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Süddeutsche Zeitung
FEUILLETON
Samstag, 17. Januar 2015 Bayern, Deutschland, München Seite 15
Oase statt Ödnis In Rotterdam macht eine Markthalle Furore, die viel mehr ist als eine Markthalle – ein Lebensraum, ein Anziehungspunkt: Warum wird so etwas bei uns nicht gebaut?
von laura weissmüller
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inzige Personen, die zwischen unzähligen Marktständen herumschlendern. Umrahmt von den Farben der aufgeschichteten Obst- und Gemüseberge, der Käselaibe, Schinkenbeine und Blumensträuße. Die Flachdächer der Buden am Rand haben Restaurants mit Tischen bestückt, um ihre Gäste dort zu bewirten, andere Dächer sind dicht begrünt. Als wäre das nicht schon Gewusel genug, spannt sich darüber ein Halbrund, auf dem die Darstellungen kleinwagengroßer Himbeeren, Kürbisse, und was Garten Eden sonst noch so zu bieten hat, wie wild durcheinanderpurzeln. Willkommen im Wimmelbild der Rotterdamer Markthalle, zu bewundern täglich von 10 bis 20 Uhr, nur sonntags sind es einige Stunden weniger. Den grandiosen Ausblick genießen Dutzende Eigentümer und Mieter direkt aus ihren Wohnungen. Denn diese formen den 40 Meter hohen Bogen über dem neuen Markt. Es ist ein Triumphbogen für den gebauten Wahnsinn. Denn was da mitten in Rotterdams Zentrum, aufgesockelt auf der im Untergrund fließenden Rotte, seit Ende vergangenen Jahres steht, hat die Welt noch nicht gesehen. Ein irrwitziges Konglomerat aus unterschiedlichen Nutzungen, aus Wohnen und Arbeiten, durchpulst von einem steten Strom Passanten, Hungriger und Schaulustiger. Die Konstruktion, abgesehen von den flexiblen Glaswänden zu beiden Seiten der Röhre, ist eher konventionell – das Budget ließ gar keine extravagante Bauweise zu –, doch die Idee ist es nicht und darauf kommt es an. Wer solchen architektonischen Wahnwitz in Deutschland sucht, kann sich gleich ein paar Glückspillen verschreiben lassen. Er wird ihn nämlich nicht finden in all der gebauten Ödnis aus Stahl und Beton. Wir dichten und dämmen zwar wie die Weltmeister, aber was hinter der Fassade entsteht, entspricht nicht im geringsten dem, was dieses Land eigentlich braucht. Zum Beispiel endlich ein paar schlagende Ideen, wie in den entvölkerten Landstrichen strukturschwacher Gegenden so etwas wie ein soziales Netz entsteht und nicht der Zigarettenautomat der letzte Treffpunkt im Ort bleibt, wenn Bank und Supermarkt zugemacht haben. Oder eine Vision, wie die Segregation in unseren Städten zu stoppen ist. Und vor allem: Entwürfe, die unserer ultraindividualisierten Gesellschaft Rechnung tragen – und dem, was sie braucht, wenn sie alt ist. Denn das wird sie bald sein. Doch eines der reichsten Länder der Welt interessiert das offenbar alles nicht. Ideen, welche Art von Häusern mit den Problemen unserer Zukunft fertig werden können, finden sich nicht. Dabei gibt es in Deutschland so viele Architekten und Stadtplaner wie nirgendwo sonst in Europa: 130 000. Jeder dritte Architekt Europas lebt hier. Und es werden immer mehr. Ihre Zahl hat sich seit 1989 fast verdoppelt, genauso wie die Zahl der Architekturstudenten. Knapp 10 000 Absolventen gab es 2013. Aber wo sind ihre Ideen? Wo der Wahnsinn, der Neues überhaupt erst möglich macht? Wir brauchen endlich Gebäude, die nicht nur dem Stand unserer Technik entsprechen, sondern auch der Art, wie wir leben wollen. Denn jedes neue Gebäude entscheidet ja mit, wie sich die Stadt, das Dorf und das Land entwickelt, in dem es steht. Wie in einer Schule gelernt, in einem Krankenhaus gepflegt und einem Altenheim langsam gestorben wird – oder eben erst am Schluss, weil der Senior bis dahin Teil der Gesellschaft bleiben darf. Wir brauchen eine Architektur, die durch ihre Struktur soziale
130000 Architekten und Stadtplaner gibt es in Deutschland. So viel wie nirgendwo in Europa. Die Zahl hat sich seit 1989 fast verdoppelt. Genauso wie die der Absolventen. 2013 beendeten knapp 10 000 ihr Studium in den Fächern Architektur, Innen- und Landschaftsarchitektur und Stadtplanung.
Netzwerke für die Gesellschaft von morgen schafft. Wer glaubt, dass diese Aufgabe allein von Architekten zu meistern ist, überschätzt ihre Fähigkeiten. An den Entwurfstischen müssen endlich auch Sozialpädagogen und Krankenpfleger, Studenten und Senioren, Designer und Psychologen sitzen. Doch dann ist es am Architekten, die Wünsche und Ansprüche in ein Gebäude umzusetzen. Wer hierzulande wirklich neue Ideen dafür sucht, der findet sie eher bei denen, die gar keine Architekten sind. Bei Künstlern zum Beispiel. 2010 zeigten die Berliner Kunst-Werke die winzigen Wohnkojen des jung gestorbenen israelischen Künstlers Absalon. Eine radikale Beschäftigung damit, was der Mensch zum Leben wirklich braucht. John Bock dagegen führte dem Besucher der letzten Ausstellung der Berliner Kunsthalle vor, was urbane Dichte
sein kann und zimmerte bis unter die Decke ein begehbares Riesenlabyrinth. Und auf der vergangenen Documenta in Kassel baute der Künstler Gareth Moore aus Abfall ein ganzes Hüttendorf. Kunst, die nichts mit Architektur zu tun hat? Vielleicht. Aber zumindest stellt sie Fragen. Unsere Bauten dagegen schaffen Tatsachen und kerkern uns in der Nachkriegszeit ein. Es ist fast schon kafkaesk, wie in den Baustellen dieses Landes das immer Gleiche entsteht. Egal ob MainTor in Frankfurt, Rodenstock Garten in München oder Wohnen an der Wallstraße in Berlin: stupide aufeinander gestapelte Etagen, lieblos bespielte Erdgeschosszonen. Dazwischen eingekastelte Grünflächen, so nutzlos wie abweisend. Aber warum ist das eigentlich so? „In Deutschland gibt es eine Kultur der Angst. Neue Gebäude sollen möglichst neutral aussehen. Damit die Investoren sie leichter wieder verkaufen können und die Stadt ein einheitliches Bild bewahrt“, sagt Winy Maas. Der niederländische Architekt hat die Markthalle entworfen. Wer sein Büro MVRDV in Rotterdam besucht, stolpert in dem entkernten Backsteingebäude von einer aberwitzigen Idee zur nächsten. Etwa der Masterplan für Almere: Die Retortenstadt in der Nähe von Amsterdam soll im Selbstbau-Prinzip entstehen, jeder Bewohner kann sich hier wie beim Computerspiel SimCity alles selbst zusammenstellen. Etwas Ähnliches versucht das Büro gerade auf einem ehemaligen Kasernengelände in Mannheim. „Wer Leben haben will, und zwar den ganzen Tag, besser noch die ganze Woche, der muss die Nutzungen mischen“, sagt der Architekt. Keine neue Idee und doch bleibt es in Deutschland meist bei einem Lippenbekenntnis, eine schicke Boutique
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Rotterdams neue Markthalle wirkt utopisch – die Häuser des Künstlers Dionisio González sind es. Seine „Interacciones“ stehen im Bildband „Imagine Architecture“. FOTOS: DIONISIO GONZALEZ, GESTALTEN VERLAG 2014; DARIA SCAGLIOLA & STIJN BRAKKEE,MVRDV
im Sockelgeschoss gilt hier schon als innovativ. Wie ein roter Faden zieht sich dagegen ein wilder Funktionsmix durch die Gebäude von MVRDV. Aber auch die Lust, eine Bauaufgabe neu zu durchdenken, was automatisch zu den noch nie gesehenen Formen führt, die das Büro mit heute etwa 80 Mitarbeitern weltweit bekannt gemacht haben. Bei der Markhalle stand etwa die Frage am Anfang, was das über-
haupt heute sein kann, eine Markthalle, und welche Funktionen ein solches Gebäude in sich vereinen muss, damit die Menschen es auch in Zukunft brauchen. Solch ideelle Tiefenbohrungen kosten Zeit und damit Geld. Eigentlich klar – und trotzdem ist das in Deutschland nicht vorgesehen. Hier herrscht das Motto: Die Idee gibt’s mehr oder weniger umsonst, der Ar-
chitekt verdient erst an der Ausführung. Nur etwa sechs bis zwölf Prozent ihres Gesamthonorars bekommen Architekten in der Regel für die Entwurfsphase. Doch was nichts kostet, wird auch nicht wertgeschätzt. Dabei geht es selbst bei großen Projekten wie der 175 Millionen Euro teuren Markthalle in Rotterdam im Vergleich zu den Baukosten um „Peanuts“, wie Winy Maas sagt. „Warum nicht 200 000 Euro für die erste Phase bei einem Millionenprojekt investieren?“ In Rotterdam hatte er das Glück, dass die Stadt selbst ein Experiment einforderte. Sie versucht seit Jahren, wieder mehr Bewohner in die Innenstadt zu locken. Architektur wird dabei offensiv als Werkzeug eingesetzt. Und noch etwas unterscheidet die Niederlande von Deutschland: „Unser Land ist an Vielfalt und Experimente gewöhnt“, sagt Winy Maas. Im Vergleich zum Nachbarn, wo 2015 in Berlin ein Schloss Richtfest feiert und Frankfurt einen Teil seiner Altstadt wieder aufbaut, wirkt hier die Lust an Neuem tatsächlich gewaltig. Nur warum? „Vielleicht, weil das Land so klein ist und man sich zeigen will“, sagt Maas. „Aber auch weil Bauen hier günstiger ist.“ Angst vor zu hohen Kosten, starre Baugesetze, absurde Wettbewerbsbeschränkungen – man könnte noch viele Gründe aufzählen, warum Deutschland so ganz ohne Visionen in der Architektur dasteht. Nur: Offenbar fehlt auch den Architekten selbst der Wille, für wirklich neue Ideen zu kämpfen. Man möchte ihnen laut zurufen. Nur Mut! Ihr seid viele! Wer noch Inspirationen braucht: Gerade ist im Gestalten-Verlag ein Bildband erschienen, in dem der Kurator, Künstler und Architekturkritiker Lukas Feireiss lustvoll zeigt, was Künstlern zu Architektur alles einfällt. Die Welt hat noch vieles nicht gesehen.
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