Andri Perl. Im Berg ist ein Leuchten. LESEPROBE

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AdinaIllustrationenAndres ERZÄHLUNGANDRITUCHTBERGEINPERL

ANDRI PERL IM LEUCHTENISTBERGEIN

Andri Perl Im Berg ist ein Leuchten ElsterErzählung&Salis AG, AndréUlrikeGertrudPhilippwww.elstersalis.cominfo@elstersalis.comZürichStolzGermannGroegerGstettenhofer/Adina Andres Adina Andres CPI Books GmbH, Leck 1. Auflage 2022 © 2022, Elster & Salis AG, Zürich Alle Rechte vorbehalten ISBN Printed978-3-03930-041-9inGermany UmschlaggestaltungKorrektoratLektoratVerlagSatzUmschlagbildundIllustrationenDruck,Bindung Elster & Salis wird vom Bundesamt für Kultur mit einem Förderbeitrag für die Jahre 2021–2024 unterstützt.

Seine Tante Dorina schilderte ihm aufgeregt, wie sich nun alles zum Guten wenden würde. Wie sie

1.DIE7 ESEL

Wo die Esel hin sind damals, möchte ich wissen.

»Das ist lange her, Lisa«, antwortet Mattia Bischoff, der Buchbinder. Ich besuche ihn in seiner Altstadtwohnung, die er zur Miete nimmt. Er sitzt auf einem weinrot gepolsterten Sessel. Die Regale hinter dem Sessel quellen über. »Sechzig Jahre. Mehr sogar.« Es war in einem Sommer, den sie einen griechi schen Sommer nannten, weil er die Bäche trockenlegte und die Wiesen versengte. Mattia arbeitete hier in der Stadt bei der Großdruckerei und wartete auf das Ende des zweiten Lehrjahres. Darauf, dass endlich der Urlaub anfangen und er nach Hause fahren würde zu den Eltern. Zu den Freunden, die im Tal geblieben waren. An einem der letzten Arbeitstage rief ihn der Lehrmeister ins Büro. Telefon. Für ihn.

8 wieder jemanden kennengelernt habe, verwitwet wie sie und ein Lieber und ein Lehrer und einer, der nicht nur mit den Schülern könne, sondern auch mit seinem Dorf. Einem Dorf, das zwar drei Autobusstunden entfernt liege, aber sehr einladend sei. Bald ziehe sie zu ihrem Lehrer. Es gebe noch vieles zu tun wegen des Verkaufs des Hofs und derDeshalbTiere. müsse sie außer Haus. Und da sie von Mattias Mutter gehört habe, dass er die folgende Woche wieder im Tal sei, frage sie ihn also, ob er zu ihren Eseln schauen könne, für die sie bereits einen Käufer gefunden habe. Besonders auf die trächtige Stute müsse man schauen. Drei bis vier Tage. Danach komme der Transporter, und die Esel kämen auf den Hof des Käufers. Sie habe die Tiere schon von der Alp geholt. Mattia Bischoff sagte Ja. Seine Eltern empfingen ihn besorgt. Noch nie hatten sie die Rinnen unter ihrem Haus so staubig gesehen. Die Regentonnen neben den Gemüse gärten lagen leer. Eine Feuerwache ging durch die Gassen des Dorfkerns. Als Gemeindekanzlist hatte Mattias Vater bereits vor Wochen die Bevölkerung angeschrieben, dass die Brunnen auf den Plätzen abgestellt würden. Alle sollten von nun an sparsam mit Leitungswasser umgehen. Als Mattia am Abend

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Der erste Bauer bedauerte Mattia. Der zweite bedauerte, dass Mattias Tante wegzog, und dann sich selbst. Der dritte lachte Mattia aus. Alle empfahlen sie ihm, die Esel unten am Fluss zu tränken.

»Kennst du Sulvaschin ein wenig?« Der Buchbinder schaut aus dem Fenster, als er mich fragt, und fährt weiter, ohne meine Antwort abzuwarten. Er weiß, dass ich im Dorf aufgewachsen bin. Der Abstieg von der Stallung hinunter zum Fluss ist steil und mühsam.

seiner Rückkehr zum ersten Mal nach den Eseln sah, versiegte der Zufluss zur Tränke. Der Stall lag außerhalb des Dorfs, gleich nach der Abzweigung vom alten Saumweg. Wasser herbeikarren? Viel zu aufwendig. Außerdem: welches Wasser? Die Bauern, die er um Hilfe bat, hatten selber kaum mehr Wasser für die Tränken.

Doch die Esel brauchten Wasser bei dieser Hitze, besonders die trächtige Stute. Also führte er sie zum Fluss. Sechs Tiere insgesamt, darunter ein Wallach, der lahmte, weil ihn die Hufe plagten. Die jüngeren Stuten scherten immer wieder aus, um unter den Zäunen hindurchzugrasen. Es dauerte eine Stunde, bis Mattia die Tiere zum Fluss und über die Brücke getrieben hatte, hinüber auf die Insel, zur Stelle, wo das Ufer abflacht.

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»Warum man die Insel Insel nennt?« Mattia Bi schoff überlegt. »Vielleicht weil sie nur über das Wasser zu erreichen ist. Im Westen liegt der Fluss; gegen Osten ist sie vom Fels eingekesselt. Ich glaube nicht, dass man von oben her auf die Insel kommt. Ein seltsamer Ort.« Ein seltsamer Ort, aber offensichtlich gefiel er den Eseln weit besser als die ausgedorrte Weide um den Stall. Der trächtigen Stute gefiel die Insel so gut, dass Mattia sie nicht mehr zur Rückkehr über die Brücke bewegen konnte. Rasch gab er es auf. Ohnehin hatte er keine Lust, die Esel auch die folgenden Abende mühsam zum Fluss hinunter- und dann wieder zum Stall hochzutreiben. Ihm kam eine Idee, wie er die Tiere einhegen konnte für die Zeit, da Tante Dorina außer Haus war. Einhegen musste er die Esel. Denn selbst ohne Brücke, selbst bei höherem Wasserstand wäre der Fluss für sie nur ein kleines Hindernis gewesen. Zwar nicht zurück über die Brücke, aber mit etwas Zucker konnte Mattia die Tiere vom Ufer durch eine Böschung locken und gelangte so auf den Weg, der zur Bergbausiedlung auf der Insel führte. Die Siedlung war bereits im 19. Jahrhundert aufgegeben worden. Zunächst kam er an der Stein kirche vorbei. Die Tiere folgten ihm. Sie folgten

Direkt hinter der Bergbausiedlung lag ein militä risches Übungsgelände, das die Armee kaum jemals brauchte. Vielleicht ein-, zweimal im Jahr. Die Gebirgsinfanterie simulierte dort und in der Bergbausiedlung wohl den Häuserkampf. Jedenfalls gab es da einen kleinen Schießplatz, Kurzdistanz, sogar mit einem Munitionsdepot. Vor diesem wuchs

ihm zwischen den verfallenen Schmelzen hindurch bis zum Knappenhaus, wo einstmals die Bergleute gewohnt hatten. Es stand damals noch, wenn auch beinahe alle Fenster eingeschlagen waren. Mattia Bischoff staunte: Im Gegensatz zu den Dorfbrunnen führte der Brunnen vor dem Knappenhaus Wasser. Umso besser also. Nachdem Mattia selber getrunken hatte, rief er nach dem alten Stuppan.

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Der wohnte da. Ganz allein. Ohne viel Kontakt zum Dorf. Noch ein paar Jahre zuvor hatte er sommers auf der Alp die Ziegen gehütet, doch nun war er nicht mehr gut zu Fuß. Man sah ihn deshalb auch weniger im Wirtshaus. Mattia rief nach ihm, weil er hoffte, Stuppan könnte ein Auge auf die trächtige Stute werfen oder sogar die Esel zum Brunnen führen, sodass er selbst nicht zu oft vorbeikommen müsste. Die breite Tür zum Knappenhaus stand offen. Mattia rief hinein. Doch Stuppan schien nicht da zu sein.

etwas Gras für Mattia Bischoffs Esel. Bergseitig stieß der Schießplatz an den Fels, auf den anderen Seiten hatten die Soldaten ihn zur Sicherheit mit Stacheldraht eingezäunt. Ein dürftiges Schloss hing vor einem Tor. Ein Warnschild wollte vom Betreten abhalten. Doch neben dem Tor konnte man den Stacheldraht mit ein wenig Geschick zur Seite beugen. Und schon hatte Mattia eine Weide für seine Esel.

»Den Schießplatz gibt es schon lange nicht mehr, nein«, bestätigt mir Mattia. »Er lag auf dem Gebiet des späteren Kieswerks. Wobei, das gibt es ja auch schon nicht mehr.« Einerlei. Er hatte nun einen Platz für die Esel. Auf dem Heimweg rief er noch einmal nach dem alten Stuppan und erhielt wiederum keine Antwort. Stuppan kannte Tante Dorinas Esel, aber er hätte Mattia nie verpfiffen. Sollte die Armee den Platz brauchen, würde sie wie immer zuerst im Dorf Quartier beziehen, also einen Quartiermeister vor anschicken und bei Vater Bischoff die Schlüssel für die Schutzanlagen abholen. Genug Zeit für Mattia, die Tiere unbemerkt wegzubringen. Er musste nur aufmerksam sein die nächsten Tage. So jedenfalls hatte er sich das ausgedacht auf die Schnelle. Doch dann begegnete er am nächsten

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Und so versammelten sich alle an jenem Samstag – es muss ein Samstag gewesen sein – un ter der Linde neben dem Saumweg und tranken PeidersEinerWein.hatte ein Akkordeon dabei. Irgendwann setzte sich Annatina, mit der Mattia zur Schule gegangen war, zu ihm. Es war ein sehr schöner Samstag. Aber natürlich hatte er von der Linde aus weder den Dorfplatz noch den unteren Dorfaus gang zum Fluss im Blick.

Den hatte Mattia erst im Blick, als Annatina und er sich etwas von der Gruppe entfernten. Wer weiß, vielleicht wäre aus ihnen etwas geworden … Sie saßen da und hatten noch kaum ein Wort gewechselt, als er die vier Militärfahrzeuge bemerkte. Das war nun ganz dumm gelaufen. Er sprang sofort auf und rannte los. Auf dem Dorfplatz lieh er sich das Fahrrad der Wirtin aus, die er mit irgendeiner Geschichte abspeiste.

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Morgen vor dem Haus Peider. Peider war im glei chen Alter wie er und ganz aufgedreht, weil er irgendwo zwei Kisten Wein ergaunert hatte und gerade die Dorfjugend zu einem Fest zusammentrommelte.

Für ein Fahrrad war der Weg zum Fluss jedoch denkbar ungeeignet. Unbeholfen holperte Mat tia nach unten und wusste, dass er es unmöglich

14 schaffen würde, die Militärfahrzeuge einzuholen. Immerhin hatte er Zeit, sich alle möglichen Ausreden einfallen zu lassen. Und sie wieder zu ver werfen.Vorder Brücke waren bereits zwei Wachen postiert. Der Zufall wollte es, dass Mattia einen der Soldaten aus der Großdruckerei kannte: Waldenberger, der dort als Maschinist angestellt war. Mat tia entschied sich, Waldenberger die Wahrheit zu sagen. Dass es ihm wirklich leid täte, falls sie wegen ihm Unannehmlichkeiten hätten. Er würde sofort zum Schießplatz fahren und seine Esel mitnehmen. Waldenberger beriet sich mit seinem Kameraden. Die beiden waren unsicher, wie zu verfahren sei. Schließlich entschied Waldenberger, den unglück lichen Bischoff nicht einfach passieren zu lassen, die Angelegenheit aber seinem Vorgesetzten zu erklären. Die beiden Wachen hatten jedoch kein Funkgerät, Waldenberger eilte zu Fuß davon. Mattia wartete. Und wartete. Waldenbergers Kamerad wollte, dass der junge Eselshirte Abstand zur Brücke hielt. Also legte Mattia sein Fahrrad an den Wegrand und setzte sich. Mit der Zeit befiel ihn ein ungutes Gefühl. Die Abklärung konnte doch nicht so lange dauern – außer Waldenbergers Oberleutnant wäre einer der besonders mühsamen

Art gewesen. Als er endlich zurückkam, wirkte Waldenberger verärgert. Sein Vorgesetzter habe keine Esel auf dem Schießplatz gesehen, und auch sonst wo grasten keine Esel. Er habe auf dem Weg zurück eigens ein paar Umwege eingeschlagen, um nachzuschauen.

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Es tue ihm leid, aber er dürfe Mattia nicht über die Brücke lassen. Die Übung sei in vollem Gang.

Ich könne mir wohl vorstellen, wie ihm damals zumute gewesen sei, meint Mattia Bischoff, die Hände verwerfend. Eben noch am schönsten Fest unter der Linde, und zwei Stunden später hatte er eine ganze Herde Esel verloren.

Mattia war einigermaßen verzweifelt und wollte Waldenberger nicht recht glauben. Aber es gab keine Chance, die Aussagen zu überprüfen, die Übung würde noch Stunden dauern. Unschlüssig schob er das Fahrrad den Hang hinauf und gab es der Wirtin zurück. Mattia schlich bis spätabends um das Wirtshaus, bis endlich eines der vier Mi litärfahrzeuge angefahren kam. Darin saßen nur der Oberleutnant und sein Ordonnanzsoldat. Der Rest der Truppe übernachtete samt den Unteroffizieren in den Schutzanlagen. Als der Oberleutnant und seine Ordonnanz im Wirtshaus verschwanden, machte Mattia sich auf den Heimweg. Allerdings

16 nur, um noch mehr Zucker und eine Taschenlampe einzustecken. Seinen Eltern erzählte er vom Fest unter der Linde. Sie mahnten ihn, am nächsten Morgen ausgeschlafen zum Gottesdienst zu erscheinen, und ließen ihn ziehen.

Dreimal lief Mattia Bischoff jede Ecke des Schießplatzes ab, überall kontrollierte er den Zaun. Keine Esel. Nun, das war zu erwarten. Aber auch kein Loch im Zaun. Kein Hinweis, wohin die Esel hätten entschwunden sein können. Seltsam. Er rief nach der Stute. Nach den anderen Tieren. Keine

Erst in der Biege nach dem unteren Dorfausgang schaltete er die Lampe ein, denn er wollte nicht, dass das ganze Dorf seine nächtliche Exkursion mitbekam. Schlimm genug, dass Waldenberger und der Oberleutnant von seiner Suche nach den Eseln wussten. So schnell es ging, lief er zum Fluss, dann über die Brücke, vorbei an der Steinkirche und den Schmelzen zum Knappenhaus. Er leuchtete kurz die leeren Fenster aus. Noch immer keine Spur vom alten Stuppan. Weiter zum Schießplatz. Den Stacheldrahtverhau fand Mattia so vor, wie er ihn verlassen hatte: säuberlich geschlossen. Er beugte den Draht wieder zur Seite, den Lederriemen der Taschenlampe zwischen den Zähnen. Aus dem Gras blinkten ein paar Hülsen der Gewehrmunition.

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Doch er hörte nichts. Gar nichts. Was ihm auf dem Hinweg nicht aufgefallen war: Auch den Brunnen hörte man nicht mehr. Er überprüfte es von Na hem. Das Becken war noch gefüllt, doch aus den Rohren sprudelte kein Wasser mehr. Das schien dem jungen Bischoff kein gutes Zeichen. Er beschloss, die Suche für diese Nacht aufzugeben und bei Tag weiterzumachen.

Reaktion in der Windstille. Die nähere Umgebung des Schießplatzes abzusuchen, gab er rasch auf. Zu dicht wuchsen die Büsche. Enttäuscht kehrte Mattia um. Vor dem Knappenhaus hielt er noch einmal inne, horchte, ob er irgendwo Hufe hörte.

Während des Gottesdienstes rutschte Mattia ungeduldig hin und her auf seinem Platz. Während des Mittagessens rutschte er noch ungeduldiger hin

Am frühen Sonntagmorgen, noch vor dem Kirchgang, hastete er zum Stall seiner Tante. Plötzlich hatte ihn die Ahnung beschlichen, die Esel seien einfach von sich aus heimgekehrt. Logisch, wohin sonst würden sie sich davonmachen, wenn nicht zu ihrem Unterstand? Doch er täuschte sich. Weder im Stall noch auf den umliegenden Wiesen fand er seine Esel. Verschwitzt und unruhig kam Mattia vor der Dorfkirche an. Den Eltern erzählte er, es gehe den Eseln prächtig.

Die Tante schaffe es wohl nicht zurück bis dann. Das war nun eher eine gute Nachricht, es blieb etwasSchleunigstZeit. ging Mattia nach dem Essen nach draußen. Drei Häuser weiter klopfte er bei Peider und überredete ihn, ihm zu helfen, indem er ihn in die Notlage einweihte. Zu zweit wollten sie noch einmal die Insel gründlich durchforsten. Zunächst kontrollierten sie von der anderen Seite des Flusses her alle einsehbaren Uferstellen der Insel. Später überquerten sie die Brücke und stöberten immer wieder den Wildwechseln entlang, die vom Pfad zur Bergbausiedlung abzweigten. Sie fanden nur die Losung von Rotwild und Rehen, Eseldung lag keiner zwischen den Büschen. Als sie aber vor der Steinkirche nach Spuren suchten, hörten sie aus

18 und her auf seinem Platz. Da klingelte das Telefon. Mutter Bischoff war verstimmt über die Störung, lief in die Diele und nahm den Hörer ab. Von Weitem hörte Mattia sie sprechen. Und er hörte sie von den Eseln sprechen. Oha!

Doch er ließ sich nichts anmerken, als sie zurück an den Tisch kam. Dorina, sagte sie. Dorina sei die Einzige, der es in den Sinn komme, am Sonntag mittag zu telefonieren. Der Käufer der Esel habe sich definitiv auf Mittwochmorgen angekündigt.

Die beiden Freunde standen unter dem Portal und lauschten. Jemand sang. Ein wüstes Lied war es. Mattia Bischoff erinnert sich an die Worte, will sie aber nicht wiederholen, will nicht, dass ich den Liedtext notiere. Peider und er erkannten die Stim me und bahnten sich einen Weg dorthin, wo ein mächtiger Taufstein stand. Im ehemaligen Chor der Kirche saß der alte Stuppan auf dem Boden. Er hatte ein Feuer gemacht, von welchem nur noch die Kohle gloste. Er sang und nagte zwischen den obszönen Strophen an einem großen Stück Fleisch.

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»Im Berg ist ein Leuchten. Der Berg ist voller Wut«, predigte er. Mattia und Peider gingen nicht darauf ein. Sie wollten wissen, was er da esse.

Als er die Jugendlichen entdeckte, stand er auf.

dem Inneren ein Geräusch. Heute ist die Kirche gänzlich zerfallen, damals aber stand sie noch. Als Gerippe ohne Dachstuhl, weder auf dem Schiff noch auf dem Turm, als Ruine, von deren Fenstern noch weniger übrig geblieben war als von denjenigen des Knappenhauses. Das Portal stand offen, die Türen waren längst abhandengekommen. Wo einst die Bewohner der Bergbausiedlung gebetet hatten, wuchsen zur Zeit der Suche nach den Eseln Haselsträucher und Föhren.

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»Der Berg wird sich wehren«, fuhr Stuppan fort, ohne auf die Frage zu antworten. Sie hakten nach, aber der alte Stuppan ignorierte ihre Fragen. Peider wurde das zu viel, er packte Stuppan am Kragen, warf ihn zu Boden und entriss ihm das Stück Fleisch. Der Alte winselte, während Peider am Essen schnupperte, einen Bissen nahm und schließlich befand: kein Esel, Schweinefleisch. Mattia entschuldigte sich beim alten Stuppan und versuchte, etwas zu den Eseln zu erfahren. Doch der Einsiedler meinte nur, er wisse nichts, gar nichts. Dann kroch er in eine Ecke und schwieg vollends. Peider drohte ihm Prügel an, merkte aber rasch, dass das nicht weiterführte. Die beiden Freunde ließen den alten Stuppan in der Steinkirche und wollten ihre Suche fortsetzen. Kaum traten sie aus dem Portal, hörten sie Militärfahrzeuge über den Pfad rütteln. Die Fahrzeuge bogen um die Ecke, bevor Mattia und Peider reagieren konnten. Der Oberleutnant ließ den Konvoi anhalten. Er gab den Freunden zwei Minuten, um von der Insel zu verschwinden. Den Rest des Sonntags verbrachten sie damit, die Waldstücke am Hang zwischen dem Fluss und dem Dorf abzusuchen. Vergeblich. Es dunkelte ein, Peider verabschiedete sich, und Mattia kehrte ratlos heim.

Es war mitten in der Nacht, als mit einem Mal Sirenen aufheulten und kurz darauf ein Rufen durch die Gassen ging: das Rufen der Brandwache. Mattia stand auf und sah seinen Vater in die Uniform der freiwilligen Feuerwehr steigen: »Die Insel brennt.« Vom Fluss herauf hörte man die Explosionen aus demEineMunitionslager.Nacht,einen Tag und eine Nacht brannte die Insel. Trug die Infanterie mit ihrer Sonntagsschießübung die Verantwortung dafür? Da sie sich tatkräftig an den Löscharbeiten beteiligte, blieben die Schuldzuweisungen leise. Dem jungen Bischoff fiel natürlich sofort der alte Stuppan mit seinem Feuer in der Kirche ein. Der war aber am traurigsten von allen über den Brand, denn er hatte sein Obdach verloren. Das Knappenhaus war ein Raub der Flammen. Der Rest des Dorfs nahm es nicht tragisch. Ein dürrer Sommer halt. Was war denn anderes zu erwarten als ein Feuer. Die meisten dankten dem Himmel, dass keine Häuser oder Ställe loderten, sondern nur der Wald, das Buschwerk und die Reste einer alten Bergbausiedlung an einem seltsamen Ort. Die Feuerwehr und die Armee verhinderten, dass der Brand über den Fluss griff. Sie konnten sogar die Brücke retten. Eine Regenfront, die Regenfront, auf die das Dorf so

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Der Erkundungstrupp kam gerade zum Platz vor dem Knappenhaus. Dieses war eingestürzt. Samt all seinen Nebengebäuden. Im Regen stiegen noch immer Rauchschwaden aus den Trümmern. Der Sulvaschiner Feuerwehrkommandant delegierte ein paar Leute dahin ab. Mitten in seiner Befehlsausgabe hielt er inne. Hinter dem Knappenhaus gellte ein Ruf. Der Ruf eines Esels. Vater Bischoff wollte ihn davon abhalten, aber Mattia rannte zum Munitionslager. Oder dorthin, wo noch ein paar Tage zuvor das Munitionslager gewesen war.

um das Feuer kümmerte sich wenigstens niemand um Mattias Suche nach den Eseln. Er aber befürchtete das Schlimmste. Zusammen mit seinem Vater schloss er sich einem Erkundungstrupp der Feuerwehr, der Armee und von Männern aus dem Dorf an, um die verkohlte Landschaft auf der Insel zu begutachten und Glutnester ausfindig zu machen.

Da standen seine Esel auf der verkohlten Fläche. Innerhalb der Überreste des Stacheldrahtzauns. Alle Esel standen da. Alle unversehrt. Nur dass die Stute,

Noch durfte sich aber niemand in die Nähe des Munitionslagers beim Schießplatz wagen.

lange hatte warten müssen, half mit, die letzten großen Brandherde zu löschen. Es war nun bereits Dienstag. Ob der Aufregung

sich versteckt gehalten hatten? Mattia brachte sie jedenfalls unter den staunen den Blicken des Erkundungstrupps und des Dorfs zum Stall, wo der Käufer sie am nächsten Tag mit einem Transporter abholte. Erst als die Armee die Umgebung des Munitionslagers für sicher erklärt hatte, suchte Mattia nochmals das Gelände ab. Es ließ ihm keine Ruhe, dass eine ganze Herde Esel einfach verschwinden und vor allem einfach wie der auftauchen konnte. Die Insel war eine einzige Brandrodung, aus der ein paar Ruinen ragten. Lediglich an einer Stelle am Fels, wo das Buschwerk vorher beinahe undurchdringlich dicht gewachsen war, war noch etwas Grün vorhanden. Als Mattia sich daran zu schaffen machte, flog ein Schwarm Schmetterlinge auf – nur um sich in der feuchten Asche nebenan niederzulassen.

23 die übrigens in einem fort rief, nicht mehr trächtig war. An ihre Seite schmiegte sich ein Füllen. Und was für eines!

Ich hätte sicher schon gehört, was das Besondere an diesem Füllen gewesen sei: Es hatte schneeweißes Fell.WoAlbinismus.seineEsel

Da sah er die Spuren. Und sie führten in den spärlichen Rest des Dickichts. Zum Fels. So fand er den schmalen Spalt: einen Eingang zum Höhlensystem,

Aber

24 den man über die Jahrhunderte vergessen hatte.

eigentlich passt dort kein Esel durch. Ein Mensch nur knapp, und nur, wenn er klettert. »Du fragst das alles wegen deinem Vater, nicht? Der ist ein guter Kletterer gewesen, habe ich gehört.« •••

Hej Käti vu Bern, tanka diar für d Geduld und ds Gägaläsa, tanka für d Kritik und d Motivation. I han di huara gära. Verlag und Autor danken der Stadt Chur und dem Kanton Graubünden für den Beitrag an die Druck kosten dieses Buches.

DANK113

115 ZUM AUTOR

privatFoto:

Andri Perl (1984) aus Chur ist Rapper bei Breitbild und Autor der Romane »Die fünfte, letzte und wichtigste Reiseregel« (2010) sowie »Die Luke« (2013).

2019 wird Perl der Bündner Literaturpreises verliehen.

Perl hat an der Universität Zürich Germanistik und Kunstgeschichte studiert und ein Masterstudium in Dramaturgie an der Zürcher Hochschule der Künste absolviert. Ausserdem sitzt er für die SP im Bündner Kantonsparlament und ist ein zusehends lahmender Hobbyfussballer der Schweizer Schriftstellernationalmannschaft.

»Die Atmosphäre der Stadträume ist das Lebenselement dieses Romans und seiner Figuren. Perl interessiert sich für die Verwicklungen des Alltags und das Leben im Kleinformat – und lässt denjenigen, die es in Würde bewältigen, Gerechtigkeit widerfahren.« Neue Zürcher Zeitung

»Die Luke« befindet sich im Keller eines Mietshauses. Sie ist der Ausgang ei nes längst nicht mehr benutzten Zivilschutzbunkers und dient einigen Hausbe wohnern als Müllablage. Der Hausmeister Hans wollte sich schon längst darum kümmern, verschiebt es aber immer wieder. Sein Sohn Gilberto bietet die Luke bei einem Geocaching-Spiel Freunden als Versteck an, und der Antiquitä tenhändler Ottavio Solari hält dort vielleicht etwas verborgen.

»Die Luke« ist eine Liebeserklärung an das eigene Viertel der Stadt. Perl kombi niert ein Kabinett von präzise gezeichneten Charakteren mit der latenten Span nung eines Krimis. In konsistentem Stil und eleganter Sprache schreibt er über ganz normale Menschen und ihre Tragödien.

117 Andri Perl bei DieSalisLukeRoman ISBN 978-3-905801-98-9 Broschur, 12.5 x 19 cm, 224 Seiten Auch als E-Book

Fast sechzig Jahre nach dem Verschwinden seines Großonkels Lorenz Steiner reist Christoph Roth vom Engadin aus in den Süden. Er folgt den geheimnis vollen Gedichten, die Steiner aus Italien und Frankreich gesandt hat, jedes mit einem Städtenamen als Titel: Meran, Venedig, Marseille, Dijon. Steiner ist da mals mit seinem italienischen Freund Biancardi aus Chur abgehauen, ohne Ab schluss, Europa lag noch in Trümmern. Christoph Roth, eben mit dem Studium fertig geworden, mit etwas Geld und ohne Zukunftspläne, beschäftigt sich damit, seine selbstauferlegten Reiseregeln zu befolgen: kein Handy, früh aus den Fe dern, gutes Essen, hübsche Frauen ansprechen und, als fünfte, letzte und wichtigste Reiseregel, den Gedichten folgen. Je weiter er kommt, desto mehr stellt sich ihm allerdings die Frage, weshalb er diese Reise tätigen zu müssen glaubt. Die fünfte, letzte und wichtigste ReiseregelRoman

»Der Schweizer Hip-Hop-MC Andri Perl legt mit ›Die fünfte, letzte und wichtigste Reiseregel‹ ein außerordentliches Debüt hin, dessen charmant auf altmodisch getrimmter Stil mit Rap außer der Lust am spielerischen Umgang mit Sprache wenig zu tun hat: elegant, gewitzt und gewandt.« WDR, Radio 1Live

119 Andri Perl bei Salis ISBN 978-3-905801-98-9 Broschur, 12.5 x 19 cm, 224 Seiten Auch als E-Book

Es war mitten in der Nacht, als mit einem Mal Sirenen aufheulten und kurz darauf ein Rufen durch die Gassen ging: das Rufen der Brandwache. Mattia stand auf und sah seinen Vater in die Uniform der freiwilligen Feuerwehr steigen: »Die Insel brennt.« Unterhalb des Dorfes Sulvaschin erwächst eine wundersame alpine Landschaft: die Insel. Schwer zugänglich und verwuchert ist sie, geprägt von den Ruinen einer alten Bergbausiedlung, zugleich der Vorhof eines Stollensystems. Sie ist Teil des Nationalparks und das Refugium vieler bedrohter Arten. Lisa, die Erzählerin, forscht in Sulvaschin und auf der Insel nach ihrem seit Jahren vermissten Vater. Sie folgt seiner Spur in Gesprächen mit der Dorfbevölkerung. Jedes Kapitel führt uns gedanklich tiefer in den Berg. So wird »Im Berg ist ein Leuchten« zu einem Memento für das Verschwindende und die Verschwundenen.

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