Gerhard Waldherr. Bruttoglobaltournee

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F IN N L AN D/ U KR AIN E Die Kernfrage

Links verschneiter Wald, von Frost gezuckert das Schilfgras am Ufer. Es ist März, später Winter. Ein silbriger Glanz liegt über dem Bottnischen Meerbusen. Rechts knirschen haushohe Lastwagen über Schotter und gefrorenen Schlamm. Da steht ein wuchtiger, grauer Kessel, breit und lang und tief wie ein Schwimmbad. Da sind riesige Kräne, Modell Mammoet, die ihre stählernen Arme in den blauen Himmel recken. Gewaltige, mit Plastik bespannte Gerüste. Gräben wie Kiesgruben mit mannshohen, moosgrünen Rohren. Eine besondere Baustelle. »Alles ist größer hier«, sagt Mikko Winter, »das Material, die Dimensionen, die Verantwortung.« Auf seiner Visitenkarte steht »Ingenieur«. Seine bislang größte Baustelle war ein Heizkraftwerk in Schottland. Lego im Hochmoor, kein Vergleich. Doch jetzt ist er bei TVO. Jetzt ist er auf Olkiluoto. Winter geht voran. Vorbei an Bauzäunen, hinein in eine Wellblechhalle. Dort zeigt Winter auf ein sechs Meter dickes, rundes Betonfundament, umwuchert von einem Dickicht aus meterhohen Eisenstangen. Winter sagt: »Das wird das Herz der Nuklearinsel sein.« Wenn 1000 Tonnen Material verbaut sind, wenn sich eine 50 Meter hohe, zwei Meter dicke Kuppel aus Stahl und Beton über einen Reaktor spannt, in dem 128 Tonnen Uran glühen und 290 Grad heißen Wasserdampf erzeugen. »Ich gebe zu«, sagt Winter, »man braucht Fantasie, um sich das vorzustellen.« Es wird Olkiluoto 3 heißen. Olkiluoto wie die Insel im Südwesten Finnlands. 3 wegen Olkiluoto 1 und Olkiluoto 2, die dort bereits Atomstrom produzieren. Doch OL3 wird nach seiner Fertigstellung mehr Energie liefern als OL1 und OL2 zusammen, mit 1600 Megawatt soll es das leistungsstärkste Kernkraftwerk der Welt werden. Und OL3 ist zugleich das erste Kernkraftwerk, das in der EU seit 1996 gebaut wird. Was weltweit Aufsehen erregt hat und als Indiz einer Kehrtwende gewertet wird. Die New York Times titelte: »Finnland führt den Westen zurück zur Atomenergie.« Warum nicht? Großbritannien, die Schweiz, Tschechien, 87


Ungarn, Bulgarien, die Slowakei prüfen einen Wiedereinstieg in das radioaktive Geschäft; die USA tun es schon länger. In Russland und Asien ist die Entscheidung gefallen; Indien, China und Taiwan bauen zwölf, Südkorea plant acht Kernkraftwerke. Kernkraftwerke. Heftig debattiert, häufig umstritten. Deshalb gibt es neben der Baustelle ein Besucherzentrum. Da steht ein Modell des Reaktors unter einer Glaskuppel. Dazu läuft ein Video. Im Zeitraffer wächst OL3 zu einer formschönen, imposanten Kathedrale des Fortschritts. Strahlen fliegen, pulsieren, oszillieren, Leitungen glühen, Turbinen rasen. Ulrich Giese von Framatome ANP, verantwortlich für die Koordination der Bauarbeiten, spricht von revolutionärer Technologie, die der für OL3 entwickelte Evolutionary Pressurized Water Reactor (EPR) darstelle. Martin Landtmann, Senior Vice President bei TVO, spricht von gigantischen Mengen sauberer, billiger Energie, 2,5 Cent pro Kilowattstunde, halb so teuer wie bei Kohle, Holz, Wind, Wasser oder Erdgas: »Finnland wartet sehnsüchtig, dass dieser Reaktor ans Netz geht.« Framatome ANP ist ein Joint-Venture des französischen Konzerns Areva, Marktführer in der Atombranche mit sieben Milliarden Euro Umsatz jährlich, und der deutschen Siemens AG. Framatome wird OL3 bauen. Den Auftrag dazu haben sie vom finnischen Unternehmen Teollisuuden Voima Oyj (TVO), das dafür 3,36 Milliarden Euro bezahlen wird. Ein Viertel davon übernehmen sechs TVO-Anteilseigner, allesamt finnische Unternehmen der Energie- und Holzindustrie; 1,95 Milliarden Euro kommen von einem internationalen Bankenkonsortium, angeführt von der Bayerischen Landesbank, die französische Regierung steuert einen Exportkredit über 610 Millionen Euro bei. 2009 soll der Reaktor ans Netz gehen, 60 Jahre in Betrieb bleiben. »Es hat«, sagt Landtmann, »einen gesunden Wettbewerb gegeben, wir sind sehr zufrieden mit dem Paket, das wir schnüren konnten.« Zufriedenes Lächeln. Ob man gelesen habe, was The Observer in London kommentierte? Hat man. »Olkiluoto 3 zeigt, wie ein Atomprogramm praktiziert werden sollte.« Nachher beim Mittagessen. Das Besucherzentrum hat ein Restaurant. Es gibt Suppe, Fisch, Kartoffeln, Gemüse. Landtmann, schlank, jovial, referiert weiter, ruhig, sachlich, wiederholt sich dabei. Er scheint seine 88


Argumente zu mögen. OL3 soll Finnlands Anteil an der Stromproduktion von 26 auf 37 Prozent steigern. Die Konstruktion könne eine Kernschmelze ohne Schäden für die Umwelt überstehen. Auch einer terroristischen Attacke, etwa dem Aufprall eines vollgetankten Airbus A380, würde sie standhalten. Dann kommt der Kaffee, dazu glasiertes Schokoladenkonfekt wie Kieselsteine. Draußen vor dem Fenster thronen OL1 und OL2 im Nordlicht. Keine Fragen? Doch. Was ist mit den Problemen, über die die finnischen Medien zuletzt berichteten? Landtmann reagiert nicht. Giese von Framatome sagt: »Wir haben es hier mit einer Technologie zu tun, bei der man nicht einfach einen Knopf drücken kann und dann ist es getan.« Olkiluoto 3 beweist das eindrucksvoll. Außer ein paar Lastwagen bewegte sich wenig auf der Baustelle; nur im Herz der Reaktorinsel polierte eine Handvoll Arbeiter mit großen Bürstenmaschinen den Beton. Grundsteinlegung für OL3 war im September 2005. Sieben Monate später lagen sie bereits sechs Monate hinter dem Zeitplan, es sind seither nicht weniger geworden. Zunächst war der Beton des Reaktorfundaments porös. Dann bestand der in Japan entstehende Reaktorkessel mehrere Tests nicht. Undichte Schweißnähte. Schließlich rügte das finnische Strahlenschutzamt STUK die Bauherren, einige ihrer Subunternehmer verstünden »die Qualität nicht, die ein Reaktorprojekt notwendig macht«. Zuletzt Diskussionen über die Endlagerung des Atommülls, für den auf Olkiluoto ein unterirdisches Depot entstehen soll. Nur dass bislang keiner weiß, wo genau und wann und ob die Gesteinsformationen auf der Insel dafür geeignet sind. Viele Fragen, ungenügende Antworten. Warum hat TVO das Dilemma mit dem porösen Beton STUK sechs Monate verschwiegen? Und wie ist der Bericht von Large & Associates, einem unabhängigen Berater der Atomindustrie, zu werten, der STUK unterstellte, nicht die Kapazitäten zu besitzen, um ein Projekt der Dimension von OL3 beaufsichtigen und kontrollieren zu können? Das Betonfundament etwa wurde bei einem Besichtigungstermin abgesegnet. Augenschein statt Materialproben. Annahme statt Analyse. Large & Associates monierte auch die Dauer des Genehmigungsverfahrens von nur einem Jahr und die Bauzeit von 89


fünf Jahren. In den USA etwa werden dafür drei respektive sieben bis acht Jahre veranschlagt. Fazit: STUK hätte unter diesen Umständen keine Baugenehmigung erteilen dürfen. Und überhaupt: wie lässt sich der Aufprall eines Passagierjets testen? Landtmann: »Da gibt es Methoden.« Welche? »Das muss geheim bleiben.« Aber man kann die Zurückhaltung schon verstehen. Es sind für Framatome und TVO die falschen Debatten zum denkbar ungünstigsten Zeitpunkt. Am 26. April 1986 um 1.23 Uhr kommt es bei Sicherheitstests in Block 4 des Tschernobylskaja Atomnaja Elektrostanziya in der sowjetischen Republik Ukraine zu einem Turbinenstillstand. Kühlwasserzufluss eingeschränkt. Hitzestau. Innerhalb von Sekunden potenziert sich die Leistung des Meilers. Bei der Explosion zerbirst die 1000 Tonnen schwere Decke des Reaktors. 50 mal 10 hoch 6 Ci Radionuklide werden freigesetzt, das Äquivalent von 500 Hiroshima-Bomben. Zum 20. Jahrestag des GAU kursieren sie wieder durch die Medien, die Zahlen, die Statistiken von Toten und krebskranken Kindern, für die keine Fantasie eine Vorstellung hat. Augenzeugenberichte, Analysen, Kommentare. Wieder und wieder Fakten. 25 Quadratkilometer Erdreich kontaminiert, 944 Orte und Dörfer evakuiert, wie viele Menschen starben, ist strittig. Ein Gremium der Vereinten Nationen spricht von 9000, zivile Organisationen von 100 000 und mehr. In einem Kleinbus durch Heide und Moore, unterwegs nach Tschernobyl, Es ist April 2006, schon fast Frühling. Draußen ziehen abgeholzte oder verdorrte Wälder vorbei. Eine Schranke, Ausweiskontrolle. Weiter. Wieder erstorbenes Leben, geschundene Natur. Dann die ersten Gebäude, Büros, Kamine, Kühltürme. Bis in der Ferne ein grauschwarzer Betonkasten auftaucht, der aussieht wie das Gerippe eines seltsamen Tieres. Der Sarkophag. Tausende Arbeiter stülpten ihn nach der Katastrophe über den defekten Reaktor. Doch der Sarkophag ist ein Provisorium, Flickwerk, längst ist der Beton voller Risse. Durch sie entweicht Radioaktivität. Noch lagern 20 Tonnen Brennstoff im Reaktor. Plutonium-239. Halbwertszeit 24 110 Jahre. Die weißrussische Schriftstellerin Swetlana Alexijewitsch schreibt in ihrem Buch Tschernobyl – Eine Chronik der Zukunft: Tschernobyl sei das »wichtigste Ereignis des zwanzigsten Jahr90


hunderts, ungeachtet der schrecklichen Kriege und Revolutionen, die man einst mit diesem Jahrhundert verbinden wird …«. »Russische Technologie«, sagt Landtmann lapidar, wenn man ihn auf Tschernobyl anspricht, »mit westlicher Technologie wäre so ein Unfall nicht möglich.« Dass in Finnland zwei russische WWER-Reaktoren in Betrieb sind, erwähnt er nicht. Wenn man anmerkt, selbst in westlichen Kernkraftwerken habe es dramatische Störfälle gegeben, alleine in deutschen Anlagen werden fast täglich meldepflichtige Vorfälle registriert, sagt Christian Wilson, Pressereferent bei Framatome ANP: »Wir gehen rational mit dem Thema um, im Prinzip ist das wie bei einem Großflughafen: Alle wollen ihn nutzen, aber keiner will ihn in der Nachbarschaft haben.« Kann man einen Großflughafen vergleichen mit einer Anlage, in der Isotope entstehen, die Halbwertszeiten bis in die Ewigkeit haben und die für den Tod von zehntausenden Menschen verantwortlich waren? Wilson: »Warum spricht man immer nur über Kernkraftwerke und nicht über die Bergleute in China? Das sind auch Menschen, die für Energiegewinnung sterben.« »Atomenergie ist die einzige Kraft, die keine Treibhausgase freisetzt, fossile Brennstoffe effizient ersetzen und den globalen Bedarf befriedigen kann.« Das sagt Patrick Moore, einst Gründer von Greenpeace und jetzt Chef der Organisation Greenspirit. Vor dem Hintergrund konstant steigenden Energieverbrauchs, explodierender Rohstoffpreise und besorgniserregender Folgen des Klimawandels ist die Diskussion um Atomstrom naheliegend. Das Reservoir fossiler Brennstoffe versiegt, die meisten Förderländer liegen in politisch volatilen Regionen wie dem Nahen Osten, Zentralasien und Afrika. Und es stimmt. Es kann nicht weitergehen mit Kohlendioxid-Emissionen, dem Dreck aus Schloten und Auspuffrohren, der die Atmosphäre verätzt und das Wetter verrücktspielen lässt. Gibt es eine Lösung ohne Kernenergie? Moore sagt nein, er sagt, erneuerbare Energien wie Wind, Wasser, Sonne, Biomasse oder Geothermie könnten vorerst »nur Teil der Lösung sein«. Als TVO im November 2000 im finnischen Parlament einen Antrag für den Bau eines Kernkraftwerks einbrachte, dem fünften des Landes, bestimmte Tschernobyl nicht die Debatte. Es ging um den Klimawandel, 91


Finnlands Bemühen um die Einhaltung des Kyoto-Protokolls und seine Abhängigkeit von Energieimporten. Finnland hat kein Erdöl, keine Kohle, die Sonne scheint selten, der Wind weht nicht stark genug, für Wasserkraft ist das Land zu flach. Strom kommt daher überwiegend aus Schweden und Russland. Ein wirtschaftliches Desaster, weil die Industrie des Landes energieintensiv ist; neben der Förderung von Schwermetallen dominiert Holzgewinnung und -verarbeitung. 18 Prozent der Arbeitsplätze hängen davon ab – so viel wie in Deutschland von Autos und Elektronik zusammen. Die Wirtschaft fürchtete um ihre Position im globalen Wettbewerb. Die Bevölkerung fürchtet sich vor Dunkelheit und Kälte, die maßgeblich dazu beitragen, dass Depression eine Volkskrankheit ist. Die Entscheidung fiel im Januar 2002. Die Bevölkerung war gespalten, obwohl TVO 13 500 Arbeitsplätze versprochen hatte und in den Antrag eine Klausel eingebaut wurde, derzufolge Finnland gleichzeitig den Ausbau von erneuerbaren Energien fördert. Auch das Parlament zerfiel in etwa gleich starke Lager, obwohl die Medien massiv Stimmung für Olkiluoto 3 gemacht hatten. Das Ergebnis der Abstimmung: 107 Abgeordnete dafür, 92 dagegen. Juha Rantanen, der CEO von Outokumpu, einem der größten Stahlproduzenten der Welt, sagte: »Die einzige lebensfähige Alternative, wenn wir die Struktur unserer Wirtschaft erhalten und die Ziele von Kyoto erreichen wollen, ist Kernenergie. Wir haben gewaltige Herausforderungen vor uns, etwas musste getan werden.« Eine Einschätzung, die auch die Gewerkschaften teilten und OL3 deshalb massiv unterstützten. »Alle Fakten«, so TVO-Vizepräsident Anneli Nikula, »lagen auf dem Tisch.« Zurück im Besucherzentrum auf Olkiluoto. Landtmann und Giese haben sich nach dem Kaffee verabschiedet, nur Pressesprecher Wilson ist geblieben. Es geht wieder um Zahlen. Laut Wilsons Zahlen sind Investitionen bei anderen Energiequellen zu hoch; soll der Stromverbrauch in Finnland bis 2020 um 75 Prozent steigen. Wilson sagt, man denke deshalb bereits an Olkiluoto 4. Auf einem Bildschirm in der Empfangshalle kann man die aktuelle Leistung von OL1 und OL2 ablesen. 850 Megawatt und 835 Megawatt. Darunter die Leistung einer Windturbine, die vor dem Besucherzentrum steht. 0 Megawatt. Das ist geschickt gemacht. 92


Aber ist nicht eine Prognose von jährlich fünf Prozent mehr Stromverbrauch ein bisschen hoch gegriffen? Hat nicht Finnland das Kyoto-Protokoll vergangenes Jahr ohne OL3 schon fast erfüllt? »Es kommt darauf an«, sagt Wilson, »welche Statistiken man liest.« Und woran man glaubt. In einer Broschüre von TVO steht, das Universum sei durch unzählbare stellare Nuklearreaktionen entstanden. Die Broschüre trägt den Titel: Energy for life – well-being for Finland. 2002 haben die Finnen TVO das noch abgenommen. Inzwischen tun sie sich schwer damit. Framatome ANP kooperiert auf Olkiluoto mit Subunternehmern aus dem Baltikum, Asien, Billiglohnländern. Für Finnen fallen kaum Jobs ab. Wenn OL3 in Betrieb ist, schafft es 150 Arbeitsplätze. Die finnischen Gewerkschaften haben nun angekündigt, TVO bei weiteren Kernkraftprojekten nicht mehr zu unterstützen. Die Klausel zur Förderung von regenerativen Energien und Energieeffizienz war nicht verbindlich; die zuständigen Arbeitsgruppen haben sich auf unbestimmte Zeit vertagt. Harri Lammi von Greenpeace in Helsinki meint: »Die Leute fühlen sich betrogen.« Der Strom, den OL3 produzieren soll, wird hauptsächlich an die TVO-Anteilseigner zum Selbstkostenpreis abgegeben, 60 Kommunen, die ebenfalls als Abnehmer vorgesehen sind, zahlen den Marktpreis. »Und der wird nicht von Herstellungskosten bestimmt«, sagt Lammi, »sondern von der Börse.« Olkiluoto 3 – ein Modell für die Zukunft der Kernenergie in der EU? Ein Lehrstück über die Methoden der Atomindustrie? Oder nur ein finnischer Sonderfall? Fest steht: vor allem Areva hat in Westeuropa hart für eine Trendwende gekämpft. Und für einen Standort, an dem sie werben kann für ihren Evolutionary Pressurized Water Reactor, der weltweit verkauft werden soll. Dafür ist Areva einen teuren Kompromiss eingegangen. »3,2 Milliarden Euro sind ein Dumpingpreis«, sagt Christian Küppers, Mitarbeiter der Abteilung Nukleartechnik und Anlagensicherheit des Öko-Instituts in Darmstadt. Der EPR, der in der Nähe von Cherbourg in Frankreich entstehen soll, wird 3,7 Milliarden Euro kosten. Dass TVO ein Fixpreis zugesagt wurde, ist ebenfalls nicht die Norm. Wie auch nicht ein Zinssatz von 2,6 Prozent für ein Unternehmen, das bei Standard & Poor’s über ein Rating von BBB für langfristige Finanzierung 93


nicht hinauskommt. S&P stellt zudem fest, das Kreditrisiko für Kernkraftwerke sei aufgrund schwer prognostizierbarer Kosten, unberechenbarer Gefahren und schlechten Images der Branche nach wie vor zu hoch. Wenn Olkiluoto 3 etwas beweist, dann, dass Kernenergie ohne staatliche Subventionen nicht finanzierbar ist. Frankreichs Exportkredit über 610 Millionen Euro ist nicht nur der zweithöchste aller Zeiten, er verzerrt auch den Wettbewerb auf dem Energiemarkt. Die Vereinigung von Produzenten regenerativer Energie (EREF) hat deshalb bei der EU-Kommission Klage eingereicht wegen illegaler Subventionen. Der französische Steuerzahler finanziert billigen Strom für finnische Unternehmer. Und wenn Olkiluoto 3 nicht pünktlich in Betrieb genommen wird, trifft es auch den finnischen Steuerzahler. Für nicht erfüllte Kyoto-Vorschriften in puncto CO2-Reduzierung müsste die Regierung Emissionszertifikate für schätzungsweise 300 Millionen Euro kaufen. Warum, so die Kritiker, nicht stattdessen Kohlekraftwerke umrüsten und mit einer Technologie zur Abtrennung und Deponierung von CO2 ausstatten? Warum nicht Energieeinsparung propagieren? »Wenn man die Gefahren und die ungelöste Frage der Endlagerung nimmt«, sagt Küppers, »schneiden Investitionen in regenerative Energien langfristig längst viel besser ab.« Ukraine, Slawutitsch, etwa 50 Kilometer östlich von Tschernobyl. In einer Plattenbauwohnung sitzt ein kleiner, stämmiger Mann. Michail Feschtschenko, rundes Gesicht, Schnurrbart, Heizungsmonteur. Schon als Teenager arbeitete er im Kernkraftwerk Tschernobyl, heute ist er Kolonnenführer. Am Morgen des 26. April 1986 stand Feschtschenko vor dem Werkstor und blickte auf das Inferno über Block 4. Er sagt, man habe sie nicht hineingelassen, man habe sie nach Hause geschickt. Feschtschenko wohnte damals in Pripjat, der Schlafstadt hinter dem Kernkraftwerk Tschernobyl. In den nächsten Tagen wurde Pripjat evakuiert. Sie mussten alles zurücklassen. Möbel, Geschirr, Spielsachen. So entstand Slawutitsch, das von Arbeitern aus allen Sowjetrepubliken in einem Jahr gebaut wurde und wo die meisten der 3500 Menschen leben, die noch im Kernkraftwerk arbeiten. Sie betreiben die drei dort noch aktiven Reaktoren, kümmern sich aber auch um Reparatur und Wartung des Sarkophags, der einzustürzen droht. Seit Jahren wird über eine Betonhülle 94


diskutiert, die über den Sarkophag geschoben werden soll. Kostenpunkt: eine Milliarde US-Dollar. Ob er denn gesund sei, der Genosse Kolonnenführer? »Ach, ihr Deutschen«, sagt Feschtschenko und lacht, »ihr seht überall Gefahren und Monster. Woanders sterben die Leute auch.« Da da, ganz bestimmt, er sei gesund. Die Radioaktivität auf dem Gelände werde überwacht, es gebe medizinische Tests, bei zu hohen Werten gebe es »Korrekturen«. Genauer? »Ach, ihr Deutschen.« Feschtschenko sagt, er denke nicht nach über Strahlung und Halbwertszeiten, nicht über Ausstieg oder Einstieg in die Kernenergie. Und auch nicht über Klimawandel, nachhaltigen Strom und Kilowattpreise. Feschtschenko:. »Das Wichtigste ist, dass ich Arbeit habe.« 2000 Krivna verdient er, drei Mal mehr als bei einem vergleichbaren Job in der Privatwirtschaft. Nur deshalb könne er sich seinen Lebensstandard leisten, auf den er stolz sei. Im Wohnzimmer eine massive Schrankwand, daneben eine Stereoanlage, schwülstiges Ledersofa. »Ach was«, sagt Feschtschenko, »was soll das ganze Reden?« Vom Wohnzimmer in die Küche. Auf dem Tisch Schweinekopfsülze, Speck, Käse, sauer eingelegte Tomaten, Gurken. Und Wodka. Erst mal einen auf das Kennenlernen, Nasdrowje. Feschtschenko zeigt Fotos. Von Tschernobyl und Pripjat, von Slawutitsch, schließlich von seinen Kindern. Die Tochter studiere schon in Kiew. Sein Igor sei erst 13. Für den müsse er noch durchhalten. Der soll es einmal besser haben. Einen Wodka auf die Kinder. Und einen auf die Liebe, das dritte Glas immer auf die Liebe. Es werden noch viele Gläser, und es bleibt nicht bei einer Flasche. Irgendwann, draußen schon tiefe Nacht, erzählt Feschtschenko, dass früher alles besser war, und dass es gut sei, dass die Ukraine 22 neue Atomkraftwerke plane. »Die Kernkraft ist unsere Hoffnung.« Einen auf die Kernkraft. Und einen auf seine tapferen Kameraden, auf die Kollegen, die 1986 starben. Noch immer sterben. Wenige seiner Kollegen werden älter als 50. Feschtschenko ist 40. Zeit, Abschied zu nehmen. Ein letztes Glas im Stehen. Nasdrowje, Michail, auf das Leben! (2006)

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NACHTRAG ZU OLKILUOTO 3 Die Bauarbeiten des Kernkraftwerks Olkiluoto 3 sind weiter nicht abgeschlossen. Der Termin der Inbetriebnahme (ursprünglich für 2009 geplant) wurde seitens der Betreibergesellschaft TVO mehrfach verschoben – im Juni 2010 wurde die Netzsynchronisation für 2013 angekündigt. Zur Zeit arbeiten etwa 4000 Menschen aus 55 Nationen auf der Baustelle. Die Baukosten haben sich in der Zwischenzeit auf 5,47 Milliarden Euro erhöht; um die Mehrkosten streiten sich die beteiligten Unternehmen mittlerweile vor Gericht. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung sprach in einem Artikel mit dem Titel „Von wegen Renaissance der Atomkraft“ unlängst von einem „finanziellen Desaster“ und ergänzte, dass es auch im von Areva errichteten neuen Atomkraftwerk im französischen Flamanville Probleme mit der Fertigstellung gebe. Die Citibank hat unterdessen Kernkraft als Lösung der Energiefrage scharf kritisiert, weil ökonomisch nicht darstellbar. Nach den besorgniserregenden Vorfällen in Fukushima, Japan, wächst auch in Finnland die Angst vor den Gefahren der Nukleartechnologie, dennoch halten die Regierung und Betreiberfirma an ihren Plänen fest, einen vierten Reaktor auf Olkiluoto zu installieren; die geplante Inbetriebnahme 2016 bis 2018 erscheint allerdings angesichts der Probleme mit OL3 sehr unwahrscheinlich. G.W. / 6.4.2011




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