Sportlicher Leichtigkeitswahn

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TITELSTORY | Anorexia athletica

tatsächlich zu körperlichen Beeinträchtigungen kommt.“ Im Gegenzug konnten Forschungen beweisen, dass es durch die Mangelernährung zu Veränderungen im Gehirn kommt, die kaum mehr reversibel sind.

von Edith Zuschmann

Es klingt einfach: Je geringer die Masse, desto schneller lässt sich bei gleichem Energieaufwand der Weg zurücklegen. Doch ein notorisches Zuwenig kann zur Gefahr werden: Anorexia athletica, die Essstörung unter Sportlern, stellt eine Erkrankung dar, die nicht nur im Hochleistungssport angesiedelt ist. Im Gegenteil: Immer mehr Hobbysportler, angeblich insbesondere Frauen, sind davon betroffen. RUNNING – Das Laufmagazin fragte genauer nach.

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u Beginn ist es ein großartiges Erfolgserlebnis: Die Pfunde purzeln und mit ihnen die Bestzeiten. „Diese positive Erfahrung, bei verringerter Nahrungsaufnahme bessere Leistungen erbringen zu können, kann der Anfang von Anorexia athletica sein“, weiß Prof. Dr. Karl Sudi von der Privaten Universität im Fürstentum Liechtenstein (UFL). Bereits seit 15 Jahren beschäftigt sich der promovierte und habilitierte Sportwissenschaftler mit dieser Thematik. Mit dem sportlichen Erfolg kommt gleichzeitig das Streben nach dem Mehr: noch schneller und noch leichter. Das funktioniert meist lange, doch irgendwann, ganz still und heimlich, kippt das System. Wann genau der scheinbar positive Effekt in einen

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Leistungsrückgang umschlägt, kann weder der Athlet selbst, noch der Außenstehende erkennen und vorhersehen. „Von Anorexia athletica spricht man, wenn es zu einer Entkoppelung zwischen verbesserter körperlicher Leistungsfähigkeit und geringerer Nahrungsaufnahme kommt. Dabei wird die notorische Unterversorgung mit Nährstoffen verstärkt fortgesetzt, gleichzeitig noch mehr trainiert, aber die Leistungsfähigkeit verringert sich“, erklärt Sudi. Die Grenzen zwischen Anorexia Nervosa, umgangssprachlich auch Magersucht genannt, und Anorexia athletica verschwimmen, aber sie unterscheiden sich hauptsächlich durch eine wesentliche Komponente: „Während es sich

„Es lässt sich pauschal nicht beantworten, wann genau das System kippt. Es hängt vom individuellen Metabolismus ab, aber auch von der Ausgangsbasis bei welchem Körperfettanteil der Athlet in den Sport einsteigt. Gleichzeitig gilt es, seine grundlegende Körperzusammensetzung zu begutachten“, stellt Prof. Dr. Sudi fest. Gerade bei Ausdauersportarten kommt es aufgrund des erhöhten Energiebedarfs und der dadurch stark entleerten Glykogenspeicher zu einem baldigen Leistungsabfall. Die langfristigen gesundheitlichen Auswirkungen lassen sich vorher kaum vorhersagen. Zu wenige Forschungsund Studienergebnisse liegen bis dato vor. „Wir gehen davon aus, dass es zu Osteoporose, Schwächung des Immunsystems durch den verringerten Körperfettanteil, Antriebslosigkeit, Hormonschwankungen, Entgleisungen im Elektrolythaushalt und im Stoffwechsel sowie psychischen Beeinträchtigungen kommen kann“, so der Sportwissenschaftler und fügt hinzu: „es gibt auch Vermutungen, dass es zu Veränderungen der Herzmuskelzellen und des Skelettsystems führt. Doch das alles sind unbestätigte Annahmen.“ Eines weiß man gewiss: „Der Körper kann relativ lange diesen Zustand ertragen, bis es

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Das Umfeld ist der Situation hoffnungslos ausgeliefert. „Es klingt hart, aber Familie und Freunde können nur hoffen, dass das Verhalten rasch zum Leistungsabfall führt, um dem Betroffenen die Situation bewusst machen zu können“, so der Professor. Therapeutisch sieht er als einzige Möglichkeit die Inanspruchnahme von professioneller, psychischer Betreuung. „Um erst gar nicht in die Spirale zu geraten, sollte jeder Athlet – gleich ob Amateur oder Profi – jene Lebensmittel essen, nach denen der Körper verlangt.“ In der Zusammenset◗ Prof. Dr. Karl Sudi gab uns fachkompetente zung gilt es, das geAuskunft sunde Mittelmaß zu finden. Eine nicht einfache Herausforderung, sind doch jene Sportler, die sich normal ernähren, mittlerweile in der Minderheit. Dass im Langstreckenlauf Top-Leistungen auch ohne Mangelernährung möglich sind, davon ist der erfahrene Sportwissenschaftler absolut überzeugt: „Wer im Training nie seine Grenzen ausloten kann, weil ihm die notwendigen Reserven – wie etwa Glykogen – fehlen, wird auch im Kampf um den Sieg erfolglos sein. Hinzu kommt die psychologische Komponente: Durch die Unterversorgung macht das Training keinen Spaß, alles wird zur Qual. Und wer sich nicht wohlfühlt, kann kaum Erfolg haben!“

UNIVERSITA ̈T IM FU ̈ RSTENTUM LIECHTENSTEIN

bei Magersucht vorrangig um die psychologische Komponente dreht, seinen eigenen Körper in den Griff zu bekommen, geht es bei der Essstörung von Sportlern darum, einen physikalischen Vorteil durch geringes Körpergewicht auszunützen“, stellt der Universitätsprofessor klar. Vor allem in Sportarten, wo Ästhetik und Gewicht eine große Rolle spielen, tritt sie verstärkt auf. „Wir nehmen an, dass rund 50 Prozent der Spitzenathleten davon betroffen sind. Dieser Prozentsatz gilt auch für den ambitionierten Breitensport, wobei dort die Dunkelziffer wahrscheinlich noch viel höher liegt.“

„Den klassischen Betroffenen zu skizzieren fällt schwer“, so Sudi. „Es ist ein breites Spektrum. Viele von ihnen sind sehr leistungsorientiert und stehen unter Druck, mehr leisten zu müssen als andere.“ Oft hängt es auch mit den Erwartungen des Umfeldes zusammen, die den Schritt in die Essstörung fördern können. Im Hochleistungsport lässt sich Mangelernährung meist rasch aufdecken. Hobbysportler finden kaum oder nicht so schnell aus diesem System heraus. Im Gegenteil: „Viele denken noch immer, zu wenig trainiert und zu viel gegessen zu haben, und agieren noch extremer“, erläutert Sudi. Die vorherrschende Meinung, hauptsächlich Frauen seien von dieser Essstörung betroffen, stimmt nicht. „50 Prozent sind Männer.“ Die Fälle von Anorexia athletica stiegen in den letzten Jahrzehnten stark an. Prof. Dr. Sudi sieht den Grund darin, „dass immer mehr Menschen auch im fortgeschrittenen Alter in Sportarten hineindrängen, wo die körperliche Darstellung und Leistungsfähigkeit eine große Rolle spielen. Es bedeutet für einen 40-Jährigen einen erheblichen Mehraufwand, wie ein 20-Jähriger zu performen und auszusehen.“

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