Lisbeth Exner. Realitätenhandlung. LESEPROBE

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Lisbeth Exner

Realitätenhandlung Neunundvierzig Minuten

Elster & Salis

WIEN

Roman



Elster & Salis

WIEN



Lisbeth Exner

Realitätenhandlung Neunundvierzig Minuten Roman


Gefördert von der Stadt Wien Kultur

Lisbeth Exner Realitätenhandlung – Neunundvierzig Minuten Roman Verlag

Lektorat Gestaltung & Satz Umschlagfoto Gesamtherstellung

Elster & Salis GmbH, Wien info@elstersalis.com www.elstersalis.com

Anja Linhart Michael Balgavy, DWTC Herbert Kapfer CPI Books GmbH, Leck 1. Auflage 2022 © 2022, Elster & Salis GmbH, Wien Alle Rechte vorbehalten ISBN 978-3-03930-037-2 Printed in Germany



Kondensperlen

Der Vollstrecker betrachtet den Papierstapel. Ein Sonnenstrahl, der sich in die düstere Mitte des vollgestopften Zimmers verirrt hat, fällt auf die akkurat übereinander ausgerichteten Kataloge, Prospekte, Zeitschriften und Postwurfsendungen. Der Turm reicht bis zu seinem Bauchnabel. In prekärer Höhe prangt zuoberst eine Hochglanzwerbung: Mehrere hügelan steigende kurze Rebzeilen, dahinter die hellgelbe Lösswand und darüber der sommerblaue Himmel. In leicht flirrender Hitze steht rechts im Vordergrund ein Glas Weißwein. Kondensperlen bedecken den Kelch. Der Arbeit als Gerichtsvollzieher sollte er nur in Häusern mit Lift nachgehen. Zum Glück hat sich sein Herz nach den vier Stockwerken inklusive Mezzanin inzwischen ein wenig beruhigt. Aber er ist noch immer kurzatmig. Wieder einmal fragt er sich, seit wann ihn diese bedrohlich entgleisenden inneren Vorgänge beeinträchtigen. Wahrscheinlich hat sich sein Gesundheitszustand schleichend verschlechtert. Das meint zumindest der praktische Arzt. Er zwingt sich, beim Ausatmen langsam bis vier zu zählen. Das wirkt meist entspannend. Trotzdem bleibt die Kehle trocken, die Zunge klebt pelzig am Gaumen. Schweißperlen stehen auf seiner Stirn. Die Brille rutscht Richtung Nasenspitze. Da kühlt ein Lufthauch seine Schläfen. Der glitzernde Weinkelch richtet sich aus der waagrechten Bildebene auf. Er sieht Tropfen den Stiel hinunterlaufen, die auf der Bodenplatte kurz stocken. Das 8


Papier darunter saugt sich langsam voll. Als er das Glas hochhebt, bleibt ein hässlich welliger Kreis zurück. Er beugt den Kopf leicht vor, die Nasenflügel zittern. Die gelbe Flüssigkeit duftet rauchig. Seine Wangen ziehen sich erwartungsvoll nach innen. Plötzlich signalisiert Kälte auf seinen Lippen Gefahr. Der frische Pfirsichgeschmack versetzt ihm einen schmerzhaften Schlag. Er taumelt, stößt gegen den links von ihm auf einem wackligen Beistelltisch platzierten Röhrenfernseher. Es gelingt ihm gerade noch, die herunterrutschende Zimmerantenne aufzufangen. Sein Herz rast, aber zum Glück ist die Vision weg. Ein Handgriff kann Sinnestäuschungen beenden. Trotzdem kostet es ihn viel Kraft, den halluzinierten Schluck Wein nicht auszuspucken. Als er merkt, dass er die Luft anhält, drückt er beim Ausatmen den Unterbauch nach vorn und zählt bis fünf. Dann beugt er sich hinunter. Er zieht das Dienstbuch für Vollstrecker aus seinem Rucksack und legt es auf die makellose Veltliner-Werbung.

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Pulteney

Der Blaumann steht vor einem der beiden Fenster. Obwohl die dunklen Samtvorhänge fast ganz geschlossen sind, ist es drückend heiß in dem riesigen Zimmer. Die durch den Spalt hereinfallenden Sonnenstrahlen grillen seinen Rücken und den Hinterkopf. Der Schweiß läuft ihm in die Augen. Da es aber sonst keine Möglichkeit gibt, sich von der düsteren Umgebung abzuheben, bleibt der Blaumann vor der Lichtquelle stehen. Es sollen ihn ja alle gut sehen können. Beim schnellen Inspektionsgang vorhin hat er sich schon einen Überblick über die Wohnung verschafft. Im sanitären Bereich hat man seit dem Baujahr 1890 nur wenig verändert. Am Spülkasten hoch oben im schlauchartigen Klo hängt eine verrostete Kette mit Holzknauf. Das zum urinbraun verfärbten Flachspüler führende Rohr ist an zwei Stellen mehr schlecht als recht abgedichtet. Nebenan im etwas breiteren Badezimmer steht die Wanne auf drei Klauenfüßen, der vierte ist durch mehrere Ziegelsteine ersetzt. Auf dem ausladenden Waschbecken unter dem teilweise blinden Spiegel und der abgeschlagenen Etagere sind Riesenhähne für Kalt- und Warmwasser angebracht. Über die antike Badausstattung hat sich der Blaumann nicht gewundert. Dass aber der vorsintflutliche Durchlauferhitzer noch betrieben werden darf, hat ihn doch erstaunt. Mit geübtem Blick hat er auch die Einrichtung der anderen Räume als antiquiert, aber wertlos taxiert. Im geräumigen 10


Schlafzimmer stehen neben einem Doppelbett, einem einzelnen Nachtkastl und dem wackligen Kleiderkasten unpassenderweise vier Sessel und ein mit der Längsseite an die Wand gerückter Esstisch. Alles schlechte Kriegs- oder Nachkriegsqualität, nur mehr Futter für die Müllverbrennungsanlage Pfaffenau. Das Dienerzimmer ist vollgerammelt mit Schachteln, die mottenzerfressene Männerkleidung, abgeschlagenes Geschirr, Schreibutensilien, Elektrokleingeräte, Serviettenpackungen und Fetzen enthalten. Höchstens der Vorrat von gut zweihundert fabriksneuen Glühbirnen in Türnähe ist interessant. Auf einem ausrangierten Bügelladen am anderen Ende des schmalen Kammerls stehen nicht mehr zugänglich direkt vor dem Fensterschlitz eine alte Nähmaschine und abgestorbene Kakteen. Lauter Entsorgungskosten verursachendes Glumpert. Nur in der Küche hat es bei ihm geklingelt. Nicht wegen des surrenden Eiskastens und des uralten Gasherds. Auch nicht wegen des halbwegs zeitgemäßen Tischgeschirrspülers und der Mikrowelle. Die kleine Holzkiste mit dem Old Pulteney war ebenfalls nur ein nettes Detail am Rande. Die hat er diskret im Rumpelkammerl zwischengelagert, um später in einem unbeobachteten Moment die Flasche mitnehmen zu können. Schottischer Whisky ist ja kein klassisches Delogierungsgut. Nein, an dieser ziemlich verlotterten blauen Einbauküche hat ihn etwas anderes frappiert. Nur was? Das sollte er kurz recherchieren. Dafür müsste er aber seinen Platz verlassen, was jetzt nicht ratsam ist. Langsam lässt das Brennen nach und seine Augen gewöhnen sich an die Dunkelheit. Der Blaumann sieht sich im Zim11


mer um. An drei Wänden Bücher vom Boden bis zur Decke. Davor überall hohe Zeitschriften- und Prospektstapel. Die bedecken abgesehen vom Freiraum um den Gaskonvektor und den Fauteuil und einer zentralen etwas größeren Fläche den ganzen Boden. Schmale Gänge führen von der Tür zum Fernseher in der Zimmermitte und von dort zur einzigen Sitzgelegenheit beziehungsweise zu den beiden Fenstern. An den regallosen Wandpartien hinter ihm türmen sich Papiere bis auf Kopfhöhe. Nur direkt vor den Kastenfenstern ist der verblichene, wahrscheinlich zimmergroße Perserteppich zu sehen. Als Mitarbeiter verschiedener Umzugsfirmen hat der Blaumann schon viele Wohnungen von innen kennengelernt. Überfüllte Bürgersalons und spartanische Studentenbuden, helle Kinderparadiese und dunkle Junkiehöhlen, religiöse, sportliche oder filmische Wallfahrtsorte und Yuppiedesign, das an Sterilität jedes Spital und Hallenbad übertrifft. Klo, Bad, Küche, Diener- und Schlafzimmer hier sind typisch für über viele Jahrzehnte vom selben Mieter genutzte Altbauwohnungen. Aber dieser papiergefüllte, entlang der verbliebenen Gänge kerzenbewehrte Rest! Dass ihn im Bereich städtischen Wohnens noch etwas überraschen könnte, hätte er nicht gedacht. Der Gerichtsvollzieher sicher auch nicht. Der ist total konsterniert durch die schmale Gasse im Vorzimmer getorkelt und steht nun auf dem einzigen freien Quadratmeter in der Mitte des großen Raums. Zum Glück ist dieser verklemmte Amtsmensch mit dem Erfassen der unglaublichen Fülle so beschäftigt gewesen, dass er nicht alle Beteiligten im Blick behalten konnte. Deswegen hat sich der Blaumann ja nach 12


seiner eigenmächtigen Blitzinspektion möglichst unauffällig rechts am Regal entlang gedrückt und ist über Papierhaufen geturnt, um sich dann demonstrativ vor das erste Fenster zu stellen. Täuschung durch Auffälligkeit, das beherrschte er schon im Josefstädter Pfarrkindergarten als einsames angebliches „Tschuschenbankert“ unter lauter gutbürgerlichen Rotznasen.

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Allerhöchste Gefahr

Als Eigentümerin kann sie keine Bedrohung ihrer Bausubstanz dulden. Sie trägt ja Verantwortung für ihr Erbe. Das ist sie Mama und Oma schuldig. Genauso hat sie Verpflichtungen gegenüber ihren Mietern. Als mütterliche Schutzmacht muss sie unter anderem auch für deren körperliche Unversehrtheit garantieren. Der Allgemeinheit gegenüber fühlt sie sich ebenfalls verantwortlich, obwohl die dem privaten Immobilienbesitzer nie für seinen Einsatz dankt. Brand oder Einsturz. Dafür braucht es normalerweise Kriege, Erdbeben, Superzellengewitter oder andere Naturkatastrophen. Im vorliegenden Fall fabriziert eine einzige Antagonistin die Bedrohungslage. Noch dazu mithilfe ganz simpler, überall verfügbarer, im Grunde harmloser Mittel. Inferno oder Untergang. Apokalyptische Szenarien. Da bleibt nur ein Fazit: Dieser Papierberg mit Kerzen muss weg und die Verursacherin ebenso. Von dieser Mieterin geht allerhöchste Gefahr aus. Dabei wirkt sie eigentlich total harmlos. Jetzt sitzt sie zusammengesunken und verloren in ihrem verschlissenen Fauteuil vor der langen Bücherwand. Die scheint die ganze Situation hier nicht zu verstehen. Erst recht hat sie keine Ahnung davon, was sie da angerichtet hat beziehungsweise anrichten könnte. Wer will so ein Unmensch sein und eine alte verwirrte Frau aus ihrer langjährigen Wohnung verjagen? Sie nicht. Als Vermieterin will sie anders als ihre kaltherzige Oma agieren. Sie hat nichts gegen Außenseiter, im Gegenteil fasziniert sie alles Unkonventionelle. Und 14


Immobilienbesitz ist nicht ihr alleiniger Lebenszweck, dem Menschen prinzipiell untergeordnet werden. Egal ob Mieter im Allgemeinen oder Verwandte im Besonderen. Oma kassierte nämlich auch von ihren Kindern geschäftstüchtig die höchst mögliche Miete. Unabhängig davon, in welcher Lebenssituation die steckten. Obwohl sie selbst so viel verdiente, dass sie sich in Hietzing ein Einfamilienhaus mit großem Garten und Köchin leisten konnte. Blutsverwandtschaft schützt eben nicht vor Ausbeutung. Oma hätte auch die Enkel zur Kasse gebeten, wenn sie da nicht schon tot gewesen wäre. Der Besitz zuerst. Ein Familiendogma, dem sich auch Mama nicht entziehen wollte. Und sie selbst? Wie will sie sich auf ihrem Stehplatz neben der Tür verhalten? Als Eigentümerin ist sie hier ja die treibende Kraft.

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Bombenangriff

Wir sitzen auf dem weichen Boden. Immer neue unbekannte Wege lassen sich in dem tiefen Rot entdecken. Die hellblauen Ranken führen zu rosaroten oder orangen Blütenknospen. Grüne Stängel mit Blättchen zweigen wieder in andere Richtungen ab. Die Farben machen uns froh. Es stört nicht, dass wir schon lange allein sind. Mit den Augen folgen wir den Schlangenlinien bis zu den großen Blumen auf dunkelblauem Grund. Dann kommen drei Striche in Rosa, Grau und Blau. Über den abschließenden kleinen Blüten taucht die weiß-braun gestreifte Wand auf. Da dürfen wir nicht hin. Der strenge Mann schimpft dann immer laut. Aber jetzt ist er ja nicht da. Wir wechseln auf alle viere, wippen ein wenig hin und her und krabbeln über den Teppich zum Holzboden vor dem Regal. An einem Brett ziehen wir uns hoch und stehen stolz da. Leider sieht niemand, wie gut wir das schon können. Direkt vor der Nase duften leise die Buchklötze. Wir greifen nach einem. Der lässt sich nicht bewegen. Auch nicht, als wir frei stehend mit beiden Händen zupacken. Früher waren die nebeneinander stehenden Klötze bunt und glatt. Jetzt sind sie weiß und rau. Sie stecken ganz fest. Es summt leise. Wir schauen erstaunt zur Decke. Es rauscht immer heftiger. Unser ganzer Körper vibriert. Wir fallen auf den Popo. Es gibt einen Knall, einen zweiten, lauteren. Sitzend machen wir Luftsprünge. Es klirrt laut. Dann wird es wieder ruhig. Plötzlich ist es hell. Wir drehen uns um. 16


Vor den Fenstern auf der anderen Seite des Zimmers liegen schmutzige Scherben. Komisch, die Sonne hat hier noch nie hereingeschienen. Es wird kalt. Wir frieren ganz entsetzlich. Da fürchten wir uns und weinen. Der dürre Herrscher der Wände soll uns auf den Arm nehmen. Obwohl wir schlimm gewesen sind. Aber er ist nicht da. Und die traurige Frau? Die ist doch sonst immer in der Nähe. Bemerken tut die uns freilich nur selten. Die lächelt nicht, spricht nur mit sich selbst. Deswegen sehnen wir uns meist nicht nach ihr. Jetzt aber, so einsam in der grellen Kälte, vermissen wir sie. Als wir uns suchend umschauen, stehen plötzlich farblose Unbekannte starr im Zimmer. Ein hässlicher Zwerg posiert beim Fernseher und ein dunkler Zauberer verdeckt das eine Fenster. Eine komische Hexe steht direkt neben der Tür bei der rechten schmalen Regalwand.Vor der linken hockt ein Struwwelpeter auf dem Boden, versteckt hinter Papierstapeln. Wir selbst thronen mit elegant übereinandergeschlagenen Beinen im Fauteuil. Der ist doch auch verboten. Gilt als zu schön für schmutzige Kinderhände, zu hoch, zu gefährlich.Wie sind wir da hinaufgekommen? Ach so, wir sind plötzlich wieder groß. Diese Halluzinationen! Die sind manchmal schon verstörend. Da haben wir also wieder eine Zeitreise unternommen, diesmal siebeneinhalb Jahrzehnte zurück bis in unser erstes Lebensjahr. Verrückt und zugleich hochinteressant. Denn wer kann sich schon an so frühe Abenteuer erinnern. An die immense Freude darüber, sich eigenständig fortzubewegen. An das Glück, Gegenstände verrücken zu können vom Hier ins magische Fort.

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Wir müssen lächeln. Um seine Bücher vor dem neugierigen Töchterlein zu schützen, hat der gute Paps sie einfach eng und verkehrt herum aufgestellt, also mit dem Buchrücken zur Wand und dem Vorderschnitt Richtung Zimmer. Welch geniale und einfache Idee. Mutti hätte sich darüber nie Gedanken gemacht. Die hat uns als Säugling und Kleinkind laut Paps ja oft einfach vergessen. So soll sie uns bei einem der Luftangriffe im Feber 45 auch nicht in den Luftschutzkeller mitgenommen haben.

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Hauchdünnes Eis

Der Vollstrecker erinnert sich an die deprimierende Weihnachtsfeier. Wie er, um den verführerischen Glühweingeruch zu neutralisieren, zur allgemeinen Belustigung auf seinem Teller einen Turm aus Mandarinenschalen baute und sich, während alle fröhlich becherten, die erste Vanillekipferlüberdosis seit Kindertagen gönnte. Als die anderen nur mehr besoffen über dumme Anwaltswitze kicherten, setzte sich der Amtsdirektor zu ihm. In einem kurzen emotionslosen Vieraugengespräch stellte dieser behäbige Mann fest, dass er keinen weiteren Ausfall mehr decken kann: Für einen Gerichtsvollzieher, dem der berüchtigte Herr Korsakow das Gedächtnis trübt, habe das Bezirksgericht Josefstadt keine Verwendung. Seit Monaten verfolgt ihn dieser Satz. Der Vollzugsbeamte wischt sich den Schweiß von der Stirn. Der praktische Arzt drückt sich ja regelmäßig brutaler aus: Der nächste Absturz werde definitiv seine labile Restlebendigkeit zerstören. Delirium tremens sei nur etwas für Leute mit robuster Grundgesundheit. Über die verfüge er als mehrfach rückfällig gewordener Alkoholiker nicht mehr. Der trockene Zustand kann monatelang unerschütterlich sein. Selbstsicher ist der Vollstrecker lange bei keinem Treffen mehr gewesen. Er hat sich in die Idee verrannt, es auch gut allein schaffen zu können: endgültige Überwindung der Sucht aus eigener Kraft, Wiederauferstehung als SelfmadeAbstinenzler. Und dann wirft ihn ein Hochglanzfoto mitten 19


in dieser düsteren Papierwüste fast um. Er hätte es wissen müssen, schon aus Erfahrung. Für ihn gibt es kein „geheilt“. Im Gegenteil. Seitdem nicht mehr jeder Tag ein qualbesetztes Erfolgserlebnis ist, bewegt er sich andauernd auf hauchdünnem Eis. Akute Geisteskrankheit, nur ein Glas trennt ihn davon. Er sieht die Wochen nach dem ersten Schluck vor sich. Auf guten Wein folgt flaschenweise Wodka. Sein getuntes juristisches Fachwissen verliert sich im grauweißen Nichts. Dann gibt es kein Zurück mehr. Fusel in jeder Form, Kalorienzufuhr nur mehr in Form von Alkohol. Krankenstand, Jobverlust und Obdachlosigkeit. Sterben als logische unausweichliche Konsequenz. Während er langsam ausatmet, vergegenwärtigt er sich das Mantra der Anonymen Alkoholiker: Nicht irgendeine mehr oder weniger ferne Zukunft, nur die unmittelbare Gegenwart zählt. Entschlossen richtet er sich auf. Er hat erstens die Phantasmagorie ausgeknipst. Es ist zweitens egal, was die nächsten Tage und Monate bringen. Er muss auch heute nicht mehr tun, als das erste Glas stehen zu lassen. Er konzentriert sich also drittens auf den aktuellen Moment. Es reicht herauszufinden, was jetzt wichtig ist: Wasser trinken und Traubenzucker essen. Der Vollstrecker hängt den Rucksack über seine Schulter, dreht sich unter entschuldigendem Gemurmel um und geht ins Vorzimmer.

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Zwanzig Tropfen

Wir wissen jetzt leider nicht, ob die vielen Menschen wirklich hier sind oder nur in unserm Kopf. Manchmal sind wir ja ganz blöd. Vor allem morgens. In der Früh liegen wir immer verdattert im Bett. Ist jetzt Morgen? Nein, wir sind schon angezogen und präsidieren über die Bibliothek. Aber unser Hirn ist noch in der Wüste. Es arbeitet im Schneckentempo. Dann ist wohl Vormittag. Nachmittags geht es uns meist besser. Da verstehen wir, was das Radio sagt. Mit dem Doktor im Nebenhaus führen wir nette Gespräche. Und abends können wir uns sogar konzentrieren. Stellen nicht das Tiefkühlessen samt Karton in die Mikrowelle. Telefonieren mit dem Neffen. Wir können dann auch die Medizin allein nehmen. Für die brüchigen Knochen immer samstags zwanzig Tropfen. Dazu brauchen wir die durchsichtige Dame nicht. Zu Dionys, dem Tyrannen, schlich / Möros, den Dolch im Gewande – oder war das Damon? Wie auch immer. Wir nehmen einfach zu jeder Strophe von Deutsch-Verzeichnis zweihundertundirgendwas einen Tropfen. Paps hatte ja mehrere Schallplatten mit Schubert-Liedern. Die würden wir gerne wieder hören. Aber wo ist der Plattenspieler? Den haben wir schon lange nicht mehr gesehen. Gibt es den überhaupt noch? Egal. Denn das Schiller-Gedicht konnten wir immer fehlerfrei aufsagen. Die Bürgschaft haben wir in der Schule auswendig gelernt. Ja, ja, wir hatten einmal ein ganz fabelhaftes Gedächtnis. Aber können wir uns jetzt an den Text erinnern? 21


Unsre Verfassung ist schlecht, wir sind oft müde und abwesend. Wahrscheinlich macht das nichts. Es ist eben so. Zwanzig Tropfen. Für jede Strophe einen. Wir können die Ballade ja auch vorlesen. Wir sind eine gute Vorleserin, schon immer gewesen. Unsre Stimme ist trotz allem noch frisch und geschmeidig. Es gibt aber so viele Bücher in der Bibliothek. Wo stehen die Klassiker-Werkausgaben? Und selbst wenn wir das wüssten, gäbe es ein anderes Problem: Wo ist die Lesebrille? Ist die nicht schon seit einigen Tagen verschwunden? Ohne die können wir jedenfalls gar nichts mehr entziffern. Und überhaupt: Welcher Tag ist heute? Samstag kann nicht sein, denn samstags kommen nie Leute zu uns.

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FOTO : H ERBERT KAP FER

Lisbeth Exner, 1964 in Wien geboren, lebt als Autorin mit ihrer Familie in Oberbayern und Wien. Sie studier te Germanistik in Wien und promovierte über den Autor und Philosophen Salomo Friedlaender/Mynona. Sie publizierte Monografien über Grete Weil, Leopold von Sacher-Masoch und Kaiserin Elisabeth. Mit Herbert Kapfer gab sie Briefe von Richard Huelsenbeck und Franz Pfemfert heraus und veröffentlichte 2014/2017 die zweibändige Verborgene Chronik, eine Montage aus Tagebuchaufzeichnungen des Ersten Weltkriegs. Für das Hörbuch Verborgene Chronik 1914 erhielt sie den Preis der deutschen Schallplattenkritik 2014. Realitätenhandlung – Neunundvierzig Minuten ist ihr erster Roman. 143


In einer Wiener Altbau­wohnung treffen sechs Figuren aufeinander. Ein zwang­hafter Gerichts­vollzieher. Ein Spediteur mit krimineller Vorgeschichte. Eine eigen­brötlerische Wohnungsbesitzerin. Eine an Demenz erkrankte Mieterin. Eine hundertzwanzig­jährige Geisterfrau. Und ein junger Mann vom Schlüssel­­dienst. ­ Lisbeth Exner erzählt von einem Orts­­termin zur Planung einer Zwangsräumung: Literatur trifft auf Gesetz, Halluzination auf Kapitalismus. „Besitz kennt Regeln, er regelt unser Leben. Er regelt, daß man irgend­wo wohnen und schlafen darf. Überall ist man bedroht, durch Erdbeben, Brand, Feuer, wenn zuviel Papier sinnlos herum­­liegt. Der Besitz läßt einen selbst keine Nacht schlafen, wer weiß, was ihm alles passieren könnte! Lustige Sachen. Versprochen!“ ELFRIEDE JELINEK

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