Lost in Tugium Aufder derSuche Suchenach nacheiner einerStadt Stadt Auf
Inhalt Bildarchiv Zuger Zeiten
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Offener Brief
Katja Zuniga-Togni
Kultur und Architektur als Orientierungshilfe im Crypto-Valley
Jacqueline Falk
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Ein künstlerischer Spaziergang Kunst und Bau für eine vielfältige und lebendige Stadt
Benedikt Rigling
Der ehemalige Strassenwischer
Michael Sutter
Kaugummi, Kino und Toast: Ein Rückblick zum Kunst- und Kulturschaffen im öffentlichen Raum
Mercedes Lämmler
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Wer macht die Stadt? »Vonvon«, de »Hasebüeler« und die Russen
Michael van Orsouw
willkommen im Jahre 2018, willkommen in der Vergangenheit
Judith Stadlin
Gedichte
Max Huwyler
Hat schon vieles erlebt
Andreas Grosz
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Das Bellevue – ein Dörfli in der Stadt
Therese Marty
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Mein Quartier
Monika Wegmann
Der Mensch ist des Menschen Brot
Tim Krohn
Aus Zug
Monica Amgwerd
»Wohin sollen wir sonst bauen als in die Höhe?«
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Was kann Architektur leisten?
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Zeitgenössische Platzgestaltung im Spannungsfeld von lebendiger Alltagsnutzung, Eventtauglichkeit und Klimaresilienz
Inga Bolik und Constanze A. Petrow
Vom Kampf gegen die Mittelmässigkeit
Patrick Cotti
Leben in der Stadt – Potenziale einer gelungenen Stadtplanung
Beat Aeberhard und Jacqueline Falk
Architekturtheoretische Überlegungen zur Relevanz von Architektur und Städtebau
Christian Schnieper
Mercedes Lämmler und Dino SabanovicGuthirt 265
Auf in den Norden – über die Baarzuger-Strasse!
Rosmarie Müller
Poetische Patina unter luxuriösem Lack
Rémy Frick
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Die Herstellung von Übersicht
Benedikt Loderer
Die unbequeme Stadtführung – im Reich der Rohstoffhändler
Maria Greco
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Vom Leben einer Stadt – eine Reise durch Zeit und Raum
Judit Solt
Wer macht die Stadt zur Stadt?
Falco Meyer
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Wer teilt, hat mehr vom Wohnen
Axel Simon
Ein Blick in die Zukunft
Dolfi Müller
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Anhang
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Was können Kunst und Kultur leisten? »Wo sind die anderen?«
Pius Knüsel
Café des Visions – eine Forschungsreise durch Stadtzuger Quartiere
Anna Graber
ver-zelten: Die symbolische Besetzung von Zwischenräumen
Antonia Bisig
Ein künstlerischer Spaziergang oder die Wiederentdeckung des Flanierens
Karen Geyer
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Referenzbilder 353 287
Biografien 367 Impressum 371
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Kultur und Architektur als Orientierungshilfe im Crypto-Valley Was macht die Identität einer Stadt aus? Sie liegt in der Geschichte sowie in den Geschichten einer Stadt und manifestiert sich in den Narrationen ihrer Einwohnerinnen und Einwohner, wenn sie subjektiv bis sachlich-analytisch über Zug berichten. Wir vom Projektteam haben persönliche Erzählungen über das Leben in den Quartieren, auch städtebauliche Bestandsaufnahmen und Zukunftsvisionen gesammelt. Diese teils poetischen, teils fachlichen Texte reflektieren, was Einheimische, Zugezogene sowie Besuchende bewegt und was Expertinnen und Experten zur Lebensqualität in Zug zu sagen haben.
Zug – eine globalisierte Kleinstadt Zug ist eine Zentralschweizer Kleinstadt, die in den letzten Jahrzehnten zu einer mittelgrossen Stadt mit rund 30 000 Einwohnerinnen und Einwohnern angewachsen ist. Die Stadt am Zugersee liegt von Luzern und Zürich jeweils rund 30 Kilometer entfernt und ist mit dem öffentlichen und privaten Verkehr schweizweit gut verbunden, auch dank des neuen Gotthardtunnels. Die geringe Grösse bringt viele Vorteile: Die Behörden und die Politik zeichnen sich durch Offenheit, direkte Wege und Bürgernähe aus, Entscheidungen fallen schnell und unbürokratisch. Das Besondere an der Stadt Zug ist aber nicht nur ihre Kleinheit und Bürgernähe, sondern ihr ökonomisches Wachstum und ihre Internationalität. Dank der wirtschaftsfreundlichen Steuerpolitik – schon in den Zwanzigerjahren des letzten Jahrhunderts wurden die Abgaben für Holding- und Domizilgesellschaften ge-
Jacqueline Falk
senkt – wurde der Kanton Zug bis 1990 zum reichsten der Schweiz. Noch in den Sechzigerjahren lagen die Gehälter unter dem schweizerischen Durchschnitt, heute zählt das Volkseinkommen pro Kopf zu den höchsten in der Schweiz. Zug hat immer wieder Nischen gefunden, um sich gegenüber den grösseren Schweizer Städten wirtschaftlich zu behaupten: neuerdings durch die Unterstützung von Fintech-Firmen und Start-ups aus dem Blockchain-Bereich zum Beispiel mit erleichterten Bewilligungsverfahren bei Firmengründungen. Die Umsiedlung nach Zug bietet insbesondere Unternehmen aus dem Bereich der Finanztechnologie neben steuerlichen Vorteilen vor allem regulatorische und rechtliche Freiheiten und Sicherheiten, wie sie etwa in China, den USA oder im Mittleren Osten nicht (mehr) möglich sind. Diese ökonomische Attraktivität hat zusammen mit der Offenheit der städtischen und kantonalen Verwaltung für die Themen Blockchain und Kryptowährungen einen regelrechten Boom bei der Niederlassung von internationalen Firmen ausgelöst. Was bedeuten diese Entwicklungen für eine Stadt? Zunächst werden ihre Bevölkerung und die Pendlerströme voraussichtlich noch stärker ansteigen: Die Stadt Zug bietet über 40 000 Arbeitsplätze, täglich pendeln über 30 000 Personen nach Zug und Umgebung zur Arbeit, das heisst, die Stadt Zug hat eine grössere Pendlerals Einwohnerschaft. Letztere ist sehr international; ein Drittel der Stadtbevölkerung hat einen ausländischen Pass. In der Stadt Zug sind rund 130 Nationen vertreten, die grössten Gruppen stammen aus Deutschland (6 %), gefolgt von Italien (3 %), Grossbritannien (2 %), Portugal, Spanien, Kosovo (je 1 %). Die Stadt
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Zug hat also wirtschaftlich gesehen eine aussergewöhnlich gute Ausgangslage, gleichzeitig steht sie vor gesellschaftlichen und städtebaulichen Herausforderungen. Denn die Kehrseiten des wirtschaftlichen Erfolgs werden immer ausgeprägter: Besonders die hohen Boden- und Mietpreise wirken sich auf das (Zusammen-)Leben aus.
Wer macht die Stadt? Auslöser für die vorliegende Publikation Lost in Tugium war die gleichnamige Kunstausstellung Lost in Tugium. Ein Kunstparcours zur Erregung öffentlicher Freude, die das Kuratorinnenteam, die beteiligten Künstlerinnen und Künstler, die involvierte Bevölkerung und das Publikum vor einige Fragen stellte: Verliert die Stadt durch das rasante wirtschaftliche und bauliche Wachstum an Identität? Wirkt sich diese Schnelligkeit auf die Beziehungen zwischen den Menschen aus? Die Konsequenzen dieser Entwicklungen für das Stadtleben haben uns interessiert. Deshalb haben wir als ersten Schritt in Zug wohnhafte Autorinnen und Autoren gebeten, über ihre Erfahrungen in »ihren« Quartieren zu schreiben, darüber, was »ihre« Quartiere auszeichnet und was ihnen fehlt. Zug zeichnet sich durch vielfältige, sehr unterschiedliche Wohnquartiere aus. Neben Zu- und Weggezogenen, Quartierbewohnerinnen und -bewohnern kommen dabei auch Literaturund Kunstschaffende zu Wort. Damit soll den Leserinnen und Lesern die Stadt Zug – in den Medien gerne als Crypto Valley bezeichnet – vorgestellt und die Möglichkeit gegeben werden, Bekanntes mit anderen Augen zu sehen und dabei Neues zu entdecken. Die massive Bautätigkeit der letzten Jahre und ihre Folgen hat einige unserer Autorinnen und Autoren irritiert und inspiriert. Judith Stadlin imaginiert eine Touristenführung im Jahr 2099. Sie zeichnet ein dystopisches Zukunftsbild, in dem unsere alte Schrift und Sprache ersetzt worden sind und das heutige Zug zur reinen
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Anekdote geworden ist. Der Autor und Historiker Michael van Orsouw, mit Judith Stadlin Teil des Zuger Literaturduos Satz&Pfeffer, hat sich mit den Konsequenzen des Baubooms für Menschen im Hier und Jetzt beschäftigt und erzählt die Geschichte des mutigen Kämpfers und Bauern Pirmin Uttinger, der sich bis zu seinem Tod im Jahr 2004 unermüdlich, aber vergebens für die Erhaltung des Hasenbühls eingesetzt hat, einer Anhöhe, auf der sein Hof stand. Ein Kampf, den die Bauinvestoren gewannen. Der weit über Zug hinaus bekannte Lyriker Max Huwyler schuf mit einer Mischung aus Nähe und Distanz Gedichte über sein Zug, eine Stadt, in der Boden Trumpf ist. Weiter erinnert sich der in Zug aufgewachsene Schriftsteller und Verleger Andreas Grosz an sein Leben in einem alten Miethaus an der Aegeristrasse – eine Art Vorgeschichte zu seinem aktuellen Buchprojekt über seine Zeit in einem Haus im Urner Bergdorf Unterschächen, für das er 2015 das Zuger Werkjahr verliehen bekam. Hommagen an das Quartierleben im Bellevue und in der Herti haben die Autorin Therese Marty und die Journalistin Monika Wegmann verfasst. Der in Graubünden wohnhafte Schriftsteller Tim Krohn geht in seinem Essay der Frage nach, was einen guten Wohnort für Künstlerinnen und Künstler ausmacht und ob die Stadt Zug das Potenzial dazu hätte, eine Heimat für Kunstschaffende zu werden. Über ebendiesen Begriff – Heimat – sinniert die Zuger Filmemacherin und Künstlerin Monica Amgwerd in ihrem Text. Sie beschreibt rückblickend ihre Jugendzeit im noch sehr ländlichen Zug und wie sie als Teenager an ihren freien Mittwochnachmittagen mit einer Schulfreundin voller Vorfreude mit dem Bus ins Zentrum, in »die Stadt«, fuhr und diese Nachmittage am EPAPlatz (dem heutigen Bundesplatz) und im Einkaufszentrum Metalli verbrachte. Der Musiker Dino Sabanovic berichtet in einem Interview von der (kulturellen) Förderung und Inspiration, die er im Quartiertreffpunkt SPE im Guthirt erfuhr. Der Schauspieler und Autor Rémy Frick
Kultur und Architektur als Orientierungshilfe im Crypto-Valley
sucht nach der Poesie des Alltags und hat beim Flanieren durch die Stadt im Metalli Italiener mit Schweizer Pass, an der Seepromenade ein Teenagerpärchen sowie an der Waldheimstrasse Schafe beobachtet und lässt uns an den aufgeschnappten Gesprächen teilhaben. Die auf Zuger Sagen spezialisierte Autorin Maria Greco begleiten wir auf einer ihrer berühmtberüchtigten Stadtführungen zu Firmen und Schauplätzen der Zuger Rohstoffhändler, eine Tätigkeit, für die sie nicht unbehelligt blieb. Der Zuger Journalist Falco Meyer versucht schliesslich die Frage zu beantworten: Wer macht die Stadt zur Stadt? Er sucht nach den Drahtziehern und den vermeintlich Mächtigen.
Was können Kunst und Kultur leisten? Der Publikation vorangestellt wurde Katja Zuniga-Tognis offener Brief an Kaspar Villiger. Er wurde übrigens vom alt Bundesrat beantwortet – mit dem Hinweis, sie solle doch für unsere Wohlstandsgesellschaft dankbar sein, ein Blick ins Ausland täte ihr gut. Letzteres sicher ein nützlicher Hinweis, der Blick in die Ferne hilft beim Eigenverständnis. Dafür müssen wir die Stadt nicht verlassen. Wir können damit beginnen, mit all jenen zu sprechen, die aus der Ferne zugezogen sind. Damit kulturelle Teilhabe nicht nur ein kulturpolitisches Schlagwort bleibt, muss Zug sich öffnen. Kultur und Kunst können dafür einen grossen Beitrag leisten. Die Stadt wird sich in Zukunft mit ihrer interkulturellen Geschichte auseinandersetzen müssen, da sie ein Teil der globalisierten Welt ist und wie andere Städte auch von Migration, Mobilität und Vielfalt geprägt ist. Der im Kanton Zug aufgewachsene Kulturexperte und ehemalige Präsident der Schweizer Kulturstiftung Pro Helvetia Pius Knüsel bringt in seinem Textbeitrag konkrete Vorschläge, was Zugs (Kultur-)Institutionen und die öffentliche und private Kulturförderung tun können, um die Teilhabe aller zu garantieren. Wollen wir eine interkulturelle Öffnung, brauchen wir eine Kul-
Jacqueline Falk
turförderung, bei der nicht nur Gelder, sondern auch Aufmerksamkeit und Chancen demokratisch verteilt werden. Die städtische Kulturstelle initiiert und fördert Vermittlungsprojekte, wie zum Beispiel Anna Grabers partizipatives Kunstprojekt Café des Visions, das sie im Rahmen der Ausstellung Lost in Tugium umsetzte. Die Künstlerin fuhr mit einem Fahrradanhänger und mobilen Sitzgelegenheiten durch die Quartiere und hat Bewohnerinnen und Bewohner gefragt, was sie sich für ihre Stadt wünschen. Die Resultate ihrer QuartierUmfragen hat sie für die vorliegende Publikation aufgearbeitet. Auch die in Zug aufgewachsene Künstlerin Antonia Bisig schreibt in ihrem Beitrag über eine Performance, die sie für die Ausstellung Lost in Tugium entwickelt hatte und in der sie Spiele ihrer Kindheit im Zuger RiedmattQuartier, einem damals neuen Stadtteil am Stadtrand, wiederaufleben liess. Bisig zog schon als junge Künstlerin nach Berlin, jedoch hatten ihre Spielerfahrungen in der Riedmatt einen wichtigen Einfluss auf ihre Kunst. Die Performerin und Künstlerin Karen Geyer schreibt in einem Erfahrungsbericht über ihre monatlichen Kunstführungen im Stadtraum und versucht, einen Einblick in ihre partizipativ ausgerichtete Vermittlungsarbeit zu geben. Sie wurde von der städtischen Kulturstelle 2017 beauftragt, Führungen zu den zahlreichen Kunstwerken im öffentlichen Raum zu entwickeln. In diesen nimmt sie die Teilnehmerinnen und Teilnehmer als Expertinnen und Experten ihrer Stadt ernst. Sie bereichern die von Geyer geführte Tour mit persönlichen Anekdoten zu Künstlerinnen und Künstlern, die sie persönlich kennen oder kannten, und zu Orten und lokalen Ereignissen, die ihnen vertraut sind. Der Architekt und Präsident von visarte Zentralschweiz Benedikt Rigling erklärt, wieso Kunst-und-Bau-Projekte für eine vitale und vielfältige Stadt wichtig sind. Schliesslich setzt sich der Luzerner Kurator Michael Sutter in seinem
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Textbeitrag mit dem Porträt eines ehemaligen städtischen Strassenwischers auseinander – ein gelungenes Beispiel für ein Kunstwerk, das Alltag und Anekdote, Geschichte und Gegenwart im Stadtraum zusammenbringt. Mercedes Lämmler, langjährige Mitarbeiterin der Fachstelle Kultur, präsentiert in ihrem Text die Arbeit der städtischen Kulturförderung im Stadtraum und zeigt auf, dass Zug als Hotspot des Rohstoffhandels und neuerdings der Blockchaintechnologie als Arbeits- und Lebensort von Menschen aus aller Welt die Chance hat, ein Vorbild zu werden für andere globalisierte Städte, die von ähnlichen demografischen, wirtschaftlichen und technologischen Veränderungen gefordert werden. Bei der Frage, wer wir als Stadt sind und wer wir sein wollen, spielen lebendige Kulturorte eine wesentliche Rolle. So ist es zunächst zentral, diese und insbesondere Freiräume zur Verfügung zu stellen, wo sich Kreativität und kulturelles Schaffen entfalten kann. Die wachsende Ökonomisierung in der Stadt Zug hat zur Folge, dass es an günstigen Ateliers und Proberäumen für Kulturschaffende, an Nischen für Experimente und bezahlbaren Büroräumen für kleinere Unternehmen aus der Kreativwirtschaft fehlt. Deshalb hat es sich die städtische Kulturförderung zur Aufgabe gemacht, dynamische Orte zu schaffen, die Begegnungen und Austausch ermöglichen und Katalysatoren für die kulturelle Entwicklung sind. Die Stadt Zug hat sich in den letzten Jahren zudem bemüht, Zwischennutzungen öffentlicher und privater Leerstände aktiv zu fördern, und hilft Vereinen und Privaten bei der Suche nach Räumen. Wie Mercedes Lämmler aufzeigt, wirken sich diese kulturellen Zwischennutzungen und die jährlich stattfindenden städtischen Kunstprojekte trotz ihrer zeitlichen Begrenzung äusserst positiv auf die Entwicklung einer neuen, jungen Kulturszene aus. Zusammen mit den von der öffentlichen Hand unterstützten Künstlerateliers, wie etwa dem Atelier63 in der Shedhalle oder den Ateliers in der Gewürzmühle, wurden sie zu Inkubatoren für Kunstprojekte, die Kulturschaffende
aus allen Sparten zusammenbrachten. So ist das jeweils im November stattfindende Illuminate – Licht- und Kunstfestival entstanden oder das multimediale Performanceprojekt Liquid Stone, das Kulturschaffende aus den Sparten zeitgenössischer Tanz, elektronische Musik und Pop, Videokunst und Installationskunst zusammenbrachte. Die Förderung neuer Kunstformen, insbesondere im Bereich der neuen Medien, ist bedeutend, um in den Dialog mit jungen Kunstschaffenden und aktuellen Strömungen zu treten. Ausserdem können auf diese Weise Reflexionsräume eröffnet werden, die zu Meinungsbildung und Kritikfähigkeit anregen. Im besten Fall transzendiert das zeitgenössische Kunst- und Kulturschaffen aktuelle Trends und hinterfragt blinden Wachstums- und Fortschrittsglauben. Kunst und Kultur gehen auf die Suche nach der Vielfalt, jenseits von medienwirksamen Klischees, wie sie sich im aktuellen Hype um Kryptowährungen und der stetig wachsenden Crypto-Valley-Community spiegeln. Dies ist umso wichtiger in einer Stadt, deren Selbstbild als idyllische Kleinstadt mit gelebten Traditionen und Kirschenkultur auf die ebenso klischierte Aussenwahrnehmung als Steueroase mit global agierenden Firmen trifft.
Was kann Architektur leisten? Der letzte Teil der Publikation widmet sich der Baukultur, und es kommen Architektinnen und Architekten, Städteplanerinnen und Städteplaner zu Wort. Das Stadt- und Siedlungsbild der Stadt Zug hat sich in den vergangenen 35 Jahren aufgrund reger Bautätigkeit markant verändert. Infolge der wirtschaftlichen Entwicklung wurde Zug vom Dorf zum Geschäftszentrum mit mehr Arbeitsplätzen als Einwohnerinnen und Einwohnern. Zug fehlt allerdings eine urbane Qualität, die man von einer Schweizer Kleinstadt erwarten würde. Das hat historische Gründe, weil es fast keine Gründerzeitquartiere gibt; vereinzelte Bauten, Strassenzüge und Plätze aus der Jahrhundertwende wurden umgestaltet
Kultur und Architektur als Orientierungshilfe im Crypto-Valley
oder gänzlich verdrängt. Die alte Bausubstanz der Stadt wurde und wird immer noch in grossen Teilen durch Neubauten ersetzt. Sogar in der Altstadt: Das 1960 erbaute Haus Zentrum, ein sechsstöckiges Gebäude an der Zeughausgasse, das dem 1959 abgerissenen Gasthof Hirschen folgte, galt lange als Symbol und Startpunkt der massiven Bautätigkeit in Zug. Heute zählt es bereits zum Kanon der Zuger Baukultur, soll allerdings bald abgerissen und durch einen tieferen Neubau ersetzt werden. Dieser passt sich zwar in der Höhe an die umliegenden Häuser an, wird allerdings zwecks optimaler Ausnutzung keinen grosszügigen Vorplatz mehr haben. Die Öffnung zum Hirschenplatz wird folglich beschnitten. Es bleibt die Frage, wie viel Gewicht die städtebauliche Qualität bei der Planung des Neubaus hatte. Zug wurde ab den Siebzigerjahren stark modernisiert, mit dem Fokus auf Autoverkehr und Shopping. Es folgte der Bau der Neustadt-Passage, ein überdimensionaler Wohn- und Gewerbekomplex mit überdachter Einkaufspassage, der die ihn umgebenden Plätze und Strassen verkleinerte, eingrenzte und damit ihre Qualität zerstörte. Es folgte der Abriss der Metallwarenfabrik und der Bau des Einkaufzentrums Metalli an gleicher Stelle und der Bau des neuen Bahnhofs. Im Unterschied zum alten Bahnhof von 1897 wurde die Ankunftshalle des 2003 fertiggestellten Bahnhofs ins Untergeschoss verlegt. Somit wurde der Bahnhof nicht mehr zum See und zur Alpenstrasse hin ausgerichtet, sondern führt die Zugreisenden direkt Richtung Baarerstrasse und Metalli. Aus dem einst lebendigen Bahnhofsplatz wurde ein abgesenkter Buswendeplatz, von Treppen eingerahmt, die nichtsdestotrotz am Abend von jungen Leute bevölkert werden. Zug braucht Plätze, die die Stadt beleben. Die Professorin für Landschaftsarchitektur Constanze A. Petrow präsentiert Vorschläge für eine gelungene zeitgenössische Platzgestaltung – die immer im Dienst einer lebendigen öffentlichen Nutzung stehen sollte.
Jacqueline Falk
2015 lehnte das Zuger Stimmvolk den Bau des Stadttunnels ab, der eine autofreie Vorstadt und eine verkehrsarme Bahnhofstrasse und die Umnutzung mehrerer städtischer Plätze versprach. Das aufwändige und teure Bauprojekt konnte die Zugerinnen und Zuger nicht überzeugen. Die jahrzehntelange Konzentration auf die Tunnelplanung hat die Suche nach Alternativen, die den Stadtverkehr bewältigen, Plätze neugestalten und aufwerten können, gehemmt. Um die Aufenthaltsqualität der öffentlichen Räume zu verbessern, müssen wir uns über nachhaltige Mobilitätsformen und einen zeitgemässen Ausbau des öffentlichen Verkehrs Gedanken zu machen. Aufs Eis gelegt wurde auch das im Süden der Stadt angestrebte Kulturcluster: Weder das geplante Kunsthaus im alten Kantonsspitalareal noch die Kulturwerkstatt Theilerhaus im ehemaligen Areal der Firma Theiler & Co. sollen umgesetzt werden. Patrick Cotti reflektiert in seinem Text seine Arbeit als ehemaliger Regierungsrat und Leiter des Bildungsdepartements des Kantons Zug und spricht Klartext über die Erfolge und Misserfolge der kantonalen Kulturpolitik: Diese bewegt sich im Spannungsfeld zwischen historisch gewachsener, schweizweit vorbildlicher Musikförderung der Jugend und den wegen aktuellen Sparübungen verhinderten Kulturorten. Mit Bedauern schaut Cotti auf drei Jahrzehnte vergeblicher öffentlicher Diskussionen und erfolgloser Konzepterarbeitungen für kulturelle Nutzungen zurück.
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Ende 2017 wurde das Hochhausreglement vom Zuger Stimmvolk angenommen – bisher wurden Hochhäuser dort realisiert, wo die Investoren sie haben wollten. So etwa das sogenannte Uptown, das erste Zuger Hochhaus, das neben das Eisstadion gebaut wurde. Der dazugehörige riesige Vorplatz scheint jeglichen menschlichen Massstab zu sprengen, und hinzu kommt, dass die Nähe von Wohnungen es erschwert, dass der Platz von Skaterinnen und Skater sowie anderen Interessengruppen genutzt werden kann. Es folgte ein weiteres Hochhaus, der sogenannte
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Park-Tower, mit 25 Geschossen und 81 Metern das nun vorerst höchste Gebäude in Zug. Es wurde dem ehemaligen Landis-&-Gyr-Verwaltungsgebäude von 1947, einem zentralen Repräsentanten der Zuger Industriegeschichte, vor die Nase gesetzt und wird von vielen Seiten als unsensible Platzierung kritisiert. Insbesondere Exponentinnen und Exponenten aus dem Bereich Architektur und Städtebau bedauern, dass die Politik es bisher nicht geschafft hat, die Stadt aktiv zu gestalten, und begrüssen eine übergeordnete Planung, die nicht alles den Marktmechanismen überlässt. Sie sind sich einig, dass die idealen Bedingungen im Baubereich viele Investoren anziehen: Gerade deshalb dürfe die Stadt im Gegenzug verlangen, dass diese das Beste für das Stadtbild leisten. Der ehemalige Stadtarchitekt Beat Aeberhard geht in dem 2014 aufgezeichneten Interview der Notwendigkeit einer städtebaulichen Vision für die Stadt Zug nach. Kümmert sich die Politik zu sehr um Einzelinteressen und fokussiert sie zu wenig auf das Gemeinwohl? Auch wenn kritische Stimmen einen Ausverkauf der Stadt an Private unterstellen, ist die Wirklichkeit komplizierter: Die Stadtverwaltung Zug steht im Dienst des Gemeinwohls und setzt sich für den Dialog und die Zusammenarbeit mit allen Bewohnerinnen und Bewohnern ein. Ausserdem engagiert sie sich dafür, dass die einseitigen Planungsvorstellungen der Investoren trotz politischer Interessen nicht zu viel Gewicht bekommen. Unter dem aktuellen Stadtarchitekten Christian Schnieper entwickelt die Verwaltung die städtebauliche Vision Zug 2050. Diese will Räume mit Aufenthaltsqualität schaffen, überlässt architektonisches Planen aber weiterhin den Privaten. Ihr Fokus liegt auf den öffentlichen und halböffentlichen Plätzen, wie diese genutzt werden dürfen und wie die Übergänge zu den privaten Räumen konzipiert sind. Das Ziel ist es, Neubauquartiere zu verbinden, die ohne kontextuellen Zusammenhang aneinandergereiht sind, wie etwa Herti, Feldhof oder Feldpark.
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Aufgaben und Chancen der Stadtplanung bestehen gemäss der Vision 2050 darin, eigenständige Quartiere als soziale Lebensräume zu fördern und die Wohnraumverdrängung einzudämmen. Mit klaren städtebaulichen Zielsetzungen können Stadtteile zusammengefügt werden, mit dem Ziel, die Stadt als Gemeinschaft neu zu gestalten und die Lebensqualität der Menschen, die heute und morgen in Zug leben, zu steigern. Dass die Stadt weiter verdichtet werden muss, ist für die Zuger Architektin und emeritierte Professorin für Städtebau Rosmarie Müller klar. In ihrem Beitrag erklärt sie, wieso die Stadt Zug in erster Linie in Richtung Norden, das heisst nach Baar, entwickelt werden muss. Die negativen Erfahrungen der Zuger Bevölkerung mit den Folgen des Baubooms haben wohl auch zur Ablehnung eines sorgfältig vorbereiteten Grossprojektes geführt, das günstige Wohnungen und eine gute Vermischung versprach. Anfang 2017 stimmte das Volk gegen das Bauprojekt Unterfeld, das auf einem 5,5 Hektar grossen Areal zwischen Zug und Baar 15 Baukörper für Wohnungen und Gewerbe vorsah. Im Moment planen Investoren gemeinsam mit der Stadt einen Wohn- und Gewerbekomplex auf dem 25 Hektar grossen Siemensareal, das dem ehemaligen Landis-&-Gyr-Areal entspricht, der sogenannten verbotenen Stadt. Mit dem geplanten Auszug der Firma Siemens und all ihrer Produktionsanlagen stehen gemäss der Vision 2050 dem ehemaligen Landis-&-Gyr-Areal grosse Potenziale für einen lebendigen Stadtteil direkt am Bahnhof offen. Stadtarchitekt Christian Schnieper stellt architekturtheoretische Überlegungen zur Relevanz von Architektur und Städtebau an, die gleichzeitig als Grundlage für eine städtische Vermittlung von Baukultur dienen. Vor dem Hintergrund umwälzender Veränderungen im technologischen und gesellschaftlichen Bereich ist die Architektur- und Baukulturvermittlung ein wichtiger Förderschwerpunkt der Stadt Zug. Baukultur
Kultur und Architektur als Orientierungshilfe im Crypto-Valley
trägt zur Lebensqualität bei, schafft gemeinsame Werte und stärkt Identität. Sie zählt nicht nur zur kulturellen und ästhetischen, sondern auch zur politischen Bildung, die angesichts der vor dem Volk verhandelten Bauprojekte immer wichtiger erscheint. Die Stadtraum-Thematik wird seit rund zehn Jahren in städtischen Kunstausstellungen im öffentlichen Raum und in Diskussionsrunden, Stadtführungen und Workshops aufgegriffen. Die städtisch geförderte Baukultur- und Architekturvermittlung verfolgt darüber hinaus das Ziel, das Wissen von Jung und Alt über die Gestaltung von Räumen, ihre Form und Funktion zu vertiefen. Ausserdem soll ein Instrumentarium bereitgestellt werden, das zur kritischen Auseinandersetzung mit dem urbanen Umfeld befähigt. Auch Kinder und Jugendliche sollen für ihre gebaute Umwelt sensibilisiert und insbesondere dazu motiviert werden, sich zukünftig in öffentliche Diskussionen zu räumlichen Qualitäten einzubringen. Ihnen soll möglichst früh ein Zugang zur Baukultur und zum Raumverständnis ermöglicht werden, denn sie sind die Gestalterinnen und Gestalter des Zugs von morgen. Der Stadtwanderer Benedikt Loderer schildert in seinem Beitrag persönliche Erinnerungen eines jungen Baukulturinteressierten, und die Architekturtheoretikerin Judith Solt blickt auf Momente zurück, in denen sie als Kind die Stadt Zug sinnlich erfahren durfte.
Gemeinschaft gehören zusammen. Der Architekturkritiker Axel Simon zeigt auf, dass der Wunsch nach gemeinschaftlichen Wohnformen auch in Zug eine Tradition hat, die sich vielleicht wiederaufleben lässt. Aber was macht nun die Stadt Zug aus? Die Einschätzung des Stadtpräsidenten Dolfi Müller zeigt, dass die Zukunft Zugs jenseits von Wachstumseuphorie und traditionellem Heimatbegriff liegt. Es geht nicht nur um Zug. Zug steht Modell für die Zukunft der europäischen Städte, die im Sinne der zukunftsorientierten Verfechterinnen und Verfechter der digitalen Revolution nach einer Smart City mit selbstfahrenden Autos und automatisierter Verwaltung streben, während die anderen befürchten, dass sie in dieser Wachstums- und Technikbegeisterung Bodenhaftung verlieren. Zug ist somit Ausgangspunkt für eine Diskussion, die von globaler Bedeutung ist, denn die Herausforderungen zu Themen wie Wachstum, Verdichtung, Digitalisierung teilen wir alle.
Eine Stadt ist aber nicht nur die Summe ihrer Gebäude und Plätze. Sie konstituiert sich aus dem Zusammenleben und dem Leben zwischen den Häusern. Zukünftig steht auf der einen Seite die Tendenz zur Individualisierung und Vereinzelung, auf der anderen Seite entwickelt sich eine Kultur des Teilens, von Carsharing bis zu Crowdfunding, und insbesondere in Zug steigt die Sehnsucht nach genossenschaftlichem Wohnen, einer geeigneten Alternative zu steigenden Mietpreisen auf dem freien Markt. Das Gefühl der Entfremdung, Folge der Vereinzelung und Individualisierung, und das Bedürfnis nach
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Dank Zum Gelingen des Werks haben zahlreiche Personen beigetragen: Danken möchte ich zunächst dem Salis Verlag, der die Publikation als Verlag unterstützt hat, insbesondere Julia Stieglmeier für die engagierte Zusammenarbeit und André Gstettenhofer, der von Anfang an an unser Buchprojekt geglaubt hat. Mein herzlicher Dank gebührt den Autorinnen und Autoren, die mit ihren Beiträgen dieses Buch zustande bringen. Gerade in ihrer Unterschiedlichkeit formiert sich ein Gewebe von Texten, welches die vielen Facetten des Themas verdeutlicht. Dem Kaleidoskop von Texten ist eine chronologisch geordnete Fotosammlung vorangestellt. Hier danken wir auch all jenen, die für diese Publikation ihre privaten Fotografien zur Verfügung gestellt haben. All diese Beiträge wollen den Blick für das subtile Zusammenspiel von Kunst, Architektur und Stadtraum schärfen und zur Diskussion stellen. Mein grosser Dank geht an die wissenschaftliche Mitarbeiterin und Projektleiterin Mercedes Lämmler. Sie hat den Buchinhalt fachlich betreut und war verantwortlich für die operative Planung und Steuerung des Projekts. Thomas Zaugg danke ich herzlich für die wertvolle redaktionelle Mitarbeit. Für die zeitgemässe Gestaltung gilt die Ehre Johnny Graf. Ziel der städtischen Ausstellungs- und Vermittlungsprojekte war es, dem wachsenden Bedürfnis nach Authentizität entgegenzukommen – dafür gilt mein grosser Dank allen involvierten Kunstschaffenden und den Kuratorinnen und Kuratoren Michael Blume, Maria Dannecker, Vera Egloff, Katarina
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Kultur und Architektur als Orientierungshilfe im Crypto-Valley
Kurcubic und Carole Kambli. Zum Schluss möchte ich meinen grossen Dank den grosszügigen Geldgebern Stadt Zug, Kanton Zug, Gemeinde Baar, Korporation Zug, Bürgergemeinde Zug, Alice und Walter Bossard-Stiftung, Hürlimann-Wyss-Stiftung sowie Privatpersonen, die das Buchprojekt Lost in Tugium ermöglicht haben, aussprechen.
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