REPORTAGE | Parkour im Gaza-Streifen
Für einige Augenblicke frei sein Parkour im Gaza-Streifen von Anne Kirchberg
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ie Idee, sich in ihrer von Restriktionen geprägten Heimat durch Sport etwas Freiheit zu verschaffen, kam Mohammad Al Jakhbeer und Abedallah Enshasy, als sie den Film „Ghettogangz – Die Hölle vor Paris“ sahen. Die darin gezeigten akrobatischen Sprünge und Stunts von David Belle, dem französischen Begründer der Sportart „Parkour“, begeisterten die beiden Jungen sofort.
Risiken in Kauf nehmen „Ohne zu zögern beschlossen wir, diesen Sport betreiben zu wollen“, erinnert sich Abedallah Enshasy. „Kurz darauf war für uns klar, dass
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wir Parkour lieben und dafür gerne sischen und israelischen Truppen zerRisiken in Kauf nehmen.“ Damit meint bombten Häusern – eine beängstigender heute 23-Jährige jedoch nicht nur de Kulisse, die für die jungen Palästidie bei der gefährlichen Sportart häufig nenser jedoch Alltag ist vorkommenden Verletzungen, sondern auch das Trainingsgebiet der . „PK Gaza – Gaza Parkour And Free Das Leid spüren Running“, wie sich Enshasy, Jakhbeer und ihre Anhänger kurz darauf nann- Zudem wählten die jungen Sportler ihr ten. Denn sie üben auf einem ehema- Trainingsgebiet bewusst aus. „Die Menschen vor Ort beobligen Friedhofsgeachteten am Anfang lände der früheren genau, was wir Sonjüdischen Siedlung „Wir sind eine Jugend ohne Möglichkeiten, derbares taten“, be„Gush Katif“ nahe denn unser Leben richtet Enshasy. „Desder Stadt Khan besteht aus Besatzung, halb suchten wir uns Yunis, südlich von Zerstörung und Krieg. Gegenden aus, an deGaza Stadt, umringt Der Sport hilft uns, für nen wir ungestört sein von durch den Krieg einige Zeit innezuhalten konnten. Auf dem zwischen palästinen-
und kurz sorgenfrei zu sein.“
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FOTOS: PK GAZA
Laufen bedeutet Freiheit – wie sehr das allerdings im Fall einer Gruppe Jugendlicher im Gaza-Streifen zutrifft, berührt wohl jeden, der von dieser Geschichte erfährt. Vor acht Jahren fingen dort zwei junge Männer zwischen zerbombten Häusern mit dem Parkourlaufen an und hatten nur ein Ziel: Sich wenigstens bei den spektakulären Sprüngen für einige Augenblicke frei zu fühlen.
chen nicht zu einem Werkzeug machen lassen möchten. Dazu Enshasy: „Unser Leben ist schon immer mit Politik überflutet und wir sind es leid. Wir sehen uns als Sportler und wollen diesbezüglich eine Nische in der palästinensischen Gesellschaft finden – weit weg von jeder Politik.“ Schließlich haben die jungen Menschen im Besatzungsgebiet mit genug eigenen Problemen zu kämpfen: Mehr als die Hälfte der 1,7 Millionen Bewohner des GazaStreifens sind unter 15 Jahre alt, weshalb die Jugendarbeitslosigkeit enorm hoch ist.
Erlaubnis zu reisen und in wirtschaftlicher Abhängigkeit in Bezug auf Strom, Öl, Lebensmitteln und viele weitere Güter anfühlt. „Wir sind eine Jugend ohne Möglichkeiten, denn unser Leben besteht aus Besatzung, Zerstörung und Krieg. Der Sport hilft uns, für einige Zeit innezuhalten und kurz sorgenfrei zu sein.“
Ausrüstung benötigt Jugend ohne Möglichkeiten Trotz abgeschlossener Schulausbildung kümmern sich die jungen Sportler deswegen hauptsächlich um das Einüben ihrer waghalsigen Sprünge und Rollen, die eine Mischung aus den sich ähnelnden Sportarten Parkour und Free-Running sind. Anregungen zu den gesprungenen Figuren holen sie sich bei Videos aus dem Internet – wenn das gerade einmal funktioniert und Strom vorhanden ist. Sportlich verfügen die durchweg männlichen Mitglieder von PK Gaza über eine enorme Ausdauer, weshalb jeder von ihnen täglich zum Training erscheint. „Parkour gibt uns das Gefühl der Freiheit“, sagt Enshasy und versucht zu erklären, wie sich ein Leben ohne die
Ein echtes Ziel besitzen die Gaza Freerunners nicht, sie möchten auf ihre Situation aufmerksam machen und gegen die eigene Perspektivlosigkeit ankämpfen. Denn trotz öffentlicher Aufmerksamkeit und Anerkennung für ihren Sport, fehlt es der Truppe am Nötigsten. Abedallah Enshasy stellt klar: „Uns mangelt es vor allem an Ausrüstung, wie Foto- und Filmkameras, die man hier in Gaza nicht einfach so im nächsten Geschäft kaufen kann, weshalb wir meistens mit unseren alten Handys filmen.“ Auch entsprechende Ladegeräte, Speicherkarten und Computer benötigen die Sportler genauso dringend wie Ausrüstung in Form von Sportschuhen und Trainingsbekleidung – allerdings müsste jemand diese Gegenstände per Post senden.
Friedhof fühlten wir uns äußerlich frei und verspüren Zuversicht sowie Ruhe.“ Auch zu den Hinterlassenschaften des immer noch andauernden Konflikts zwischen Israel und dem Palästinensergebiet im Gaza-Streifen haben Enshasy und seine Kameraden eine ganz eigene Beziehung. „Diese Stellen geben uns die Möglichkeit, unser Leid als ein unter Besatzung lebendes Volk zu spüren“, sagt der Mitbegründer der Parkour-Bewegung in Gaza.
Keine politische Motivation Dennoch besitzt die Ausübung ihres Sportes keinerlei politisch motivierte Hintergründe, weil sich die Jugendli-
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Grundvoraussetzung zur Präsentation Natürlich ist eine gute Ausrüstung die Grundvoraussetzung, um sportlich weiterzukommen und dadurch zu internationalen Wettkämpfen eingeladen zu werden. Nur so erhalten die jungen Palästinenser überhaupt die Chance, ins Ausland zu „Denn Wunden durch in reisen. „Wir würden unser Trümmern befindliche Land gerne Glasscherben oder öfter in Wettscharfe Eisengitter kämpfen auf gehören zum Alltag. Daneben stehen auf der der ganzen einen Seite die israeliWelt und nasche Armee und auf der türlich auch in anderen die palästinenDeutschland sischen Milizen.“ präsentieren“, erläutert Enshasy und schildert, dass bisher immerhin zwei Mitglieder zu Parkour-Veranstaltungen nach Italien eingeladen wurden.
Aufmerksamkeit internationaler Medien Außerdem haben Mohammad Al Jakhbeer und Abedallah Enshasy damit begonnen, Kinder und Jugendliche im Parkourlaufen zu trainieren. „Daraus hat sich ein Team mit insgesamt 18 Mitgliedern entwickelt“, informiert Enshasy stolz. Zudem hilft ein Über-
setzer bei den mittlerweile häufigen Medienanfragen aus aller Welt, so berichtete unter anderem die New York Times mehrfach. „Es steht außer Frage, dass diese Jungs ihren Sport sehr gut beherrschen“, bewertet New York Times-Korrespondent Stephen Farrell die sportliche Leistung der Parkourläufer in Gaza. „Als ich sie bei ihrem Training auf dem Friedhof sah, war ich schwer beeindruckt – auch über die Zähheit dieser Burschen!“
Wunden gehören dazu Denn Wunden durch in Trümmern befindliche Glasscherben oder scharfe Eisengitter gehören zum Alltag. „Daneben stehen auf der einen Seite die israelische Armee und auf der anderen die palästinensischen Milizen, das ist richtig gefährlich“, sagt Stephen Farrell besorgt. Auch er, der bereits in zahlreichen Kriegsgebieten wie dem Irak und Bagdad eingesetzt war und sogar zwei Mal entführt wurde, schätzt das Engagement der Parkourläufer als keinesfalls politisch motiviert an. „Sie sind weit von irgendetwas Politischem entfernt und das ist in dieser Umgebung eine weise Entscheidung.“
Der Gaza-Streifen
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Gaza-Stadt • bis heute kommt es immer wieder zu Selbstmordanschlägen sowie Bombenangriffen, wie Ende 2012 als Israelis und Palästinenser sich gegenseitig mit Raketen beschossen; seit dem 22.11.2012 herrscht eine vereinbarte Waffenruhe ÄGYPTE N • auch die politische Lage im Gaza-Streifen ist schwierig, da sich die zwei Palästinenser-Parteien Hamas und Fatah bekriegen • die Landesgrenzen nach Israel sowie nach Ägypten sind Sperrzonen und geschlossen • der Gaza-Streifen ist abhängig von Güterlieferungen wie Strom, Öl, Nahrungsmitteln, Baustoffen oder Konsumgütern von außen, vieles wird über die 800 Schmugglertunnel zwischen Ägypten und dem Gaza-Streifen transportiert
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• Küstengebiet am Mittelmeer zwischen Israel und Ägypten, dessen Zentrum Gaza-Stadt ist • Teil des Palästinensischen Autonomiegebiets, zu dem auch Gebiete des von Israel besetzten Westjordanlands gehören • drei Viertel der Bewohner sind palästinensische Flüchtlinge, von denen viele in Flüchtlingslagern leben • von den circa 1,7 Millionen Einwohnern sind über die Hälfte unter 15 Jahre alt, das Durchschnittsalter beträgt 17,9 Jahre, das Bevölkerungswachstum gehört zu den höchsten der Welt und 81 Prozent der Menschen leben unterhalb der Armutsgrenze • die 360 Quadratkilometer des Gaza-Streifens sind so dicht besiedelt wie vergleichsweise die deutschen Großstädte München oder Berlin • ursprünglich lebten Juden und Araber im britischen Mandatsgebiet Palästina gemeinsam, aber nach Konflikten entschied die Generalversammlung der Vereinten Nationen 1947 mit einer Zweidrittelmehrheit die Teilung in einen jüdischen und arabischen Staat • obwohl die Araber ablehnten, gründeten die Juden 1948 den Staat Israel, auch um den Überlebenden des Holocaust eine neue Heimat zu geben
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respondent aus Israel und dem GazaStreifen berichtet. Außer der Schule gibt es seiner Einschätzung nach wenig, womit sich die Jugendlichen beschäftigen können. „Der Gaza-Streifen ist für sie stinklangweilig und hier einmal ein positives Thema zu finden, fand ich erfreulich.“ Bei seinem Besuch der PK Gaza merkte er schnell, dass die Parkourläufer große Vorbilder für viele andere Jugendliche sind, wohl auch aufgrund ihrer Unerschrockenheit.
Training trotz Bomben
Mutig und sehr fit
Verbindung bringt: Mutig und sehr, sehr fit!“
Aber natürlich wollen sie wie jeder andere Athlet an Wettkämpfen außerhalb ihres Landes teilnehmen.“ Auf seiGroße Vorbilder für andere ne Berichterstattung in der New York Times folgten viele positive Reaktionen, Ähnlich begeistert ist Markus Rosch was laut Stephen Farrell im Mittleren vom ARD-Studio in Tel Aviv, der ebenfalls einen FernsehbeiOsten sehr selten trag über die außergevorkommt. „Die Poli„Richtig gefährlich war wöhnlichen Sportler tik und der Konflikt es im vergangenen drehte. „In Gaza bewerden PK Gaza November, als sie trotz steht aufgrund der immer im Weg steder Bombenangriffe das wahnsinnig hohen Gehen, aber vielleicht Free-Running betrieben burtenrate eine extreschaffen sie es ja, beihaben.“ me Jugendproblemade Hindernisse weitik, wodurch die junge terhin zu überwinden. Auf jeden Fall sind diese Jungs Gesellschaft ziemlich perspektivlos ist“, alles, was man mit Parkour-Läufern in beleuchtet Rosch, der seit 2003 als Kor-
„Richtig gefährlich war es im vergangenen November, als sie trotz der Bombenangriffe das Free-Running betrieben haben“, meint Rosch, der zu diesem Zeitpunkt zwar nicht in den Gaza-Streifen reisen durfte, jedoch Videoaufnahmen der Trainingssprünge während des Angriffs sah. Ähnlich Zuschauern fühlen sich seiner Einschätzung nach die jungen Palästinenser, wenn sie die Welt ausschließlich durch das Internet sehen können. „Eine Ausreise aus dem GazaStreifen ist lediglich über das benachbarte Ägypten möglich, aber enorm schwierig“, weiß Markus Rosch. „Und ihnen zu helfen, ist leider genauso wenig einfach.“ Für den Korrespondenten selbst bleibt nur, die Öffentlichkeit weiter auf PK Gaza aufmerksam zu machen – und zu hoffen, dass sich vielleicht der eine oder andere Unterstützer findet.
Zur PK Gaza Die Mitglieder von PK Gaza freuen sich über jede Kontaktaufnahme aus Deutschland – ob Zuschriften, die sich mit ihrer Situation beschäftigen, Hilfsangebote sowie das Zusenden von benötigtem Material wie Sportbekleidung, Laufschuhe, Film- und Fotokameras, Speicherchips und weitere technische Ausrüstung. Der Versand läuft hierbei problemlos beispielsweise über die Deutsche Post, welche eine eigene Zieldestination „Palästinensische Gebiete“ besitzt. Ko n t a k t z u P K G a z a : >> Facebook: www.facebook.com/pkmohammed.aljakhbeer.98?fref=ts >> E-Mail: mkal@live.com; Mohammad Al Jakhbeer schreibt und spricht gut Englisch >>YouTube: www.youtube.com/user/palparkour?feature=watch
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