der Eingang zum Chor. Erwähnenswert scheint schließlich auch die zweistöckige Reliquienbühne, die sich im Chor befindet. Eine Reihe von je drei Spitzbogenarkaden mit Kleeblattmaßwerk und Dreiblättern in den Zwickeln rahmt, von der nördlichen und südlichen Kapellenwand ausgehend, einen größeren Spitzbogen in der Mitte. ZweiWendeltreppen führen zum oberen Stock der Reliquienbühne. Diese ist durch vier offene Arkaden mit Wimpergbekrönung zu allen vier Seiten abgeschlossen. Die gesamte Konstruktion wurde im 19. Jahrhundert erneuert. Unter dem ursprünglichen Tabernakel stand auf einem Podest der Reliquienschrein. Direkt hinter der Stelle, wo sich der Schrein befand, ist in den Lanzetten die Passion Christi dargestellt.21 In der Sockelarkatur der Unterkapelle finden sich nach Kimpel Wiederholungen von Sockelformen der Chorkapellen von Amiens. Die Vierpässe über Kleeblattbögen der Oberkapelle sind motivisch ein Zitat der Innenfassade des Amienser

21.Vgl. SAUERLÄNDER 1978, S. 110.


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Südquerhauses.22 5.3 Konstruktion Die Oberkapelle wird von jeweils einem eisernen Gürtel in halber Höhe und in Kapitellhöhe umzogen. Ein dritter Eisengürtel verbirgt sich im Mauerwerk der Fenstersohlbänke, ein vierter sichert die obere Mauerkrone in der Höhe der Gewölbescheitel. Zwei sich kreuzende Anker an den vorletzten Strebepfeilern verstärken das Polygon. Viollet-leDuc fand heraus, dass alle Steine des Baus durch Eisenhaken miteinander verklammert sind. Sie sind ineinander verhakt und mit Blei ausgegossen. Eisen erhält hier auch künstlerische Eigenständigkeit, da jedes Fenster eine andere Bewehrung und somit auch eine unterschiedliche Aufteilung aufweist. Somit stehen die Fenster im Gegensatz zu den eher gleichförmigen steinernen Architekturmotiven.23 Das Mauerskelett der Oberkapelle ist auf schmalere, aber immer noch sehr

22.Vgl. KIMPEL 1995, S. 403. 23.Vgl. ebd., S. 402.


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tiefe Strebpfeiler reduziert. Die dazwischen liegenden Flächen sind auf viereinhalb Meter Breite freigelassen. In diesen Bereichen liegen die berühmten Fenster der SainteChapelle. Ein Problem bei Fenstern dieser Höhe ist der Winddruck. „Um ihm entgegenzuwirken, hat man für die Fensterflächen ein vierbahniges Steinpfostenwerk mit geringen Distanzen gewählt, vor allem aber die Glasscheiben sehr engmaschig armiert, was die kompositionelle Einteilung der Glasmalereien nachhaltig beeinflussen musste.“24 Zur Aussteifung wurden die horizontalen Armaturen als breite Eisenschienen ausgebildet, die sich bis in die Strebepfeiler fortsetzen und dort miteinander verklammert sind. Von den Treppentürmen im Westen beginnend, zieht sich ein Metallskelett durch die gesamten Mantelmauern um die Oberkapelle herum. Die über den Fenstern der Oberkapelle liegenden Wimperge dienen zum einen der wechselseitigen Versteifung der Strebpfeiler, zum anderen überschneiden diese Giebel erstmals die Trauflinie eines gotischen

24. SAUERLÄNDER 1978, S. 107.


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Gebäudes.25 5.4 Raumwirkung und Farbgebung Durch den Kontrast zur Unterkapelle wird der Raumeindruck der Oberkapelle erheblich gesteigert. Dieser obere Raum ist dreimal höher als der untere und bis zur Sockelzone durchfenstert. Es hat den Anschein, als bestünde der Raum ausschließlich aus gläsernen Wänden mit filigranen Zwischenstützen. Die Fenster werden somit nicht als bloße Öffnungen in der Mauerfläche wahrgenommen, sie selbst bilden die einzige, fast immateriell wirkende, Begrenzung zwischen dem Innen- und Außenraum. Der Raum wird vollständig von Licht und Farbe ausgefüllt.26 Die Wände der Oberkapelle scheinen aus Gold, glänzenden Edelsteinen und leuchtendem Glas zu bestehen. In gesteigerter Form zeigt die Oberkapelle alle formalen und ästhetischen Möglichkeiten der Gotik. Diese entsprechen

25.Vgl. SAUERLÄNDER 1978, S. 107f. 26.Vgl. KIMPEL 1995, S. 403.


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dem sakralen Repräsentationsbedürfnis der französischen Könige. Die Raumwirkung ist einzigartig und stärker als in jedem Basilikalraum, da hier keine trennenden Stützen oder Zwischenwände zu finden sind. Das Innere, das völlig in bunte Glasflächen, golden schimmernde, spiegelnd und leuchtende Flächen aufgelöst ist, wirkt größer und höher, als es tatsächlich ist.27 „Die Sockelwand ist so dekoriert, als sei sie mitTextilien verhängt oder bestehe aus edelsteinähnlichen Materialien.“28 Alle Architekturglieder und sonstigen Raumelemente sind farbig gefasst. Die vornehmlich aus blauen und roten Scheiben bestehenden Fenster tauchen den Innenraum in ein violettes Licht. Die Farbfassungen der anderen Elemente werden somit zusätzlich gefärbt. Es finden sich hier vermehrt Rot-, Blau- und Goldtöne und Fleur-de-Lys-Muster sowie das Wappen Blanka von Kastiliens auf allen Säulen. Die Rippen erscheinen aus der Entfernung golden zu schimmern. Sie begrenzen die tiefblauen Gewölbekappen, auf denen goldene

27.Vgl. SAUERLÄNDER 1978, S. 106ff. 28. Ebd., S. 109.


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Sterne zu sehen sind. Alle Farben verbinden sich durch das violette Licht zu einem harmonischen Ganzen. Es wirkt, als befände man sich im leuchtenden Inneren eines Edelsteins, ergänzt durch das rötlich-goldene, metallisch Schimmernde der konstruktiven und dekorativen Architekturelemente. Auffällig ist bei diesem Raum der enorme ästhetische und konstruktive Anspruch. Keine andere Kapelle weist eine derartige Größe und Höhe auf. Die riesigen und farbig ausgestalteten Fenster verdeutlichen das Selbstverständnis des Königs. Dieses ist wie alle architektonischen Mittel des Baus immens gesteigert. Als riesiger Reliquienschrein bildet die Sainte-Chapelle das bestmögliche Gehäuse zur Aufbewahrung der wertvollen Reliquien. 6. Außenbau Der vollständig steinsichtige Baukörper wird im Aufriss horizontal in einen massiv wirkenden Unterbau und einen durch hohe Glasflächen unterteilten Oberbau gegliedert. Drei umlaufende Gesimse unterteilen den Bau in der Horizontalen. Das untere Gesims verläuft auf Sohlbankhöhe


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der unteren Kapellenfenster. Die geringe Höhe der Fenster entspricht der niedrigen Raumhöhe der Unterkapelle. Das breitere und differenziertere zweite Gesims verläuft über den Fenstern der Unterkapelle und markiert auf dieser Höhe den Beginn des Fußbodens der Oberkapelle. Das dritte Gesims befindet sich auf Sohlbankhöhe der oberen Fenster. Vertikal wird das Gebäude durch Strebepfeiler unterteilt, die sich nach oben hin verjüngen, was an Wasserschlägen sichtbar wird. In Höhe des obersten Kranzgesimes finden sich an den Pfeilern jeweils zwei Wasserspeier. Mit Krabben und Kreuzblumen besetzte Helmfialen bekrönen die Strebepfeiler. Sie rhythmisieren den Bau in seiner Abfolge, vereinheitlichen und verbinden ihn aber auch. Auf Bodenniveau des Hofes sind die Strebepfeiler knapp drei Meter tief. Die Flächen zwischen den Strebepfeilern werden im Bereich der Oberkapelle im Langhaus vollständig von vierbahnigen Maßwerkfenstern eingenommen. Diese schließen mit genasten Lanzettbögen ab und werden jeweils paarweise im Couronnement von einem Spitzbogen überspannt, in dem sich ein stehender Vierpass befindet. Die so entstandene


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Struktur von zwei doppelläufigen Lanzetten wird nochmals durch einen stehenden Sechspass im Zwickelfeld zusammengefasst. Im Chorbereich der Oberkapelle sind die Fenster schmaler und nur zweibahnig. Die Lanzetten schließen, ebenso wie die Fenster im Langhaus, mit genasten Kleeblattbögen ab. Das Couronnement wird hier von drei liegenden Dreipässen gefüllt. Über den Oberkapellenfenstern spannen sich zwischen den Strebepfeilern Krabben bekrönte Wimperge, die in der oberen Ecke jeweils von einem Dreipass druchbrochen sind. Die ohnehin sehr einheitlich gestalteten Fassadenelemente werden somit noch stärker miteinander verbunden. Die Kapellenschiffwände werden am Beginn der Dachzone durch ein umlaufendes Kranzgesims und eine darüber liegende Balustrade zusammengefasst. Letztere stammt allerdings aus dem 17. Jahrhundert. Die Wimperge überschneiden diese Zone, so dass hier eine stärkere Plastizität und Rhythmisierung erreicht wird. Die Strebepfeiler und die meisten Wasserspeier sind jüngerer Herkunft. Ruth Wessel weist darauf hin, dass die dicht aufeinander folgenden und wuchtigen Strebepfeiler des Chores vom Baumeister


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bewusst geplant und als Stilmittel betrachtet wurden, da sie aus technischer Notwendigkeit nicht erforderlich gewesen wären.29 Die Sainte-Chapelle besaß ursprünglich durch ihre unmittelbare Anbindung an den ehemaligen Königspalast keine westliche Fassade. Ihr plastischer Schmuck beschränkte sich ausschließlich auf die Portalbereiche an der Vorhalle. Die gesamte Portalskulptur ist ein Werk des 19. Jahrhundert, das in Anlehnung an mittelalterliche Vorgaben entstand. Für die Frage nach dem Verhältnis von Macht und Raum ist besonders der Zustand des 13. Jahrhunderts wichtig, so dass auf die Westfassade nicht detailliert eingegangen wird. Auch die große Fassadenrose entstand erst im 15. Jahrhunderts. Der Giebel und die oberen Teile der Treppentürme wurden im 17. und 19. Jahrhundert stark restauriert. Der 33 Meter hohe Dachreiter stammt aus dem 19. Jahrhundert und wurde nach Zeichnungen von Lassus im Stil des 15. Jahrhunderts neu errichtet.

29.Vgl.WESSEL 2003, S. 32.


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7. Die Fenster der Sainte-Chapelle Die Fenster der Oberkapelle sind keine einzelnen Stiftungen. Es handelt sich um einen einzigen Auftrag auf der Basis eines geschlossenen Programms. Die vierbahnigen Fenster im Langhaus enthalten jeweils 97 Felder für Szenen und 105 Ornamentfelder. Neun Kapellenschifffenster geben Szenen des Alten Testaments (Genesis, Exodus, Josua, Gideon, Samson, Judith, Hiob, Esther, Salomo und David) wieder, das Zehnte zeigt die Überführung der Dornenkrone von Konstantinopel nach Paris. Auffallend ist die Häufung der Krönungsszenen. In einem einzigen Fenster können bis zu 20 fast identische Darstellungen von Krönungen israelischer Herrscher ausgemacht werden.30 Die fünf Fenster des Chores zeigen ein christologisches Programm. Die Passion Christi, mitsamt der Krönung durch die Dornenkrone, wird im Chorscheitel dargestellt und verweist auf die Funktion der Kapelle als Reliquiar, in dem die wichtige Reliquie aufbewahrt wurde. Im Laufe der Zeit wurden die Fenster

30.Vgl. SAUERLÄNDER 1978, S. 260.


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beschädigt und einzelne Glasfelder fehlten. Ab der Mitte des 19. Jahrhunderts restaurierte man die Fenster, die einzelnen Felder wurden dabei reorganisiert und fehlende Teile durch ikonographisch dubiose Szenen ersetzt.31 Die heutige Anordnung der Fenstersegmente besteht seit 1848.32 In allen 15 Fenstern ist der gleiche, kleine und einheitliche Maßstab eingehalten, ohne Hierarchien oder dramatische Steigerungen. Es entsteht der Eindruck einer sich endlos fortsetzenden Erzählung mit Wiederholungen. Vermehrt tauchen Kampfszenen und gekrönte Figuren auf, die die Bedeutung von Königtum und Kreuzzügen hervorheben. Alle motivischen Wiederholungen illustrieren kollektiv das Königtum. Vor allem werden die Bedeutung der dynastischen

Kontinuität

und

das

Krönungsmotiv

hervorgehoben. Die Dornenkrone ist das ultimative Symbol royaler Souveränität, im irdischen wie im göttlichen Sinne. Die alttestamentarischen Könige der Fenster führen hin

31.Vgl. Alyce Jordan:Visualizing Kingship in theWindows of the Sainte-Chapelle,Turnhout 2003, S. 1. 32.Vgl. ebd., S. 34.


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zum jetzigen König Frankreichs und binden diesen in die bedeutende Hierarchie ein. Zudem unterstreicht die Heraldik die Macht des französischen Königshauses, da auch in den Fenstern Fleur-de-Lys-Muster und das Kastilische Wappen zu erkennen sind. Die monarchische Intention ist somit unübersehbar. So ist die Sainte-Chapelle ein Denkmal der

zunehmenden

Sakralisierung

der

französischen

33

Monarchie.

8. Raumbildende Elemente, die auf die Macht des Königs hinweisen Zunächst trägt die Tatsache, dass sich der Bau innerhalb des Ensembles des Königspalastes und mitten in der Stadt befindet, dazu bei, die Macht öffentlich zu präsentieren. Im Detail finden sich in der Unterkapelle auf allen architektonischen Elementen Fleur-de-Lys-Muster und das Wappen von Blanka von Kastilien. Gleiches gilt für die Oberkapelle. Die mit Weihekreuzen ausgestatteten Apostelfiguren geben

33.Vgl. SAUERLÄNDER 1978, S. 260.


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dem König hier ihr Einverständnis und ihren Segen. Sie begleiten den Herrscher und legitimieren seine Macht. Die Fenster sind von Fleur-de-Lys-Mustern und dem Wappen von Blanka von Kastilien durchdrungen. Zudem bilden die alttestamentarischen Könige die Ahnenreihe der bedeutenden Herrscher, die durch Ludwig IX. fortgeführt wird. Somit wird die monarchische Kontinuität anschaulich geschildert. Das Passionsfenster verweist noch einmal auf den ursprünglichen Besitzer der Dornenkrone, der sozusagen die Nutzung durch den französischen König absegnet. Neben der erhabenen Architektur, die höchsten Ansprüchen entspricht und ein größtmögliches Repräsentationsbedürfnis widerspiegelt, sind nun alle in der Kapelle zur Anwendung gebrachten Mittel beschrieben. Wie nun die Macht im Detail durch den Raum ausgedrückt wurde, zeigt der letzte Absatz.


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9. Funktion der Kapelle Verschiedene Feste und die ständigen Händler sprechen dafür, dass der öffentlich nutzbare Bereich des Palastes unablässig von einer Vielzahl an Menschen besucht wurde, die sicherlich auch an religiösen Zeremonien der SainteChapelle teilgenommen haben. In der Bulle vom 24. Mai 1243 garantierte Papst Innozenz IV. der Sainte-Chapelle besondere Privilegien und hob ihre beeindruckende Ausführung hervor. Bis 1248 folgten sechs weitere Bullen, deren diplomatische Standardphrasen doch zumindest verraten, dass Besucher in der Sainte-Chapelle willkommen waren und an bestimmten Festtagen Ablässe erhalten konnten. Zu diesen Tagen gehörten das Fest des Empfangs der Reliquien am 30. September und der 11. August als Feiertag der Dornenkrone. Pilger konnten zu diesen Zeiten, aber auch am Karfreitag und an jedem anderen Freitag des Jahres, die Kapelle besuchen. Das Fest der Weihe an jedem 26. April, sowie die Kreuzerhöhung an jedem 14. September, kamen in den folgenden Jahren dazu. Die Feiertage, an denen Ablässe für Pilger ermöglicht wurden, nahmen


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zudem stetig zu. Durch die Teilnahme an Zeremonien der Sainte-Chapelle, konnten Pilger mit enormer Abmilderung ihrer Sünden rechnen. Die Höhe der Gnade hing vom Rang des ausführenden Geistlichen sowie vom Rang des Festtags und auch davon ab, wie oft ein Pilger die Sainte-Chapelle besuchte. Bischöfe konnten maximal 40 Tage Gnade pro Fest gewähren, der Papst und sein Legat erteilten Ablässe bis zu einem Jahr und 40 Tagen. Da die Ablässe addierbar waren, konnten Besucher der Sainte-Chapelle bis zu 14 Jahre Fegefeuer reduzieren, wenn sie an allen Festen des Jahres teilnahmen. Im Gegenzug spendeten die Gläubigen der Kapelle Geld.34 An Pfingsten segnete der Bischof die Gläubigen aus dem einfachen Volk in der unteren Kapelle. Neben Prozessionen, die von der einen in die andere Kapelle gingen, wird in den Bistumschroniken schlicht von Kapelle gesprochen, so dass beide Räume gemeint sein können. In der Osterwoche

34.Vgl. Meredith Cohen: An Indulgence for theVisitor.The Public at the Sainte-Chapelle of Paris, in: Speculum Cambridge, Band 83 (2008), Heft 4, 2008, S. 864-868.


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begannen täglich Prozessionen an der Sainte-Chapelle. Auch bei anderen Prozessionen wurden die feierlichen Zeremonien auf den gesamten öffentlichen Stadtraum ausgedehnt und jedem anschaulich präsentiert. Die Anbetungen durch Pilger in der Saint-Chapelle war somit immer auch die Verehrung des Königs.35 Aus Frömmigkeit, aber vor allem auch aus politischen Gründen (zur Zentralisierung der Macht, Schwächung des Lehnsadels), war Ludwig IX. daran gelegen, das Bild seiner eigenen Heiligkeit auszubauen. Diesem Vorhaben kam die durch den König erworbene Reliquie der Dornenkrone entgegen, da diese als Symbol der göttlichen Herrschaft Christi galt und ihrem Besitzer eine gleichsam hohe Macht zusprach. Die Planer der Sainte-Chapelle hatten die Freiheit ein Programm zu entwickeln, dass der Monarchie in bester Weise dienlich sein sollte. Da Anbetungen nur an bestimmten Tagen möglich waren, wurde die Sainte-Chapelle zu einem exklusiven Ort. Gleichzeitig wurde dadurch die Bedeutung nochmals gesteigert. Man findet eine ausgeklügelte Balance

35.Vgl. COHEN 2008, S. 870-877.


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zwischen exklusiven und öffentlichen Veranstaltungen und berechnend geplanten Ritualen, die zur Festigung und Hervorhebung der Monarchie, sowie zur Einigkeit und Untergebenheit des Volkes führten. Aus heutiger Sicht wirkt das Programm der Sainte-Chapelle propagandistisch. In der Kapelle wurde der Herrscher durch einen intelligenten Ablauf, der nur unter Anteilnahme der Öffentlichkeit Erfolg haben konnte, vom König zum Heiligen stilisiert. Die wertvollen Reliquien und ihr Aufbewahrungsort wurden als wichtig und notwendig angesehen, da somit die sakrale Würde des Königs direkt durch die Gnade Gottes bestätigt wurde und das gesamte französische Volk als auserwählt betrachtet werden konnte. In eindringlicher Weise zeigt sich hier beispielhaft das Durchsetzen eines Machtanspruchs durch Elemente des Raums.36

36.Vgl. COHEN 2008, S. 878-883.


LITERATURVERZEICHNIS


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KIMPEL 1995 Dieter Kimpel (Hrsg.): Die gotische Architektur in Frankreich. 1130 – 1270, München 1995. LENIAUD/PERROT 1991 Jean-Michel Leniaud und Françoise Perrot: La SainteChapelle, Paris 1991. SAUERLÄNDER 1977-1978 Willibald Sauerländer: Die Sainte-Chapelle du Palais Ludwig des Heiligen, in: Jahrbuch der Bayerischen Akademie der Wissenschaften 1977-1978, S. 92-115. SAUERLÄNDER 1990 Willibald Sauerländer: Das Jahrhundert der großen Kathedralen. 1140-1260, München 1990. STEVENS 2003 U. Stevens: Burgkapellen – Andacht, Repräsentation und Wehrhaftigkeit im Mittelalter, Darmstadt 2003. TOMAN 1998 Rolf Toman (Hrsg.): Die Kunst der Gotik. Architektur, Skulptur, Malerei, Köln 1998.


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WATKIN 1999 David Watkin: Geschichte der abendländischen Architektur, Köln 1999. WESSEL 2003 Ruth Wessel: Die Sainte-Chapelle in Frankreich. Genese, Funktion und Wandel eines sakralen Raumtyps, Düsseldorf 2003.


JULIAN BERTRAM



November 2013


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