Schreiber vs. Schneider. Nun sag, wie hast Du's mit der Liebe? LESEPROBE

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Schreiber vs. Schneider Das neue Buch der Paar-Kolumnisten. Lustiger, persĂśnlicher und facettenreicher hat noch niemand Ăźber die Liebe geschrieben!


Für die Welt bist du irgend­jemand, aber für irgendjemand bist du die Welt. Erich Fried Lyriker 1921  –   1 988


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Prolog: Warum ein Supermarkt kein natürliches Habitat für Männer ist, wieso aus ihrem Nein irgendwann doch ein Ja wird und überhaupt: die Gebrauchsanweisung für dieses Buch.

ER: Liebe Leserin, lieber Leser, die Liebe ist schon deshalb eine

Herausforderung, weil mindestens – und meist ist es die Regel – zwei Leute daran beteiligt sind. Nehmen wir Schreiber und mich. Ich liebe sie, ich liebe das Leben mit ihr, ich liebe unsere gemeinsamen Kinder, ja, ich arbeite sogar sehr viel mit ihr zusammen. Aber muss ich deswegen wirklich alles an ihr lieben? SIE: Das fängt ja gut an … ER: Lassen Sie mich drei Jahrzehnte zurückblicken. Mein Nachbar

hatte mir damals von Mann zu Mann gesagt – er war 50 und ich 25, also eher von Mann zu Jüngling –, man solle erst mit 35 heiraten. Es gibt Sätze, die man einmal hört und nie mehr vergisst, weil man spürt, dass sie etwas mit einem selbst zu tun haben. So war es auch bei mir. Zwar habe ich nicht mit 35 Jahren geheiratet, sondern etwas später. Aber als ich 35 war, war die Sache geritzt: Ich hatte meine große Liebe gefunden, die nicht bloß in der Gegenwart gefangen war, sondern mit der ich in die Zukunft schauen konnte. Allerdings brauchte das einige Jahre an Vorarbeit. Das Objekt meiner Begierde ließ mich nämlich zappeln. Sie war noch in einer anderen


Beziehung, zumindest zu Beginn, als ich mich in sie verliebte, doch dann war sie frei, aber nicht frei für mich, sondern frei für sich. Es war ein verdammt hartes Stück Arbeit, sie immer wieder von mir zu überzeugen, umso mehr, als ich nicht gerade viel zu bieten hatte (kein Geld, keine Karriere in Aussicht, einen halben Kopf kürzer). Aber ich blieb dran, denn zum ersten Mal war ich bombensicher, dass diese Frau die Person war, mit der ich das weitere Leben verbringen wollte. Wobei ich natürlich wusste, dass Bomben auch Blindgänger sein können, aber das Gefühl war da, dass das eine lange Geschichte werden könnte, und deshalb ließ ich nicht locker. Es ging hin und her, die Verliebtheit war wunderschön und grauenhaft, je nachdem, in welchem Beziehungsstatus wir uns gerade befanden. Aber dann, nach diesen Jahren Kampf und Krisen, war die Sache klar – für sie sogar früher als für mich. Wir sind uns bis heute nicht einig, wann wir wirklich ein Paar wurden. Daten sind nicht so unsere Sache, wir vergessen beide auch regelmäßig unseren Hochzeitstag und müssen jeweils auf der Innenseite unserer Ringe nachsehen. SIE: Beim ersten Kind lebten wir noch getrennt. Das war witzig. Wir

waren zwar bereits eine Kleinfamilie, konnten aber immer noch unsere Alleinezeit leben. Besonders schön war’s, wenn er mich und unsere Kleine am Sonntag zum Frühstück einlud. Ein gedeckter Tisch, ein selbst gebackenes Brot, ich war Gast und wurde bedient. Herrlich! ER: Wir bekamen ein zweites Mädchen. Was mehr brauchte es zum

Glück? Nichts. Dachte ich zumindest, denn meine große Liebe wollte eine Kleinigkeit korrigieren. SIE: Er nennt es Kleinigkeit, das Heiraten. Ist es nicht – und zudem wollte ich einen Antrag. In dieser Sache bin ich von ganzem Herzen altmodisch. Aber das habe ich ihm so nie gesagt. Ich wollte, dass er es merkte. Also kein Antrag auf Kommando, sondern aus freien Stücken. Was dann leider ziemlich lange dauerte.


ER: Sie hatte immer gesagt, dass sie mir nie einen Antrag machen würde. Das fand ich völlig in Ordnung. Sie war so modern, emanzipiert, selbstständig, wir teilten alles, Arbeit, Kinder, Alltag. Es kam mir einfach nicht in den Sinn zu heiraten. Was sollte eine Hochzeit denn beweisen? Ich wusste ja, dass wir zusammengehörten. Dann kündigte sie völlig überraschend – unsere zweite Tochter war mittlerweile halbjährig – ein Liebeswochenende an, für uns allein. Sie sagte, sie würde uns in einem Monat in ein Hotel an einen Ort entführen, wo wir schon immer mal hingewollt hätten, meine Eltern würden auf die Kinder aufpassen. Sie wissen sicher schon, liebe Leserin, lieber Leser, was das bedeutete. Und auch mir dämmerte es langsam. Ihre Haltung zu Heiratsanträgen sollte ich ganz anders verstehen, nämlich so, dass ICH gefälligst einen machen müsse. Und zwar dort, in jenem geheimen Hotel an dem geheimen Ort. Ich überlegte und kam zum Schluss: Wenn ihr wirklich so viel am Heiraten lag, dann würde ich sie eben heiraten. Aber vermutlich müsste ich mir dann für den Rest meines Lebens anhören, dass sie alles für den Antrag arrangiert hatte. Darauf hatte ich gar keine Lust. Also organisierte ich ebenfalls ein Überraschungswochenende, eine Woche vor dem ihrigen. An einem Ort, von dem ich glaubte, dass sie dort immer schon mal hinwollte. Meine Eltern waren erstaunt, dass sie schon wieder die Kinder hüten sollten. Ich buchte die Zugtickets, wir fuhren ins Unterengadin, sie stutzte. Ich hielt dicht. Wir betraten das Hotel, sie freute sich gar nicht. Die Frau am Empfang fragte, ob wir nun Schneider oder Schreiber hießen, sie sehe im Computer, dass wir in einer Woche bereits wiederkämen. Wir hatten zufällig dasselbe Hotel und dieselbe Suite gebucht. In einem Hotel an einem Ort, an dem wir beide noch nie gewesen waren. Sie sehen, das konnte doch unmöglich ein Zufall sein! Der Moment des Antrags rückte näher. Er kam mir nur schwer über die Lippen, ich rang nach Worten und nach Luft, auch weil wir unter der Bettdecke lagen, und flüsterte sozusagen blind im Dunkeln, ob sie meine Frau werden wollte.


SIE: Es war wunderbar kitschromanig. Schneider hatte mich mit

seinem Vordrängeln in Sachen Liebeswochenende wonnig überrascht. So richtig deutlich verstanden hatte ich seinen Heiratsantrag allerdings nicht, was nicht nur daran lag, dass Schneider nuschelte, sondern auch daran, dass der Fernseher in erstaunlicher Lautstärke lief und Heinz Rühmann grad die Feuerzangenbowle braute. Schneiders Antrag war also nicht perfekt und genau darum vollkommen richtig. Denn sind es nicht diese kleinen Webfehler, die Zufälle, die der Liebe den romantischen Zuckerguss verleihen? Zudem liebe ich auch Heinz Rühmann. ER: Muss ich also wirklich alles an ihr lieben, um noch einmal auf die

Anfangsfrage zurückzukommen? Sind wir eins? Manchmal denke ich: Ja. Zum Beispiel dann, wenn ich schon drei Sekunden bevor das Telefon klingelt weiß, dass sie anrufen wird. Oder wenn wir auf einem Spaziergang beide schweigen, beide gleichzeitig zu reden beginnen und beide das gleiche Thema haben, weil wir beide gleichzeitig daran gedacht haben. Aber trotz all dieser Nähe sind wir längst nicht immer einer Meinung. Wir haben Auseinandersetzungen, wir denken zuweilen komplett anders (Formel 1, Nutella, Flugreisen), wir blicken nicht immer auf dieselbe Weise auf die Welt, auf uns, auf die Liebe. SIE: Ich meine, muss nicht jeder seine ureigene Definition von Liebe

entdecken? Was gestern für mich Liebe war, ist morgen vielleicht nicht mehr so. Die Liebe wandelt sich mit mir. Ist es nicht richtiger zu fragen, was für einen selbst die Liebe ist, statt sie dem anderen zu erklären? Lautet die beste Frage, wenn es um dieses Thema geht, also nicht: »Nun sag, wie hast du’s mit der Liebe?« ER: Es klingt einfacher, als es ist, gemeinsam ein Buch über die

Liebe zu schreiben. Denn wie verhandeln wir unsere unterschiedlichen Ansichten? Wir sind ja nicht zufällig Schreiber vs. Schneider.


Vs. steht für »versus«, gemäß Duden bedeutet das »gegen«. Sie sehen den Konflikt? Denn sie wird nicht dasselbe antworten wie ich, wenn ich frage: »Nun sag, wie hast du’s mit der Liebe?« SIE: Er spricht, wie Sie lesen konnten, sehr gern von Konflikten. Er

schwärmt regelrecht davon. Er behauptet, ohne Konflikte gäbe es keine Entwicklung, keine Spannung, alles wäre eintönig und langweilig. Was soll ich da sagen? Ich könnte wunderbar ohne Konflikte leben. Ich brauche keine Spannung, die verursacht bei mir nur Herzrasen. Ich bin vielleicht in seinen Augen etwas langweilig, aber glauben Sie mir: Ich kann sehr einfach glücklich sein. Dazu braucht es nicht viel. Eine zärtliche Berührung. Das Lachen unserer Töchter. Die Blüte einer Nachtkerze, die sich in der Dämmerung aufblättert. Frische Erdbeermarmelade. Der Molch in unserem kleinen Gartenteich oder eine neue Handtasche. Zum Glück haben wir unsere Kolumnen, die wir seit über zwanzig Jahren schreiben. Sie sind meine Art Ehetherapie. Schneider versteht das nicht, denn er meint, wir hätten zwar Konflikte, aber keine Probleme, wozu also eine Therapie? Dass wir wöchentlich unsere alltäglichen Krisenherde unter die Lupe nehmen, macht diese erträglicher. Unser verbaler Schlagabtausch ist ein Ventil. Seine Sicht versus meine Sicht auf ganz alltäglichen Kleinkram, der einen aufreiben könnte, wenn er sich zu sehr anhäufte. Kleinkram wie: dass Schneider praktisch blind durchs Leben geht und Dinge nur darum findet, weil ich weiß, wo sie sind. Wie oft hat er mich gefragt, wo die Autoschlüssel, seine Brille, sein Portemonnaie seien? Dass er nicht einmal Mascarpone im Supermarkt findet, hat vielleicht auch ein bisschen mit seiner, nun, geistigen Leistungsfähigkeit zu tun. ER: Sie denkt, ich sei zu beschränkt, um Mascarpone im Super-

markt zu finden. Es stimmt, dass es mir nicht leichtfällt, aber das hat nichts mit meiner Intelligenz zu tun. Im Gegenteil. Wir Männer


sind dafür gemacht, in einer wilden, gefährlichen Welt Nahrung zu beschaffen. Heutzutage liegt das Essen aber abgepackt und reglos in einem Regal. Wenn ich also rat- und tatenlos vor dem Kühlregal stehe, dann deshalb, weil ich überqualifiziert bin. Ein Supermarkt ist alles andere als eine artgerechte Umgebung für mich. SIE: Wenn seine Nahrungsbeschaffungs-Entwicklung in einer Zeit

abgeschlossen wurde, als sich das Essen noch bewegte, dann ist das schon sehr, sehr lange her. Aber Sie sehen, er hat auch große Qualitäten, sich herauszureden. Überqualifiziert! So was! Dass ich ihn trotz einiger Schwachpunkte liebe, hängt vielleicht auch mit dem Blickwinkel zusammen. Wie nehme ich ihn wahr? Wie sehe ich unsere Liebe? Und vor allem: Über was kann ich hinwegsehen? Über vieles, in der Tat, was nicht nur daran liegt, dass ich fast einen Kopf größer bin als er. Körperlich bedingt leben wir sozusagen in unterschiedlichen Klimazonen. Das ist kein Problem und auch kein Einzelfall. Die wunderschöne Sophia Loren und der, nun, eher runde als lange Carlo Ponti? Carla Bruni und ihr Sarkozy? Große Frauen, kleine Männer, glückliche Lieben. Nur, es gibt einen Unterschied: Jene Männer haben Geld. Weshalb ich mich trotzdem in ihn verliebt habe? Das verrate ich Ihnen später. Zuerst will ich Ihnen erklären, was Sie auf den folgenden Seiten erwartet: vieles zum größten und schönsten und wichtigsten aller Lebensthemen. War Schneiders Idee, dieses Buch. Ich sagte zuerst, wie so oft, Nein. Nein, kein Buch über die Liebe. Wir sind doch keine Therapeuten. Er sagte: Genau, kein Buch von Experten, sondern von Direktbetroffenen. Ein Lesebuch, das anregt, berührt, Kraft schenkt, lustig ist, tiefgründig und gleichzeitig leicht. Wie so oft sagte ich dann nach einer Weile doch Ja. Wir kamen auf die Idee, einfach Fragen zu stellen. Wir begannen bei den Kleinsten,


endeten bei den Reifsten, fragten Profis und uns selber, und diese Frage lautete eben: »Nun, wie hast du’s mit der Liebe?« Kinder, Teenager, junge Menschen, alte Menschen, Suchende, Einsame, Glückliche, Paare. Wir schrieben ein Buch, das so bunt und facettenreich ist wie die Liebe selbst. Wir werteten nicht, wir waren einfach nur neugierig. Die Namen und Orte wurden geändert, damit niemand unter seiner Offenheit leiden muss. Und zwischendurch werden wir uns an Sie wenden, liebe Leserin, lieber Leser, die Sie unsere Reisegefährten sind. Wir hoffen, dass Sie Überraschungen erleben, hoffentlich auch mal lachen, sich wundern und sich hin und wieder selbst erkennen. PS: Dass dieses Buch dann überhaupt zustande kam – Ideen haben

wir viele, nur fehlt für die Umsetzung meistens die Zeit –, das hat Schneider mir zu verdanken.


Nichts fördert das Kreative mehr als die Liebe, vorausgesetzt sie ist echt. Erich Fromm Psychoanalytiker 1900  –   1 980


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Von einer Chance und heimlichen Küssen, von Reiseplänen zu kurzberockten Spanierinnen, von der Enttäuschung über Tobias, vom zahmen Pferd und von Uschis weltschönstem Busen an der Wand.

SIE: Zugegeben: Der Zufall kam zu Hilfe. Ich spazierte mit unse-

rem Hund durchs Quartier. Es regnete, es war grau, weder Lilla noch ich hatten große Lust, länger draußen zu sein. Ich blickte zu Boden, um mich vor den Tropfen zu schützen, da sah ich etwas. Ein klitschnasser Zettel auf dem Asphalt. Ich habe mir schon vor einiger Zeit angewöhnt, herumliegenden Abfall aufzuheben und in den nächsten Mülleimer zu schmeißen. Also bückte ich mich. Weil der Zettel sehr sorgfältig gefaltet war, wurde ich neugierig und öffnete ihn. Mit blauem Buntstift stand da von kindlicher Hand geschrieben: Liebe Sherin Können wir uns an der Mauer hinter der Kirche treffen dan haben wir die größere Schons uns zu küssen. Ich liebe dich ich liebe dich ich liebe dich. Kein Absender. Dafür viele Herzen. Welche Leidenschaft! Und welch Unglück, dass der Brief auf der regennassen Straße lag! Ich fragte mich: Werden die beiden je die


Chance haben, einander zu küssen (es dauerte eine Sekunde, bis ich »Schons« richtig interpretiert hatte)? Ich ging am nächsten Mülleimer vorbei, ohne den Brief zu entsorgen. Nein. Das war ein Schatz. Wer wirft schon einen Liebesbrief weg? Ich als Allerletzte! Zu Hause zeigte ich den Brief Schneider. »Grandios!«, rief er in seiner gewohnt lauten Art, er ist ja zur Hälfte Italiener. »Ein Wink des Schicksals!« Und ich wartete darauf, dass er mich ebenfalls als »grandios« bezeichnen würde, aber das vergaß er. Stattdessen blickte er in die Weite, schwieg, was mir wohl zeigen sollte, dass er grad Bedeutsames dachte, kehrte von seiner offensichtlich tiefgründigen Gedankenreise zurück, sagte: »Ich fange sofort mit dem Buch an!«, hackte in die Tasten – und dann ging es hin und her … ER: Ich erinnere mich genau an meinen ersten Kuss. Sie war ein

Jahr jünger, vermutlich viereinhalb, als ich und drei weitere Jungs ihr, Karin, reihum einen Kuss auf die Lippen drückten. Es war aufregend, aber nicht erregend (auf alle Fälle nie so erregend wie der erste Regenwurm, den ich als Mutprobe schluckte). Spannender war da schon, als wir kurze Zeit später in der alten Kiesgrube, diesmal nur Karin und ich, unsere Hosen über die Knie hinunterschoben und guckten, was wir beim anderen zu sehen bekamen. Ich nahm zur Kenntnis, dass die ganze Sache sehr aufregend war. Der Blick an die Stelle, wo bei ihr nichts war, zumindest nicht das, was bei mir an gleicher Stelle hing, war eine erregende Entdeckung. Es war nicht so, dass dieses Nichts nichts war, im Gegenteil, es war ganz viel, aber es war nur ein Gefühl, kein Wissen. Damals. Später war das anders. Ich las darüber und erfuhr, dass Menschen gleich nach der Geburt Lust verspüren, und als meine Eltern meinen ersten Geburtstag feierten, interessierte mich vermutlich mehr das fröhliche Herumfummeln an meinen Genitalien als irgendwelche


Geschenke. Heute weiß ich, dass ich von Anfang an ein sexuelles Wesen war. Sie waren das übrigens auch. Und dazu unheimlich lernfähig, in jedem Bereich. Sie und ich, wir haben unentwegt von morgens bis abends trainiert, erlebten ständig Neues, begegneten neuen Menschen, Tieren, Pflanzen und Maschinen. Wir bildeten Tag für Tag Millionen neuer Nervenzellen, probten den aufrechten Gang, lernten mindestens eine Sprache. Wir hatten keine Vergangenheit und keine Zukunft – schon gar nicht hatten wir Angst davor –, wir spielten, wir kämpften, wir schrien, und wir erkannten die Gestalt, die vor uns im Spiegel auftauchte, mit etwa 2 Jahren zum ersten Mal als unser Ich. Mit 3 hatten wir unsere ersten Geheimnisse, und mit 4 logen wir zum ersten Mal, um uns aus brenzligen Situationen zu retten. Ein schlechtes Gewissen kriegten wir dabei nicht – das hatten wir erst mit etwa 5 Jahren das erste Mal. Und damit wir die große weite Welt um uns herum verstehen lernten, bauten wir uns Modelle, die wir nach neuen Erfahrungen wieder modifizierten. Zum Beispiel war ich fasziniert von unserem Plattenspieler. Ich durfte ihn nicht selber bedienen, aber ich fand dennoch heraus, wie er funktionierte: Irgendwo auf der Welt standen Musikgruppen und Orchester auf Abruf bereit. Sobald sich der Tonarm senkte, fingen sie an, Musik zu machen. Deshalb war mir auch sonnenklar, dass Babys durch den Bauchnabel in die Mutter gelangten und dort heranwuchsen, bis sie an gleicher Stelle wieder herauskamen. Die Welt war damals ziemlich in Ordnung. Und es war nicht nur ein grandioses Gefühl, an sich selbst herumzufummeln, sondern auch, irgendwie zu kapieren, dass die Fummelei mit anderen auf einen wartete. Ich hatte keinerlei Stress. Nur eine große Neugierde in mir. SIE: Zum ersten Mal verliebt war ich in Manuela. Meine beste Freun-

din in einem spießigen Vorort von München. Lauter Einfamilienhäuser, die in den Fünfzigerjahren aneinandergereiht worden waren. Alle mit Garage. Im Nachbarort kamen wir gemeinsam in die erste


Klasse. Ich durfte nicht mit links schreiben und wurde von Frau Ilsung immer an die Tafel gestellt. Manuela strahlte mich an. Wir waren füreinander bestimmt. Wir verbrachten jede freie Minute zusammen, und einmal habe ich ihr und mir sogar das Leben gerettet, als uns ein Mann in sein Auto locken wollte. Auf unserem Schulweg, der direkt an einer schnurgeraden Landstraße entlangführte. Wir waren auf dem Nachhauseweg, kamen kaum vom Fleck, dauernd mussten wir uns was erzählen, vom Hubert und vom Hubert und vom Hubert. Gemeinsam in denselben Jungen verknallt zu sein, war für mich nur der Beweis, dass Manuela und ich zusammengehörten. ER: Meine erste große Liebe? Zweifellos meine Mutter. Die Schwarz-

Weiß-Fotos zeigen eine zierliche, dunkelhaarige, feminine Frau mit großen Augen, schmalen Handgelenken und zarten Fesseln. Auf solch wohlgeformte Fußknöchel habe ich später immer geachtet, seltsamerweise hatte keine meiner Lieben aber je sonderlich zarte Fesseln. Ich war der älteste von vier Jungs. War mein Vater erst mal aus dem Bett, kroch einer nach dem anderen von uns Buben zur Mutter unter die tonnenschwere Steppdecke. Darunter war es warm und geborgen, und alle schliefen wir noch zwei Stunden. Es war zweifellos ein sehr gutes Gefühl, neben meiner Mutter zu liegen, ihren Atem zu spüren. Dass meine Brüder auch neben mir lagen, war egal, ich konnte diesbezüglich gut teilen. Nur eines war klar: Wenn wir groß wären, würde ich allein meine Mutter heiraten. Die sinnliche Welt außerhalb des Ehebettes meiner Eltern lernte ich ebenfalls früh kennen. Mein Großvater besaß eine Fabrik, ein Universum des Glücks für einen Buben. In dieser Fabrik gab es allerhand Werkstoffe, Werkzeuge, Wasserschläuche, Schlammkanäle, aber auch Wandkalender mit spärlich bekleideten erwachsenen Frauen im Mannschaftsraum. Für die Betonproduktion gab es überdies riesige Haufen von kleinem und größerem Rundkies, Split und Sand. An Samstagnachmittagen schlich ich dorthin, zog


Schuhe und Socken aus und bestieg diese Berge. Der kühle Sand rieselte zwischen die Zehen, und der Kies kitzelte die Fußsohlen. Im Untergeschoss bestanden die Berge aus Sägemehl und Hobelspänen. Ich machte großartige sinnliche Ganzkörpererfahrungen im Holzmehl, in das ich mich mit größtem Vergnügen eingrub. Im fluffigen Hobelspänehaufen versank ich noch viel schneller, es war die reine Wonne. Mein anderer Großvater, der Vater meiner Mutter, hatte einen Bauernhof in Italien. Wir verbrachten dort unsere Sommerferien, jagten barfuß Frösche in den Kanälen zwischen den Feldern und versuchten vergeblich, in den Flüssen Fische zu fangen. Ich hatte aber auch meine Geheimnisse. Etwa im Heustock. Dort baute ich mir eine Höhle, das Heu raschelte und roch würzig, es piekste, und Staub wirbelte in den Sonnenstrahlen, die durch die Ritzen im Dach fielen. Unglücklicherweise wurde es in der Höhle schnell langweilig. Spannender war, als ich auf dem Boden eines anderen Stalls zwei interessante Haufen fand. Denn mein Großvater baute viel Mais an, aus dem meine Großmutter die Polenta kochte. Der eine Haufen bestand aus den braunen Kolben, die sie zum Feuern und Heizen brauchten. Die Kolbenkletterei war freilich unbefriedigend, man kam nicht recht voran. Der danebenliegende Haufen leuchtender Maiskörner hingegen zog mich an. Zwar waren die Körner selbst sehr hart, aber sie waren wie von Puder überzogen, ich glitt geschmeidig hinein. Auf Dauer reichten zur Entdeckung der eigenen Sinnlichkeit aber Sand, Kies und Mais nicht aus. Meine Neugier wandte sich Menschen zu. Zum Glück kam ich in den Kindergarten und fand dort einen allerbesten Freund sowie ein Dutzend Mädchen. Dani und ich begleiteten eine ganze Weile eines dieser Mädchen nach Hause. Sie hieß Lydia. Lydia war Spanierin, hatte lange schwarze Haare und trug, auch im Winter, einen kurzen Rock. Dani und ich schworen einander, nach Spanien zu fahren, wenn wir größer wären, so


8 oder 9, weil wir überzeugt waren, dass in Spanien alle Mädchen kurze Röcke tragen. Wir begleiteten Lydia allerdings mit zwanzig Metern Abstand nach Hause. So konnten wir auf dem Weg auch mal eine Blindschleiche beobachten oder Steine kicken, denn unentwegt prickelnd war das Eskortieren auf Distanz nicht. Aber ein Vorgeschmack dessen, was alles noch vor uns liegen würde, vor meinem besten Freund und mir. SIE: Wie es sich für eine richtige Liebe gehört, stellte sich auch bei

mir irgendwann der Kummer ein. Wir zogen aus dem Provinznest in die Großstadt München. Ich musste mich von Manuela trennen, dabei waren wir doch füreinander gemacht. Ich heulte den ganzen Weg, rund dreißig Minuten. Ich schrieb ihr Briefe von Hand, aber das war anstrengend als 7-Jährige. Einmal noch kam sie mich besuchen. Wir waren schweigsam und unbeholfen, sie trug immer noch zwei lange, dünne Zöpfe. Ich zerlöcherte Jeans und ein Batik-T-Shirt. Ich war ein Hippie, sie ein Landei – und unsere Liebe futsch. Ich war wirklich sehr traurig. Aber dafür habe ich dann Tobias kennengelernt. Er war der Sohn von Freunden meiner Eltern, er war wild und sehr schön. Er hatte tolle dicke Haare, die ich nur berühren konnte, wenn wir Reiter und Pferd spielten. In wechselnder Besetzung. Mal ich als Reiter, mal er. Wir trugen einander auf allen vieren durch die Altbauwohnung, zogen uns Spreißel in die Knie, striegelten uns und bürsteten die Mähne. Er war ein tolles Pferd, ich gab ihm Zuckerbrösel, die er aus meiner Hand leckte. Ich konnte dafür besser wiehern. Wir wurden größer und schwerer, polsterten unsere Knie mit Sofakissen, um das Gewicht besser abzufedern. Ich hätte ewig mit ihm spielen können, aber er fand auf einmal Mädchen und Pferde doof, verkleidete sich als Räuber mit Pfeil und Bogen und hatte immer andere Jungs bei sich, wenn ich zu Besuch war. Keiner wollte mich striegeln. Um mich herum wurde das Leben wilder. In der Wohngemeinschaft direkt unter unserer Wohnung gab es Feste, die meist damit endeten,


dass der Notarzt und die Polizei vorfuhren. Ich fand das sehr spaßig. Auch, dass sich alle dauernd in den Arm nahmen, Yoga machten, nackt rumliefen und dass ich, als ich aus der Schule kam, im Treppenhaus zwei dabei überraschte, wie sie heftig knutschten und nur noch teilflächig angezogen waren. Für mich war das normal. Kein bisschen peinlich. Ich sagte Hallo und ging weiter. An der Wand neben meinem Bett hatte ich die Reportage aus dem »Stern« über Rainer Langhans und Uschi Obermaier aufgehängt. Die waren auch halbnackt, und Uschi hatte den schönsten Busen der Welt. In der Schule gab’s einen Jungen, der kam an Fasching als Hexe, mit grüner Perücke, einem Besen, einem zerrissenen Umhang und langem Rock. Alle lachten ihn aus, ein Junge als Frau, so dämlich. Ich verliebte mich vom Fleck weg in seinen Mut. Die anderen waren Cowboys und Indianer und Polizisten. Die Hexe und ich redeten nie miteinander, aber als ich herausfand, dass er Leberkäs-Semmeln mochte, gab ich ihm in der großen Pause eine Hälfte von meiner. Wir aßen, wir schmatzten, ich war glücklich. Das wiederholte ich ein paar Mal. Dann war ich satt. Ich beobachtete die Erwachsenen. Ein Freundespaar meiner Eltern sah sehr elegant aus, sie hatte immer blutrot lackierte Fingernägel und trug eine Sonnenbrille so groß wie unsere Bratpfanne. Er rauchte Pfeife, sie redeten viel und ernst und nie mit uns. Sie hatten keine Kinder. Ich wusste auch warum. Weil sie nicht frei waren und nicht miteinander schliefen. Die in der Wohngemeinschaft waren frei. Dort hatte keine Frau lackierte Nägel, und geraucht wurde immer gemeinsam an einer Zigarette, die seltsam nach alten Socken roch und alle zum Lachen brachte. Mein erstes Geburtstagsfest feierte ich mit 10. Daheim in unserer Altbauwohnung. Ich lud meine damals beste Freundin Lotta ein und Tobias, mein Ex-Pferd, sowie einige Statisten. Wir spielten Kissenfang: Auf dem Boden verteilt lagen allerhand Kissen, der Boden war Wasser, die Kissen waren Inseln. Wer ins Wasser fiel, musste fangen. Wir hüpften von Kissen zu Kissen, und Lotta und Tobias


landeten oft auf demselben. Und dann kicherten sie und plumpsten um, meistens sehr kompliziert aufeinander, und kamen gar nicht mehr hoch. Wir anderen durften zuschauen, bis sie wieder auf den Beinen waren und sich unnötig viel dabei berührten. Nach meinem Geburtstag sagte mir Lotta, dass sie jetzt mit Tobias zusammen sei. Ich hatte also mein Lieblingspferd an meine beste Freundin verloren. Das Ende meines ersten Jahrzehnts in der Welt voll hüpfender Herzen war schmerzhaft. Geblieben war die Sehnsucht nach einem eigenen Pferd. ER: Nach dem Kindergarten kam mein bester Freund leider in eine

andere Klasse, dafür begann meine intellektuelle Phase. Mit der blassen, scheuen Charlotte fuhr ich auf dem Rad in die Schule. Wir sprachen nur wenig auf dem Weg, vielleicht gar nie, dafür lasen wir umso mehr im und nach dem Unterricht in den Büchern aus der Klassenbibliothek. Für jedes gelesene Buch machte die Lehrerin auf dem Zettel, der neben den Büchern aufgehängt war, einen Strich. Nach einigen Wochen lagen Charlotte und ich einsam und gemeinsam an der Spitze. Ich wollte gewinnen, und um sie zu überflügeln, blätterte ich auch schon mal ein paar Seiten ungelesen um, damit ich schneller einen weiteren Strich erhielt. Am Ende der zweiten Klasse lag ich knapp vorne, ich war der Sieger und galt fortan als Herr der Buchstaben und Wörter, zumindest vor mir selbst, und als ich mich in der dritten Klasse in Brigitte verliebte, teilte ich ihr das mittels klarer Worte in einem schönen Brief mit. Leider vergaß ich, meinen Namen drunterzuschreiben. So wurde aus Brigitte und mir nie ein Paar, was ich nach einer Weile verkraftet hatte. Ich konnte ihr sowieso nicht mein uneingeschränktes Interesse schenken, denn ich war beschäftigt mit wenigen, aber wichtigen Prü­ge­ leien auf dem Pausenplatz, um in der Nahrungskette im vorderen Drittel unterzukommen. Zudem forderte das schlichte Überleben unter den Fittichen eines verdammt strengen alten Lehrers viel Aufmerksamkeit.


Die Liebe trat dann in der vierten Klasse in der Gestalt von Karin wieder an mich heran. Das Ganze lief erneut schriftlich ab, denn mit Mädchen redete man als 11-Jähriger in unserem Dorf nicht. Der Post, die ich regelmäßig von ihr erhielt, entnahm ich, dass ich schön und lustig sei und tolle Locken hätte. Dazu lagen stets einige Heiligenbildchen im Couvert. Viel wichtiger aber waren die mehreren handgeschriebenen Seiten, die sie mir mitschickte. Abgeschriebene Texte aus Büchern. Denn wenn unser unerbittlicher Lehrer jemanden beim Schwatzen erwischte, musste der ihm am folgenden Tag eine abgeschriebene A4-Seite abliefern. Karin sei Dank hatte ich diesbezüglich eine schöne Reserve und keinerlei Stress. Ich liebte Karin nicht mit ganzem Herzen. Was ich liebte, war ihre Post an mich.


Zu den Autoren

Sybil Schreiber und Steven Schneider begeistern seit über zwanzig Jahren mit ihrer wöchentlichen Paarkolumne ein Millionenpublikum. Ihre Lesungen im deutschsprachigen Raum sind Kult. Die beiden treten auch als Solisten in Erscheinung. Sybil Schreiber gelang mit »Sophie hat die Gruppe verlassen« (2018, Salis) ein erfolgreiches literarisches Debüt. Steven Schneider nimmt in »Wir Superhelden« (2019, Salis) das Gefühlsleben der Männer unter die Lupe. Gemeinsam leiten Schreiber & Schneider das Geschichtenhaus Hirschli. Sie leben zwischen Basel und Zürich mit ihren beiden Töchtern, einem Hund und zwei Katzen. www.schreiber-schneider.ch


Schreiber vs. Schneider Nun sag, wie hast du’s mit der Liebe? Elster & Salis AG, Zürich info@elstersalis.com www.elstersalis.com

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Patrick Schär für Torat GmbH Peter Löffelholz für Torat GmbH alma.fantasia Geschichtenhaus Hirschli André Gstettenhofer, Peter Löffelholz www.torat.ch CPI Books GmbH, Leck 1. Auflage 2020 © 2020, Elster & Salis AG, Zürich Alle Rechte vorbehalten ISBN 978-3-03930-004-4 Printed in Germany Der Salis Verlag wird vom Bundesamt für Kultur mit einem Strukturbeitrag für die Jahre 2016–2020 unterstützt.


Leichtfüßig reisen die beiden in der Schweiz weltberühmten Kolumnisten durch die Welt der Gefühle und Träume, der Geheimnisse und Peinlichkeiten der Liebe. Sie befragen Menschen aller Altersstufen nach ihren Facetten dieses Gefühls – und sie erzählen von ihren eigenen Erfahrungen. Die Autoren hören Drittklässlern zu, die von ihrem ersten Kuss erzählen; sie betreiben Feldforschung im Reich der Teenager; sie gehen verkleidet auf eine Party ihrer Töchter. Sie befragen gemeinsam eine Psychologin, Schreiber interviewt Millennials und Schneider wird von einer 93-jährigen Dame verzaubert, die jeden Tag aufs Neue liebt. In ihren lebhaften Geschichten und Gesprächen beleuchten Sybil Schreiber und Steven Schneider die Neugier, die Entdeckungen und den Herzschmerz, die Zweifel und Wandlungen der Liebe. Die Antworten, die sie finden, sind unterhaltsam und humorvoll, mutig und inspirierend.


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