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M E I N F E R N W E H / ROTTERDAM

Die raue

Alternative In Rotterdam liegt der größte Seehafen Europas, und das hat spürbar Einfluss auf alle Bewohner: Die geben sich ­überwiegend bodenständig, weltoffen und extrem ­individualistisch. Nur in einer Hinsicht ticken sie alle gleich: „Amsterdam? Pah!“ TEXT HARALD BRAUN


RUHMREICHE V­ ERGANGENHEIT Zur Eröffnung 1898 war „Het Witte Huis“ mit 43 Metern das höchste Bürogebäude Europas. Heute ist es eines der wenigen historischen Häuser der Stadt – mit einem Café im ­Erdgeschoss

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NEU AUF DER WELT Unser Autor joggte gleich mal über die Erasmusbrücke: Blick frei auf das frisch entstandene Viertel Kop van Zuid mit seinen Wolkenkratzern

GRÜNE FEE Maidie van den Bos erstellt aus Blumen und Kräutern einen einzigartigen Sirup für ihre Drinks in der „Bloemsebar“

SORTIMENT MIT HUMOR Bei dem Mexikaner „Alfredo’s Taqueria“ im „Het Industriegebouw“ können Sie Essen und Getränke bestellen, aber auch Socken kaufen

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SCHON EIN PATENT ANGEMELDET? Rotterdam animiert dazu, selbst kreativ zu werden. Wem also noch Ideen fehlen: auf in diese Stadt! MIT DEM AUTO FAHREN? OCH NÖ! Unterwegs ohne Parkplatzstress: Die Tram bringt Sie zu den neuen Shops, Restaurants und Architektur-Highlights

K

ennst du den Unterschied zwischen Rotterdam und Amsterdam?“, fragt die Unternehmerin Maidie van den Bos und grinst, bevor sie antwortet: „In Rotterdam wird das Geld verdient, in Amsterdam gibt man es aus.“ Maidie schätzt eher das Bodenständige. „Ich könnte mit dem, was ich hier treibe, in hippen Amsterdamer Bars schnell Erfolg haben, aber das ist nicht mein Ding.“ Das, was sie mit ­„treiben“ meint, ist nicht so leicht zu erklären: Maidie van den Bos ist eine „Botanical Sommelière“, was bedeutet: Sie sucht nach seltenen Kräutern sowie ungewöhnlichen Blumen und fermentiert aus ihrer Beute eine Art Sirup, womit gute Drinks noch besser und ein vorzügliches Essen noch schmackhafter werden sollen. Im Prinzip ist Maidie mit ihrem Ein-Frau-Laden „Bloemsebar“ also ein Freak; eine Sammlerin und Umherstreunerin mit schrägen Ideen und sehr viel Idealismus, denn hinter der

grünen Sammelleidenschaft der blonden Holländerin steckt natürlich auch eine Botschaft: „Seht her, was die Natur alles im Angebot hat! Es ist oft nicht nötig, gute Produkte künstlich zu erzeugen.“ Ihre einst gutbürgerliche Existenz als Innen- und Landschaftsarchitektin hat sie zugunsten der „Bloemsebar“ aufgegeben. Mit dieser Haltung – individualistisch, kompromisslos, schräg und jederzeit bereit, für ihre Überzeugungen ordentlich anzupacken – ist sie quasi der Prototyp des Rotterdamers, so wie ich ihn in den nächsten Tagen oft erleben werden. Rotterdam, das vorweg, ist keine heimelige Stadt. Nie ist sie niedlich und charmant wie ihre große Schwester Amsterdam. In Rotterdam, so heißt es, werden Hemden gleich mit aufgekrempelten Ärmeln verkauft. Es weht ein rauer Wind durch die zugigen, breiten Straßenzüge, Grachtenromantik und urige Gässchen-Idylle gibt es hier nicht. Stattdessen finden sich überall im Stadtgebiet die schmalen Ausläufer August 2018 | Laviva

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VON ALLEM ETWAS Im Restaurant „Picknick“ empfiehlt es sich, die gemischte Vorspeisenplatte und damit lauter Köstlichkeiten zu bestellen

DER CHAMP FÜR BÄRTE Mit seinem Shop im „New York Hotel“ wurde Robert Lagerman bereits zum Weltmeister der Barbiere gekürt KLEIN NEW YORK Der „Südturm“ (links) und „De Rotterdam“, drei miteinander verbundene Wolkenkratzer, sind neue Wahrzeichen der Stadt

der Maas und ächzende kleine Brücken, die sich in Windeseile hochrattern lassen, wenn mal wieder ein tuckernder Kahn kreuzt – also ständig. Und dann dieses Panorama: Rotterdam hat, wenn man im Abendlicht den Blick über den großen Hafen in Richtung Stadt schweifen lässt, eine Skyline wie New York oder Toronto. Das ist beeindruckend, nicht nur, was Größe und Wucht angeht: Architektonisch gehört Rotterdam aktuell zu den interessantesten Städten Europas, was auch damit zusammenhängt, dass die zweitgrößte holländische Metropole mit ihren heute rund 650 000 Einwohnern nach dem Krieg nahezu vollständig in Schutt und Asche lag. Mit­

hilfe namhafter Architekten wie Rem Koolhaas, Piet Blom oder Sir Norman Foster, der etwa das weltberühmte World Port Center erschuf, sicherte sich Rotterdam einen vorderen Platz auf der Liste der Städte, die ehrgeizige Architekturstudenten auf ihrer Bucketlist vermerken. Eine Joggingrunde über die ikonografisch-erhabene Erasmusbrücke etwa zählt zu den Erlebnissen, die ich vermutlich so schnell nicht wieder vergesse. Vom Südufer der Maas aus blickt man auf das gänzlich neu entstandene Viertel Kop van Zuid – in seiner hip-stählernen Glasgläubigkeit vergleichbar mit der Hafencity in Hamburg. Beim Laufen in dieser Ecke der Stadt fällt der Blick nahezu zwangsläufig auf einige der neuen Wahrzeichen Rotterdams: den Südturm etwa – auch bekannt als „KPN-Gebäude“ oder „schiefer Turm von Rotterdam“ –, der vom italienischen Architekten Renzo Piano entworfen wurde. Ich sehe auch die neuen Wolken­ kratzer „New Orleans“ von Álvaro Siza Vieira oder „De Rotterdam“ von Rem Koolhaas. Mein Ziel nach der Runde am Morgen ist aber das famose „Hotel New York“ an der Spitze der Kop van Zuid. Das war früher einmal das Hauptquartier der Holland-Amerika-Linie, heute kann man hier wohnen, in dieser Mischung aus Art déco und Jugendstil. Das Haus verfügt über ein grandioses Café-Restaurant, außerdem befindet sich im Souterrain der interessanteste Barbier der Stadt. Der „New York Barbershop“ sieht wie ein nostalgischer Filmset aus, an den Wänden hängen Fotos der „Sopranos“, an den Scheren arbeiten coole Hipster, die selbst aus einem Mobsterfilm der 50er-Jahre stammen könnten. Jazzmusik von Cole Porter läuft leise im Hintergrund. Besitzer Robert Lagerman, der


HIPPE BUDE Die Idee zu den Kubushäusern in Rotterdam hatte der holländische Architekt Piet Blom. Er neigte dazu ein würfelformiges Haus um 45 Grad und stellte es auf einen sechseckigen Kegel. Wer hier lebt, hat daheim nur schräge Wände

den Laden in der vierten Generation führt, erklärt, warum sein Laden vor fünf Jahren in Madrid zum „Best Barbershop International“ gekürt wurde: „Indem wir uns nicht um den Preis bemüht haben, sondern einfach unseren Job machten – das aber mit Herzblut.“ Die Rotterdamer protzen nicht, sie überzeugen lieber durch das, was sie machen oder erschaffen haben. Auch Tjeerd Hendriks ist so ein Typ, der mit Käppi und in T-Shirt und Jeans eher wie jemand aussieht, der auf eine Karriere als House-DJ oder Rapper setzt. In Wahrheit hat Tjeerd dem Eigentümer eines gewalti-

gen 50er-Jahre Komplexes (dem „Het Industriegebouw“ in Rotterdams Innenstadt) ein Projekt schmackhaft gemacht, das nun seit einigen Monaten zu einem Treffpunkt der ­städtischen Szene geworden ist: In dem stilvoll renovierten Gebäude befinden sich diverse Bars, Restaurants und Cafés, die auf die Bedürfnisse der Bürohäuser in der Nachbarschaft zugeschnitten sind, ohne sich gegenseitig Konkurrenz zu machen. Da wäre zum Beispiel das „By Jarmusch“, das an einen amerikanischen Diner erinnert, der wirbelige Mexicaner „Alfredo’s Taqueria“ (der amüsanterweise auch Socken

MEETING POINT Durch Tjeerd Hendriks (links) wurde das „Het Industrie­ gebouw“, ein 50er-Jahre-Komplex, durch Bars, Restaurants und Loftplätze für Künstler zeitgemäß aufgewertet. Die Designerin Foekje Fleur (rechts) verkauft hier bunte Keramikvasen in Form von Plastikflaschen: Kunst statt Müll! August 2018 | Laviva

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verkauft), das sehr angesagte Fine-Dining-Restaurant „Héroine“ oder auch das „Groos“, wo sich einheimische Künstler in einem schicken Loft den Stellplatz teilen. „Hier ist eine echte Community entstanden“, sagt Tjeerd, und wie um seine Aussagen zu untermauern, schneit die Designerin Susan Bijl ins „Groos“, um mal zu sehen, wie ihre Geschäfte laufen. Ziemlich gut vermutlich, denn diese Frau fertigt hauptsächlich farbige Rucksäcke an, die inzwischen so bekannt sind, dass Rotterdamer sich weltweit daran erkennen. Susan gibt uns den Tipp, uns unbedingt noch auf der Witte de Withstraat umzusehen, dem angesagten Amüsierviertel der Stadt. Das war noch vor einigen Jahren eine einzige ­Rumpelecke, ist nun aber von den Vibes junger Bars, den Restaurants und Vintage Stores zum Leben erweckt worden. Wir trinken ein Bier vor dem berühmten

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„De Witte Aap“, schauen den entspannt wirkenden Menschen zu und kommen hier immer wieder mit jungen Einheimischen ins Gespräch. Gefremdelt wird nicht, das kennen sie nicht in einer Stadt, in der 150 Nationen mehr oder weniger friedlich zusammenleben – unter anderem etwa in der erst 2014 fertiggestellten Markthalle Rotterdams. Der 175-Millionen-Euro-Bau wirkt von außen wie eine Mischung aus Flugzeughangar und hufeisenförmiger Reithalle. Basement und erster Stock sind für Lebensmittelstände und Restaurants reserviert, aber ab Stockwerk zwei ist das von innen aufwendig und sehr, sehr bunt illustrierte Gebäude ein ganz normales Wohnhaus mit 228 Wohnungen. Das alles wirkt ein wenig bizarr und eigenwillig, also in einem Wort: Rotterdam. Mein Rat, wenn Sie herkommen: Buchen Sie Ihren Aufenthalt nicht zu kurz!

IM SCHLARAFFENLAND Das bunte Dach in der Markthalle beflügelt beim Shoppen. Hinter der Farbwand befinden sich übrigens noch 228 Wohnungen


FOTOS Adobe Stock; Getty Images (2); Sabine Braun (7); Gulliver Theis/laif (2); Sabine Braun/laif; Mauritius images (2)

RUHEZONE Am Ufer der Nieuwe Maas können Sie in einem Liegestuhl die vielen tollen Eindrücke erst mal verarbeiten

Infos ANREISE Rotterdam ist mit dem Auto von Deutschland aus gut zu erreichen. Die Stadt hat keinen eigenen Flughafen, aber rund 70 Kilometer nördlich von Rotterdam liegt der Flughafen Amsterdam-Schiphol. rotterdampartners.nl UNTERKUNFT New York Hotel Retro-Unterkunft im „Mad Men“Stil in einer der modernsten Ecken Rotterdams. Dazu ein tolles Loft-Restaurant mit Wasserblick und ein Kult-Barbier im Souterrain – stilvoller kann man in dieser Stadt kaum wohnen. DZ ab 115 Euro (mit Frühstück ab 133,50 Euro). hotelnewyork.com City Hub Hotel Ganz neu in Rotter­dam, erst im Mai 2018 eröffnet: ein kleines, aber mit viel Gestaltungswillen poppig ausgestattetes Haus an der belebten Feiermeile der Witte de Withstraat. DZ ab 42 Euro (mit Frühstück ab 52 Euro). cityhub.com/rotterdam ESSEN Héroine Sehr angesagter neuer ­Hot­spot mit künstlerischem Interior und fein heraus­geputz­ter Service-­ Armee. Das Essen ist allerdings wirklich hervor­ragend – und die Bar ein gut sortierter Hingucker. restaurantheroine.nl

HAPPY HOUR In der „Library of Spirits“ bei Ligia Thomaz finden Sie alles, was Sie an Wein, Bier oder Spirituosen gerne hätten

Ayla Exqusite mediterrane Küche im Zentrum Rotterdams, die man am besten nach dem Share-­ Dining-Prinzip ausprobiert: einfach kleine Platten mit den grandiosen Meeresfrüchten und leckeren Antipasti bestellen. ayla.nl EINKAUFEN Groos Im lichten Loft des „Groos“ bieten eine Reihe junger Rotterdamer Künstler Wohnaccessoires, Bilder oder auch farbige Rucksäcke an, letztere megaerfolgreich. Lässiger Verkauf, aber amtlich gute Produkte. groosrotterdam.nl HAY Für das „HAY“ sprechen erst einmal die amüsante Kollektion schick designter ­Alltagsgegenstände – aber auch die gute Lage im Meent-Viertel gleich neben der neuen Kneipe „De Huismeester“. hayinrotterdam.com Hutspot Wer gute Absichten hegt und sparen möchte, ist in diesem hellen Shop auf verlorenem Posten: Zahlreiche junge Designer und Nachwuchsbrands verkaufen hier junge und extrem stilsichere Mode. Nie war „H & M“ weiter entfernt als an diesem verführerischen Ort. hutspot.com/location/ hutspot-rotterdam

DAS TEAM VOR ORT Fotografin Sabine Braun und Autor Harald Braun machte die Stadt sehr gute Laune! August 2018 | Laviva

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