SACHEN MIT WOERTERN - Kern - 6. Ausgabe

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Zeitschrift für Literatur und Ähnliches. 6. Ausgabe, Februar 2016

SACHEN MIT WœRTERN

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Kern

Preis: 3,50 Euro


To be silent; to be alone. All the being and the doing, expansive, glittering, vocal, evaporated; and one shrunk, with a sense of solemnity, to being oneself, a wedge-shaped core of darkness, something invisible to others. (To the Lighthouse // Virginia Woolf) Illustration von Dorka Csóra

Experiment to me / Is every one I meet. / If it contain a kernel? (Experiment to me // Emily Dickinson

Hör auf, Kern. Sprich lieber ein Vaterunser. (Die jungen Eulenrieds // Felicitas Rose)

Eine Pfunddose B ohnenkerne wird im Wasserbade 20 Minuten erhitzt. (Koch-ABC der bürgerlichen Küche // Maria Ludolfs)

Fruits which that unknown orchard bore; / She suck’d until her lips were sore; / Then flung the emptied rinds away / But gather’d up one kernel stone [...] (Goblin Market // Christina Rossetti)

Damit nahm ihn der Vater behutsam vom Tische, und indem er den hölzernen Mantel in die Höhe hob, sperrte das Männlein den Mund weit, weit auf, und zeigte zwei Reihen sehr weißer spitzer Zähnchen. Marie schob auf des Vaters Geheiß eine Nuß hinein, und – knack – hatte sie der Mann zerbissen, daß die Schalen abfielen, und Marie den süßen Kern in die Hand bekam. (Nußknacker und Mäusekönig // E.T.A. Hoffmann)


Sachen mit WĹ“rtern Kern


entkernt

Liebe Leserinnen und Leser, wer vom Kern spricht, ist schnell bei großen (und beunruhigenden) Begriffen wie Essenz, Sinn, Seele. Man denke hier nur an das Pathos in Fausts berühmtem Ausruf: „Daß ich erkenne, was die Welt / Im Innersten zusammenhält, / Schau alle Wirkenskraft und Samen, / Und tu nicht mehr in Worten kramen.“ Hier wird Sprache auf der Seite von Oberfläche, Form und Äußerlichkeit verortet, die gegenüber dem „Innersten“ irgendwie weniger wertvoll erscheinen. Während Goethe den Kern zwar von der Sprache unterscheidet, seine generelle Existenz aber nicht infrage stellt, sieht es aus der Perspektive der Postmoderne ganz anders aus: In einer Welt, in der alles Text, alles Sprache ist, scheinen Essenzen keinen Platz mehr zu haben. Wenn es einmal als Aufgabe der Literatur betrachtet worden sein mag, zum Kern der Dinge vorzudringen, die Nuss zu knacken, hat man heute eher den Eindruck, dass da nie einer war. Bezeichnenderweise wird das Wort Kern selbst auf Wurzeln wie morsch werden, altern und zerreiben, also gewissermaßen sein eigenes Verschwinden zurückgeführt. Somit ist es vielleicht weniger das, was im Inneren übrig bleibt, wenn die schützende Hülle zerstört worden ist, als vielmehr die allem innewohnende Vergänglichkeit, Wandelbarkeit, auf deren Suche wir uns mit dieser Ausgabe begeben. Dass ein solches Zerfallen durchaus ein produktiver Prozess sein kann, zeigt die assoziative Verwandtschaft zum Keim, der aufbricht, um zu wachsen und zu wuchern, so wie sich auch dieses immerhin sechzig Seiten starke Heft aus einem einzigen Wort entwickelt hat. Hier können wir uns auch an die berühmte Passage aus Joseph Conrads Heart of Darkness anschließen – „the meaning of an episode was not inside like a kernel but outside, enveloping the tale which brought it out only as a glow brings out a haze“, die kurzerhand die Form, nämlich Sachen mit und aus Wörtern, in den Mittelpunkt stellt. Das Ausbeißen der Zähne erübrigt sich dabei, was aber nicht bedeuten muss, dass nach dem Genuss nicht etwas zurückbleibt (das hoffentlich nicht ausgespuckt wird). In diesem Sinne wünschen wir eine angenehme Lektüre! Die Redaktion Das Thema der nächsten Ausgabe ist Spur! Schickt uns eure Beiträge bis zum 30.04.2016 an sachenmitwoertern@mail.de. Ihr findet uns auch unter fb.com/sachenmitwoertern, auf sachenmitwoertern.com sowie als Online-Ausgabe unter issuu.com/sachenmitwoertern.

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Inhaltsverzeichnis

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* // Carla Hegerl

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Plunder // Jonis Hartmann

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vokalgeschrei // Matthias Weglage

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Ein Jungtier (Mama) // Saskia Trebing

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entkern mich doch // Magda Kotek Kern // Magda Kotek

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Kerne, Perlen // Pega Mund

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Das ewige Leben // Mikael Vogel Zukunftszoologie // Mikael Vogel

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Das letzte Klopfen (Eine sentimentale Geschichte) // Rudolf Nuss

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Nicht die Bohne // Miku Sophie Kühmel

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Hardcore Soft Skills. Eine Grafik von Leslie Büttel

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Dinge mit Wucherungen. Márió Z. Nemes über die Pluralität von Kernen, Übersetzungen und Identitäten

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STILLE, AUSZIEHBAR // Simone Scharbert

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CSEND, KIHÚZHATÓ // Übersetzung von STILLE, AUSZIEHBAR ins Ungarische von Zoltán Lesi

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Obstentkernung // Sören Maahs

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Herz des Hühnergotts // Bernd Lüttgerding

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Geliebte Ratte // Marina Büttner wir pflanzen // Marina Büttner

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Infiernillo (Auszug) // Valentin Moritz

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WARUM? // Clemens Schittko

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CyberschlafStörung // Martin Piekar

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Quelle: Internet

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3 x 100 Wörter zum Thema

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Carla Hegerl

* diese apfelhaut ist eine glutenfreie galaxis. eine spiralförmige null-hypothese oder anderer abglanz von geist, z.b. ein p-wert. verträglich ist sie nur bei regenwetter oder bei weiter fortgeschrittenem alter der milchstraße, denn man muss sich ihren ursprung sehr klein und schwarz vorstellen, man muss ihn verstehen als keimbares manifest dunkler materie, als wurmloch: vergleichbar mit ursuppe und/oder mandelaroma: ein kern auf elliptischen bahnen. das fruchtfleisch entfernt sich.

Carla Hegerl, geboren 1990, hat in München und Schweden Biologie studiert und ist seit 2014 in Berlin Publizistikstudentin. Sie schreibt und klebt Lyrik und veröffentlicht nebenbei gelegentlich journalistische Arbeiten. 2014/15 hat sie an der Schreibwerkstatt open poems teilgenommen.

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Jonis Hartmann Plunder Ich stand beim Bäcker an. Daheim verlangten die Kinder nach süßem Gebäck, während meine Frau versuchte, sie zu beschwichtigen, sich aber selbst nichts sehnlicher wünschte als Gebäck auf unserem Tisch. Ich war schon vor dem Wecker aufgewacht, sogar vor den Kindern. Denn diesmal war die Reihe an mir, den Tisch in eine Frühstückstafel zu verwandeln. Aber die Leute vor mir konnten sich nicht entscheiden. Mein Handy vibrierte in der Tasche. Meine Frau, jammernd. Dazu im Hintergrund unser Jüngster. Und unsere Standuhr am Schlagen. Natürlich ging ich nicht ans Telefon, denn was sollte ich machen? Ich stand an. Das war keine Sünde. Nicht meine Schuld, wenn die Leute sich nicht entscheiden konnten, ob sie lieber Goldjungen oder Weltmeister oder Krasse Krosser oder lieber mit der Entscheidung noch bis morgen warten wollten. Nicht meine Schuld. Das ist die Standard-SMS an meine Frau. Und übrigens nicht nur an sie: Meine Sekretärin an der Uni bekommt ungefähr drei Stück pro Woche. Immer passiert etwas Unerwartetes, für das mich keine Schuld trifft. Zum Beispiel mein Freund Gerri in Schwierigkeiten beim Schlussverkauf. Oder Gerri in Schwierigkeiten beim Golfen. Man kann das nicht vorhersehen. Ich verschickte also eine weitere Standard-SMS, worauf mein Handy allerdings nicht aufhörte zu vibrieren. Nein, natürlich nicht. Jetzt ging es erst richtig los! Aber ich schaltete es aus und las stattdessen in der aktuellen Ausgabe unserer Regionalzeitung. Schließlich kam die Reihe tatsächlich an mich. Ich lächelte und ließ mir Zeit bei der Auswahl, denn ehrlich gesagt ist das ja auch gar nicht so einfach. Gut, dass ich das Handy ausgemacht hatte. Dann aber, als ich endlich die prallgefüllten Tüten über den Häuptern meiner Familie ausschüttete, kehrte Harmonie ein. Kirschplunder, Amerikaner, Nuss-Schnecken, Striezel und Quarkfächer zauberten Wohlgefühl an unsere Tafel. Die Kinder waren glücklich, meine Frau war glücklich, ich war glücklich, sogar unsere Schlafkatze war glücklich, beschäftigte sich mit den Rosinen, die die Kinder ihr zuwarfen, schoss durch die Wohnung, rutschte auf dem Parkett aus und schlief dann wieder ein. Es war so friedlich bei uns, dass ich mir Vorwürfe machte, am Vortag mit Nervosität zu Bett gegangen zu sein. Obwohl ich doch nachweislich jeden Sonntag das schönste Frühstück der Welt einnehmen durfte. Wer sonst kann das von sich sagen? Meine Familie tummelte sich inzwischen selig auf der Wohnzimmercouch und spielte miteinander. Ich langte nach einem übrig gebliebenen Kirschplunder und biss hinein. Da spürte ich etwas Seltsames an meinen Lippen, ganz und gar nicht kirschig. Die Brauen zusammenkneifend, griff ich hinter vorgehaltener Hand in meinen Mund, worauf ich, bis heute für mich schwierig zu verstehen, eine runzlige Nase daraus hervorzog. 8


Sie nieste und zog dann hoch, offensichtlich war sie erkältet. Dann sagte sie „Zdravsvujte spasiba!“ und noch andere russische Satzfetzen. Sie bat mich um ein Taschentuch und schnäuzte sich. Bis dahin wusste ich gar nicht, dass ich Russisch verstehen konnte, schon gar nicht ein derart nasal vorgetragenes. „Sind Sie die Nase?“, stieß ich schließlich hervor, das Ding da in meiner Hand anstarrend. Alberne Frage. „Da“, antwortete sie. Dann folgte ein unglaublicher Redeschwall, von dem ich höchstens die Hälfte mitbekam und meine Familie gar nichts, weil ich die Nase in meiner Hand verborgen hielt. Die Nase erläuterte mir, dass sie sich seit geraumer Zeit, genau genommen ihre ganze Familie seit Generationen, auf Reisen befinde und einst auch bei einem gewissen Nikolaj G. in Petersburg vorbeigekommen sei, der eine große Reportage über ihren Ur-Ur-Urgroßvater verfasst habe, was schon Hunderte Jahre zurückliege, und ob ich ihr zwei Gefallen tun könne, nämlich sie zum einen ein Posting für ihren Weblog von meinem PC aus schreiben lassen und sie zum anderen in einen neuen Brotlaib schmuggeln, und zwar, falls es mir nichts ausmache, in einen Brotlaib, der mit einem Transporter auf dem Weg nach Süden sei, denn sie wolle unbedingt eine Verwandte in Frankfurt besuchen, die sich dort zur Zeit in einem Käsebaguette aufhalte und die sie schon lange nicht mehr gesehen habe. „Ja gerne“, sagte etwas in mir. Wie die Stimme aus einem Ticketautomaten. Die Nase jubelte und sagte „Davai!“, und ich erhob mich ungeschickt. Mein stehendes Lächeln brachte meine Familie durcheinander, zumal es nicht ihnen galt, und auch das anschließende ständige Niesen aus meinem Arbeitszimmer, in das ich mich mit der Nase zurückzog, sorgte für Irritationen. Ihr Weblog war ausführlich formuliert, um nicht zu sagen umständlich. Es dauerte geraume Zeit, bis die Nase fertig war. Meiner Familie empfahl ich zwischendurch, das Freibad aufzusuchen und sich um mich keine Gedanken zu machen, denn wie sie wüssten, lägen da ja noch ein paar Literatur-Klausuren zur Durchsicht. Sie ließen sich überzeugen. Dann machte ich einen langen Spaziergang, der mich auch bei meinem Freund Gerri vorbeiführte, den ich aber mit dieser Angelegenheit letztlich doch nicht behelligen wollte, und der damit endete, dass ich einem stotternd anfahrenden Lkw lange nachwinkte. Seitdem esse ich morgens viel Müsli, aber in Sicherheit fühle ich mich nicht. Jonis Hartmann ist Autor und Architekt in Hamburg. Studium in Weimar, Kassel und Rom mit Promotion. Letzte Veröffentlichungen: Romanino (2011) und Mondo Kranko (2013), beide bei Chaotic Revelry, Köln. Hamburger Förderpreis für Literatur 2014 für Texte aus Trilogie. Miniaturen, Midiaturen, Maxiaturen. jonishartmann.de 9


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Matthias Weglage

vokalgeschrei zwischen kantigen möbeln, der verschlafene raum öffnet sich am abend wieder, eine landschaft schreiender babies, die bibliothek, der milchvater leckt die brut und genießt das glückliche auflachen der kleinen, rasende vokalandacht, gepresst zwischen papier und lügen, ein fluch die freude, die welt auf dem kopf stehn zu sehn

Matthias Weglage, geboren und aufgewachsen in Berlin, lebt abwechselnd aus Überzeugung in der Uckermark und Berlin. Studierte Philosophie, alte Sprachen und neuere deutsche Literatur. Hat in Tageszeitungen (u. a. Märkische Allgemeine), Zeitschriften wie Podium und Kaskaden sowie Anthologien Kurzgeschichten, Prosa und Gedichte veröffentlicht. Organisiert zur Zeit Lesungen an der Neuköllner Lesebühne. Schreibt an seinem ersten Roman Land des Schweigens.

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Clemens Saskia Trebing Franke

Ein Jungtier (Mama) Du sagst Benny, dass er einen Stein suchen soll. Einen spitzen am besten. Groß. Aber nicht so groß, dass er zwei Hände zum Tragen braucht. Das wäre immerhin eine Aufgabe. Benny mag Aufgaben. Benny ist ein Kind, das gern gelobt wird. Benny will seine Sache gut machen. Aber nicht jetzt. Jetzt liegt Benny auf den Knien und heult. Er krümmt sich über dem Haufen Gewebe am Straßenrand und brüllt, als hätte man ihn angefahren und nicht die Fellruine vor ihm. „Mama!“, brüllt er mit Steinerweichstimme. Dabei zieht er zwei Liter Rotz die kleine Nase hoch. Er weiß, wie sehr du das hasst. Aber er weiß nicht, wie sehr du dieses „Mama“ hasst. Immer dasselbe, immer die Mama. Als könnte sie was ausrichten, auch wenn sie gerade irgendwo in Kreuzberg ihren neuen Freund besteigt. „Hey, Benny“, sagst du leise. „Es ist das Beste, verstehst du? Wollen wir zusammen einen Stein suchen?“ Aber das macht es nur schlimmer. „Nein“, heult Benny und klammert sich an deinem Bein fest. „Das darfst du nicht. Du darfst ihn nicht totmachen.“ Seine Fingernägel bohren sich durch die Jeans in dein Bein. Du schüttelst seinen kleinen Körper ab. „Aua“, sagst du. So laut und bestimmt, wie es die Hornbrillendame empfohlen hat. „Du tust mir weh.“ Benny lässt los und schluchzt weiter. Im taunassen Gras des Seitenstreifens sitzt er jetzt mitten auf dem Hosenboden. Aber es hilft ja nichts. Der Fuchs ist hin, da ist nichts mehr zu machen. Die Hinterbeine kleben wie ausgerollt auf dem Asphalt, aus dem aufgeplatzten Leib quellen lilaschmierige Organe. Das Gruseligste ist, dass er noch atmet. Flaches, panisches Luftschnappen, ein dünnes Rinnsal Blut aus dem spitzen Maul. Alle paar Sekunden läuft ein Zittern durch den zerquetschten Körper. Der Fuchs kommt dir klein vor. Kein Baby, aber vielleicht ein Jungtier. Vielleicht geht das ohne Stein noch Stunden so. Ihr seid schon so tief im Wald, dass ihr allein seid. Nur das Auto sagt euch mit regelmäßigen Plings, dass der Schlüssel steckt. Das Auto, das alles kann und alles allein macht. Nur einem Fuchs ausweichen, der aus dem Nichts auftaucht, das kann es nicht. Und einem Kind so was ersparen, das kann es auch nicht.

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Aus dem Radio weht das Beste der 80er herüber. „Hör mal, Benny, dein Lieblingslied.“ Aber Benny spielt Schmerzensmann im Straßengraben. Du hockst dich neben ihn. „Ich verstehe, dass du traurig bist“, sagst du. Auch das hat die Hornbrillendame geraten. Er lässt sich jetzt eine Hand auf die Schulter legen. „Aber er wird das nicht überleben.“ Du musst fast lachen, als du das sagst und sich dein Sohn die Nase an deinem Poloshirt abwischt. Dasselbe haben sie damals über Benny gesagt. Ein blutiges Bündel mit Nadel im Arm. Ein Kopf kaum größer als ein Tennisball. Nicole war so schwach, dass sie ihn nicht sehen durfte. Ein Tupfen Rot gegen das ganze Weiß. Alles zu still, nur der Herzschlag auf dem Monitor. Alles zu groß, bis ihm jemand eine Puppenwindel anzog. Ein Wunder, haben die Ärzte damals gesagt. Ein Wunder, sagt Nicole, dass Benny überhaupt noch zu dir will. Aber Benny ist nicht nachtragend. Das versteht sie nicht. Das versteht nur ihr. Er wollte unbedingt baden gehen heute. Zum See im Wald, der höchstens eine Pfütze ist. Aber ihr habt ihn zusammen gefunden. Letzten Sommer war das, als du noch nicht fragen musstest, ob Benny Zeit hat. Nicole auf der Türschwelle übergibt widerwillig Kind und Strandtasche. Wenigstens ein Kuss auf die Wange, da bricht sie sich nichts ab. Aber sie schaut nur Benny an. „Macht keinen Blödsinn.“ Nur halb im Scherz. Was kannst du für diesen Scheißfuchs, der sich unbedingt vor dein Auto werfen muss? Langsam geht dir das Geheule auf die Nerven. Du richtest dich auf und läufst ein paar Schritte im Kreis. Benny ist ein Kind, das gern „vernünftig“ genannt wird und „tapfer“. Aber er lässt sich hinreißen. Keine Ahnung, woher dieses Gejammer kommt. Das bist nicht du und Nicole ist das auch nicht. Sie haben euch immer gesagt, dass ihr Geduld haben müsst. Dass bei diesen Kindern alles ein bisschen länger dauern kann. „Jetzt reiß dich mal zusammen“, sagst du. Das hier hat nichts mit Geduld zu tun. Bennys Körper strafft sich. Er hockt nun gerade und mit gerecktem Hals über dem Restfuchs. Mit dem Pulliärmel wischt er sich die Tränen ab. „Guck mal“, sagt er mit neuer Stimme. „Ich seh’ sein Herz.“ Du willst nicht mehr hingucken. Aber du richtest den Blick auf den röchelnden Körper. Zuerst ist da nur Fell und Glibber. Aber Benny hat recht. In der Mitte pulsiert was. Das Loch im Bauch gibt den Blick frei auf ein nussgroßes Herz. Einen rasenden, blutigen Kern, der noch nicht aufgegeben hat. Dir wird schlecht. „Das ist gut, oder?“, fragt Benny. „Wenn das Herz klopft, läuft das Blut.“ Du willst ihn fragen, woher er das weiß. Immer, wenn ihr euch seht,

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weiß er was Neues. Er ekelt sich nicht. In seinem Blick nichts als Mitleid und Forscherinteresse in Miniatur. Plötzlich willst du nur noch, dass dieses Scheißvieh überlebt. Du siehst dich die Hinterläufe vom Asphalt kratzen, die Organe in deinem Pullover tragen. Jedes einzeln, wenn es sein muss. Heutzutage transplantieren sie Köpfe und Herzen. Im Fernsehen gibt es Hunde mit Rädern statt Beinen. „Ja“, sagst du. „Ein ziemlich zäher Kerl.“ Benny patscht dir seine Hand aufs Bein. „Können wir ihn gesund pflegen?“ Die Narbe auf seinem Unterarm verheilt zu langsam. Ein lilawulstiger Strich zwischen zwei Reihen Punkten, genau an der Stelle, wo sie seinen kleinen Knochen zusammengenagelt haben. Im Krankenhaus haben sie ihn „tapfer“ genannt. Sie haben ihn gegipst und verhätschelt. Dich haben sie misstrauisch beäugt. Ein Kaffee in Plastik aus dem Automaten und bitte warten Sie dahinten. Natürlich war es ein Versehen. Natürlich willst du ihm niemals wehtun. Das weißt du, das weiß er. Festhalten vielleicht, wenn er weglaufen will. Aber niemals willst du ihm wehtun. Bei diesen Kindern sind die Knochen zu weich. Seit dem Krankenhaus will Benny Arzt werden. „Wir könnten ihn mit nach Hause nehmen“, sagt er. Mit einem Finger berührt er den Fuchs an der Schnauze. Der Atem geht jetzt noch flacher, die Augen schließen sich zu schmalen Schlitzen. Du willst ihn nicht fragen, wen er mit zu Hause meint. „Nein, Benny“, sagst du. „Das können wir nicht.“ Ihr schaut euren Fuchs einen Moment lang schweigend an. Benny legt den Kopf gegen deine Brust. Vogelgezwitscher, Röcheln und das Autopling. „Okay“, sagt er schließlich. Er löst sich aus deinem Arm und beugt sich über die Fuchsschnauze. Haucht einen Fastkuss auf den seltsam unversehrten Kopf. Du denkst: Tollwut, hältst aber die Klappe. Der Kloß im Hals ist zu groß zum Sprechen. Benny schaut dich an und du klappst nur debil den Mund auf. Er guckt besorgt. Dann dreht er sich um und verschwindet aus deinem Blickfeld. „Nicht zu weit weg“, sagst du leise. Wegen Benny bist du gestern früher nach Hause. Aber vielleicht nicht früh genug. Am liebsten würdest du dich neben dem Fuchs auf der Fahrbahn ausstrecken. Du bleibst hocken und schließt die Augen. Durch die Vögel und den Wind kommt Motorensummen. Dann schießt ein Auto um die Kurve und rauscht viel zu schnell an dir vorbei. Der Luftzug wirft dich beinahe um. Erschrocken drehst du dich nach Benny um und siehst ihn nicht. Du springst auf, Panik im ganzen Körper, aber dann tippt er dich von der Seite an. Er streckt dir einen Stein entgegen. Groß, aber nicht zu groß, spitz

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und glatt. „Hier“, sagt er. „Ist der gut?“ Du stößt langsam die Luft aus. Du nimmst ihm den Stein ab. „Ja“, sagst du, „der ist gut.“ Der Atem des Fuchses wird langsamer, irgendwie friedlicher, aber das kann ja nicht sein. „Geh ins Auto“, sagst du. Benny schüttelt den Kopf. „Ich will bei ihm bleiben.“ „Du wartest im Auto“, sagst du. Lauter jetzt, aber Benny hat sich wieder neben den Fuchs gesetzt. „Sofort“, sagst du. Benny sitzt da. „Ich bleibe bei ihm.“ „Nein.“ „Ich will bei euch bleiben.“ „Nein.“ Das letzte „Nein“ ist geschrien. Benny zuckt zusammen. Du greifst nach seinem Arm. Zerrst ihn hoch. Du ziehst ihn in Richtung Auto. Er schreit auf. Bist du wahnsinnig? Das ist der kaputte Arm. Du trägst das zappelnde Riesenbaby auf den Rücksitz. Schlägst die Tür zu. Benny brüllt und haut gegen die Fensterscheibe. „Mama!“, schreit er von drinnen. Du stehst vor deinem Auto und dein Herz klopft so schnell, dass es wehtut. Die Welle aus Wut und Scham rollt heran. Du kennst sie schon. Du kannst sie nur abwarten. Weil du dich nicht bewegen kannst. Ihr seht euch an, er drinnen, du draußen. Eine Pause zwischen zwei „Mamas“. Vielleicht zwei Sekunden. Vielleicht zweihundert. Dann zückst du das Handy und rufst Nicole an. Sie braucht nie länger als zehn Minuten. Sie nimmt ihr verheultes Kind auf den Arm und dich überhaupt nicht wahr. Du willst sie festhalten, damit sie dich ansieht. „Er ist mir einfach vors Auto gelaufen“, sagst du. „Wir fahren jetzt nach Hause“, sagt Nicole in Bennys Haare. Benny winkt. Ihr Auto verschwindet um die Kurve. Du hast immer noch den Stein in der Hand. Du kniest dich neben den Fuchs, der nur noch unmerklich atmet. Du hebst den Stein und drückst ihn gegen deine Schläfe. Er ist kühl und feucht und riecht nach Erde. „Tut mir leid“, flüsterst du. Und schlägst zu. Saskia Trebing, geboren 1987 in Bad Hersfeld, erlernte das Schreibhandwerk als Redakteurin der Hessischen Niedersächsischen Allgemeinen (HNA) in Kassel. Seit 2010 lebt sie in Berlin. Für ihr Masterstudium der Literatur- und Kunstwissenschaft an der Universität Potsdam liest Saskia gerade hauptberuflich Bücher in überfüllten Regionalzügen. Ihre eigenen Texte landen durch unterschiedliche Verkehrsmittel auf Berliner Lesebühnen. Zusammen mit Tilman Winterling betreibt sie seit 2014 die Online-Plattform 54stories. Im März 2015 gewann sie den zweiten Preis beim Literaturpreis Prenzlauer Berg.

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Magda Kotek

entkern mich doch sonst findest du am Ende noch Außen was Schönes.

KERN heißt mein Nachbar bzw. die Klingel ihn hab ich noch nie gesehen da steht nur schwarz auf weiß rechteckig eingegrenzt KERN

Magda Kotek lebt gerade in Leipzig. Hat zuletzt in Berlin studiert, arbeitet zwischen den Sprachen und als Journalistin.

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Pega Mund

Kerne, Perlen Hamza ist der Jüngste in der Familie. Die drei großen Brüder können alles besser als er. Die drei großen Brüder trinken scharfe, bunte Sachen. Sie wissen, wie man sich Geld kauft. Hamza weiß, dass sie alle drei zusammen nur eine einzige Seele haben. Die ist hinters Schuhregal gefallen und stinkt. Niemand kümmert sich. Hamza wirft Sonnenblumenkerne hinters Schuhregal, heimlich, ein, zwei Kerne alle paar Tage, damit die Seele der drei großen Brüder nicht hungert. Hamza weiß, dass eine Seele fast nichts braucht, um über die Runden zu kommen. Seine eigene wohnt zwischen 49 bunten Zuckerperlen in einem kleinen Fläschchen, das Hamza unter der Schlafmatte versteckt. Vor dem Einschlafen zählt er die Perlen. Im Traum sieht Hamza, wie seine Seele mit winziger Zunge an einer roten Zuckerperle leckt.

Pega Mund. Studium der Psychologie, Germanistik, Kunstgeschichte an der LMU München. Arbeitet als Diplompsychologin im heilpädagogisch-therapeutischen Bereich. Lebt bei München. Schreibt Lyrik, kurze Prosa. Seit Herbst 2014 Beiträge in Zeitschriften, Anthologien, auf Online-Portalen, u. a.: Der Greif, außer.dem, Am Erker, Der Maulkorb, Prolog, Cognac & Biskotten, Frohmann-Verlag, Fixpoetry, ...

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Mikael Vogel

Das ewige Leben Die ersten unsterblichen Zellen eines Menschen Wurden 1951 in Baltimore während einer Krebsoperation Der Patientin Henrietta Lacks ohne ihr Wissen und Einverständnis Als Gewebeprobe vom Karzinom an ihrem Muttermund entnommen: In einer Nährlösung aus Hühnerblut, kleingehacktem Kuhfötus, menschlichem Nabelblut Teilten die krebsmutierten Zellen sich im Labor endlos weiter.. hatten den einProgrammierten Zelltod verloren ohne daß ihr Wildwuchs ihren Lebensraum zerstörte. Unter dem Namen HeLa wird diese permanente Zellinie heute noch in Die Forschung verkauft. 239 Tage nachdem ihre Zellen außerhalb ihres Körpers zu Existieren begonnen hatten starb Henrietta Lacks im Alter von 31 Jahren. Die Zellen Sind so zahlreich vermehrt worden daß ihre Gesamtmasse Henriettas eigene Körpermasse Mehrere hundert Male übersteigt

Zukunftszoologie Nach dem Tod des letzten Po‘o-uli In einem Käfig, allein (Mißlungen der späte Plan die letzten drei In Gefangenschaft zum Brüten zu überreden: Nur er War noch ins Netz geflogen) Die Leiche sofort per FedEx ins Labor geschickt Wurden ihm Zellen entnommen, kultiviert, bei -168 °C in Flüssigstickstoff eingefroren um in ihrem Nukleus Seine DNA zu konservieren. Sie lagern in großen Tanks, mit den Zellen Achttausend weiterer Tiere, sechshundert verschiedener Arten und Unterarten Unendlich lange lagerbar Im San Diego Zoo in einem Raum mit dem Namen Tiefgefrorener Zoo

Mikael Vogel, 1975 geboren, lebt in Berlin. Vier Gedichtbände.

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Rudolf Nuss Das letzte Klopfen (Eine sentimentale Geschichte) [o] Die Stadt ist voll und dunkel; einzig und allein die weiße Oberfläche des Archivs von Astraxan scheint beleuchtet zu sein. In den unendlichen Gängen des kilometertiefen Archivs – welches von allen nur Das Gedächtnis genannt wird – stopft ein Tierpräparator ein Dodoreplikat aus. Jahrelang hatte er (namens Lamett) sich Taxon für Taxon einverleibt, jeden Artenbaum, Abzweigung für Abzweigung auswendig gelernt, drei Vogelarten entdeckte er, und jetzt näht er tote Vogelärsche zu. Lamett kann sich nicht genau erinnern, wie er in den Archiven gelandet ist, doch kann er sich immer wieder für die präparierten Kadaver begeistern, gefiederte Momente der Ordnung. Mit einem leichten Lächeln betrachtet er den Dodo, den er formvollendet und gut beleuchtet in eine Vitrine positioniert. Das Archivieren ist ein unaufhörlicher Prozess und eine ehrenvolle Aufgabe. Anstatt in die Kantine zu gehen, setzt Lamett sich gerne zwischen die halbsynthetisierten Lavendelbouquets und die Vogelpräparate seiner Archiv-Gärten und streichelt seine speziell präparierte Beruhigungsmango vom Typ Blossom_5. Niemand hätte geglaubt, wie einfach die Lösung war: Die Mangorepliken waren ein Durchbruch für die Obstindustrie, ein Verlust für die Pharmaindustrie. Ihre Form und Oberflächenbeschaffenheit haben eine vollkommen beruhigende Wirkung auf jeden, vor allem auf jeden mit Angststörungen. Es schossen Läden aus dem Erdboden, die Mangos in verschiedensten Farben und Größen verkauften, auch individualisierbar, mit niedlichen Zeichnungen von Tieren oder sonstigen Kreaturen, aber immer mit dem originalen Aufkleber und dem Slogan [pet away the stress]. Das Streicheln der Mango ist wie ein Nullpunkt der Psyche. Lamett betrachtet seinen Dodo. Gerne wäre er auch gefiedert, fett, ungelenk und von einer höheren Spezies ausgestopft und exponiert worden. Das Leben wäre so einfach. [o] Irgendwo und irgendwann erwacht Basilé, die einzige Überlebende der Kryostase, nach Jahrhunderten in einer der letzten Salve_Regina-Einheiten, die kurz vor der totalen Verseuchung der Erde in den Kosmos entsandt wurden, in der Hoffnung, die Raumschiffe könnten das Genom der Menschheit retten. Ihre Mission ist das Finden des Nexus, der absoluten Verbindung von allem Leben im Kosmos, um dort die Gensegmente einzuspeisen und die Menschheit unsterblich zu machen, denn nur dort können Informationen auf ewig gespeichert werden – ohne Verfall und Tod. 22


Die restliche Besatzung wurde durch einen KI-Fehler in den Kryokapseln aufgelöst; ein rosa Schaum tritt aus den Rillen ihrer Kammern und schwebt durch das Schlafquartier; Basilé kannte die übrige Besatzung nicht, hofft aber, sie hatten noch schöne Träume gehabt. Einsam tastet sich Basilé durch die Gänge des kugelförmigen Schiffs. In Fächern findet sie Konserven mit konzentriertem Bohnenpüree und Invertzuckercreme. Nur etwas zu trinken findet sie nicht. Von Schaum umhüllt isst sie beides und starrt durch die Glaskuppel in die unendlichen Weiten des Kosmos. [o] Als Lamett beim Streicheln der Mango eine raue Stelle betastet, fällt ihm auf, dass er schon sehr lange nicht mehr in der Kantine war. Oder außerhalb seiner Gärten. Er beschließt, hinaus zu gehen. [o] Lamett hat sich schon vor Wochen im Archiv verlaufen; er kann sich kaum erinnern, weswegen er all diese Vögel präpariert hat, die ihn zu Tausenden zwischen dem Lavendel anstarren. Mit ängstlichem Blick läuft er durch die unendlichen Weiten der Gärten, bis er an einen kathedralenartigen Bau tritt, von Flora durchdrungen und eingewachsen. Im Bau stehen Bücherregale und verstaubte Computerterminals. Eine Person in einem Rollstuhl nähert sich Lamett und stellt sich als Anipole vor. Sie trägt eine Augenklappe, die ihr linkes Auge verdeckt. Für Lamett sieht sie sehr alt aus. Anipole erzählt Lamett von ihrer Arbeit im Archiv, sie erzählt ihm von dem paraguayischen Kompositeur Agustín Barrios Mangoré, einer der ersten großen Gitarrenlegenden Südamerikas mit einem wahrlich imposanten Schnauzbart, einem Virtuosen, der zum Mythos wurde. Aufgeregt zeigt sie ihm ein Foto von ihm: „Siehst du, wie edel der Herr Barrios ausschaut?“ Sie erzählt Lamett auch von ihrem Lieblingsstück, seinem finalen. [o] „In einer stürmischen Nacht 1944, voller Donner und peitschender Zweige, hörte Agustín Barrios Mangoré ein Klopfen an der Tür. Er unterbrach sein Spiel, legte 23


die Gitarre zur Seite und lauschte angestrengt – es dauerte nicht lange, da hörte er wieder das Klopfen. In großen Abständen, aber mit großer Entschlusskraft schlug dort jemand an die Tür. Das Klopfen hallte durch Barrios’ Anwesen und das Erdreich – ein Klang astraler Ausbreitungsweite. Barrios war aus für ihn nicht fassbaren Gründen starr vor Schreck an seinen Sessel gebunden und es klopfte immer wieder, für mehrere Minuten. Doch das Klopfen brach so plötzlich ab, wie es begonnen hatte, und in der Ferne war wieder das Gewitter zu vernehmen. Am nächsten Tag fand man eine alte, obdachlose Frau tot vor seinem Anwesen auf. Er sagte sich, er würde das Klopfen der alten Frau festhalten, er würde es in einem Stück einfangen, es dort hörbar machen für jeden Menschen. In der Zeit darauf schrieb er das Stück El Ultimo Tremolo, ‚Das letzte Beben‘. Es blieb sein letztes Stück, wenig später verstarb auch er. Seitdem hallt das Klopfen dieser alten Frau in jedem Gitarrenkorpus, über dessen Saiten die Noten von El Ultimo Tremolo angeschlagen werden.“ [o] Die rosafarbenden Überreste der Besatzung bilden nun eine Kruste auf Basilés Pyjama und die Lampen im gesamten Schiffsraum flimmern subtil, schmerzen in Basilés Augen. Es vergeht viel Zeit, auch wenn Basilé jegliches Zeitempfinden verliert. Meist lässt sie sich mit geschlossenen Augen durch die Räume treiben. Die wenigen Wassertropfen, die ab und zu aus der Duschkabine schweben, und das Bohnenpüree reichen gerade aus, um zu überleben, aber Basilé hat unglaublichen Durst. Sie wühlt sich durch alle Regale an Bord und findet einige technische Apparaturen und auch ein Paket mit Mangos, deren Form sie aus unerfindlichen Gründen beruhigt. Und sie findet eine gesicherte Box, auf der vermerkt ist: [2500 Variationen menschl. Gensequenz] Basilé öffnet die Box und betrachtet Dutzende Ampullen mit zartblauer Flüssigkeit. Sie nimmt eine heraus und wiegt sie in ihren Händen. Nach einiger Überlegung öffnet sie sie und trinkt den Inhalt. Es dauert nicht lange und Basilé hat das gesamte Genom getrunken. [o] Lamett sitzt neben Anipole auf der Erde und hört ihr gut zu; sie erzählt von all den Fotos, die sie in den Bücherregalen gefunden hat. „Ich wusste nicht mehr, was ich erforschen könnte, gefangen hier unten.“ Sie zeigt nach oben, an die Decke der Kathedrale, wo sich der Ausgang befindet. „Also

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habe ich alle Fotos hier unten analysiert, versucht, die kleinsten Details auszumachen.“ Lamett blickt auf die verstuckten Wände der Kathedrale. Sie sind vollgeklebt mit alten Fotografien von Menschen mit geschlossenen Augen. „Ich hatte bald ein Faible für Postmortem-Fotografien. Es sind wunderschöne Bilder, die Familien überwiegend im 19. Jhd. von ihren Liebsten gemacht haben, nachdem diese verstorben waren.“ Lamett streichelt seine Mango und sieht ein Foto von einer Frau – mit ihrem toten Kind in den Händen. „In der Ecke da hängen viele Kinder. Du erkennst, dass auf diesen Fotos viele noch lebende Mütter mit dem Leichnam ihrer Kinder posieren. Du musst dir vorstellen, dein Kind, von dem du noch nichts festgehalten hast, stirbt, und die letzte Gelegenheit – bevor sein Leichnam verwest –, das Kind unvergessen zu machen, ist so ein Foto.“ „Wie lange“, fragt Lamett schließlich, „bist du schon hier unten? Hast du … eigentlich Kontakt nach draußen?“ Anipole legt ihre Hand auf Lametts Schulter und sagt: „Weißt du nicht, was passiert ist? Weißt du nicht, weswegen wir hier unten hocken?“ Lamett schüttelt den Kopf. „Weißt du wirklich gar nichts mehr? Die Welt dort draußen stirbt, Lamett, Gewässer voller Eisen, rostende Bäume und vom Himmel fallendes Blech. Aber natürlich weißt du es nicht. Sieh dich doch nur an, Lamett … du hast dich vollkommen in diesen Vögeln verloren – siehst du nicht, wie sinnlos das alles hier ist? Warum machst du das überhaupt? Und immer diese scheiß Mango!“ Anipole reißt Lamett Blossom_5 aus den Händen und schmeißt sie hinter sich, wo sie an einem Computerterminal zerbirst. Lamett blickt knapp an Anipole vorbei, irgendwo hinter ihr fällt Stuckatur von den Innenwänden. Lamett steht auf und verlässt die Kathedrale, Anipole sieht ihm nach und schreit ihm etwas hinterher, er kann es aber nicht mehr hören. [o] Die Salve_Regina-Einheit rotiert geisterhaft in unendlichen Weiten. Sie wird von der Gravitation eines Doppelsystems erfasst; es sind ein Violetter Riese und eine vollkommen schwarze Kugel, mindestens so groß wie der Stern, die beide um ihren Massenschwerpunkt kreisen. Durch die Glaskuppel des Schiffs sieht Basilé, wie die schwarze Kugel den Violetten Riesen überlagert. Und im von violetten Strahlen umrahmten Schwarz sieht sie auch ihn: Es ist der Nexus. Der Punkt, von dem aus das Universum sich entfaltete, aber nicht gleichmäßig entfaltet, wie ein Stückchen Papier, sondern 25


unendlich komplex. So sieht Basilé im Schwarz, befreit von den Membranen ihrer Wahrnehmung, die Verknüpfung allen Lebens, eine organische Maschinerie von Verklumpung, Pfropfenbildung und Ausflüssen. Die andauernde Imperfektion jedes Körpers, sich ständig unterbrechend, zitternd, wahllos. Basilé hört ihren eigenen Herzschlag, immer lauter und lauter, bis nach dem lautesten Klopfen eine vollkommene Stille einkehrt. [o] Das Schiff nähert sich der Kugel und ist bald nicht mehr zu sehen. [o] Wieder in seinen Gärten angekommen, klebt Lamett kleine Plastikbeine an Äste. Er erwischt sich bei der Vorstellung, die Tierpräparate zu einem gigantischen Klumpen aus Vogelkadavern zu verarbeiten, einer Kugel aus Federn und tausend Augen, Schnäbeln, die aus den entlegensten Winkeln herausfahren, auf meterhohen Knochenstelzen fixiert. Aber Lamett klebt die Beinchen ordentlich auf die Äste und dann den Rhombus und dann den Rest. Vogel für Vogel, fest in Raum und Zeit, so wie es sein sollte. [o] Draußen, weit von Astraxan entfernt, fährt ein Fischer aufs Meer. Montiert an seinem Boot: ein Schrottplatzmagnet. Einen Hebel legt er um und die Fische schnellen wie Pfeile aus dem Wasser und klatschen an die rostige, runde Oberfläche.

Rudolf Nuss (oder auch einfach Rudi), geboren am 05.05.1994 in Berlin (Deutschland), Familie aus Balakowo (das liegt in Russland). Lieblingsfarbe: Pastellton. Studiert an der Universität Potsdam Germanistik/Philosophie und erwacht jeden Morgen mit der schrecklichen Angst, eine Kurzvita verfassen zu müssen. 26


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Miku Sophie Kühmel Nicht die Bohne Vor einer Stunde habe ich meinen Kater beim Tierarzt abgegeben. Vor zwei Tagen hatte er aufgehört zu fressen, gestern Morgen war er nicht mehr auf die Fensterbank gesprungen, am Nachmittag hob die Schwester ihn aus der blauen Plastikbox und einer Kotzepfütze auf den Untersuchungstisch. Was sie herausschneiden müssen, sieht auf dem Bild, das sie mir gezeigt haben, aus wie eine sehr große Murmel oder eine sehr kleine Billardkugel. Und weil ich meinen Kater kenne, habe ich mehrfach nahegelegt, ob es nicht genau das sein könnte. Dass er irgendetwas in der Wohnung hinter einem Schrank oder unter dem Bett hervorgeholt und verschluckt hat, als ich nicht da war oder gerade nicht hingesehen habe. Das, meint die Schwester, würde erst mal jeder sagen, da spräche die Hoffnung, die aus der Liebe zum Tier entstünde und aus der Verliebtheit in eine sehr naive Idee von einem sehr naiven Wesen. „Von Ihrer Erbtante würden Sie das wohl kaum denken, dass ihr so was aus Versehen passiert, oder?“ Das ist nicht zynisch gemeint, das ist wahr und bohrt sich in meinen Hals wie der ausgestreckte Zeigefinger des Arztes in die Bauchhöhle des Katers. Für Notoperationen jedenfalls finden sie immer schnell einen Termin, schon am nächsten Tag, wenn man das nötige Kleingeld hat. Wie ich mit dem Kater morgens in der Küche beim Kaffee stand, waren unsere nackten Füße, meine zwei und seine vier, ganz kalt. Jetzt festfrieren, hatte ich kurz gedacht, nicht losgehen. Nur sein ruhiges Blinzeln, der Anblick der schneeweißen Nickhaut, die sich ganz langsam in die Winkel der großen gelben Augen zurückzog, hatte es möglich gemacht, meine Schuhe zuzubinden und die U-Bahn-Fahrt mit der Transportkiste auf den Knien, Angesicht zu Angesicht, bis zur letzten Station durchzuhalten. Ich hatte den Kater natürlich nicht geplant. Eine Freundin hatte ihn in einem viel zu frühen Stadium einer Liebelei in meine Wohnung getragen, in einem Karton für Milchtüten, sich darüber amüsiert, dass sie ihn darin gefunden hätte und dass er doch genau aussähe wie die auf die Außenseite der Pappe aufgedruckte Kuh. Ich hatte nicht gelacht, der Kater ebenso wenig, und ein paar Wochen danach waren wir zu zweit. Ich musste kaum eine Gewohnheit ändern, überließ ihm lediglich täglich ein paar Gramm Thunfisch. Er war kein besonders anhängliches Tier und ich kein Mensch, der gern störte. Meist schaute er stundenlang aus dem Fenster in den Innenhof und beobachtete Dinge, die ich niemals sehen konnte. Wenn ich lüftete, machte er einen Satz, verschwand kurz zwischen den Wurzeln des wuchtigen alten Baumes, die, schon an der Oberfläche dick wie ein Gewühl übergroßer Adern, vielleicht noch bis unter die Kellerräume des Hauses ragen mögen. Es dauerte nie länger als einen Augenblick, dann kehrte der Kater äußerst zufrieden zurück auf das Fensterbrett, um entweder dem Geschehen draußen oder drinnen zuzuschauen. Ich genoss es stets ein wenig, unter seiner Beoachtung zu stehen. Ließ manchmal mit Absicht auf halbem Weg von der Dusche zum Kleiderschrank mein Handtuch fallen, nur, um aus dem Augenwinkel die verdrehten Ohren und erschrockenen Blicke zu sehen. Lange hielten diese Spielchen allerdings nie an, 28


denn der Kater gewöhnte sich schnell und an vieles und war nach ein paar Monaten immer schwerer zu beeindrucken. Als Ela mich zum ersten Mal besuchte, war sie nach einer halben Stunde durchaus konsterniert, weil ich immer, wenn sie lachte oder gluckste oder hustete, gespannt hinüber zum Fensterbrett schielte. Frauen haben wir nicht oft da, doch mittlerweile interessiert es den Kater eigentlich auch nur, wenn sie wiederkommen. Wenn sie sich aber direkt am ersten Abend an seine Seite hocken, gar neben der Heizung niederknien, nur um ihn zu kraulen, und meine Fragen nur noch durch die Diagonale des Raums und aus dem Mundwinkel beantworten, dann lächelt er genüsslich zu mir herüber. Die interessiert sich nicht die Bohne für dich. Als wir den Tierarzt heute Morgen in völliger Dunkelheit erreichten, war dieses Schauspiel natürlich aufs Höchste potenziert. In dieser Praxis recken sofort alle die Hälse, verdrehen die Köpfe, blinzeln gegen das flackernde Licht der Neonröhren, um einen Blick in das kleine Gitterfenster der Transportbox zu werfen, wer denn da kommt. Wer die Rechnungen bezahlt, will hier keiner wissen. Aufmerksamkeit und Mitgefühl für Herrchen gibt es erst, wenn man ohne Box unterm Arm den Raum erneut durchquert und durch die klingelnde Tür hinaus in die Kälte verschwindet, ohne auf die anderen Katzen und Hunde und Meerschweinchen zurückzuschauen. Wenn es vorbei ist, rufen sie mich an. Solange sitze ich am Schreibtisch und schaue auf die weiße Wand, an die weiße Decke, auf das weiße Papier. In der Nase hängt noch der Geruch nach Linoleum und feuchtem Bernhardiner. Nach ein paar Minuten lege ich das große Lineal aus Buchenholz, immer noch rau in meiner Hand, an das Blatt und setze den Bleistift auf. Ich ziehe die Linie und denke über den geraden Schnitt im Bauch meines Katers nach, stelle mir vor, wie er aufgeklappt wird, wie der Arzt alle Organe durchzählt und dann irgendwo im Bauch die kleine Kugel, den Kern ausfindig macht. Er ist kein dickes, pulsierendes Geschwür, kein vergammelter Klumpen Fleisch, er ist eine Kugel wie aus Marmor, weiß und glatt. Er sieht fast harmlos aus. Wenn dieser Kern noch nicht aufgeplatzt ist, der Samen noch keine Keime getrieben, keine Wurzeln geschlagen hat, dann kann man ihn entfernen, den Kater zutackern und ihn mir zurückgeben. Der Bleistiftstrich auf dem Blatt ist krumm und schief geraten. Ich lege Lineal und Stift parallel zueinander vor mich hin, stütze mich auf meine Unterarme und schaue quer durch den Raum in den Innenhof, der von einem Schleier Raureif überzogen ist und im ersten Tageslicht glitzert wie von gemahlenem Glas bedeckt. Der einzige helle Fleck in meiner dunklen Erdgeschosswohnung ist die leere Stelle auf dem Fensterbrett.

Miku ist 23 Jahre alt und als Sophie Kühmel an der Humboldt-Universität zu Berlin eingeschrieben. Sie studiert im Master Deutsche Literatur. Geboren und erzogen wurde sie in Gotha, am Fuß des Thüringer Waldes. Ihr Ursprung und ihr Umzug in die Hauptstadt haben sie maßgeblich geprägt. Veröffentlicht hat sie bisher im narrativistischen Literaturmagazin Narr (2013). Außerdem hat sie bereits für verschiedene regionale Radiosendungen gefragt, gesprochen und geschnitten. Sie wäre gern Autorin oder Hexe oder beides. 29


HARDCORE SOFT SKILLS: DIE KERNKOMPETENZEN DER AUTORINNEN UND AUTOREN DIESER AUSGABE

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Bernd Lüttgerding 1. Thnetopsychismus 2. Obstination 3. Logophilie

Clemens Schittko 1. kein Haus 2. kein Auto 3. kein Boot

Carla Hegerl 1. Geflecktes-Rüsselhündchen-undHalsbandschnäpper-Biologie 2. große und kleine Wörter in Zeitungen 3. die Fähigkeit, morgens Espressomaschine und Milchaufschäumer so aufeinander abzustimmen, dass sie genau gleichzeitig fertig werden

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Jonis Hartmann 1. Kurzsichtigkeit 2. kleine Schritte 3. Herzfrequenz Magda Kotek Kerne: gerne ferne

Marina Büttner Mein melancholisches Ich als mein Wesenskern, aus dem mögliche, sich wandelnde Kompetenzen keimen.

Martin Piekar 1. Lautstärkeregelungen übergehen 2. Trunkenheit fördern und fordern 3. Voodoo Mikael Vogel 1. positiv geladen 2. zerfallend 3. radioaktiv 30


Miku Sophie Kühmel 1. Sinn für das ORM 2. Enthusiasmus 3. Spinatstrudel

Rudolf Nuss 1. Migräne 2. sicherer Umgang mit den Standard-Office-Anwendungen (von 2007) 3. koreanische Instantnudeln Pega Mund 1. Sparen 2. Nussknacken 3. Atmen Saskia Trebing 1. Bahnfahren 2. Babysitten 3. Sachen mit Bildern und Wörtern Simone Scharbert 1. findiges Schreiben in Sachen „Tretjakows Tasche“ als literarische Taschenkompensation 2. frohgemutes Hans-Arp-Lesen („Weißt du schwarzt du!“) 3. unnachgiebiges Zeilenverbinden in lyrischen Versatzstücken Sören Maahs 1. Fernsehen 2. Wunschzettelschreiben 3. Geschenkeauspacken Valentin Moritz 1. denkt 2. kann trotzdem recht oft die Ruhe bewahren 3. ist geübt und geprüft in der Handhabe, also dem täglichen Einsatz in Wald und Garten sowie der notwendigen Instandhaltungsmaßnahmen benzinbetriebener Kettensägen

Grafik von Leslie Büttel, Grafikdesignerin in Berlin. www.lesliebuettel.com 31


Dinge mit Wuch Für die Kern-Ausgabe haben wir mit dem ungarischen Lyriker Márió Z. Nemes gesprochen. Der Schriftsteller, Übersetzer und Kritiker gilt als wichtiger Vertreter der jungen Dichtergeneration Ungarns. Seine engen Kontakte zur deutschen Literatur- und Kulturszene haben uns zu ihm geführt und wir konnten ihn während eines BerlinAufenthaltes (auf Deutsch!) nach seinen Gedanken zu unserem Thema fragen. Interview: Mena Koller Márió, was assoziierst du mit der Idee vom Kern?

Ich denke, es ist eine kulturell geprägte Idee. Man spricht ja über den Kern einer Kultur oder den Kern einer Idee oder Kern einer Ideo- Kerne muss logie. Vielleicht können man hypowir ohne einen Kern nicht thetisch auskommen, vielleicht ist betrachten es für unser Denken nötig, irgendetwas Stabiles zu nutzen. Aber ich denke, dass es wichtig ist, dass man es nicht konkret versteht, sondern immer hypothetisch. Der Kern steht meist für das Wesentliche, aber „das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar“, schrieb Saint-Éxupery. Was denkst du über die Beziehung von Kern und Leerstelle?

Nun, Anwesenheit und AbweNun, mit Kern assoziiere ich eigentlich senheit betrachte ich als einen Prozess. negative Dinge, zum Beispiel Essentialität Also eine ständige Oszillation zwischen oder Fundamentalisierung oder Anwesenheit und Abwesenheit. etwas zu Statisches. Wenn ich Das meine ich eigentlich auch Kern ist mir über Kern nachdenke, möchte damit, dass man den Kern immer zu homogen ich lieber Kerne sagen. Für auch hypothetisch betrachten mich ist Pluralität von Fundamuss, also als Abwesenheit. menten wichtiger, also Heterogenität. Kann Lyrik durch die Reduktion auf Kern ist für mich irgendwie zu homogen. das Wesentliche gezielt nach dieser AnIch mag die Dinge, die mehr mit Wucheoder Abwesenheit suchen? rung, mit Mutationen und Vielfalt zu tun haben. Vielleicht würde ich es so formulieren: Denkst du, dass „Kern“ eine universelle Idee ist oder eine kulturell geprägte?

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Man weißt nicht immer, worauf man reduziert. Man kennt den Kern nicht. Man reduziert, aber das ist immer ein Prozess, eine Suche, nach dem, worauf man sich reduziert. Das fluktuiert. Dazu braucht man auch eine ständige Neugier.


erungen Für dein Internet-Projekt Versum übersetzt du mit Kollegen ausländische Lyrik für eine ungarische Leserschaft. Das Thema der Übersetzung ist auch mit dem Thema des Kerns verbunden: Man versucht, des Wesentliche eines Gedichts von einer Sprache in die andere zu übertragen. Was bedeutet das für euch?

Márió Z. Nemes über die Pluralität von Kernen, Übersetzungen und Identitäten

Márió Z. Nemes

Geboren 1982 in Ajka, Ungarn. Mitglied der Vereinigung junger Schriftsteller Attila József (József Attila Kör, JAK) sowie dem ungarischen PEN. Zusammen mit zehn weiteren jungen Dichtern hat Nemes 2005 den Weblog Telep Beim ÜberIch glaube eigentlich nicht („Siedlungen“) gegründet und setzen muss so rigide an die Identität des betreut, der bald zu einem wichtigen man neue Textes, ich denke, dass man Forum der zeitgenössischen Poesie beim Übersetzen den Text Kerne finden in Ungarn avancierte. Im Netz ist immer neu kodieren Nemes derzeit als Redakteur des muss, kulturell, man muss einen kulturtheoretischen Fanzines Technologie neuen Kern finden für das und das Unheimliche aktiv. Im Jahr 2014 Gedicht, der ebenso kulturell erhielt er das Stipendium der Akademie geprägt ist. Von dem traditioSchloss Solitude. Zur Leipziger Buchmesse nellen Modell der Rekon2016 wird bei der Akademie Solitude auch struierung distanziere ich eine Zusammenstellung seiner Gedichte mich. auf Deutsch erscheinen, übersetzt von Monika Rinck, Orsolya Kalász und Du sprichst Deutsch und Matthias Kniep. Nemes lebt in Budapest. Ungarisch fließend − gibt es für dich so etwas wie ein „Wesen“ dieser Veröffentlichungen: beiden Sprachen? 2006 − Alkalmi magyarázatok a húsról Wie ich gesagt habe, bin ich sehr skep(„Improvisierte Bemerkungen über das tisch, was die Wesenhaftigkeit angeht. Fleisch“) Aber ich denke, die größte Differenz ist, 2010 − Bauxit („Bauxite“) dass ich mich anders konstruiere, wenn 2014 − A hercegprímás elsírja magát ich deutsch oder ungarisch spreche. Ich („Der Herzogprimas weint“) habe eine andere Identität in der jeweils anderen Sprache. Sie können auch Anawww.lyrikline.org/de/gedichte/ logien aufweisen, aber manchmal ist es falra-fest-11165 wie ein Doppelgängereffekt. Das ist für www.technologieunddasunheimliche.com mich auch immer wieder unheimlich, www.versumonline.hu dass ich auf Deutsch ein bisschen anders bin als auf Ungarisch.

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Simone Scharbert

STILLE, AUSZIEHBAR das stundenfurnier über tische gebreitet an wände genagelt die ausziehbare stille ins grobe gewebt unsere haut zuckt eichengebräunt durch polaroidrahmen über tapeten unsere lippen gestrichen im kern abgekaute wörter oder doch nur die fruchtschale weil jemand das sagt schon immer Simone Scharbert ist 1974 im bairischen Aichach geboren, promovierte über die Osterweiterung der EU und hat ein Faible für osteuropäische Literatur. Sie lebt und arbeitet in der Nähe von Köln. Letzte Veröffentlichungen u. a. in entwürfe, Triëdere und Krautgarten.

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Das Online-Projekt Versum (versumonline.hu) wird von Márió Z. Nemes und seinen Kollegen Dénes Krusovszky, Bálint Urbán, Gerevich András und Marcell Szabó mit dem Anliegen betrieben, der kulturellen Abschottung der zeitgenössischen ungarischen Literaturszene etwas entgegenzusetzen. Für die Kern-Ausgabe hat Zoltán Lesi das Gedicht STILLE, AUSZIEHBAR von Simone Scharbert ins Ungarische übersetzt. CSEND, KIHÚZHATÓ asztalokon az időfurnér falnak szögelt kihúzható csend durvára szőtt bőrünk megrándul tölgyszínűre barnult a polaroidkeretektől a tapétákat ajkunk végigsimítja a magban megvásárolt szavakat vagy mégis csak a gyümölcskosár mert valaki mindig felemlegeti Zoltán Lesi, geboren 1982 in Ungarn, lebt und schreibt in Wien, Budapest und unterwegs. Er ist Redakteur einer gemeinsamen Buchserie der Jungen Schriftstellergesellschaft und des Jelenktor Verlags sowie Organisator eines Literaturaustausches zwischen Wien und Budapest. Erschienen sind die beiden Gedichtbände Daphnis ketskéi („Daphnis’ Ziege“), 2009, und Merül („Tauchen“), 2014. www.versumonline.hu

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Sören Maahs Obstentkernung Verzehr von Steinobst1 hat sicher was mit dem genussvollen Vordringen zum Kern zu tun. Irgendwie. Nektarine und Pfirsich Nektarine per Äquatorialschnitt entkernen (Meridionalschnitt hat den Nachteil der möglichen Kernspaltung), Hemisphären lassen sich problemlos abdrehen. O Genuss! Die Entkernung von Pfirsichen funktioniert theoretisch genauso, aber beim Abdrehen geht oft nur die Haut mit, der Kern bleibt hartnäckig am Fruchtfleisch hängen. Egal, wie man jetzt weiter verfährt, das Ergebnis ist Matschepatsche. Kirsche Kirschen sind im Bereich Aroma und Konsistenz eigentlich vorbildlich im Fruchtsektor, aber dann den schmierigen Stein aus der rötlich-feuchten Mundhöhle rausholen: unerfreulich und in höflicher Gesellschaft unangebracht. Auch ist das Rumspucken nicht schön, nur Kirschverzicht ist hässlicher. Runterschlucken ist die Draufgängeroption, verbunden mit der Gefahr der Blinddarmperforation. Drei Zentimeter nutzlose Verdauungssackgasse reichen zum Sterben. Zum Zwecke der Spuckvermeidung wurden Maschinen fürs Entkernen erfunden, so Stanzdinger. Leider sind diese Kirschentsteinungsmaschinen größter Unfug, sie sind zu nichts gut, als aus Kirschen Matsch herzustellen, den kein Mensch mehr essen will. Riesensauerei und dauert trotzdem ewig, eine Konstruktion nach dem Hoffnungsprinzip, die Kirschen sollen durch einen Trichter in die Stanzzone rollen, tun sie natürlich nicht. Als Kind habe ich jedes Jahr wieder hoffnungsfroh eine wahrscheinlich aus solidem DDR-Kunststoff gefertigte Kirschentsteinungsmaschine rausgeholt und jedes Jahr hat sie nicht funktioniert. Es sollte doch aber möglich sein, Kirschkerne per Teilchenbeschleuniger oder Neutronenkanone zu einem Vakuum zu zertrümmern, man sollte den Wissenschaftlern im CERN mal ein Schälchen Kirschen mitgeben im Lift nach unten, um diese, jetzt die Hammerpointe, zu entcernen. Nicht vergessen: Wer jetzt fleißig Kirschen isst, schenkt Oma zu Weihnachten ein Kirschkernkissen. Sammelt Obstkerne war ja auch der Schlachtruf der Daheimgebliebenen im Ersten Weltkrieg, daran erinnert sie sich bestimmt gern.

Steinobst meine ich nicht im botanisch korrekten Sinne. Im botanisch korrekten Sinne sind Gurken Beeren (Panzerbeeren!) und Erdbeeren Nüsse, das kapiert doch keiner. 1

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Avocado Es gibt Menschen, die schälen Avocados! Wie Orangen! Diese Menschen sagen Sachen wie: „Natürlich schält man Avocados. Zum Beispiel, wenn man daraus Stifte für Sushi schneiden will. Das geht mit der rausgelöffelten Pampe nicht mehr.“ Es ist doch normalerweise jedem denkenden Wesen genetisch eingebrannt, dass man Avocados halbiert, und auch aus den zwei Hälften kann man Stifte schnitzen, das Wichtige ist doch, dass man den verdammten Kern loswird. Meiner Ansicht nach gibt es nur eine korrekte Art, Avocados zu entkernen: Indem man mit dem Brotmesser fest und tief in den Kern hackt, ihn aushebelt und dann durch Schlagen der Klinge gegen den Mülleimerrand wieder vom Klingenblatt sprengt. Extrem gefährlich für Messer, Mülleimer und Hand, extrem hoher Fun-Faktor. Zu beachten: Immer die vernünftige Hass-Frucht kaufen, niemals die wässrige Fuerte. Kann man auch sammeln und daraus mit Streichhölzern in den einsameren Stunden Avocadokern-Männchen basteln. Eine prima Geschenkidee! (Clownsvariante: Der Clown schneidet die Avocado nicht der Länge nach, sondern quer. Dann Kern raus. Dann Avocadoscheiben mit Loch. So macht es der Clown.) Mandarine Eine Mandarine schäle ich wie folgt: Ich bohre mit dem Daumennagel oben in die Haut, da, wo der kleine verhärtete Knubbel vom Stielansatz ist, und ziehe ihn samt weißem Strang aus der Frucht. Das habe ich als Kind so gelernt, eine Kulturtechnik, die ich nie hinterfragt habe. Ich würde niemals an einem völlig willkürlich gesetzten Punkt einfach drauflosschälen. Sind die Früchte allerdings zu dicht und fest, matscht es beim Daumenlochbohren. Dann einmal um die Frucht rum die Schale abziehen. Es gibt sogar ein Youtube-Genre, in dem begabte Menschen Mandarinen so schälen, dass aus der Schale die Silhouetten von Seepferdchen, Hummern oder Eichhörnchen entstehen.

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Eine wichtige Mandarinenfrage betrifft aber nicht den Schälvorgang, sondern: Woran erkennt man von außen, ob es sich um eine saure, also wohlschmeckende Mandarine handelt oder um eine schal-süße Scheißdarine? Und die tückische Kernfrage scheidet die Mandarine vom Spucksteinobst wie Kirschen, wer Mandarinen mit Kernen baut, wird auch Autobahnen bauen. Mandarinen sind so unberechenbar, jedes Mal hofft man auf die ideale Kombination aus Säure, Saftigkeit, Steinlosigkeit und Peelbarkeit, aber die Vierfaltigkeit dieser flatterhaften Faktoren fügt sich nur in ungefähr jeder vierten Frucht zu einem geschmacksknospenschmeichelnden Spitzengeschmack. Warum lässt Gott das zu? Da sollte sich Gott ein Beispiel an Lebensmittelgestaltern, früher hätte man Fooddesignern gesagt, nehmen, die treiben den Snacks die natürlichen Schwankungen aus, sodass man immer mit einem positiven Geschmackserlebnis belohnt wird. Convenience-Fernsehsnack: 1, Gott: 0. Granatapfel Keine Frucht für Menschen, die kein Blut sehen können. Nach dem Aufschneiden erblickt man einen kleinen Kosmos, eine Stadt oder einen Haufen roter Regentropfen, je nachdem wie fantasiebegabt oder kitschgeneigt man ist. Man kann mit dem Finger oder mit einem kleinen Löffel die Dinger herausklauben, was sehr mühsam ist. Da jeder Kern nur von einer winzigen Masse Fruchtfleisch umgeben ist, erfordert das Essen eines ganzen Apfels sehr viel Geduld. Der gustatorische Bach-Choral rechtfertigt immerhin die aufwändige Demontage. Brutale Menschen schaufeln sich gleich ganze Stücke des Apfels in den Mund, kauen drauf rum und spucken den Brei dann aus. Oder schauen How-to-Videos auf Youtube, wie man möglichst mühelos die Granate schnabuliert, ihnen entgeht einfach diese zenartige Geduldsprobe. Feige Viele winzig kleine Kerne, die man einfach mitisst. Kein Entkernen, sanftes Knacken.

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Litschi Ich verstehe das Konzept dieser Obstsorte nicht. Über den Apfel kann man ja sagen: Eindeutige Form, klares Aroma, alles vollkommen einsichtig, her damit, weg ist er. Aber die Litschi? Sie tanzt den Tanz der sieben Schleier. Ihre hartschalige Hülle kommt ziemlich pompös daher: Sie hat eine grobe, stumpfstachelige Panzerstruktur und präsentiert sich meist in gewinnendem Dunkelrot. Man denkt an kräftige Aromen, vielleicht an Brombeeren. Weit gefehlt! Denn wenn man die Schale aufbricht, erblickt man eine Leiche. Das Fruchtfleisch der Litschi ist anämisch und formlos, es ist wabbelig wie Quallen. Auch der Vergleich mit dem, was Augenärzte Glaskörper nennen, scheint mir nahezuliegen. Die Frucht schmeckt parfümiert, als wehre sie sich dagegen, ihren wahren Geschmack zu offenbaren. Und dann ist da noch der Kern. In Sachen Angeberei steht er der Hartschale in nichts nach, denn er ist viel zu groß für so ein zierliches Gewächs. Mango In hiesigen Supermärkten sind Mangos fast immer unreif. Die Frucht liegt dann einige Tage oder Wochen in der Küche und wechselt ihre Farbe von Grün zu Gelb-Orange. Nachdem der perfekte Reifegrad selbstverständlich verpasst und bevor sie endgültig ins Faulige dahingeschieden ist, kommt das Mangomassaker: Die mitteleuropäische Entkernungsmethode sieht vor, dass man mit umgebundener Schürze dem safttriefenden gelben Klumpen mühsam das faserige Fruchtfleisch abringt. Man saut sich unweigerlich ein und schneidet die Hände am scharfkantigen Kern auf. Ich kenne die mittelamerikanische Methode, die Mango in drei Teile zu schneiden, und zwar mit zwei Längsschnitten parallel zu den breiten Seiten des Kerns. Das mittlere Teilstück samt Kern nagt man ab und sieht danach beim Lächeln mit den Fasern zwischen den Zähnen aus wie ein Wal auf Planktonfang. Das Fruchtfleisch in den beiden anderen Teilen ritzt man rautenförmig ein, ohne es zuvor von der Schale zu lösen. Die stülpt man nämlich jetzt auf links, so dass die Pulpblöcke phallisch aufragen. Die braucht man dann nur abzuschneiden. Der Händeversauungsfaktor ist auf diese Weise ziemlich klein. Soft Cake / Jaffa Cake Den Geleekern freilegen durch vorsichtiges Abknabbern von Schokoladenglasur und Waffelbiskuit. Bedarf vieler Jahre Übung, weil die Füllung relativ soft ist (hence the name!). Gelee wegschmeißen oder verzehren, je nach Fasson. Geboren und aufgewachsen in Jena an der Saale hellem Strande. Seit 2007 Student der Kulturwissenschaft, Bachelor of Arts 2027, Taxischein 2028. Lebt und arbeitet in Berlin, Potsdam und im Thüringischen mit seiner Katze, die er bestimmt bald besitzen wird. Genauso viel, wie er gelesen hat, hat er auch wieder vergessen. 40


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Bernd Lüttgerding

Herz des Hühnergotts Was Weiser sagt wird überhört Ist dirs bist du entgangen? Doch hier bleibt nichts verborgen beflissen stellt der Herr sein Innerstes aus Da im Durchguck Streifen Wald bewölktes Blau vom Rande grell Die Leere nicht neu aber du auf der Lauer

Bernd Lüttgerding wurde 1973 in Peine geboren, veröffentlichte als Student erste Texte im Salmoxisboten in Bremen und verdiente Geld als Gärtner, Antiquar, mit dem Schreiben von Skripten für TV-Produktionen und der Konzipierung von Dokumentarfilmprojekten. Seit 2008 lebt er in Belgien, wo er in erster Linie Gedichte und Prosa (= Erzählungen, Romane) schreibt.

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Alexander Marina Büttner Graeff

Geliebte Ratte Gebettet in Traumschaum – ein sachtes leises Durchdringen des lange vorgehaltenen Zustands geliebter Zaunkönig, geliebte Ratte Angst mit Spachtel und notfalls mit den Händen verteile ich die Rastlose Zeit in dunkles Papier gezwungen umwickelt und zärtlich erdrückt – meine Not in allen Dingen

wir pflanzen wir drehen unsere hälse sehen nichts wir wenden die gesichter ins licht wir proben den abstand zur sonne pflanzen unsere füße zentimetertief aus den fußsohlen treiben wurzeln strahlen platzen auf augäpfeln kern folgt saat folgt keim die netzhaut fängt an zu singen ein abendlied zu spät die lider zu schürzen wir springen in tiefe pfützen aus regenrohren tropft der stoff aus dem wir schöpfen doppeltriebe sprießen uns aus den achseln wir wachsen unermesslich

Marina Büttner, geboren 1967, lebt in Berlin. Sie ist Buchhändlerin und Künstlerin, ihre Gedichte, Grafiken und Collagen erscheinen in zahlreichen Literaturzeitschriften und Anthologien print und online. www.marinabuettner.de

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Valentin Moritz Infiernillo Natürlich hatte ich Muffensausen. Kein Wunder, da war ja auch nichts weiter als ein erbärmliches kleines Loch im Berg. Es verströmte einen warmen Altmännermief, lugte scheu zwischen ein paar Hütten hervor und unter einem groben Holzbalken buckelte es wie ein Morbus-Scheuermann-Patient. Der Reihe nach mussten wir einen Wisch unterschreiben. Von wegen Betreten auf eigene Gefahr. Ja danke, dachte ich, wirklich eine großartige Idee. Außer Malte, Leonie und mir war noch ein Dutzend anderer Touristen dabei. Wir fühlten uns alle unglaublich abenteuerlich in der Untertagekluft. Aber durch unsere Kamerataschen und die fehlende Coca-Kugel in den Backentaschen waren wir leicht von den Minenarbeitern zu unterscheiden. Unterhalb des Mineneingangs lagen die kargen, kraterüberzogenen Hänge des Cerro Rico. Zur Stadt hin liefen sie sanft aus, waren in steter, wimmelnder Bewegung, die von den roten Helmen der mineros ausging. Nach einer halben Stunde tauchte endlich unser guía auf. Hektisch redete er los, riss die Augen auf wie ein Wahnsinniger. „Escúcheme, señor turista! Listen, please!“, rief er und fuchtelte umher, „I’m your guide today, you call me Bolívar, alright?“ Er rollte mit den Augen, begann eine Ansprache zur Geschichte der Mine und so weiter – eine Leier, dachte ich, die er täglich drei-, viermal abspulte. „Okay, gringito, now please have a look over there, donde se ve la sangre de miles de llamas en la pared.“ Bolívar zeigte auf ein kleines Steingebäude seitlich des Mineneingangs. Vom Blut der Tiere war es schwarz bis unter den Giebel. „Los mineros kill many lamas there“, sagte er, „for good luck!“, und wir Touristen raunten auf und dann der übliche Spiegelreflex – aber wir waren nicht schnell genug, um Fotos zu schießen, Bolívar wollte weiter. „Okay, vámonos, señor turista“, rief er, „go, go, go!“ Eilig stiefelte er los und wir ihm nach. Hinter der Schneekuppe des Illimani sah ich für einen Moment noch die Sonne flackern. Dann wurde es dunkel. Malte und Leonie gingen vor mir. Ihre gelben Gummistiefel leuchteten im Licht meiner Stirnlampe. Hinter mir hörte ich das Gegacker der andern Touris, dann, mit den Minuten, wurden auch sie stiller, verfielen schließlich in angestrengtes Schnaufen. Bereits nach wenigen Metern verzweigte sich der Stollen. Wir nahmen den mittleren Schacht, stolperten über Schienen am Boden, zogen die Köpfe ein. Ich begann zu schwitzen. Je weiter wir in den Berg vordrangen, umso heißer und dünner wurde die Luft. Bolívars Gangart war immer schneller geworden, aber plötzlich rumpelte etwas gewaltig und da ging ein Ruck durch die Leute vor mir, „Ya vienen!“, hörte ich Bolívar rufen. „Step aside, gringo – step aside!“ 45


Wir pressten uns in kleine Ausbuchtungen in der Wand. Dann kamen sie heran. Ich sah drei angestrengte, verschmierte Gesichter durch die hüpfenden Lichtkegel ziehen, vielleicht vierzehn-, fünfzehnjährige Burschen. Rennend zogen und schoben sie eine mit Gesteinsbrocken gefüllte Lore zwischen uns hindurch. Dort hinein warfen wir alle etwas von unseren Mitbringseln, wie Bolívar es uns eingeschärft hatte: Beutel mit Coca-Blättern, Zigaretten, refrescos, ceibo. Diese Jungs, erklärte Bolívar, holten das abgebaute Material vom Ende des Stollens. Eine Strecke betrug etwa drei Kilometer und das bei achtzig Metern Höhenunterschied. Pro Schicht zwanzig, dreißig solcher Touren. Auf keinen Fall dürften wir denen in den Weg kommen. Wir gingen weiter, bogen in einen Schacht ohne Schienen ab, kletterten über Geröll tiefer hinunter. Nach einer langen Passage, die wir auf den Knien krabbeln mussten, kamen wir schließlich zum Tío. Unglaublich hässlich saß er da, erwartete uns mit seinem riesigen, erigierten Schwanz. Sein weit aufgerissenes Maul war schwarz ausgemalt, die Hände hielt er auffordernd von sich gestreckt, die Schenkel staken aus denselben gelben Stiefeln wie unsere. Der gehörnte Kopf des Viehs und sein Schoß waren über und über mit Coca, Kippenstummeln und Lametta bedeckt. Zu seiner Linken und Rechten ließen wir uns auf den abgesessenen, in den Stein gehauenen Bänken nieder. Bolívar erzählte, der Tío sei eine Art Teufel oder Unterweltgott. Die Minenarbeiter besuchten ihn vor jeder Schicht, um seinen Zorn zu besänftigen und sich Glück unter Tage zu erbeten. Es gebe mehrere Dutzend Tío-Figuren im Berg, sagte Bolívar und zündete sich eine Zigarette an. Ich schielte zu Malte rüber, mit einem schrägen Grinsen saß er da, wippte mit dem Knie. Leonie, mir gegenüber, lauschte versonnen. Bolívar zog ein letztes Mal an seiner Kippe und schob sie dann qualmend ins Maul des Tío. „El Tío nos mata, el Tío nos salva“, murmelte er. Dann bewarf er die Figur mit einer Handvoll Coca-Blätter, nahm einen Schluck aus einer Bierdose und kippte den Rest über den dicken, roten Schwanz. Ernst blickte er in die Runde. „Be obedient, my friend. And he save you.“ Er sei immer gut mit dem Tío ausgekommen, sagte Bolívar, sonst wäre er jetzt nicht mehr da. Mit dreizehn sei er in die Mine gekommen. Vor zwanzig Jahren habe er als einer der Ersten mit den Führungen begonnen. Mit dem Geld schicke er seine Töchter auf die Universität. „Well, gracias a Usted, señor turista! Thank you!“, sagte er, haute sich auf die Schenkel und stand auf. „Let’s go.“ Einer nach dem andern kletterten wir kurz darauf eine lange Leiter hinunter. „Welcome to ‚El Infiernillo‘, mister“, verkündete Bolívar und flüsterte: „Duerme el demonio – be quiet, so he won’t wake up, alright?“ Manche lachten nervös. Malte stand neben mir. „Alter, so geil, so crazy“, hörte ich ihn leise sagen. 46


Ich verfiel in Gedanken. Es beeindruckte mich, dass Bolívar sich bei uns bedankte. Und mein Gewissen wurde dadurch leichter. Auch die Arbeiter, denen wir jetzt immer wieder begegneten, die das Gestein in mächtigen Lederkörben auf dem Rücken trugen, die in Ecken gekauert Dynamitstangen zusammenbastelten, die pausenlos Schutt in Fässer schaufelten, die in metertiefen Spalten unter uns nach frischen Adern suchten, oft kaum älter als dreizehn Jahre – keiner von ihnen schien von unserer Anwesenheit genervt zu sein. Sie grüßten, bekamen etwas von unseren „Geschenken“, dankten mit gerecktem Daumen und cocaschwarzem Grinsen. Ich fühlte mich hilflos. Ein dicker Kloß im Hals. Auch die andern waren alle verstummt. Nur Bolívar redete unermüdlich, erklärte an allen Stationen, welche Arbeit jeweils verrichtet wurde. Es war bizarr. Ich war nie an einem so hoch gelegenen Ort auf der Welt gewesen und gleichzeitig so tief unter der Erde. Nachdenklich – oder wegen des Sauerstoffmangels weggetreten – fiel ich hinter die Gruppe zurück. Sie kletterten eine Leiter hinauf. Als ich nach der ersten Sprosse griff, wurde mir schwarz vor Augen. Ich muss etwas trinken, dachte ich, holte die Wasserflasche aus dem Rucksack, trank. Verschnaufen, dachte ich, nur kurz etwas verschnaufen. Schweiß brach mir aus. Ich kann mich doch einfach einen Moment hinlegen, fand ich, das wäre schon okay. Es war verlockend. Nein, los jetzt, sagte ich mir und griff nach einer Leitersprosse. Ein Stück verbliebener Rationalität in mir hatte noch einmal gewonnen. Ich blickte hinauf. Da war niemand. Ich schaltete kurz die Lampe aus, um herauszufinden, ob oben noch Licht von den andern zu sehen war. Natürlich war es genau in diesem verblödet symbolischen Moment des ausbleibenden Lichts, dass meine letzte Kraft, meine Beherrschung oder irgendwas in mir wegsackte und ins Bodenlose sauste wie ein gekappter Aufzug. Vollkommene Umnachtung also. Ich tickte aus. Ich schrie los, fummelte meine Lampe wieder an, ein wildes Geflacker, kraxelte mit rauschenden Ohren die Leiter rauf, ein metallisches Kitzeln am Gaumen. Immer wieder rief ich Leonies Namen und nach Malte rief ich auch. Es fällt mir schwer, mir das alles im Nachhinein einzugestehen. Den Kontrollverlust. Die lächerlichen Gedanken. Als ich schnaufend oben ankam, blieb mir für Sekunden die Luft weg. Ich würgte. Kotzte ein wenig, drängte es aber zurück. Wieder versuchte ich zu rufen. Es kam nichts raus. Der Gang verzweigte sich. Ich schleppte mich weiter, erkannte nichts wieder. Sterben würde ich. Und dann? Ich stellte mir Leonie vor. Bei der Bergung meiner Leiche würde sie sich auf mich werfen, bittere, wunderschöne Tränen vergießen. Und Malte würde mit den Füßen scharren – eigentlich war ich ihm doch immer wie ein großer Bruder gewesen. Ja, so würde es sein, dachte ich. Sie würden meinen Abschiedsgruß finden, Sartre lag falsch! würde ich mir mit einem scharfen Stein in die sterbende Brust geritzt haben, geläutert im Angesicht des Todes ... 47


Bald sackte ich zusammen. Mit der Hand strich ich über den feuchten Fels, schmierte mir den Dreck über die Wangen. Ich musste jetzt ein minero sein, sagte ich mir. Ich musste die Mine spüren. Ihre Macht brechen ... Irgendwann würde ich auf einen Tío stoßen. Alles würde ich ihm geben. Auch mein Geld. Aber nicht die Kreditkarte, was sollte er auch damit – bei der Banco de Crédito am Automaten stehen, sich während des Wartens die Unterhose aus der Ritze zupfen? Ich lachte wütend auf bei der Vorstellung – erschrak aber sofort vor dem abscheulichen Geräusch und erschrak auch, als ich mein eigenes Wimmern wahrnahm als etwas irgendwie Äußerliches, bevor ich überhaupt kapiert hatte, dass ich weinte. Nein. Ich würde hier einfach einschlafen. Und dann würde eine Lore kommen. Lichter und Arbeiter sausen vorbei. Doch einer dreht um, lamentierend, was ich denn da mache und so weiter, kopfschüttelnd flucht er auf Quechua vor sich hin. Er setzt sich zu mir, raucht. Ich weiß nichts zu sagen, „lo siento, lo siento“ vielleicht. Bald kommt die nächste Lore. Sie retten mich. Dann liege ich draußen im Schatten der Lamabluthütte. Wasser, Atemluft, ich erhole mich. Meine Retter sind fort. Und später würde ich erzählen: „Was für mich ein Kampf ums Überleben war, ist für diese wackren Jungs der nackte, harte Alltag.“ Und die Zuhörer würden nicken und verstehen, dachte ich und streichelte den Fels unter mir. Irgendwann musste ich pinkeln. Ich stemmte mich hoch, schmierte mir den Rotz aus dem Gesicht und schlurfte ein paar Schritte um eine Biegung. Dann, als ich meine Minenarbeiterhose wieder zugeschnürt hatte, entdeckte ich den Pfeil an der Wand. Weitere Pfeile folgten. Es war so lächerlich. Nach wenigen Minuten hörte ich schon Bolívars Stimme, sah den Schein der Lampen, dann das Sonnenlicht. „Alles klar?“, fragte Leonie, als ich mich draußen neben sie stellte. Ich versuchte zu lächeln. „Nur mal austreten“, antwortete ich. Sie lächelte auch. „Hast dich ja ganz schön eingesaut da drinnen“, sagte sie und schmierte mir mit dem Zeigefinger über die Wange. Ich zuckte mit den Achseln, schaute schnell weg. Wir beobachteten, wie Bolívar einige hundert Meter die Abraumhalde hinunterkletterte, dort das Dynamit ablegte und gemächlich wieder zu uns hinaufkam. Malte gesellte sich zu uns, haute mir auf die Schulter. „Naa? Wie gut, dass wir dich mitgenommen haben, oder?“ 48


„Klar. Großartig. Hatte eben ein bisschen Schiss.“ „Ach was“, sagte Leonie, „wir doch auch.“ Wenige Sekunden später explodierte die Ladung, wir schrien kurz auf. Dann klatschten wir. Am nächsten Morgen, der Cerro Rico lag im Nebel, setzte ich mich ohne Abschied von den andern in den Bus nach La Paz. Valentin Moritz wurde 1987 in Südbaden geboren. Zwanzig Jahre später Studium in Berlin. Germanistik, Hispanistik, Literaturwissenschaft. Veröffentlichungen in Literaturzeitschriften und Magazinen, zuletzt in Krautgarten und 500Gramm sowie online auf 54stories. 1. Platz beim Literaturpreis Prenzlauer Berg 2015. Im selben Jahr Teilnahme an der Prosawerkstatt im Literarischen Colloquium Berlin sowie Erscheinen des kurzen Erzählbands Grottenherrmann im Literatur Quickie Verlag.

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Clemens Schittko WARUM?

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weil ein Flugzeug abgestürzt ist weil das Flugzeug in den französischen Alpen zerschellte weil der Copilot den Sinkflug einleitete weil der Copilot krank war weil der Copilot Depressionen hatte weil niemandem aufgefallen war, dass der Copilot Depressionen hatte weil man den Menschen oftmals nicht ansieht, ob sie Depressionen haben weil man den Menschen nicht in den Kopf schauen kann weil das Gehirn von der Schädelhöhle umgeben ist weil das Gehirn durch die Schädelhöhle geschützt wird weil das Gehirn einen Schutz gegen äußere Einwirkungen braucht weil wir sonst sterben könnten weil wir ein gut funktionierendes Gehirn brauchen weil wir sonst keine komplexen Informationen verarbeiten könnten weil das Verarbeiten von komplexen Informationen nun mal ohne Gehirn nicht funktioniert weil kein anderes Organ solche komplexen Informationen verarbeiten kann weil alle anderen Organe andere Aufgaben haben weil somit unser Überleben sichergestellt wird weil wir überleben wollen weil wir nicht überleben werden weil wir alle sterben müssen – irgendwann weil wir alle älter werden weil die Zeit vergeht weil es Zeit gibt weil es Uhren gibt weil man fähig ist, Uhren herzustellen weil man Zeit hat weil es Zeit gibt weil es Uhren gibt weil man fähig ist, Uhren herzustellen weil man Zeit hat weil man wenig bis nichts zu tun hat weil man nicht arbeiten muss weil man (sehr viel) Geld hat weil man andere für sich arbeiten lässt weil man selber nicht arbeiten will weil Arbeit anstrengend ist weil man sich bewegen muss weil man sonst dick wird weil Nichtstun nun mal dick macht


weil der Körper kaum Energie verbraucht weil der Körper mehr Energie aufnimmt, als er abgibt weil der Körper weniger Energie abgibt, als er aufnimmt weil wir egoistisch sind weil wir immer mehr haben wollen weil wir nicht mit dem zufrieden sind, was wir haben weil wir das, was wir haben, langweilig finden weil wir es haben weil es niemand anderem gehört weil sich niemand anderes dafür interessiert weil das, was wir haben, langweilig ist weil wir langweilig sind weil wir uns an unsere Langeweile gewöhnt haben weil man sich an alles gewöhnt weil es uns immer noch zu gut geht weil wir die sogenannten Entwicklungsländer ausbeuten weil wir die sogenannten Entwicklungsländer unterdrücken weil wir die Macht dazu haben weil wir das Geld dazu haben weil wir die Gesetze dazu haben weil wir die Ideologie dazu haben weil wir verlogen sind weil wir es besser wissen weil wir intelligent sind weil wir reiche Eltern haben weil wir reiche Großeltern haben weil wir reiche Urgroßeltern hatten weil unsere Urgroßeltern Glück hatten weil unsere Urgroßeltern verschont wurden weil unsere Urgroßeltern sich angepasst haben weil unsere Urgroßeltern Angst hatten weil unsere Urgroßeltern nicht sterben wollten weil niemand sterben will weil man Angst vor dem Tod hat weil man nicht weiß, wie es sich anfühlt, tot zu sein weil bislang noch kein Toter ins Leben zurückgekehrt ist weil der Tod unumkehrbar ist weil es den Tod gibt weil wir den Tod bislang noch nicht abgeschafft haben weil wir den Tod verdrängen weil wir Angst vor dem Tod haben weil wir nicht sterben wollen weil das Leben schön ist

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weil die Welt schön ist weil wir schön sind weil einfach alles schön ist weil das alles nicht stimmt weil das alles gelogen ist weil wir verlogen sind weil wir uns die Wirklichkeit schönreden weil wir die Wirklichkeit nicht ertragen weil wir schwach sind weil wir uns unsere Schwäche nicht eingestehen weil wir stärker erscheinen wollen, als wir sind weil wir nicht schwach sein wollen weil wir den Schwachen die Schuld für ihre Schwäche geben weil wir die Schwachen für dumm und faul halten weil wir uns für etwas Besseres halten weil wir arrogant sind weil wir nicht merken, dass wir arrogant sind weil es uns immer noch zu gut geht weil es anderen nicht so gut geht weil es anderen richtig schlecht geht weil sich keiner von denen, denen es richtig schlecht geht, wehrt weil sich überhaupt niemand wehrt weil man alles so hinnimmt weil man jeden Dreck frisst weil man hofft, dass alles so bleibt, wie es ist weil man hofft, dass es nicht noch weiter abwärts geht weil man sich mit den Verhältnissen arrangiert hat weil man sich an sein eigenes kleines Leben gewöhnt hat weil man mit Depressionen einigermaßen gut leben kann weil es gegen Depressionen Medikamente gibt weil der Suizid ein Tabu darstellt weil der Tod ein Tabu darstellt weil es uns kränkt, dass wir sterben werden weil wir nicht sterben wollen weil wir gesund bleiben wollen weil wir uns wohlfühlen wollen weil wir saufen wollen weil wir ficken wollen weil wir lieben wollen weil wir egoistisch sind weil es Gott nicht gibt weil es eine Oberschicht gibt


weil wir dazugehören wollen weil wir uns haben kaufen lassen weil es Werbung gibt weil wir empfänglich sind für einfache Botschaften weil wir immer wieder belogen werden wollen weil wir die Wirklichkeit nicht ertragen können weil wir nicht sterben wollen weil wir nicht sterben wollen weil wir nicht sterben wollen weil es nun einmal so ist weil man nicht auf alles eine Antwort weiß weil wir uns sehr schnell langweilen würden, wüssten wir auf alles eine Antwort weil wir nicht weiterleben könnten, gäbe es keine offenen Fragen mehr weil wir nie mit dem zufrieden sind, was wir haben weil wir immer mehr wollen weil uns die Werbung sagt, dass es immer mehr gibt weil es Werbung gibt weil es Konzerne gibt weil es eine Oberschicht gibt und weil es Gott nicht gibt weil bislang noch niemand beweisen konnte, dass es Gott gibt weil es nun einmal Gott nicht gibt weil es eine Oberschicht gibt weil es Konzerne gibt weil es Werbung gibt weil andere Schuld haben weil sowieso immer die anderen schuld sind weil man Feindbilder sucht weil man Feindbilder braucht weil es einfacher ist, andere zu erniedrigen, als sich selbst zu erhöhen weil man zu feige ist, sich selbst als Feindbild zu begreifen weil es nun einmal so ist weil es nicht anders ist weil der Mensch per se schlecht ist weil wir so sind, wie wir sind weil wir träge sind weil es die Schwerkraft gibt weil es uns gibt und die Revolution ausbleibt und weil wir Angst haben vor Veränderungen darum

Clemens Schittko. Geboren 1978 in Berlin/DDR. Ausgebildeter Gebäudereiniger und Verlagskaufmann. Arbeitete u. a. als Fensterputzer, Lektor, Gärtner und Kirchwart. lauter niemand-Preis für politische Lyrik 2010. Zuletzt erschienen: Weiter im Text (Ritter Verlag, Klagenfurt 2015). Lebt in Berlin(-Friedrichshain).

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Martin Piekar

CyberschlafStörung Lass den Ghost in der Shell Er muss brüten Vom Mond im Jupiter im Livestream Eines Nichtschlafs, Denn mich flieht der Schlaf Durch die Nacht Chatt ich mich Wenn du eine Revolution willst Bestell sie über Amazon Prime Gesicherter Versand verringert Risiken In gestörter Einsamkeit Zieh ich meinen besten Schlafanzug an Dustern gezwungen zu wachen Ich halte Dunkel nicht träumend aus Share me, share me, share me with your ApplePhone Und lass uns Doppelgänger tauschen Per Zufall sind wie Foetalisten Und hüpfen von USB Zu USB-Port zu wälzen hilft Nicht einer Ruhe beizutreten Ich habe den Anschluss an Schlaf verloren Und Versuche durch alte Tags Wer die Langeweile sucht Bleibt ungefunden Du kannst nicht einfach Deinen Beziehungsstatus ändern ohne Martin Piekar, 1990 geboren, Student Dich zu ändern der Philosophie und der Geschichte an Ich hab ne Buchempfehlung für dich der Goethe-Uni in Frankfurt am Main. Schreib eins Veröffentlichte bereits in mehreren LiteraTrommle ein paar Server ab und turzeitschriften (z. B. POET, Neue RundFinde mein Leiden immer wieder schau, manuskripte) und ist Mitglied des Scheißreziprozität des Netzes Jungautorenkollektivs sexyunderground des Ich brauche einen Kollaps Literaturhauses Frankfurt am Main. Sein Ich ghoste keinen SleepStream erster Gedichtband Bastard Echo erschien im Ich puste die WiFi-Verbindung aus Frühjahr 2014 beim Verlagshaus Berlin. 2014 Und wünsch mir was wurde er World Lyrikwrestling Champion.

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Quelle: Internet 1. Beim Raubwild nennt man den inneren Teil des Tierkörpers ohne Balg (die abgezogene Haut) den Kern. 4. Kernobst ist von Steinobst zu unterscheiden. Dieses unterscheidet sich wiederum durch den Stein von Beeren und durch die fleischige äußere Fruchtwand, das Fruchtfleisch, von Nüssen. Bromund Himbeeren sind trotzdem Sammelsteinfrüchte. Erdbeeren hingegen gehören zu den Sammelnussfrüchten. 6. Kerning ist in der Typografie das Verringern des Fleisches, also des nicht bedruckten Abstandes zu den benachbarten Buchstaben, damit dieser für den Leser gleichmäßig erscheint(zum Beispiel wenn A und V nebeneinander stehen). Die hier verwendete Schriftart Courier tut dies nicht.

2. Es gibt bittere und süße Aprikosenkerne. Während es süße im Handel zu kaufen gibt, führen bittere durch ihren hohen Anteil an Amygdalin, welches Blausäure abspalten kann, bereits in geringen Dosen zu Vergiftungserscheinungen.

5. Eine Umfrage des Zwiebelfisch nach mundartlichen Begriffen für das Kerngehäuse des Apfels ergab eine Vielzahl von Begriffen. Im Norden und im Osten dominieren die Ableitungen des Wortes Griebs, im Westen sind es Nüssel und Kitsche, in der Mitte Grutze und im Süden Butzen. 8. Der Kern eines Kometen besteht 7. Der enorme Druck von vor allem aus Eis und Staub- und Mi300 Gigapascal ist vermutneralteilchen, weshalb er auch dirty lich die Erklärung dafür, snowball genannt wird. Zusammen dass die Eisen-Nickel-Legie- mit dem Koma, der nebeligen Hülle rung des inneren Erdkerns um den Kern, bildet er den Kopf des fest ist, während die des Kometen; von der Erde aus sichtbar äußeren Erdkerns flüssig ist jedoch nur der Schweif, der mehist. 1 Gigapascal verwandelt rere 100 Millionen Meter erreichen Kohlenstoff in Diamant. kann. Komet kommt aus dem Altgriechischen und bedeutet „Haarstern“. 9. K.E.R.N. war von 1991 bis 2008 der Name der 10. Das von Otto Julius Bierbaum Technologieregion Kiel, geschaffene deutsche Pendant zu Eckernförde, Rendsburg Pinocchio heißt Zäpfel Kern und Neumünster. (erschienen 1905).

11. Der Kern einer Metallgussform wird benötigt, um den Hohlraum zu bilden, und kann später entfernt werden. Die eigentliche Metallform, also das Negativ zum Kern, heißt Matrize („Mutterform“). Kern und Matrize bilden zusammen eine Kavität (die auszufüllende Hohlform). 12. Der zentrale Bestandteil eines Betriebssystems heißt Kernel. Im KernelMode laufen Prozesse im privilegierten Modus. Nicht zum Kernel gehörende Teile heißen Userland. 13. Johannes B. Kerner. 56

3. Kernobstgewächse gehören zu der Familie der Rosengewächse. Ihre Frucht wird als Apfelfrucht bezeichnet und ist botanisch gesehen eine sogenannte Sammelbalgfrucht. Die eigentlichen (fünf) Früchte liegen im Inneren und enthalten die Kerne, das Fruchtfleisch ist nur eine Scheinfrucht.

14. Und das Schönste, was Wikipedia in Sachen Kern zu bieten hatte: „p heißt isolierter Punkt von M, wenn er in M liegt, aber kein Häufungspunkt von M ist. p heißt unverdichtet, falls er kein Verdichtungspunkt von M ist. Mengen ohne isolierte Punkte heißen insichdicht. Mengen, die nur aus isolierten Punkten bestehen, heißen isolierte Mengen. In einem T1-Raum sind die abgeschlossene Hülle einer insichdichten Menge sowie die Vereinigung von insichdichten Mengen insichdicht. Die relativ offenen Teilmengen einer insichdichten Menge sind auch insichdicht. Die Vereinigung aller insichdichten Teilmengen von M heißt der insichdichte Kern von M. Mengen, deren insichdichte Kerne leer sind, heißen separiert. Jede isolierte Menge ist separiert, nicht aber umgekehrt. In einem T1-Raum ist der insichdichte Kern von M die bezüglich der Inklusion größte insichdichte Teilmenge von M. Abgeschlossene insichdichte Mengen heißen perfekt.“


3 x 100 Wörter zum Thema

In meiner letzten Lieferung Gras waren zu viele Samen drin. Das ist erst ein paar Mal passiert, bei über einer Tonne in den letzten zehn Jahren. Aber natürlich ist das scheiße, Samen machen Kopfschmerzen, und man muss das auch dazusagen, selbst wenn man nicht mit dem Preis runtergeht. Ich persönlich sammel auf jeden Fall vor dem Bauen die Samen raus. Aber essen kann man die schon, gibt’s auch als Packung bei Alnatura. Wahrscheinlich kommen keine Beschwerden ... Die Marktlage ist in Neukölln momentan nicht so geil, auch das Haze ist zu oft mit Hazespray gestreckt. Geraucht wird’s trotzdem.

Die Erde hat einen überwiegend flüssigen Kern aus Eisennickellegierung. Immerhin ein Drittel der Erde besteht aus diesem Material. Mehr als dreitausend Grad Celsius heiß. Versteckt in der Tiefe der Erde. Wir haben nichts mit ihm zu tun, wir sehen, hören, spüren ihn nicht. Jedoch: Dein und mein Leben hängt von ihm ab, von seinem Magnetfeld, welches unsere lebensspendende Atmosphäre schützt. Schützt vor der Erosion durch den Strom geladener Teilchen von der Sonne, schützt vor tödlicher kosmischer Strahlung. Der Kern der Erde birgt immer noch viele Rätsel. Die meisten kümmert es nicht. Er ist da, macht seine Arbeit. Für uns.

Brasco, Entrepreneur, Neukölln (Klarname ist der Redaktion bekannt)

Harry Becker, Professor für Geochemie, Freie Universität Berlin

Bei uns Physikern ist der Begriff Kern wenigstens gut definiert: Es geht um den des Atoms. Und der bewegt sich, meistens ganz schön schnell, vor allem in Molekülen und Festkörpern. Nicht so schnell wie Elektronen oder gar Licht – aber immerhin mit etwa 10.000 Stundenkilometern, 30 Mal schneller als jeder Sportwagen. Ohne diese Bewegung würden Solarzellen nicht funktionieren und Leuchtdioden auch nicht. Man könnte also keine erneuerbare Energie erzeugen und Fahrräder wären nachts auch nicht beleuchtet. Deshalb versuchen wir Physiker die Bewegung von den Kernen besser zu verstehen, Am besten macht man dazu ein paar Videos von der Kernbewegung. Aber wie geht das, wenn sich die Kerne doch so schnell bewegen? Das kann ich jetzt leider nicht mehr erklären, denn die hundert Wörter sind schon um. Aber ruft mich halt an oder schickt mir eine Mail. Fragt nach! Christoph Lienau, Professor für Physik, Universität Oldenburg

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Wir danken ganz herzlich allen Unterstützerinnen und Unterstützern unserer Crowdfunding-Kampagne, namentlich seien Zsófia Otte und Dr. Karin Gilmore genannt!

Impressum Sachen mit Wœrtern. Zeitschrift für Literatur und Ähnliches. Herausgabe, Redaktion und Vertrieb: Anneke Lubkowitz Theresa Lienau Laura Schlingloff Mena Koller Kontakt: Magdalena Koller Siegfriedstraße 11 12051 Berlin sachenmitwoertern@mail.de sachenmitwoertern.com Illustration: Pètrus ºAkkordéon und Dorka Csóra Grafik „Hardcore Soft Skills“: Leslie Büttel Layout: Theresa Lienau Druck: Metropol Druck Auflage: 250 Exemplare Erscheinungsweise: halbjährlich Preis: 3,50 Euro Alle Rechte an den abgedruckten Texten liegen bei den Autorinnen und Autoren. Ausgabe 06, Februar 2016 ISSN 2365-8843 Unterstützt von:

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Während einiger Tage führte uns ein vermehrt abschüssiger Weg, der mitunter selbst erschrecklich senkrecht war, tief in’s Innere des Erdkerns. (Reise zum Mittelpunkt der Erde // Jules Verne)

But the hazels rose / Tall and erect, with tempting clusters hung, / A virgin scene! (Nutting // William Wordsworth)

Her teeth showed like white seeds in a scarlet fruit. (The Picture of Dorian Gray // Oscar Wilde)

All true histories contain instruction; though, in some, the treasure may be hard to find, and when found, so trivial in quantity, that the dry, shriveled kernel scarcely compensates for the trouble of cracking the nut. (Agnes Grey // Anne Brontë)

!/ ern aK K s del er t I Pu st? D (Faus he) s e a r d ol n. oet wa er Sk lache on G o d v ls s a ren ich ng Da n fah cht m olfga Ei s ma nn W su Joha //

But Marlow was not typical (if his propensity to spin yarns be excepted), and to him the meaning of an episode was not inside like a kernel but outside, enveloping the tale which brought it out only as a glow brings out a haze, in the likeness of one of these misty halos that sometimes are made visible by the spectral illumination of moonshine. (Heart of Darkness // Joseph Conrad)

„Ich geh jetzt morden“, sagte der Räuberhauptmann Nickel Kernbeißer und zog den Lederkoller fester. (In des Waldes tiefsten Gründen // Kurt Tucholsky)

Das Philistertum ist eine harte Nuß, nicht leicht aufzubeißen, und mancher Kern vertrocknet unter dieser harten Schale. (Bettina von Arnim)

Illustration von Dorka Csóra


Marina Büttner // Jonis Hartmann // Carla Hegerl // Magda Kotek // Miku Sophie Kühmel // Bernd Lütt gerding // Sören Maahs // Valen tin Moritz // Pega Mund // Márió Z. Nemes // Rudolf Nuss // Martin Piekar // Simone Scharbert // Cle mens Schittko // Saskia Trebing // Mikael Vogel // Matthias Weglage

Preis: 3,50 Euro. ISSN 2365-8843 fb.com/sachenmitwoertern | issuu.com/sachenmitwoertern sachenmitwoertern.com | sachenmitwoertern@mail.de


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