Mario Gmür. Meine Mutter weinte, als Stalin starb

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Die Probevorlesung

Ich will Professor werden. Die Studenten sollen mich anbeten, unter meiner Fuchtel lernen und vor mir zittern, wenn sie zur Prüfung antreten. Dissertanten und Assistenten werden für mich über ihren angefangenen Arbeiten schmachten, werden unter meinem Namen forschen. Der Name des Chefs ist das Pseudonym seiner Mitarbeiter. Ich werde von Kongress zu Kongress fliegen, auf allen Kontinenten Vorträge halten, die als Frucht der harten Arbeit meiner rund fünfzig Mitarbeiter in wissenschaftlichen Zeitschriften veröffentlicht werden sollen. Mein Name wird ein Begriff sein in der Welt meines Faches. Jawohl, ich will Professor werden, zuerst Privatdozent, dann Assistenzprofessor, später außerordentlicher und zuletzt, ganz oben, ordentlicher Professor. Heute bin ich noch gar nichts. Nur Doktor. Und das ist jeder. Ich bin eine Null unter hundert Nullen. Doch das werde ich bald ändern. Fünf Jahre lang habe ich in harter Knochenarbeit an meinem wissenschaftlichen Forschungsprojekt geschuftet. Die Habilitationsschrift ist von allen Instanzen akzeptiert worden. Es ist so weit. Ich bin kurz vor dem Ziel. Noch nicht am Ziel; denn ich muss noch meine Probevorlesung vor der gesamten medizinischen Fakultät halten. Am 18. Januar, um 17:45 Uhr, bin ich aufgeboten, im Hörsaal West der Universitätsklinik. Eine Viertelstunde soll sie dauern, einschließlich Diskussion, das verlangt das Fakultätsreglement. Sie muss frei gehalten werden, ohne Notizen. Maximal sechs Dias dürfen verwendet werden. So steht es im in lakonischer Kürze abgefassten Schreiben des Dekanates. Von den drei von mir eingereichten Themenvor5


schlägen ist von den Fachgruppen der Fakultät mehrheitlich folgender ausgewählt worden: »Was hilft die Methadon-Behandlung?« Zehn Tage habe ich jetzt Zeit für die Vorbereitung, zweihundertvierzig geschlagene Stunden. Ich werde mich bestens vorbereiten. Jedes Wort, jede Silbe, jede Geste muss sitzen, wenn ich vor hundertfünfzig Professoren, vor den professoralen Missgünstlingen meine Sprechprobe absolvieren werde. Ich muss meine Rede in einem Fluss, in einem Guss hinlegen. Auf den Dias werde ich bestechend klare Übersichtsdarstellungen präsentieren. Die Ohren sollen den durchlauchtigen Fakultätsmitgliedern nur so wackeln und die Augen sollen glotzend aus ihren akademischen Schädeln hervortreten vor Bewunderung für den werdenden Privatdozenten am Katheder. Den Text für meine Ausführungen habe ich am letzten Wochenende bereits aufgesetzt. Die Dias schon verfertigt. Und jetzt will ich in den verbleibenden Tagen zweimal täglich den Text proben, wie ein Schauspieler eines Einmann-Stückes. Zweimal täglich gehe ich in den leeren Hörsaal im vierten Stock unserer Klinik und leiere meinen Text herunter. In allen möglichen Lebenssituationen tue ich das ebenfalls, im Bett vor dem Einschlafen, nach dem Erwachen in der Früh, auf der Toilettenschüssel sitzend. Ja, in allen Körperlagen auch, nicht nur stehend und sitzend, sondern auch auf dem Bauch liegend, auf dem Rücken mit angezogenen Beinen, im Kopfstand; unter verschiedenen atmosphärischen Bedingungen ferner, bei Sonnenschein und während eines Wolkenbruches, in strömendem Regen stehend auf dem Balkon, durch den Schnee watend und so fort. Nur so wird der Text niet- und nagelfest sitzen und doch aus mir heraussprudeln mit den passenden Akzenten, Intonierungen, Atempausen, Crescendi und Decrescendi, unbeirrt von allen möglichen Überraschungen wie Geräusche durch zu spät eintreffende Zuhörer, 6


das Rascheln Zeitung lesender »Nichtzuhörer«, das Rutschen der Stühle, Klappern der Pultdeckel, das Husten erkälteter Dozenten und Poltern in Ohnmacht fallender Honorar-Professoren. In allen erdenklichen Lebens- und Körperlagen trainiere ich meinen Text, um auf alle vorstellbaren Ereignisse und Zwischenfälle gefasst zu sein, wie ein Schauspieler, der zum hundertfünfzigsten Mal König Lear spielt. Um zehn Uhr morgens des siebenten Vorbereitungstages schleiche ich mich wiederum heimlich in den menschenleeren Hörsaal im vierten Stock der Klinik, schließe wie immer die Eingangstüre hinter mir ab, um den andern Befugten den Eintritt zu verwehren, um ungestört, vor allem unbeobachtet, mein Ritual absolvieren zu können. Eine Störung wäre nur zur Testung meiner Unbeirrbarkeit im Redefluss willkommen gewesen. Ich wende mich an die rund sechzig leeren, in acht Sitzreihen angeordneten Stühle und halte in diskreter Hörsaallautstärke meinen Vortrag: »Herr Dekan, liebe Fakultätsmitglieder, meine Damen und Herren …« So beginne ich und setze dann meine Rede fort, indem ich an der Fassung des Vortrages noch vereinzelte Korrekturen vornehme, Wortweglassungen, Akzentverschiebungen, Verlangsamungen und Beschleunigungen des Sprechrhythmus. Der Vortrag war tadellos. Summa cum laude, ohne Zweifel. Tosender Beifall erhebt sich in meiner Vorstellung. Ich starre in die leeren Sitzreihen und lasse vor meinem inneren Auge die Fakultät Platz nehmen. Einzelne Professoren kenne ich noch aus meiner Jahre zurückliegenden Studentenzeit, andere sind seither neu hinzugekommen und mir von einzelnen Zeitungsnotizen im Zusammenhang mit Lehrstuhlbesetzungen, sensationellen Entdeckungen und Erneuerungen sowie Skandalen beruflicher oder privater Natur bekannt. Was ich nicht alles weiß! Da ist Professor Strick, Blutspezialist, der 7


noch nie im Leben ein Hungergefühl verspürt hat, sondern nur aus purer Vernunft isst; Professor Witzig, Pädiater, der, freilich eine Generation früher als ich, im gleichen Quartier aufgewachsen ist und von welchem der Rektor des Gymnasiums das Gerücht verbreitet hatte, er sei der intelligenteste Schüler weit und breit. Sein älterer Bruder war an einem Hirntumor gestorben, er selber hatte Kinder adoptiert; einmal, vor Jahren, wurde er angeklagt, weil ein Kind aus seiner Abteilung aus dem Bett gefallen war. Er ist ein international renommierter Immunologe. So fallen mir zusammenhangslos Eigenschaften, Anekdoten, Erinnerungen ein und fliegen solche Gedankenfetzen auf die leeren Fakultätsstühle, auf denen mit mehr oder minder deutlicher Prägnanz die Professoren Konturen annehmen. Da sitzt jetzt auch Professor Mühlethaler, Internist und Leiter der medizinischen Poliklinik, von dem böse Zungen behauptet haben, er habe früher, als er noch subalterner Extraordinarius war, täglich das Elektrokardiogramm seines Chefs studiert. Eine einzige Frau nimmt Platz, Leiterin des strahlenbiologischen Institutes, üppig beleibt und mit zu einem turbanähnlichen Gebilde hochgestecktem Haar. Welche Ausstrahlung geht von dieser prächtigen, an Nofretete gemahnenden Dame aus. Ihr Mann, so war vor Jahren in der Zeitung zu lesen, besorgt den Haushalt, und das Wichtigste an ihm sei, so erklärte sie dem Interviewer, dass er schön sei. Im feierlichen Frack, gewaschen und geleckt, sitzt auf dem verhältnismäßig harten Holzstuhl der millionenschwere Gynäkologieprofessor, der wegen konsequenter Weigerung, für sein luxuriöses Zweitauto ein zusätzliches Nummernschild zu beschaffen, ein Streitverfahren bis vor das höchste Landesgericht zog. Und direkt neben ihm folgt, mit aufmerksamer Miene, unter einer wuchtigen grauen Mähne, der Mikrobiologieprofessor Lindenwurm meinen Ausführungen, eine Intelli8


genzbestie sondergleichen, von ungewöhnlicher Bildung und Sprachgewalt, der Entdecker des Interferons, wofür er seit zwei Dezennien jeden Herbst den ersehnten Nobelpreis nicht zugesprochen erhält, was ihm etwa schon so viel Ruhm eingebracht hat, wie wenn er ihn ein einziges Mal erhalten hätte. Und dann sitzen in der illustren Versammlung natürlich auch die Psychiater der Fakultät, die drei Ordinarii Kegel, Bitter und Frost und die vier Extraordinarii Wildi, Herz, Lichtenhagen und Schleifenberger. Heute Abend werde ich noch einmal meine rhetorische Trockenübung im Hörsaal absolvieren, vor den leeren Stühlen, spekulierend auf einen Lehrstuhl. Der große Tag rückt näher. Die Professoren machen mir Angst. Sie werden mich aus der Fassung bringen. Das Herz wird rasen. Die Stimme versagen. Das Hirn fragen, wie es weitergeht. Einen völligen Blackout wird es geben, einen Höhepunkt der Peinlichkeit. Durchgefallen, jawohl, fünf Jahre Fleißarbeit für nichts, für die Katz. Ich stelle die eindeutige Diagnose: Lampenfieber. Als Psychiater sollte ich eigentlich imstande sein, dieses zu behandeln, ohne Medikamente, rein psychologisch. Lampenfieber ist ein gutes Zeichen, rede ich mir ein. Es ist ein gutes Zeichen, dass du gut vorbereitet bist, und ist Ausdruck der Angst, dass deine gute Vorbereitung nicht honoriert werden könnte. Lampenfieber gibt deinem Vortrag das Feuer, das ihn zum Leuchten bringt. Ein besonders günstiger Umstand ist, dass du jetzt schon, und nicht erst bei Beginn der Vorlesung, an Lampenfieber leidest. So wirst du dich bei der entscheidenden Prüfung schon daran gewöhnt haben und darum mit Leichtigkeit darüber hinwegkommen. Und überhaupt, gerade durch das An9


kämpfen gegen das Lampenfieber entwickelst du eine Energie, die dich während des Vortrages, den du selber schon zum weiß Gott wievielten Mal hörst, wachhält und deinen Blutdruck vor dem Absinken auf null bewahrt. Solcherart sind meine Gedanken, meine Beruhigungs- und Selbstermunterungsversuche. Auch die letzten drei Hauptproben im Hörsaal verlaufen reibungslos. Das Lampenfieber, das mich bisher beim Betreten des Hörsaals beschlich, klingt jetzt mit den ersten Worten ab und meldet sich erst einige Stunden später wieder, wenn sich das Gefühl der Selbstsicherheit verflüchtigt, das ich durch die erfolgreiche Abwicklung des Referates, ohne Stottern und Hängenbleiben, gewonnen habe. Da greife ich zu einem neuen Gedankenmittel, um mir die Gründe für die Aufregung zu nehmen. Ich denke, die Professoren werden sich überhaupt nicht oder höchstens ganz beschränkt für diese Probevorlesung interessieren. Fünf Minuten vor ihrem Eintreffen im Hörsaal wird der eine Chirurg noch schnell ein paar Fäden aus einer zugenähten und vernarbten Wunde eines von ihm operierten Patienten nehmen, ein anderer seiner Sekretärin das Protokoll einer Mastektomie vom Vormittag diktieren und ein Internist die Angehörigen über den unerwarteten Herztod einer Patientin persönlich unterrichten. Kurz, jeder kommt mitten aus einer hektisch-angestrengten Tätigkeit, um im Hörsaal die tagsüber von Studenten vorgewärmten Schulbänke zu drücken, und hat seinen Kopf noch ganz bei den beruflichen Verrichtungen der verflossenen Stunden oder schon bei den Traktanden der der Probevorlesung folgenden Fakultätssitzung. Meinen Ausführungen werden sie alle nicht zuhören. Ja, die Annahme ist sogar nicht übertrieben, dass ich ohne weiteres das Telefonbuch oder den Koran vorlesen, meinen Vortrag in serbokroatischer oder koreanischer Sprache halten könnte, ohne dass auch nur 10


einer der Herren das merken würde. Sie werden nur auf vier Dinge achten, die Herren: Anzug und Krawatte müssen sitzen; die Schuhe sauber und gewichst sein; aus dem Munde müssen wie aus der Pistole geschossen menschliche Laute hervorschießen und das Referat muss nach zwölf Minuten beendet sein. So, ich kann mit Gelassenheit zur Probevorlesung antreten. In meinem dunkelgrauen Flanellanzug und mit dunkelblauer Krawatte geschmückt, schreite ich die ansteigende Rämistrasse hinauf, die zur Universitätsklinik führt. Hunderte Male habe ich diesen Weg im Akademikerviertel der Stadt schon als Student zurückgelegt, zu Vorlesungen, Kursen, Prüfungen. Der Weg führt an dem Schulhaus vorbei, in dem ich meinen ersten Gymnasialunterricht genossen und die ersten Prüfungsängste durchgestanden habe. Wie ich das schmiedeeiserne Eingangstor des Gymnasiums erblicke, durch das ich vor dreißig Jahren als Zwölfjähriger mit pochendem Herzen zur schicksalsbestimmenden Eintrittsprüfung geschritten war, überschwemmt mich mit einem Mal wieder eine Flut von Versagensängsten. Funktioniert mein Gedächtnis noch? Bin ich in meinem dunklen Anzug nicht etwas zu feierlich gewandet? Werde ich dafür ein mitleidvolles Lächeln bekommen? Bin ich auf alle möglichen Fragen genügend vorbereitet? Wie lächerlich klein werde ich dastehen, wenn ich eine nicht zu beantworten weiß. Ich trete wohl besser gar nicht zur Probevorlesung an, sondern ziehe mich zurück und verzichte auf die ganze Veranstaltung. Die akademische Karriere kann mir gestohlen bleiben! Ich steigere mich in einen pessimistischen Resignationsparoxysmus hinein. Du kannst doch den Text. Und was sind das für Zuhörer? Professoren, nein, dumme Affen sind das. Ja, Affen. Etwas weiter oben, bei der übernächsten Tramstation, ist der zoologische Garten. Ja, 11


da gehst du jetzt hin und hältst den Vortrag vor den versammelten Gorillas. Diese Professoren, Strick, Mühlethaler und wie sie alle heißen, das sind nur Gorillas mit einem intellektuellen, wenn möglich bebrillten Schädel, aber drinnen, drinnen ist gar nichts. Du kannst denen sagen, was du willst. Die verstehen nur Bahnhof. Jetzt bin ich frei. Die Ruhe selbst betrete ich die Universitätsklinik und dann den Hörsaal West, wo, es ist Viertel nach fünf geworden, der Hausmeister schon mit einigen Vorbereitungsarbeiten beschäftigt ist. »Sind Sie der …?« »Ja, der bin ich, Herr Bär, ich komme wegen den Dias.« Ich fühle mich in meiner Fantasie bestätigt, im zoologischen Garten angekommen zu sein. Aber ich bleibe bei der Vorstellung, dass jetzt bald Gorillas eintreffen werden. Ich steige die Treppe des Hörsaals, die noch steiler abfällt als die Rämistrasse, hinunter bis zum Katheder und blicke in den Raum. »Herr Dekan, liebe Fakultätsmitglieder, meine Damen, meine Herren …« Hoffentlich erscheint wenigstens eine Dame, sonst sind sie noch beleidigt, wenn ich sie teilweise als Damen anspreche. Da kommt in Begleitung zweier Sekretärinnen der Dekan, der ist Ordinarius für Zahnmedizin. »Sie wissen, wie es geht«, sagt er, »Sie dürfen alles sagen, was Sie wollen, aber es darf nicht länger als zwölf Minuten dauern, mit Diskussion fünfzehn Minuten maximal. Sie können hier in der ersten Reihe Platz nehmen.« Er schaut mir nicht in die Augen, als Zahnarzt ist er es wohl gewohnt, in den Mund des Patienten und zur Abwechslung in die Augen der Gehilfin zu schauen. Die Vorstellung eines Gorillas entschwindet in mir. Und jetzt kommen Stück für Stück die Kollegen des Dekans, der hier als Primus inter pares den Vorsitz führt. Mit welchen Intelligenzbestien und Großverdienern sich das Auditorium nun füllt! Mindestens fünftausend12


fünfhundert Punkte Intelligenzquotient haben sich, in kleinen Grüppchen herumstehend, bereits eingefunden, und zusammengezählt mindestens zwölf Millionen Jahreseinkommen und hundert Millionen versteuertes Vermögen, und mit jedem eintretenden Klinikdirektorenhaupt steigt der Intelligenzquotient um hundertzwanzig bis hundertsechzig Punkte, das Einkommen um drei bis vier Hunderttausenderlappen, das Vermögen um eine Million, manchmal um zwei, drei, vier oder noch mehr. Ganze Villenviertel mit zwei Dutzend Schwimmbecken und ein Heer von Gartenzwergen erstehen vor meinen Augen. Dreißig Mercedes 560 SEC, zwanzig BMW 735, zehn Porsche 911, fünf Bentley, zwei Cadillac, vier Rolls Royce und im Schatten der Karossen ein Deux Chevaux stehen in den Garagen und auf den Parkplätzen. Jetzt gleitet der Mikrobiologieprofessor schwebenden Schrittes ins Auditorium. Der Gesamt-IQ im Hörsaal schwellt um zweihundert Punkte in die Höhe, das Vermögen nur um knapp fünfzigtausend Franken. Jetzt stampft der Chirurgieprofessor in den Saal. Der IQ steigt um knapp hundert Punkte, das Vermögen um zwanzig Millionen. Die Uhr steht auf achtzehn Minuten vor sechs. Noch rund hundertsechzig Millionen werden erwartet. Vierzig Millionen fließen in den letzten drei Minuten in den jetzt zu drei Vierteln besetzten Saal, Aktien, Obligationen, Goldbarren, Immobilien, Perserteppiche, Gemäldegalerien, Ikonensammlungen, Luxusautos und Jachten. Und jetzt, Punkt Viertel vor sechs, mein Puls steigt auf hundertsechzig, schreitet majestätisch die Strahlenkönigin, die einzige Frau der Fakultät, die Treppe herunter, Frau Professor Stritz, und beschwert den äußersten Platz in der sechsten Reihe, welche Ausstrahlung! Und der Dekan erhebt sich und eröffnet die Sitzung, indem er in neutral freundlichem Ton kurz meine Probevorlesung ankündigt. Der Moment ist gekommen. Ich stehe 13


auf, schaue kurz noch einmal in das Auditorium, wo Herr Bär am Schaltwerk mit meinen Dias in Bereitschaftsstellung harrt, denke kurz »Gorillas!« – und mein Puls fällt in einer Art Sekundenphänomen auf etwa sechzig herunter. In diesem Moment, in dem ich mich an die Gorilla-Vollversammlung wende, bemächtigt sich meiner als Folge dieser autosuggestiven Beeinflussung ein Gefühl cooler Gelassenheit und unerschütterlicher Selbstsicherheit, und es spricht aus mir mit fester Stimme: »Herr Dekan, liebe Fakultätsmitglieder, meine Damen, meine Herren!« Und dann sage ich mein Probevorlesungsgedicht wie schon fünfzig Mal zuvor auf, alles geht wie am Schnürchen, zuerst die Einleitung, dann die ersten drei Dias und dann der Zwischentext, der überleiten soll zu den weiteren drei Dias. Und das Glücksgefühl, das in mir durch den völlig programmgemäßen, wie der Countdown eines computergesteuerten Raketenstartes vor sich gehenden Ablauf des Vortrages entsteht, steigert sich zu einer wahren Euphorie, die mich kurz vor der zweiten Diaserie zum übermütigen Wagnis hinreißen lässt, vom vorbereiteten Text abzuweichen, wie ein souveräner Staatsmann von den strengen Anweisungen des Protokolls, um mich nochmals an das geneigte Publikum mit einer Anrede zu wenden: »Meine verehrten Damen und Herren Gorillas!« Ich erschrecke über das, was meiner Brust entfahren ist, öffne erneut den Mund, doch bringe ich keinen Laut mehr über die Lippen. Meine Augen glotzen starr in das Publikum, in welchem eine Welle der Entrüstung durch die Reihen zu gehen scheint. Ich merke, dass ich mich entweder für den Versprecher entschuldigen oder gleich mit dem Text fortfahren muss, um die Bedeutung des Patzers abzuschwächen, doch meine Kiefer sind gesperrt und lassen keine Lautbildung mehr zu. Ich beobachte, dass wie in einem Dominospiel ein Gorilla nach dem anderen 14



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