COOL DOWN | Das hat noch gefehlt
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D I E KO M F O RTFA L L E von Achim Achilles
ortschritt ist anstrengend. Die neue Pulsuhr etwa, die alle Bewegungsdaten online stellt, braucht viele Stunden Herumgedrücke, bis sie unsere seit Jahren bekannte Stammstrecke rund um den Stadtweiher für die Nachwelt aufzeichnet ‒ vielleicht. Und der Radcomputer muss rasch noch auf den Umfang des Vorderrades eingestellt werden. Leider wurde die Anleitung auf Kroatisch mitgeliefert.
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Häufig führen verm eintliche Komfortgerätschaften zum exakten Gegenteil der Bewegung: dem Stillstand. Hätte ich die Zeit, die ich je mit dem Studieren von Bedienungsanleitungen, dem Umtausch von Geräten und dem Fahnden nach Adaptern vertrödelte, in Bildung und Training investiert, wäre ich womöglich der erste Olympiasieger mit einem Nobelpreis geworden. Gutes Bewegen kommt ohne Schnickschnack zurecht. Schneeregen, Irrwege, sogar Durst kann man in unseren Breiten überleben. Es gibt den Sport ohne Profi-Plan, Rundumversicherung und atmungsaktives Rettungsseil. Komfort ist eine Mentaldroge. Zu viel davon, und der Mensch ist druff und drin in der Falle. Faszinierend, wenn Vati, Mutti und die beiden Kinder andächtig die Heckklappe ihres neuen Autos anstarren, die sich automatisch schließt. Ja, Technik ist toll. Aber das Kofferraumklappen-Syndrom beweist: Jede Bewegung verschwindet aus dem Alltag, Muskelkontraktionen gelten als Menschenrechtsverletzung. Wir nutzen den ganzen Tag über Rolltreppen und elektrische Korkenzieher, um abends im Gym die Pfunde zu verbrennen. Die Komfortfalle enttarnte sich mir früh, am Beispiel von Eierkocher und Bügelmaschine. Meine Mutter wünschte sich beides. Technische Geräte, welche die Hausarbeit be-
wältigen, rangierten im letzten Quartal des vergangenen Jahrhunderts ganz oben auf der Prestigeliste. So standen zwei Erwachsene und zwei Jungs um ein orangegelbes Plastikgerät herum, eine kleine Heizplatte mit Haube, die vier Eier mittlerer Größe löffelweich kochen würde. Stecker rein, gebanntes Starren auf den gelben Leuchtknopf. Die Leuchte verlischt. Die Sirene schnarrt. Unser Eierkocher hatte tatsächlich vier Eier gekocht – deutsche Ingenieurskunst in Vollendung. Ähnlich euphorisch nahmen wir wenig später die Bügelmaschine in unsere Familie auf. Ich schwöre: Mein Vater fotografierte, als meine Mutter den ersten Kopfkissenbezug, akkurat gefaltet, am Saum entlang zwischen die Rollen schob. Fortan verbrachte meine Mutter einsame Abende im Keller mit Tauziehen gegen die Bügelmaschine. Meine Eltern hatten ausgerechnet, wie viele Wäscheteile zu bügeln sind, damit sich der Apparat amortisiert. Etwa ein halbes Jahr später erlitten der Eierkocher und der Bügelhalbautomat dasselbe Schicksal: Sie verschwanden in den dunkelsten Ecken des Kellers, wo sie ihre Erwerber nicht täglich daran erinnerten, dass die Anschaffungskosten und tatsächliche Lebenserleichterung in einem krassen Missverhältnis standen. Aber eine weitere Lektion fürs Leben war gelernt: Nicht alles, was neu ist und einen Stecker hat, ist besser. Für digitale Hilfsprogramme gelten diese Regeln umso mehr, ob sie Trainingsrouten im Stadtpark anzeigen oder exotische Zahlen liefern, die keiner zu lesen weiß. Wahrer Luxus dagegen ist nah am Nichts: Socken, Hemd, Hose und ein paar ordentliche Laufschuhe. Und dann raus aus der Komfortfalle.
Achim Achilles, Jahrgang 1964, ist Deutschlands bekanntester Hobby-Läufer – nie erfolgreich, aber immer gut gelaunt. Er lebt verheiratet mit einer verständnisvollen Frau in Berlin, läuft aber überall, wo es wehtut. Motto des Wunderathleten und Spiegel-Online-Kolumnisten: „Qualität kommt von Qual.“ Mehr von ihm gibt es auf seiner Website www.achim-achilles.de oder in seinen Bestsellern „Achilles’ Verse“, „Achilles’ Laufberater“ und „Der Lauf-Gourmet“.
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RUNNING | 4/2014
FOTO: BEATRICE BEHRENS
Das ist Achim Achilles