Inhalt
Stadtforschung
Schwerpunkt
Heft 1 | 2020
84 Zur demografischen Internationalisierung in Deutschland Nadine Blätgen, Gabriele Sturm
Moderation: Ansgar Schmitz-Veltin 2
Stadt-Umland-Definitionen in der Raumbeobachtung Antonia Milbert
12 Suburbanisierung im Fokus Monitoring städtischer Entwicklungen im Spannungsfeld zwischen Re- und Suburbanisierung Brigitte Adam 21 Von Nippes nach Pulheim – Über die zunehmende Abwanderung von Familien ins Kölner Umland Mirjam Schmid, Susann Kunadt
98 Lebensqualität und Zukunftsplanung der Generation 55plus: Die zweite Erhebungswelle des KOSIS-Projekts Aktives Altern Jürgen Spiegel, Arno Schiffert
Statistik und Informationsmanagement
29 Das Ende der Reurbanisierung? Aktuelle Trends auf dem Wohnungsmarkt der Stadtregion Stuttgart Tobias Held, Attina Mäding
107 Herausforderung Flächenmonitoring – Datenquellen für ein Flächeninformationssystem und was sie leisten können Gotthard Meinel
37 Über den Wunsch lieber im Umland zu wohnen. Einblicke aus der Stuttgarter Bürgerumfrage Till Heinsohn, Fabian Schütt
Entdeckt
44 Wer zieht nach Heidelberg und wer aus Heidelberg weg? Und welche Rolle spielen große Neubauprojekte? Carolina Föhl
115 2020 fällt der Equal-Pay-Day auf dem 17. März Gabriele Sturm
52 Stadt und Verkehr. Neue Verkehrsanalysen mit Mobilfunkdaten – ein Zwischenbericht Günther Bachmann
116 Klimawandel und Stadtentwicklung Günther Bachmann
61 Neue Datenquellen zur beruflichen Mobilität. Das Beispiel Frankfurt am Main Christian Stein 74 Heidelberg, die Einpendlerhochburg Stefan Lenz
STADTFORSCHUNG UND STATISTIK 1|2020
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Schwerpunkt Stadt – Region.
Antonia Milbert
Stadt-Umland-Definitionen in der Raumbeobachtung
Stadtregionsabgrenzungen stellen ein Instrumentarium dar, die gesellschaftliche und politische Debatte um die Stadtentwicklung und Transformationsprozesse innerhalb und zwischen Städten und ihrem Umland empirisch-analytisch begleiten zu können. Für die Bundesrepublik existieren verschiedene Abgrenzungen, von denen in diesem Beitrag vier vergleichend näher vorgestellt werden. Um angemessen die stattfindenden Transformationsprozesse abbilden zu können, sind differenzierte Typen hilfreicher als Abgrenzungen, die ausschließlich Städte und deren Umland definieren. Da es zukünftig Daten auf Rasterebene geben wird, sind entweder parallel neue Abgrenzungen auch für diese kleinteilige Ebene zu entwickeln oder bestehende Abgrenzung dahingehend zu verfeinern.
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Stadt-Umland – vom Modell zur statistischen Abgrenzung
Die Stadt wird bereits seit ihrer Entstehung auch immer in ihrem regionalen Kontext betrachtet, da sie einerseits nicht nur für die eigenen Bürgerinnen und Bürger, sondern auch für die der näheren und weiteren Umgebung Versorgungzentrum verschiedenster Art ist, und andererseits vom Umland abhängig ist (Priebs 2019: 15). Die Stadtregion im heutigen Sinne entstand jedoch im Zuge von Bevölkerungs- und Arbeitsplatzsuburbanisierung erst im Zuge der Industrialisierung und insbesondere durch das Städtewachstum nach den Weltkriegen. Der erste regionalstatistische Ansatz zur Abbildung von Stadtregionen in Deutschland geht auf Arbeiten von Boustedt (1953) zurück. Es handelt sich um ein von der Gravitationstheorie geleitetes Modell eines Kerngebietes, das von unterschiedlich stark verstädterten bzw. verdichteten Zonen konzentrisch umgeben ist (Heineberg 2017: 61). Unter dem Begriff „Regionalisierung der Städte“ (Kühn 2011) wird die Beziehung der Städte zu ihrem Umland (neu) diskutiert: Statt der frühen Zentrum-Peripherie-Orientierung betont man eine heute stärkere Stadt-Umland-Vernetzung und eine höhere Differenzierung des Umlandes selbst. In diesem Diskurs geht es nicht nur um die Frage der Ausbreitung der Städte, also von Sub- oder Desurbanisierung (Milbert 2017), sondern auch um Transformationen der Stadt einerseits und ihres Umlandes andererseits.
Antonia Milbert Projektleiterin im Referat Stadt-, Umwelt- und Raumbeobachtung des Bundesinstituts für Bau-, Stadt- und Raumforschung (BBSR) im Bundesamt für Bauwesen und Raumordnung (BBR). : antonia.milbert@bbr.bund.de Schlüsselwörter: BIK-Regionstyp – BIK-Strukturtyp – Großstadtregion – Einzugsbereich – Raumabgrenzung – Raumgliederung – Raumtyp, Regionalstatistik – Verflechtung
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STADTFORSCHUNG UND STATISTIK 1|2020
Um die wissenschaftlichen Diskurse mit empirischen Befunden stützen oder begleiten zu können, hält die Stadt- und Raumbeobachtung Stadtregionsabgrenzungen als geeignetes Instrument für die Analyse von Stadtentwicklungsprozessen bereit. Allerdings ist zu hinterfragen, ob die hier vorgestellten und in der bundesdeutschen Stadt- und Raumbeobachtung eingeführten Abgrenzungen den Ansprüchen an Differenzierungsmöglichkeiten einer differenzierten und vielfältigen Auseinandersetzung mit Stadtregion standhalten oder einer Überarbeitung bedürfen. Hierzu werden zunächst vier Stadtregionsabgrenzungen vorgestellt (Kap. 2), in ihrer Abdeckung und analytischem Potenzial verglichen (Kap. 3) und abschließend in Kapitel 4 ein Fazit gezogen.
Schwerpunkt Aktuelle Befunde zu Wohnungsmarkt, Pendlerbeziehungen und Bevölkerungsentwicklung
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Räumliche Gliederungen für die Stadt-Umland-Beobachtung
Für die äußere Begrenzung der Stadtregionen spielen Pendlerverflechtungen in allen hier behandelten Stadtregionsdefinitionen eine entscheidende Rolle. Pendlerverflechtungen werden als Stellvertretervariable für alle funktionalen Verflechtungen der (Kern-)Stadt mit ihrem Umland, wie Arbeits-, Bildungs- und Konsumpendeln, genutzt, da allein hierfür vollständige Verflechtungsdaten aus der Pendlerstatistik der Bundesagentur für Arbeit zur Verfügung stehen. Was aber den Auswahlprozess der Kernstädte, die gewählten Schwellenwerte sowie die weitere Differenzierung der Kernstädte einerseits wie des Umlandes andererseits anbetrifft, gibt es sehr große Unterschiede. Im Folgenden werden hier vier ausgewählte Stadtregionsmodelle vorgestellt, die als Standards in der bundesweit vergleichenden Stadt- und Raumbeobachtung eingeführt sind (Arbeitsgruppe Regionale Standards 2019): die Großstadtregionen bzw. großstadtregionalen Einzugsbereiche des BBSR (Kap. 2.1), die BIK-Regionen (2.2), der Regionalstatistische Raumtyp (RegioStaR, 2.3) sowie der Vollständigkeit halber die functional urban areas (FUA) der EU (2.4) für die international vergleichende Stadtbeobachtung. Die Replik der Abgrenzungskriterien und -methoden der mancher Leserin und manchem Leser hinreichend bekannten Stadtregionsabgrenzungen dient vornehmlich der vergleichenden Bewertung in den Kapiteln 3 und 4. 2.1 Großstadtregionen und großstadtregionale Einzugsbereiche des BBSR Angelehnt an das Stadtregionen-Modell von Olaf Boustedt (1953, vgl. auch Heineberg 2017: 61) werden Zuordnungskriterien für ringförmige Zonen um das Zentrum einer Großstadt festgelegt. 1995 stand der Bundesanstalt für Landeskunde und Raumforschung (BfLR) als Ergebnis der Volkszählung 1987 erstmals eine Pendlerverflechtungsdatei auf Ebene der Gemeinden Westdeutschlands zur Verfügung. Im Jahr 2000 lag die erste gesamtdeutsche Pendlererhebung auf der Ebene der Gemeindeverbände für das Jahr 1996 durch die Bundesanstalt für Arbeit vor. Seitdem kann das BBSR die stadtregionalen Abgrenzungen in regelmäßigen Abständen aktualisieren und überarbeiten. Die Kriterien zur Zuordnung von Gemeinden bzw. Gemeindeverbänden zu Kernstädten und Außenzonen hatte die damalige BfLR in Zusammenarbeit mit dem Verband deutscher Städtestatistiker (VDSt) festgelegt. Seit den 1990er Jahren wurden die Kriterien immer wieder leicht angepasst. Diese Anpassungen betrafen hauptsächlich die Zentren: Zunächst reichte für die Definition eines Zentrums eine Mindestbevölkerung von 80.000 Einwohnern aus, um den Kern einer Stadtregion zu bilden. Dabei wurde aber die tatsächliche Bedeutung der Gemeinde für das Umland, z.B. im Hinblick auf Zentralität, nicht weiter hinterfragt. Im Laufe der 2000er Jahre rückte diese Frage zunehmend in den Vordergrund und es wurden nur solche Gemeinden als Kernstadt deklariert, die mindestens 100.000 Einwohner und den Status eines Oberzentrums hatten. Der Betrachtungsweise entsprechend wandelte sich so auch der Begriff von „Stadtregion“ in „Großstadtregion“. Die aktuelle Abgrenzung bezieht weitere Zentralitätskriterien
ein: Die Kernstadt muss einen Einpendlerüberschuss aufweisen und ihre Tagesbevölkerung (Einwohner plus Einpendler minus Auspendler) muss ebenfalls mindestens 100.000 Personen betragen. Benachbarte Städte, die eine hohe Tagesbevölkerungsdichte von 500 je km² und mehr aufweisen, einen Einpendlerüberschuss besitzen und/oder aus denen 50 % der Auspendelnden in die benachbarte Kernstadt pendeln, bilden das Ergänzungsgebiet zur Kernstadt. Kernstadt und Ergänzungsgebiet stellen das Zentrum der Großstadtregion dar. Obwohl also ein Ergänzungsgebiet außerhalb der administrativen Grenzen liegt, wird es dennoch zum Zentrum gerechnet. Damit berücksichtigt diese Abgrenzung „greater city centers“ auch für Deutschland, wie sie bei Eurostat in den FUAs nur für die Städte definiert werden, die selbst eine greater area ausweisen, wie z. B. Greater London, Métropole du Grand Paris etc. (Angelova-Tosheva/Müller 2018: 50).
Abbildung 1: Großstadtregionen des BBSR
Quelle: Laufende Raumbeobachtung des BBSR
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Schwerpunkt Stadt – Region.
Die Zuordnungskriterien der ringförmigen Zonen um das Zentrum sind im Laufe der Jahre konstant geblieben. Um den engeren Pendlerverflechtungsraum handelt es sich, wenn mindestens 50 % der Beschäftigten einer Gemeinde in ein Zentrum (Kernstadt oder deren Ergänzungsgebiet) pendeln, um den äußeren bzw. weiteren Pendlerverflechtungsraum bei mindestens 25 %. Der engere und weitere Pendlerverflechtungsbereich wird mittels Geografischer InformationsSoftware (GIS) nachbearbeitet, um Enklaven bereinigt, so dass jeweils zusammenhängende Gebiete entstehen (Abb. 1). Ende der 2000er Jahre entstand die Anforderung nach voneinander abgrenzbaren Großstadtregionen. Die Außengrenzen einer Großstadtregion werden über die Stärke der GemeindenZentrum-Verflechtungen getroffen. Teilweise ergeben sich so in den dichter besiedelten Landesteilen auch polyzentrale Großstadtregionen. Gerade in Regionen mit vielen benachbarten Zentren ist die eindeutige Zuordnung von Gemeinden zum Umland eines Zentrums nur scheinbar eindeutig. 2.2 BIK-Regionen Die Firma BIK Aschpurvis + Behrens GmbH übernahm 1991 die Weiterführung des Boustedt-Stadtregionenmodells (Behrens/ Wiese 2019). In den letzten Aktualisierungen wurden über die Stadtregionen hinaus auch Bereiche von Mittel- und Unterzentren abgegrenzt. Für die eigentliche Abgrenzung der BIK-Regionen wird ebenfalls die Pendlerverflechtungsmatrix der Bundesagentur für Arbeit verwendet. Gemeinden mit einer Auspendlerquote von mindestens 7 % in eine gemeinsame Kernstadt bilden eine BIK-Region. Die BIK-Regionen sind überschneidungsfrei. Wenn eine Gemeinde keine Pendlerquote von mindestens 7 % in eine Kernstadt aufweist, aber mindestens 15.000 Einwohner umfasst, dann kann diese Stadt als Solitärstadt eine eigene BIK-Region bilden. Entsprechend gibt es auch rund 3.000 Gemeinden, die keiner BIK-Region angehören, weil sie weder über die hinreichende Pendlerquote noch über die erforderliche Mindesteinwohnerzahl verfügen. Diese BIK-Regionen werden dann auf Basis der resultierenden Gesamtgröße in vier Regionstypen unterteilt: Ballungsräume sind BIK-Regionen mit mindestens 750.000 Einwohnern, Stadtregionen solche mit 100.000 bis unter 750.000, Mittelzentrengebiete haben 25.000 bis unter 100.000 Einwohner und Unterzentrengebiete zwischen 6.000 und unter 25.000 Einwohner. Neben diesen Regionstypen werden die BIK-Regionen auch über Strukturtypen differenziert. Hierzu wird die Einwohner-/Arbeitsplatzdichte als Indikator für die Nutzungsdichte verwendet. Gemeinden mit einer Einwohner-Arbeitsplatzdichte von 1.000 Personen je km² bilden den Kernbereich einer Region, solche mit einer Dichte von 500 bis unter 1.000 je km² den Verdichtungsbereich, bei 150 bis unter 500 je km² den Übergangsbereich und unter 150 je km² den peripheren Bereich. Gemeinden, die nicht zu einer BIK-Region gehören, werden unabhängig ihrer tatsächlichen Nutzungsdichte keinem Strukturtyp zugeordnet. Zu beachten ist, dass der Pendlerzielort der BIK-Region nicht zwingend dem Strukturtyp „Kernbereich“ zugehörig sein muss. So können der BIKRegionstyp und der BIK-Strukturtyp unabhängig voneinander als Analyseraster genutzt werden oder in Kombination, wie in Abbildung 2 dargestellt.
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Die Kern-, Verdichtungs-, Übergangs- und peripheren Bereiche ordnen sich nicht zwangsläufig wie konzentrische Ringe an. So können sich einzelne hochverdichtete Gemeinden losgelöst von einem sonstigen Kernbereich innerhalb einer Stadtregion wie Satelliten abheben. Man kann diese dann wie die im Boustedt-Modell berücksichtigten Trabantenstädte interpretieren. In der BIK-Systematik werden darüber hinaus auch Regions- bzw. Gemeindegrößenklassen als weiteres Strukturierungsmerkmal gebildet (Behrens/Wiese 2019: 123 f.), auf die an dieser Stelle nicht weiter eingegangen wird.
2.3 Regionalstatistische Raumtypen (RegioStaR) Der aus der Mobilitätsforschung des Bundes formulierte Wunsch nach einer stark differenzierten Raumtypik mündete in eine als „Regionalstatistische Raumtypen“ bezeichnete Gliederung. Folgende Dimensionen finden Berücksichtigung: Größe und Funktion der Städte, ihr Einzugsgebiet bzw. die Lage der Kommunen zum Zentrum sowie die Unterscheidung der Kommunen innerhalb und außerhalb des Einzugsgebiets nach siedlungsstrukturellen Merkmalen. Dieser neue Raumtyp findet bereits Anwendung für die Auswertung der Befragung „Mobilität in Deutschland 2016“ (MID; Nobis u. Kuhnimhof 2018: 22). Grundlage für diesen Raumtyp ist das System der Metropolen und Regiopolen nach Aring und Reuther (2007: 20). Die Abgrenzung stützt sich auf vielfältige Daten und Indikatoren, um dem Anspruch als ein analytisches Instrument für die Stadt- und Raumbeobachtung zu genügen. Es fließen jedoch auch politisch motivierte Argumente ein, so z. B. hinsichtlich der Differenzierung zwischen den Metropolen und Regiopolen. Die Metropolen rekrutieren sich aus den Kernstädten des Initiativkreises der elf Europäischen Metropolregionen in Deutschland (IKM). Auch bei der Festlegung der Großstädte spielt das regionalpolitische Gewicht einiger Städte eine Rolle. So werden abweichend von der 100.000 Einwohnergrenze zur Großstadtdefinition die kleineren Städte Schwerin als Landeshauptstadt sowie Cottbus und Kaiserslautern mit rund 98.000 Einwohnern der Gruppe der Großstädte zugerechnet. Die Abgrenzung erfolgt in drei Stufen: Zunächst wird der Einzugsbereich der Großstädte ermittelt. Auch Großstädte im grenznahen Ausland werden berücksichtigt. Der Einzugsbereich einer Großstadt definiert sich entweder über eine Fahrzeit zwischen einem Gemeindeverband und der nächsten Großstadt von unter 30 Minuten im motorisierten Individualverkehr oder einem Auspendleranteil in die Großstadt von mindestens 25 %. Damit in ländlichen Regionen mit einer sehr guten Verkehrsinfrastruktur die Ausdehnung des Einzugsbereichs auch durch tatsächliche Interaktionen gestützt wird, soll bei einer 30-minütigen Entfernung der Auspendleranteil mindestens 20 % betragen. In einem zweiten Schritt werden diese Einzugsbereiche weiterbearbeitet: Bestehen zwischen zwei benachbarten Stadtregionen Pendlerbeziehungen von rund 20 % und mehr und bleiben in der Summe weniger als 50 % aller übergemeindlichen Pendler in einem dieser stadtregionalen Einzugsbereiche, dann werden diese zu einer zusammenhängenden Stadtregion zusammengefasst. So werden die Stadtregionen von Hildesheim zu Hannover, Salzgitter zu Braunschweig,
Schwerpunkt Aktuelle Befunde zu Wohnungsmarkt, Pendlerbeziehungen und Bevรถlkerungsentwicklung
Abbildung 2: BIK-Regions- und -Strukturtypen
Quelle: BIK Aschpurvis + Behrens GmbH, Laufende Raumbeobachtung des BBSR
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Schwerpunkt Stadt – Region.
Abbildung 3: Regionalstatistische Raumtypen (RegioStaR)
Quelle: Bundesministerium f. Verkehr und Infrastruktur (BMVI), Laufende Raumbeobachtung des BBSR
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Schwerpunkt Aktuelle Befunde zu Wohnungsmarkt, Pendlerbeziehungen und Bevölkerungsentwicklung
Bonn zu Köln, Krefeld, Mönchengladbach und Wuppertal zu Düsseldorf, die Ruhrgebietsstädte zum Ruhrgebiet, Darmstadt, Wiesbaden und Mainz zu Frankfurt am Main, Ludwigshafen und Heidelberg zu Mannheim, Reutlingen zu Stuttgart, Erlangen und Fürth zu Nürnberg, Potsdam zu Berlin und Halle (Saale) zu Leipzig zusammengefasst. Um eine metropolitane Stadtregion handelt es sich, wenn sie mindestens eine Großstadt von rund 500.000 Einwohnern und mehr besitzt (einschließlich Duisburg mit rund 480.000 Einwohnern und Mannheim mit rund 300.000 Einwohnern, aber seinen Funktionen und Bedeutungsüberschuss in der Region), oder wenn die Stadtregion insgesamt mindestens eine Million Einwohner umfasst. Mit diesen Kriterien ist sichergestellt, dass alle elf Metropolregionen des IKM repräsentiert sind, auch wenn sie sich in dieser empirisch erfassten Ausdehnung deutlich von den politisch gesetzten Außengrenzen unterscheiden. Die Großstädte, die diese Kriterien erfüllen, werden folglich als Metropolen bezeichnet. Bei den anderen Stadtregionen handelt es sich um regiopolitane Stadtregionen und ihre Großstädte werden als Regiopolen bezeichnet. Gemeinden bzw. Gemeindeverbände außerhalb der so abgegrenzten Stadtregionen gelten als ländlichen Regionen zugehörig. Beträgt die Fahrzeit unter 45 Minuten in die nächste Großstadt oder verfügt der Gemeindeverband über ein Bevölkerungspotenzial (in einer bestimmten Entfernung theoretisch erreichbare Tagesbevölkerung: Breßler 2001) von mindestens 300.000 Personen, handelt es sich um stadtregionsnahe ländliche Regionen, andernfalls um periphere ländliche Regionen. Im dritten Schritt erfolgt die Differenzierung der Gemeindeverbände innerhalb der Stadtregionen und der ländlichen Regionen: Den städtischen Raum bilden alle Gemeindeverbände, die nach der Stadt-Land-Gliederung von Eurostat (Angelova-Tosheva/Müller 2018: 38 ff.) städtisch oder halbstädtisch sind. Gemeinden, die gemäß der Eurostat-Gliederung ländlich sind, umfassen sowohl Kleinstädte als auch Landgemeinden. Deshalb bilden diese den kleinstädtisch-dörflichen Raum. Gemeindeverbände des städtischen Raums ab einer Größe von 20.000 Einwohnern werden, sofern sie nicht bereits als Metropolen, Regiopolen und sonstige Großstädte identifiziert wurden, über eine Merkmalskombination der Variablen Einwohnerzahl, Bevölkerungspotenzial, Arbeitsplatzdichte, Einpendler-Auspendler-Saldo und sozialversicherungspflichtig Beschäftigte am Arbeitsort in zentrale Städte und in Mittelstädte eingeteilt. Im Ergebnis zeigt sich eine Raumgliederung, die 17 Kategorien aufweist (Abb. 3). 2.4 Functional urban areas/ Funktionale städtische Räume (FUA) Mit der Verordnung (EU) 2017/2391 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12. Dezember 2017 wurde beschlossen, dass Eurostat befähigt ist, einheitliche territoriale Typologien (Tercet) für das EU-Gebiet zu erstellen und fortzuschreiben. Diese Typologien sollten EU-weit genutzt werden, so weit möglich. Nationale Typologien haben daneben weiter Bestand. Unter diesen Typologien beschreiben die functional urban areas (FUA) Stadtregionen. Bereits länger im Programm Urban Audit gebräuchlich stehen mit dieser Neugliederung flächen-
deckend FUAs zur Verfügung. FUAs bestehen aus einer oder mehreren Städten und ihrer Pendlerzone. Der Grenzwert einer Pendlerzone liegt bei 15 % Auspendler in eine Stadt. Städte werden dann als eine Pendlerzone zusammengefasst, wenn im Minimum von einer Stadt 15 % in die andere Stadt pendeln (Angelova-Tosheva/Müller 2018: 49 ff.). Eine Stadt wird hierbei wie folgt definiert: Die Einwohnerdichte von 1km² Rasterzellen muss mindestens 1.500 je km² betragen. Wenn dann mehrere an den Kantenseiten zusammenhängende Rasterzellen dieser hohen Dichte insgesamt 50.000 Einwohner umfassen, spricht Eurostat von einem städtischen Zentrum (urban centre). Leben dann auf die administrative Gemeinde (LAU) bezogen mindestens 50 % der Einwohner in einem solchen städtischen Zentrum, dann wird die Gemeinde als Stadt (city) klassifiziert. In manchen Regionen wird hierbei das Einpendlerzentrum der FUA über die administrativen Grenzen der Stadt hinaus gefasst (bspw. Greater London) (Angelova-Tosheva/Müller 2018: 30 ff.).
Abbildung 4: Functional urban areas/Funktionale städtische Gebiete (FUA)
Quelle: Eurostat, Laufende Raumbeobachtung des BBSR
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Schwerpunkt Stadt – Region.
Diese Typologie hat sich in der Raumbeobachtung in Deutschland (noch) nicht etabliert. Das Vorgehen ist zwar für alle EU-Staaten vereinheitlicht, führt aber zu Ergebnissen, die nicht mit nationalen Typologien korrespondieren. Verwiesen sei z.B. auf die sehr weiträumige Ausweisung von FUAs in Mecklenburg-Vorpommern (Abb. 4).
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Die Stadtregionsabgrenzungen im Vergleich
Bereits aus dem visuellen Vergleich der Karten wird ersichtlich, dass die Gebietskulissen der vier verschiedenen Stadtregionsabgrenzungen unterschiedliche Flächenabdeckungen (zwischen 45 % und 62 %) umfassen. Je nach Abgrenzung leben ca. 64 % bis 75 % aller Einwohner in Stadtregionen (Tab. 1). Bei den BIK-Regionen werden bei diesem Vergleich nur die
gemäß Regionstyp als Ballungsräume und als Stadtregionen klassifizierten Regionen betrachtet. Trotzdem verdeutlichen alle Abgrenzungen die hohe Bedeutung der Stadtregionen für die Struktur und Entwicklung des Bundesgebietes. Mit Ausnahme der FUA zeigen die Abgrenzungen auch den Bedeutungsüberschuss der Stadtregionszentren bzw. Kernbereiche. Dieser ist bei den Arbeitsplätzen (gemessen über die sozialversicherungspflichtig Beschäftigten am Arbeitsort) noch einmal höher als bei der Bevölkerung. Im Vergleich zu den Bevölkerungs- und Arbeitsplatzanteilen „verbrauchen“ die Zentren unterdurchschnittlich viel an Siedlungs- und Verkehrsfläche. Die Einwohner-Arbeitsplatzdichte sinkt mit steigender Entfernung zum Zentrum (Großstadtregionen) bzw. je kleinstädtisch-dörflicher das Umland ist. Bei den BIK-Regionen ist die Einwohner-Arbeitsplatz-Dichte (allerdings bezogen auf die Katasterfläche) Distinktionskriterium, so dass hier der Zusammenhang tautologisch ist.
Tabelle 1: Bevölkerung, Arbeitsplätze und Siedlungs- und Verkehrsfläche in den Stadt-Umland-Gebieten der Stadtregionen im Vergleich, 2017
Bevölkerung am 31.12.2017 absolut
%
sozialversicherungspflichtig Beschäftigte am Arbeitspaltz am 30.6.2017 absolut
%
Einwohner-Arbeitsplatz-Dichte (bezogen auf Siedlungs- und Verkehrsfläche)
Siedlungs- und Verkehrsfläche 2017 in km²
%
je km²
Bundesgebiet insgesamt
82.792.351 100,0
32.163.445 100,0
51.023 100,0
2.253,0
Großstadtregionen (BBSR) Zentren Ergänzungsgebiet engerer Pendlerverflechtungsraum weiterer Pendlerverflechtungsraum
61.389.962 23.933.680 12.860.646 12.512.480 12.083.156
74,1 28,9 15,5 15,1 14,6
24.197.071 12.102.722 4.907.860 3.388.128 3.798.361
75,2 37,6 15,3 10,5 11,8
30.470 6.132 4.721 8.490 11.128
59,7 12,0 9,3 16,6 21,8
2.808,9 5.877,2 3.764,1 1.872,9 1.427,2
Funktionale städtische Räume (Eurostat) Städte Pendlerzonen
61.920.351 32.057.056 29.863.295
74,8 38,7 36,1
24.738.741 9.953.352 14.785.389
76,9 30,9 46,0
31.856 23.584 8.272
62,4 46,2 16,2
2.720,3 1.781,3 5.397,4
Ballungsräume und Stadtregionen insgesamt (BIK-Regionen) Ballungsräume Kernbereiche Verdichtungsbereiche Übergangsbereiche periphere Bereiche
55.016.938 26.049.187 19.588.564 2.590.485 2.933.848 936.290
66,5 31,5 23,7 3,1 3,5 1,1
22.549.926 11.161.562 9.344.265 800.409 811.117 205.771
70,1 34,7 29,1 2,5 2,5 0,6
24.992 9.374 4.808 1.185 2.140 1.241
49,0 18,4 9,4 2,3 4,2 2,4
3.103,7 3.969,6 6.017,2 2.861,0 1.750,3 920,5
Stadtregionen Kernbereiche Verdichtungsbereiche Übergangsbereiche periphere Bereiche
28.967.751 15.038.451 4.887.877 6.297.048 2.744.375
35,0 18,2 5,9 7,6 3,3
11.388.364 7.325.399 1.897.037 1.649.120 516.808
35,4 22,8 5,9 5,1 1,6
15.618 4.915 2.328 4.750 3.625
30,6 9,6 4,6 9,3 7,1
2.583,9 4.550,3 2.913,9 1.672,8 899,7
Stadtregionen insgesamt (RegioStaR) Metropolitane Stadtregionen Metropolen Großstädte Mittelstädte Städtischer Raum Kleinstädtisch, dörflicher Raum
52.677.635 36.340.344 14.704.833 5.710.654 6.513.608 7.397.641 2.013.608
63,6 43,9 17,8 6,9 7,9 8,9 2,4
21.595.484 14.994.415 7.410.267 2.369.178 2.381.841 2.365.643 467.486
67,1 46,6 23,0 7,4 7,4 7,4 1,5
22.826 13.239 3.226 1.637 2.608 3.694 2.074
44,7 25,9 6,3 3,2 5,1 7,2 4,1
3.253,9 3.877,6 6.856,1 4.936,3 3.410,6 2.642,7 1.196,4
16.337.291 6.190.633 2.576.896 4.453.512 3.116.250
19,7 7,5 3,1 5,4 3,8
6.601.069 3.331.019 1.105.669 1.433.039 731.342
20,5 10,4 3,4 4,5 2,3
9.587 2.121 1.318 2.815 3.333
18,8 4,2 2,6 5,5 6,5
2.392,7 4.489,0 2.794,7 2.091,3 1.154,3
Regiopolitane Stadtregionen Regiopolen Mittelstädte Städtischer Raum Kleinstädtisch, dörflicher Raum
Quelle: Laufende Raumbeobachtung des BBSR, eigene Zusammenstellung
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Schwerpunkt Aktuelle Befunde zu Wohnungsmarkt, Pendlerbeziehungen und Bevölkerungsentwicklung
Die BIK-Regionen sind, was die Ausdehnung der einzelnen Regionen anbetrifft, am restriktivsten. Obwohl der Schwellenwert nur 7 % der Auspendler in ein gemeinsames Zentrum beträgt, entstehen über den Algorithmus 753 Regionen, von denen 15 Ballungsraum und 122 Stadtregion sind. Sowohl bei den BIK-Regionen als auch bei den FUA können einzelne Städte eine eigenständige Region ohne weiteres Umland bilden. Deshalb gibt es in diesen beiden Abgrenzungen auch die kleinsten Einheiten und die größten Spannweiten, was die Flächenausdehnung, Bevölkerungsgröße und Einwohnerdichte anbetrifft (Tab. 2). Sowohl die Großstadtregionen als auch RegioStaR sind dagegen in den Größen Fläche, Einwohnerzahl und Einwohnerdichte homogener. Hier können die (Groß-) Stadtregionen somit besser untereinander verglichen werden. Ein Plus der BIK-Strukturtypen und von RegioStaR stellen die starken Differenzierungen des Umlandbereichs dar. Dadurch kann sehr differenziert beobachtet werden, wie stark sich die Suburbanisierung zu Beginn der 1990er Jahre auf die Übergangs- und peripheren Bereiche der BIK-Regionen
ausgewirkt hat (Abb. 5). Zu Beginn der 2000er Jahre startete das starke Wachstum der Metropolen bzw. der Kernbereiche der Ballungsräume. Ende der 2000er Jahre haben diese ihre Bevölkerungsverluste der Vorperiode ausgeglichen und verzeichnen gegenüber 1990 ein Plus von 7 bis 8 % im Durchschnitt. Das Wachstum der Regiopolen oder Kernbereiche der kleineren Stadtregionen setzt dagegen deutlich später ein. Erst mit den hohen Zuwanderungsraten seit 2015 gleichen auch diese Städte ihre Verluste aus der Vorperiode aus, bleiben mit einem Plus von ca. 1 % gegenüber 1990 weit hinter allen anderen Bereichen innerhalb der Stadtregionen zurück. Interessant ist, dass sowohl die Mittelstädte und die städtischen Gebiete an Dynamik in der Bevölkerungsentwicklung (wieder) gewinnen, während periphere Bereiche bzw. kleinstädtisch-dörfliche Gebiete eine Entwicklung entgegengesetzt zu den stärker städtisch geprägten Gemeinden aufweisen. Metropolitane Stadtregionen bzw. Ballungsräume sind hierbei in allen Bereichen dynamischer als die anderen Stadtregionen.
Tabelle 2: Streuung zwischen den Stadtregionen der unterschiedlichen Stadtregionsabgrenzungen hinsichtlich Fläche, Bevölkerung und Einwohnerdichte, 2017 Großstadtregionen – Anzahl Regionen: 49 Fläche [km²] Bevölkerung (am 31.12.2017) Einwohnerdichte 2017 [E./km²]
Minimum
Maximum
Mittelwert
Standardabweichung
854 222.304 121
11.481 5.156.230 929
3.566 1.252.856 318
2.469 1.340.526 175
BIK-Regionen (nur Ballungsräume und Stadtregionen) – Anzahl Regionen: 137 Fläche [km²] Bevölkerung (am 31.12.2017) Einwohnerdichte 2017 [E./km²]
Minimum
Maximum
Mittelwert
Standardabweichung
51 98.591 75
6.479 4.741.108 3.043
942 401.583 543
957 608.509 568
Regionalstatistische Raumtypen (RegioStaR) – Anzahl Stadtregionen: 48 Fläche [km²] Bevölkerung (am 31.12.2017) Einwohnerdichte 2017 [E./km²]
Minimum
Maximum
Mittelwert
Standardabweichung
854 145.780 126
6.466 4.861.135 1.305
2.206 1.079.454 413
1.241 1.215.035 261
Functional urban areas – Anzahl Regionen: 96 Fläche [km²] Bevölkerung (am 31.12.2017) Einwohnerdichte 2017 [E./km²]
Minimum
Maximum
Mittelwert
Standardabweichung
72 58.237 47
17.481 5.259.363 2.100
2.045 645.004 419
2.170 899.356 410
Quelle: Laufende Raumbeobachtung des BBSR, eigene Zusammenstellung
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Schwerpunkt Stadt – Region.
Abbildung 5: Bevölkerungsentwicklung 1990 bis 2017 in den BIK-Ballungsräumen und BIK-Stadtregionen sowie den metropolitanen und regiopolitanen Stadtregionen im Vergleich
Quelle: Laufende Raumbeobachtung des BBSR, eigene Berechnungen
4
Fazit
Die vier vorgestellten Stadtregionsabgrenzungen bilden ein sehr differenziertes Instrumentarium, um die Stadt-UmlandBeziehungen analysieren zu können. Dabei sind die von Eurostat für die international vergleichende Stadtbeobachtung abgegrenzten FUA nur bedingt hilfreich: Erstens ist die Pendlerzone nicht weiter differenziert. Zweitens ist die Abgrenzung in Nordostdeutschland auffällig und bildet die bei den anderen Abgrenzungen beobachtbaren Verhältnisse zwischen Kernstädten/-bereichen und Umland nicht adäquat ab. Sowohl die BIK-Regionen als auch die Großstadtregionen des BBSR weisen die längste Tradition auf. Sie finden in vielen Untersuchungen Beachtung. In der Markt- und Sozialforschung werden die BIK-Regionen zudem für Stichprobenschichtungen genutzt. Beide Abgrenzungen berufen sich auf das Stadtregionenmodell nach Boustedt. In der Differenzierung – vor allem in der Kombination der BIK-Regionstypen mit den BIK-Strukturtypen bezogen auf die Stadtregionen – weist die BIK-Abgrenzung größere Parallelen zu den neu entwickelten Regionalstatistischen Raumtypen (RegioStaR) auf. Dies liegt daran, dass das Umland nicht weiter nach mehr oder weniger konzentrischen Ringen, sondern nach Siedlungsstruktur- und/ oder Funktionen von Städten untergliedert ist. Das ist insofern interessant, als mit solch differenzierten Klassifizierungen die eingangs erwähnte Debatte um neue Verflechtungsmuster und Funktionsteilungen besser analysiert werden kann.
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In diesem Beitrag wurde noch nicht auf die anderen Ansätze zur Abgrenzung von Stadtregionen eingegangen, die sich ausschließlich auf Dichte- und Strukturmerkmale beziehen (Behnisch 2008; Giffinger, Kalasek u. Wonka 2006) und hierbei Pendlerverflechtungen gänzlich außer Acht lassen. Diese Modelle nutzen kleinräumige Daten und verstärkt Daten auf der Ebene von Rastern. Bislang hat sich zwar noch keines dieser Modelle für die Stadt- und Raumbeobachtung als Standard durchgesetzt. Allerdings lässt die steigende Verfügbarkeit Raster basierter Informationen neue Abgrenzungsversuche dieser Art erwarten. Notwendig sind neue Methoden auch deshalb, weil sich Gemeinden einerseits durch Reformen vergrößern und in sich heterogener werden, und andererseits innerstädtische Differenzierungen bei gemeindlichen Daten nicht berücksichtigt werden können. Es ist in Zusammenarbeit des Bundesverkehrsministeriums und des BBSR geplant, die Regionalstatistischen Raumtypen auf Rasterebene weiter zu entwickeln. Nicht nur die innergemeindliche Differenzierung wäre dann möglich, sondern es stünde auch ein Instrumentarium bereit, Daten auf Rasterebene direkt auszuwerten, ohne die Aggregation auf administrative Einheiten durchführen zu müssen. Hierzu sind jedoch noch umfangreiche Modellrechnungen notwendig.
Schwerpunkt Aktuelle Befunde zu Wohnungsmarkt, Pendlerbeziehungen und Bevölkerungsentwicklung
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Schwerpunkt Stadt – Region.
Brigitte Adam
Suburbanisierung im Fokus Monitoring städtischer Entwicklungen im Spannungsfeld zwischen Re- und Suburbanisierung Das Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung (BBSR) nimmt Suburbanisierungsprozesse aus verschiedenen Blickwinkeln unter die Lupe. Zusätzlich zur Bevölkerungsentwicklung werden Beschäftigten- und Flächenentwicklung betrachtet. Projektionsfläche der empirischen Untersuchungen sind vom BBSR abgegrenzte Großstadtregionen. Ausgedrückt werden die Ergebnisse in einem mehrdimensionalen, additiven Index. Dieser Suburbanisierungsindex und das Vorgehen, sich schrittweise anzunähern, sollen nach Jahren unzähliger Reurbanisierungsdebatten eine Lanze dafür brechen, die Aufmerksamkeit erneut auf ein wahrscheinliches Aufleben der Suburbanisierung zu richten. Eine Verengung auf die Bevölkerungsentwicklung wird dabei vermieden. Als ein weiteres Novum wird untersucht, wie sich die Mittelstädte im Umland im Verhältnis zu den kleineren Städten und Gemeinden entwickeln.
Einleitung Als Reaktion auf erste Anzeichen einer wieder erstarkenden Suburbanisierung der Bevölkerung in 49 deutschen Großstadtregionen wurde vom Bundesinstitut für Bau-, Stadt – und Raumforschung (BBSR) ein Projekt aufgelegt, um (Re-) Urbanisierung und Suburbanisierung als sich überlagernde Entwicklungen zu beobachten. Ziel war eine mehrdimensionale Auswertung, sowohl phänomenologisch als auch räumlich. Damit siedlungsstrukturelle Prozesse umfassend bewertet werden können, sollte nicht nur die Bevölkerungsentwicklung erfasst werden, sondern auch die der Beschäftigten- und der Flächenentwicklung. Aus der räumlichen Perspektive wurden die Städte im großstädtischen Umland differenziert. Konzentrationen großstadtregionaler Wanderungen in dortige Mittelstädte wurden nicht als Suburbanisierung, sondern als Urbanisierung des Umlandes begriffen. Zusammengenommen wurde als Instrument für ein periodisches Monitoring ein Suburbanisierungsindex gebildet. Temporäre „Ausschläge“ in die eine oder andere Richtung (Re- oder Suburbanisierung) erscheinen nicht nur in der Medien-, sondern auch in der Fachdiskussion häufig als konstante Trendwende. Ein kontinuierlich berechneter Suburbanisierungsindex kann helfen, diese Tendenzen aus einer laufenden Perspektive heraus in ihrer Dynamik besser einschätzen zu können.
Dr. Brigitte Adam Diplom-Ingenieurin (Raumplanung), Dr. rer.pol., Projektleiterin im Referat Stadt-, Umwelt- und Raumbeobachtung des Bundesinstituts für Bau-, Stadt- und Raumforschung (BBSR) im Bundesamt für Bauwesen und Raumordnung (BBR). : brigitte.adam@bbr.bund.de Schlüsselwörter: Arbeitsplatzentwicklung – Bevölkerungsentwicklung – Flächenentwicklung – Großstadtregion – Indexbildung – Mittelstadt – Monitoring – Reurbanisierung – Suburbanisierung – Umlandentwicklung – Urbanisierung – Zeitvergleich
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STADTFORSCHUNG UND STATISTIK 1|2020
In diesem Beitrag wird der erste Zeitvergleich für Ergebnisse des mehrdimensionalen Ansatzes dokumentiert. Vorliegende Berechnungen für die Phase 2011 bis 2015 (Adam 2019) werden ergänzt durch eine aktuelle Betrachtung der kürzeren Phase von 2015 bis 2017. Zunächst werden Teilindikatoren für die Bevölkerungs- und Beschäftigtenentwicklung verglichen. Die Flächenentwicklung wurde wegen umfangreicher Umstellungen der Datenbasis, die Zeitvergleiche erheblich erschweren, hier ausgeklammert. Es ist außerdem zu berücksichtigen, dass ein direkter Vergleich der beiden Phasen wegen der unterschiedlich langen Perioden nicht in jeder Hinsicht möglich ist. Es können aber aktuelle Tendenzen angezeigt werden. Interessant sind vor allem veränderte „Vorzeichen“ (Suburbanisierung statt Reurbanisierung oder umgekehrt), die im Sinne eines Monitorings den Blick für das räumliche Geschehen schärfen.
Schwerpunkt Aktuelle Befunde zu Wohnungsmarkt, Pendlerbeziehungen und Bevölkerungsentwicklung
Reurbanisierung und Suburbanisierung Der Sammelband „Reurbanisierung“ (Brake u. Herfert 2012) griff – entgegen des eindeutigen Buchtitels – nicht nur Unterschiede zwischen qualitativen und quantitativen Aspekten der Reurbanisierung auf, sondern betonte auch die Gleichzeitigkeit von Reurbanisierungs- und Suburbanisierungsprozessen. Im Vorfeld der Entwicklung eines Suburbanisierungsindex nahm eine Untersuchung des BBSR jene Parallelität im Detail unter die Lupe. Auf der Grundlage verfügbarer kleiräumiger Daten für Großstädte wurden 25 deutsche Großstadtregionen auf Gemeinde- und Stadtteilebene untersucht (BBSR 2015). Für sie wurden Profile ihrer Bevölkerungsentwicklung in einem Zehn-Jahres-Zeitraum abgebildet (2002 bis 2011). Das Umland konnte auf Gemeindeebene, die Kernstädte (Großstädte) konnten sogar stadtteilscharf analysiert werden. Auf Gemeindeebene kamen Daten der Laufenden Raumbeobachtung und auf Stadtteilebene Daten der Innerstädtischen Raumbeobachtung des BBSR zur Anwendung. Die Gemeinden können den Zonen der Großstadtregionen (Ergänzungsgebiet, in unmittelbarer Nachbarschaft zu den Kernstädten, innerer und äußerer Pendlerverflechtungsraum) zugeordnet werden, die Stadtteile den auf das Stadtzentrum bezogenen Ausprägungen des Lagetyps (Innenstadt, Innenstadtrand und Stadtrand). Auf diese Weise war es möglich, eine erweiterte Perspektive einzunehmen, indem auch innerhalb der Großstädte eine räumliche Differenzierung zwischen innen und außen oder Kern und Rand vorgenommen werden konnte. Großstadtregionen des BBSR Als räumliche Abgrenzung stehen im BBSR die Großstadtregionen für die engen Verflechtungen zwischen Großstädten und ihrem Umland. Die Verflechtung zwischen Zentrum (Großstadt) und Umland wird mit Hilfe von Pendlerbewegungen der sozialversicherungspflichtig versicherten Beschäftigten zwischen Wohn- und Arbeitsort gemessen. Es wird davon ausgegangen, dass deren räumliche Bewegungen als repräsentativ für die Gesamtbevölkerung und ihre alltäglichen Interaktionsmuster gesehen werden können. Durch die Kombination von Stadtteildaten der Kernstädte und Gemeindedaten der Pendlereinzugsbereiche ist eine vergleichsweise tiefgehende räumliche Differenzierung abzubilden. Als Zentren der BBSR-Großstadtregionen werden solche Städte definiert, die mindestens 100.000 Einwohner haben (entspricht in Deutschland der Großstadt-Definition), über einen Einpendlerüberschuss verfügen (d. h. die Zahl der Einpendler in die Stadt ist höher als die Zahl der Auspendler in andere Gemeinden) und bei denen im Falle von aneinandergrenzenden Zentren der Hauptpendlerstrom nicht aus der Nachbarstadt kommt. Das Ergänzungsgebiet umfasst an das Zentrum angrenzende Gemeinden mit hoher Tagesbevölkerungsdichte und enger Pendlerbeziehung zum Zentrum (in beide Richtungen). Obwohl sie außerhalb der administrativen Grenzen liegen, kann man sie dennoch zum Zentrum rechnen. Das weitere Umland der Stadtregion wird nach dem Grad der Pendlerverflechtung in zwei Zonen unterschieden, den engeren und den weiteren Pendlerverflechtungsraum.
Innenstädtische Raumbeobachtung des BBSR (IRB) Die Innerstädtische Raumbeobachtung (IRB) ist ein kommunalstatistisches Gemeinschaftsprojekt unter Mitwirkung des BBSR, an dem sich derzeit 56 Städte auf freiwilliger Basis beteiligen. Die Kooperation zwischen dem BBSR und den Städten basiert auf gemeinsam getragenen Prinzipien der Zusammenarbeit. Dazu zählt, dass die Städte das Verfügungsrecht über die von ihnen bereitgestellten Daten behalten, das BBSR diese aber für die kleinräumige Beobachtung und Analyse der Stadtentwicklung in Deutschland nutzen kann. Grundlage der Datenbereitstellung ist ein mit den Städten abgestimmter Datenkatalog, der mehr als 400 Merkmale umfasst. Überwiegend handelt es sich um Daten aus den Einwohnermelderegistern der Städte, es fließen aber auch andere Daten ein wie etwa Angaben der Bundesagentur für Arbeit. Den Raumbezug bilden die kleinräumigen Gliederungen der Städte mit Gebietseinheiten von durchschnittlich 8.000 Einwohnern. Das BBSR verwendet für seine Auswertungen im Wesentlichen eine mit den Städten abgestimmte Lagetypik. Die aggregierte zonale Betrachtung über den Zehn-Jahreszeitraum (Innenstadt bis äußerer Pendlerverflechtungsraum) mündete in ein treppenförmiges Muster von den Innenstädten mit knapp 5,5 durchschnittlichen Wachstumsperioden (jährlich) innerhalb der betrachteten zehn Jahre über den Innenstadtrand, den Stadtrand und den inneren Pendlerverflechtungsbereich bis hin zum weiteren Pendlerverflechtungsbereich mit nur noch rund 3 Wachstumsperioden. Innerhalb der Zonen gab es freilich deutliche Unterschiede, die sich im Vergleich der Großstadtregionen heterogen darstellen. Allerdings kristallisierten sich die Stadtteile der Innenstädte – gleichwohl auf geringem absoluten Niveau – als solche heraus, die besonders häufig viele Wachstumsjahre zu verzeichnen hatten. Innerhalb eines alternativen, in 2006 beginnenden und bis ins Jahr 2017 reichenden Zeitraums deuten sich auf Gemeindeebene ab dem Jahr 2011 Verschiebungen zwischen großstädtischer und der Entwicklung im Umland an. Während von 2006 bis 2011 die verschiedenen Umlandzonen sinkende Bevölkerungszahlen zu verzeichnen hatten, sind die Werte für den Zeitraum von 2011 bis 2015 positiv. Zwar war die-
Tabelle 1: Bevölkerungsentwicklung in Großstadtregionen Bevölkerungsentwicklung Zonen
2006–2011
2011–2015
2015–2017
Zentren
329706
999099
344009
Ergänzungsgebiete
-70622
324123
104556
Engere Pendlerverflechtungsbereiche
-101762
284067
101124
Weitere Pendlerverflechtungsbereiche
-332284
104769
29653
Außerhalb der Großstadtregionen
-640435
135725
37325
Quelle: Laufende Raumbeobachtung des BBSR, Zensuskorrektur durch das BBSR
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Schwerpunkt Stadt – Region.
se Entwicklungsperiode beeinflusst von der hohen Zahl geflüchteter Menschen, die nach Deutschland gekommen sind. Dennoch bestätigt sich die Tendenz im Großen und Ganzen auch für den Zeitraum 2015 bis 2017: Die Zugewinne sind etwa ein Drittel so hoch wie in den vier Vorjahren, wobei die Zentren vergleichsweise den höchsten und der äußere Pendlerverflechtungsraum den niedrigsten Bevölkerungszuwachs aufweisen (Tab. 1).
Zurück in die Stadt? Auch bei steigenden Bevölkerungszahlen in den Umlandzonen bleibt es beim Wachstum der großen Städte. Ist diese nunmehr längerfristige Entwicklung als ein Trend zum „Zurück in die Stadt“ zu begreifen? Tatsächlich waren über lange Zeit die Binnenwanderungssalden der Großstädte positiv und verliefen in der Langzeitbetrachtung spiegelbildlich zum Umland (BBSR 2017a, b). Das heißt, es sind mehr Personen aus anderen deutschen Städte und Gemeinden in Großstädte gezogen als umgekehrt. Das „urbane“, am besten innerstädtische Wohnen als präferierte Wohnstandortentscheidung – jeweils mehr oder weniger stark quantitativ ausgeprägt – existiert schon seit langem. Es handelte sich i.d.R. um selektive Nachfragegruppen mit einer gewissen Wahlfreiheit, die es in bestimmte innerstädtische Quartiere zog (z. B. Alisch 1993, Kohlmann 1992). Hinzu gekommen ist im Laufe der Jahre das Erfordernis, aus beruflichen Gründen oder zur Vereinbarkeit von Beruf und Familie zentral zu wohnen (Läpple 2005). Davon losgelöst steht die Realisierung städtischen Wohnens in engem Zusammenhang mit der Verfügbarkeit an Wohnraum, der Qualifizierung städtischer Quartiere durch Stadterneuerung, und dem Neubau auf städtischen Brachflächen. In letzter Zeit wachsen die Großstädte allerdings nicht mehr durch positive Binnenwanderungs-, sondern durch positive Außenwanderungssalden. Die Binnenwanderungssalden sind mittlerweile nach vielen Jahren mit positiven Werten erneut negativ, erstaunlicherweise mit leichter Erholung zwischen 2016 und 2017 (Abb. 1). Ein weiterer, die Zahlen stark beeinflussender Faktor ist die Entwicklung unterschiedlicher demografischer Alterskohorten. Seit jeher dominiert der Zuzug junger Menschen die Wanderungsbilanz großer Städte. Bucher und Schlömer (2012) unterscheiden für die Binnenwanderung vier Motivgruppen: Familienwanderer, Bildungswanderer, Berufswanderer und Altenwanderer. Die Kohorte der Bildungswanderer, also junger Menschen zwischen 18 und 30 Jahren als tradierter „Zuzugsgruppe“, stieg nach der Jahrtausendwende zahlenmäßig stark an. Es sind somit verschiedene bzw. mehrere Einflussfaktoren, die das Bevölkerungswachstum der großen Städte erklären können. Eine spontane Umkehr erscheint deswegen wenig wahrscheinlich. Offenbar setzt nicht einmal mehr die begrenzte Verfügbarkeit an Wohnraum die gewohnten Schranken: Nach neusten Berechnungen des Statistischen Bundesamtes (2019) ist die Wohnfläche pro Kopf in den sogenannten deutschen Big Seven, den sieben bevölkerungsreichten Städten Deutschlands (Berlin, Hamburg, München, Köln, Frankfurt, Stuttgart und Düsseldorf) zwischen 2010 und 2018 rückläufig.
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STADTFORSCHUNG UND STATISTIK 1|2020
Wird der Druck auf städtische Flächen noch verstärkt durch ein Wachstum der Beschäftigtenzahlen in den großen Städten? Vor ca. zehn Jahren wurde bei den Beschäftigten ein Schub zugunsten der Zentren festgestellt – differenziert dokumentiert von Geppert und Gorning (2010). Allerdings sind räumliche Tendenzen bei der Beschäftigtenentwicklung im Zeitverlauf wesentlich unruhiger als bei der Bevölkerungsentwicklung und wenig eindeutig auf die Großstädte konzentriert. Es lassen sich keine systematischen Tendenzen erkennen, die für eine aktuelle Verstärkung des von Geppert und Gorning festgestellten Effekts sprechen. Ganz im Gegenteil lassen die zwischenzeitlich gesunkenen Einpendlerquoten (Einpendler/ Auspendler) vieler Großstädte eine Verlagerung von Arbeitsplätzen ins Umland vermuten. Auf der qualitativen Ebene gibt es dennoch gegenläufige Argumente. Darauf deuten laufende Debatten um ein Zurück der Produktion in die Stadt. Neue Technologien ermöglichen eine emissionsärmere Produktion. Die Stadt Wien beispielsweise hat ein Fachkonzept „Produktive Stadt“ vorgelegt und sieht entsprechende Flächen vor. Bereits 2015 veröffentlichte Bullinger im manager magazin einen Artikel unter dem Titel „Holt die Produktion zurück in die Stadt!“. Neben einer Reihe an Vorteilen durch die urbane Mischung, Dichte und räumliche Nähe, zitierte der Autor aber auch altbekannte Agglomerationsnachteile wie Stauanfälligkeit der Verkehrsinfrastruktur und schwierige Flächenverfügbarkeit.
Bildung eines Suburbanisierungsindex Die Funktion eines Suburbanisierungsindex besteht nun darin, die Phänomene in ihrer Dynamik quantitativ und vergleichend zu beleuchten. Erstens werden Reurbanisierung und Suburbanisierung zeitgleich ins Verhältnis gesetzt. Zweitens wird zur Bevölkerungs- die Beschäftigtenentwicklung und für die Zeitspanne 2011 bis 2015 auch die unmittelbar raumwirksame Flächennutzung berücksichtigt. Damit werden drei Teilbereiche der komplexen Entwicklung des Siedlungsgefüges indiziert: Demographie, Wirtschaft und Fläche. Drittens wird die Entwicklung im Umland spezifiziert. Es macht bei der Berechnung des Index einen Unterschied, ob sich die Entwicklung auf die Mittelstädte oder auf kleinere Städte und Gemeinden konzentriert. Eine Konzentration auf die Mittelstädte reduziert den Wert des Suburbanisierungsindex. Berechnet wird ein additiver Index (Abb. 2). Für alle drei Indikatoren werden relative Veränderungen im Stadt-UmlandVergleich über die definierten Zeiträume (2011 bis 2015 und 2015 bis 2017) ermittelt. Der Index misst somit eine relative Suburbanisierung als Entwicklung. Er unterscheidet sich damit von Indices wie dem DAX, Preis- oder – in räumlichen Zusammenhängen – Erreichbarkeits- und Segregationsindices, die Momentaufnahmen widerspiegeln. Der Gesamtwert für jeden Indikator bzw. jeden Teilbereich besteht aus zwei Komponenten: Als erstes (1. Komponente) wird die Veränderung der Anteile (für Bevölkerung, Beschäftigte oder Siedlungs- und Verkehrsfläche) im Umland an der Gesamtregion berechnet. Je höher der Wert, desto stärker ist der Bedeutungsgewinn des Umlandes, desto stärker die Suburbanisierung. Als zweites (2. Komponente) wird gemessen,
Schwerpunkt Aktuelle Befunde zu Wohnungsmarkt, Pendlerbeziehungen und Bevölkerungsentwicklung
wie sich die Entwicklung im Umland vollzieht. Konzentriert sie sich gemäß dem polyzentrischen Idealbild der stadtregionalen Struktur (vgl. unter Umweltaspekten aktuell BMUB 2016) auf größere Städte im Umland (hier: Mittelstädte)? Findet dadurch eine Form der Urbanisierung im Umland statt? Wenn ja, wird diese Erscheinung als „suburbanisierungsdämpfend“ gewertet. Ein positiver Wert für die Veränderung der Anteile der Mittelstädte am Umland wird deswegen vom Ergebnis der ersten Komponente abgezogen. Aus dieser Subtraktion ergibt sich der Gesamtwert für jeden Teilbereich.
Verschiedene Streuungen der für die Teilbereiche resultierenden Werte zeigen den tatsächlichen Einfluss des jeweiligen Indikators auf die Dynamik der Suburbanisierung an. D. h., wenn ein Bereich (Demographie, Wirtschaft oder Fläche) größere Ausschläge hat, kommen diese im Gesamtergebnis zur Geltung. Für die Bildung des Suburbanisierungsindex und damit die vergleichende Betrachtung der Großstadtregionen wurde die Datenbasis leicht modifiziert. Es gibt nämlich 16 Großstädte, die kein Zentrum bilden. Sie liegen in den Ergänzungsgebie-
Abbildung 1: Binnenwanderungs- und Außenwanderungssalden nach Kreistypen
Quelle: Indikatoren und Karten zur Raum- und Stadtentwicklung. INKAR. Ausgabe 2019. Hrsg.: Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung (BBSR) im Bundesamt für Bauwesen und Raumordnung (BBR) – Bonn 2018.
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Schwerpunkt Stadt – Region.
Abbildung 2: Methode zur Bildung eines additiven Suburbanisierungsindex
ten von fünf mehrkernigen Großstadtregionen. Aus theoretischen Überlegungen heraus können diese Städte aber im Rahmen der Bildung eines Suburbanisierungsindex nicht zum „Umland“ gezählt werden. Ein großer Zuwachs der Bevölkerungszahlen dieser Städte würde den Suburbanisierungsindex erhöhen und könnte so zu Fehlschlüssen führen. Deswegen wurden diese 16 Großstädte für die Indexbildung aus dem Datensatz herausgefiltert. Anhand der Hauptpendlerströme wurden 49 Großstadtregionen voneinander abgegrenzt. Teilweise besitzen sie mehr als ein Zentrum.
Teilbereich Demographie Bezüglich der Bevölkerungsentwicklung bei der ersten Wertkomponente (Veränderung der Anteile des Umlands an der Großstadtregion) waren im Zeitraum 2011 bis 2015 bis auf eine Ausnahme alle Großstadtregionen in Deutschland durch eine negative Suburbanisierung bzw. Reurbanisierung der großstädtischen Zentren gekennzeichnet. Dies ist die relative (Anteilsveränderungen) und regionale (Umland) Sicht. Sie schließt weder aus, dass einzelne Städte und Gemeinden gegenläufige Entwicklungspfade beschreiten, noch dass Umlandbereiche steigende absolute Bevölkerungszahlen zu verzeichnen haben! Deutlich erkennbar sind Ost-West-Unterschiede während dieser Periode. Die negative Ausprägung des Teilwertes war in ostdeutschen deutlicher als in westdeutschen Großstadtregionen. Das relative Ergebnis ging im Osten sogar in fünf von neun Fällen mit sinkenden absoluten Zahlen einher. Offenbar war die Sogwirkung der ostdeutschen Zentren innerhalb der Großstadtregionen besonders stark. Das „Update“ für 2015 bis 2017 zeichnet ein modifiziertes Bild, denn es gab nun in knapp einem Drittel der Großstadtregionen einen positiven Wert für die erste Komponente. Der Ost-West-Unterschied zeigt sich erneut, von 2015 bis 2017 wiesen sogar sieben von neun ostdeutschen Umlandbereichen absolut sinkende Bevölkerungszahlen auf. Einen offensichtlichen Ost-West-Unterschied gab es bei der zweiten Wertekomponente (Veränderung der Anteile der Mittelstädte am Umland) nicht. Eine Konzentration auf die Mittelstädte ist bundesweit betrachtet häufig zu beobachten. Im Zeitvergleich (2011 bis 2015 im Vergleich mit 2015 bis 2017) zeigen sich geringfügige Abweichungen, aktuell ist etwas seltener Urbanisierung im Umland zu beobachten, mitunter wechseln einzelne Großstadtregionen dabei ihr Vorzeichen.
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Zu berücksichtigen sind bei der Interpretation der zweiten Wertekomponente die unterschiedlichen Größenstrukturen der Städte und Gemeinden im Umland. In vier Großstadtregionen gibt es keine Mittelstädte in den Umlandzonen. Es handelt sich um Lübeck, Hildesheim, Trier und Regensburg. In anderen Fällen gibt es nur eine oder zwei Mittelstädte (Tab. 2), aber dennoch konzentriert sich darauf die Bevölkerung überproportional – z. B. im Fall der Großstadtregion Würzburg. In anderen Fällen wird der Gesamtwert durch die zusätzliche Betrachtung der Mittelstädte im Umland positiv. D. h., in diesen Großstadtregionen ist zwar für Komponente Nr. 1 in einem der jeweiligen Zeiträume eine leichte negative Suburbanisierung festzustellen. Da sich die Entwicklungen im Umland aber nicht auf die dort größten Städte (Mittelstädte) konzentriert haben (2. Komponente), also keine „nachgeordnete“ Urbanisierung im Umland stattgefunden hat, kommt es im Gesamtergebnis zu einer relativen Suburbanisierung. Der Gesamtwert für den Teilbereich „Demographie“ stellt für den Betrachtungszeitraum 2015 bis 2017 mehr Regionen mit einer positiven Suburbanisierung dar als für die vorangegangene Periode. Es ist das Ergebnis der häufigeren, leicht positiven Ausprägung der ersten Komponente gepaart mit der leicht geringeren Urbanisierung im Umland – also der geringeren Konzentration auf die dortigen Mittelstädte (Abb. 3). Die Ergebnisse zur Bevölkerungsentwicklung wurden für den Zeitraum 2011 bis 2015 überlagert von der besonderen Situation der Flüchtlingswelle, was in planerische Überlegungen einfließen muss. Ob sie den negativen Trend der relativen Suburbanisierung mit beeinflusst hat (größerer Druck auf die Großstädte) bleibt Spekulationen überlassen. 2015 bis 2017 haben sich relative Verschiebungen zu mehr Suburbanisierung ergeben, nicht aber eine grundsätzliche Abkehr vom Druck der Bevölkerungsentwicklung auf die Großstädte.
Addition des Teilbereichs „Wirtschaft“ zum Teilindex Demographie und Wirtschaft Als weitere Säule des Suburbanisierungsindex wird die Beschäftigtenentwicklung auf der Grundlage der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten am Arbeitsort herangezogen. Der daraus hervorgehende Gesamtwert für den Teilbereich „Wirtschaft“ setzt sich aus den beiden bekannten Komponenten zusammen. Im regionalen Vergleich ist der Gesamtwert für die Beschäftigten in beiden Betrachtungszeiträumen sehr viel häufiger positiv. D.h., es gab in den betreffenden Großstadtregionen eine relative Suburbanisierung für diesen Teilbereich, die sich im Vergleich der beiden Perioden zwar nicht immer für jede einzelne Region, sich aber als Gesamtbild für beide Zeitspannen ähnlich darstellt. Das unterscheidet die Beschäftigten- von der Bevölkerungsentwicklung. (Ergebnisse speziell für den Teilbereich Wirtschaft im Zeitraum 2011 bis 2015 finden sich bei Adam 2019). Speziell bei der zweiten Komponente gab es für beide Zeiträume in der Mehrheit der Fälle keine nachgeordnete Urbanisierung durch eine Konzentration auf die Mittelstädte. Gab es positive Werte für eine Konzentration auf Mittelstädte, so waren sie in Einzelfällen und dann nur für einen
Schwerpunkt Aktuelle Befunde zu Wohnungsmarkt, Pendlerbeziehungen und Bevölkerungsentwicklung
Tabelle 2: Bevölkerungsentwicklung der Mittelstädte im Umland der Großstadtregionen Großstadtregion
Bevölkerung in Mittelstädten 2011
2015
2017
Veränderung 2011–2017 in %
Aachen
Anzahl Mittelstädte 11
479.436
487.615
488.110
1,81
Göttingen
2
50.296
49.992
49.557
-1,47
Würzburg
1
20.321
20.756
21.346
5,04
Dresden
5
159.036
162.505
162.455
2,15
Quelle: Laufende Raumbeobachtung des BBSR, Zensuskorrektur durch das BBSR
Abbildung 3: Teilbereich Demographie
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Schwerpunkt Stadt – Region.
der beiden Zeiträume besonders hoch. Offenbar gab es in einzelnen Mittelstädten noch größere, zusammenhängende Flächenpotenziale, die erschlossen werden konnten und die für einen Schub bei der Beschäftigtenentwicklung sorgten. Beides zusammengenommen, die geringe Konzentration im Umland und die naheliegende sporadische Ausweisung größerer Flächen, drängt die Frage auf, ob die Werkshallen und Auslieferungslager in Autobahnnähe – unabhängig von sonstigen Zentralitäten – der gebaute Beleg sind für diese statistischen Ergebnisse. In Abbildung 4 werden Bevölkerungs- und Beschäftigtenentwicklung für beide Zeiträume vergleichend zu einem
Abbildung 4: Teilindex Demographie und Wirtschaft
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STADTFORSCHUNG UND STATISTIK 1|2020
zweidimensionalen Teilindex addiert. Die Summe der beiden Gesamtwerte (Demographie und Wirtschaft) ergibt ein neues Muster, markiert für beide Zeiträume stärkere Suburbanisierungstendenzen als nur die Bevölkerung und verdeutlicht, dass die Debatte um (Re-)urbanisierung der letzten Jahre vielfach einseitig über die Bevölkerungsentwicklung geführt wurde. Auffallend ist beim Teilindex wiederrum ein deutlicher Ost-West-Unterschied. Obgleich auch die Umlandbereiche der ostdeutschen Großstadtregionen in beiden Zeiträumen bis auf eine Ausnahme steigende Beschäftigtenzahlen hatten (also anders als bei der Bevölkerungsentwicklung) bleibt eine positive relative Suburbanisierung gemessen am Teilindex in
Schwerpunkt Aktuelle Befunde zu Wohnungsmarkt, Pendlerbeziehungen und Bevölkerungsentwicklung
beiden Zeiträumen die Ausnahme. Die hohe Anziehungskraft der Großstädte bestätigt sich hier – anders als beim überwiegenden Teil der westdeutschen Großstadtregionen – auch für die Addition der Beschäftigtenentwicklung. Interessante Unterschiede zeigt das „Update“ des Teilindexes zudem für zwei Großstadtregionen des Rhein-RuhrGebiets mit häufig weniger dynamischen Großstädten. Dort tendiert die positive relative Suburbanisierung aktuell zur Reurbanisierung – auch übereinstimmend mit nicht alltäglichen Initiativen zur urbanen Produktion (Bathen et al 2019). Im Raum Stuttgart mit seiner unter hohem Wachstumsdruck stehenden Kernstadt hat dagegen das Umland aufgeholt.
Addition des Teilbereichs Fläche zum Suburbanisierungsindex Der komplette Index inklusive des Teilbereichs Fläche konnte zunächst nur für den Zeitraum 2011 bis 2015 ausgewiesen werden – allerdings auch hier verbunden mit statistischen Besonderheiten, die für die Interpretation der Ergebnisse relevant sind, werden exemplarisch angesprochen. Gearbeitet wurde mit der Siedlungs- und Verkehrsflächenentwicklung als Indikator für den Teilbereich „Fläche“. Gemessen wurde damit die Entwicklung größerer zusammenhängend bebauter Bereiche (Siedlungs- und Verkehrsfläche) in Abgrenzung zu größeren Freiräumen (z. B. Wälder, landwirtschaftlich genutzte Flächen). Der Gesamtwert beim Teilbereich „Fläche“ war im Zeitraum 2011 bis 2015 häufig positiv. Allein diese Feststellung ist bedenklich, konterkarierte die Flächenentwicklung doch anscheinend konzentrierte, zum Städtischen hingehende Strukturen. Allerdings drückt sich das Plus bei der Flächenveränderung teils in nur geringen Raten aus. Etwaige Zersiedlungstendenzen lassen sich vor allem in Regionen vermuten, in denen nicht nur die Anteile der Siedlungs- und Verkehrsfläche in kleineren Städten und Gemeinden des Umlandes gestiegen sind, sondern dies auch noch mit einem sinkenden Anteil der dortigen Bevölkerungs- und Beschäftigtenzahlen einhergegangen ist. Das traf auf knapp ein Drittel der Großstadtregionen zu. In den Fällen, in denen der Gesamtwert „Fläche“ negativ war, damit keine relative Suburbanisierung anzeigte (ca. ein Viertel der Großstadtregionen), ging dieses Resultat mehrheitlich auf eine Konzentration der Entwicklung der Siedlungs- und Verkehrsflächenentwicklung in den Mittelstädten zurück (2. Komponente: positive Veränderung des Anteils der Siedlungs- und Verkehrsfläche der Mittelstädte an der Siedlungs- und Verkehrsfläche des jeweiligen Umlandes). Darunter gab es ausdifferenzierte Muster, z. B. in Köln/Bonn, wo der negative Gesamtwert für den Teilbereich „Fläche“ vor allem auf das besonders hohe Flächenwachstum zweier Mittelstädte zurückzuführen ist. (In der Großstadtregion Köln/Bonn gibt es insgesamt 32 Mittelstädte!). Nur selten und geringfügig ist im Betrachtungszeitraum der Anteil des Umlandes an der Großstadtregion gesunken (1. Komponente). Ein Beispiel liefert die Region Ingolstadt. Neben einer mittelstädtischen Konzentration gab es hier eine leicht negative Veränderung des Siedlungs- und Verkehrsflächenanteils vom Umland gegenüber der Großstadtregion. Respektive
hat sich der Anteil des Zentrums ein wenig erhöht. Diese ganz leichte Verschiebung äußerte sich im Vergleich mit den anderen Zentren der Großstadtregionen absolut in einem hohen Zuwachs der Siedlungs- und Verkehrsfläche in Ingolstadt (er lag im oberen Drittel des Flächenzuwachses aller Zentren). In Ingolstadt gab es anscheinend noch Platz, denn für eine Großstadt war die Siedlungsdichte (Einwohner je Siedlungs- und Verkehrsfläche) unterdurchschnittlich, und ebenfalls unterdurchschnittlich ist der Ingolstädter Anteil der Siedlungs- und Verkehrsfläche an der gesamten Gemeindefläche (BBSR 2017). Eine Besonderheit der Flächenstatistik einiger Länder, wie z. B. Bayerns und damit auch der Region Ingolstadt, ist es, dass im Verlauf statistischer Umstellungen baurechtlich gesicherte Flächen, die noch unbebaut sind, aus der Statistik herausgerechnet wurden. Deshalb kann es – rein rechnerisch – sogar zu „Negativentwicklungen“ kommen, die tatsächlich keine Flächennutzungsänderungen widerspiegeln. Es ist nicht bekannt, inwieweit entsprechende Verzerrungen einen Einfluss auf die Daten haben. Handelt es sich jedoch um Flächen, denen nach Baugesetzbuch § 42 das Baurecht nach ausgebliebener Bautätigkeit entzogen wurde, ist dies durchaus ein Indikator für ver-
Abbildung 5: Suburbanisierungsindex 2011 bis 2015
STADTFORSCHUNG UND STATISTIK 1|2020
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Schwerpunkt Stadt – Region.
änderte Schwerpunkte der Siedlungstätigkeit bzw. für mehr oder weniger Suburbanisierung im Stadt-Umland-Vergleich. Nicht betrachtet werden konnten beim Teilbereich „Fläche“ die sächsischen Großstadtregionen. Die dortigen Datenumstellungen erlauben keine Aussagen für die Phase zwischen 2011 und 2015. Aus der Addition des Teilbereichs Fläche zu den Bereichen Demographie und Wirtschaft ergab sich nun der Suburbanisierungsindex für die Zeitspanne 2011 bis 2015 (Abb. 5). Vor allem streut die Beschäftigtenentwicklung zwischen den Großstadtregionen weit stärker als die Veränderungen bei der Bevölkerungsentwicklung. Der Suburbanisierungsindex offenbart ein gemischtes Bild und weit mehr Suburbanisierung in Deutschland als die vielfach allein herangezogene Bevölkerungsentwicklung. Die negativen Werte für die Suburbanisierung (keine relative Suburbanisierung) überwiegen zwar immer noch, sind auch im unteren Bereich stärker ausgeprägt als die positiven, trotzdem gab es eine Reihe an Großstadtregionen, für die eine relative Suburbanisierung festzustellen ist.
Fazit Der hier modellierte mehrdimensionale Suburbanisierungsindex (Teilbereiche: Demographie, Wirtschaft, Fläche) eignet sich für ein fortlaufendes Monitoring und könnte in Abständen von einigen Jahren jeweils neu ermittelt werden. Damit würden singuläre Ereignisse in einzelnen Zeiträumen relativiert. Deren Auswirkungen könnten über eine jeweilige Momentaufnahme hinausgehend in ihren Auswirkungen beobachtet werden. Ein laufendes Monitoring könnte Argumente gegen etwaige große Würfe auf lokaler Ebene liefern, wenn deren Einforderung auf einer Fehlinterpretation temporärer Spitzenwerte beruht. Innerhalb der beobachteten und indizierten stadtregionaler Wachstumsprozesse gibt es aus heutiger Sicht die Besonderheit, dass die Großstädte über einen mittlerweile
ungewohnt langen Zeitraum im Anstieg der Bevölkerungszahlen stabil sind. Die Bevölkerungszahlen im Umland sind in den meisten Fällen ebenfalls gewachsen, aber erst in der zweiten Periode (2015 bis 2017) relativ gesehen in mehreren Fällen stärker als die der Großstädte. Bei kombinierter Betrachtung von Bevölkerung und Beschäftigten offenbaren sich Schwankungen und Veränderungen im Nutzungsgefüge. Ein Beispiel liefert die Beschäftigtensuburbanisierung, Die Großstädte tendieren auf diese Weise zu einer stärkeren Konzentration des Wohnens, momentan bei einem Überschuss der Außenwanderungsgewinne. Im Sinne einer städtischem, durchmischten und sich funktional ergänzenden Entwicklung stehen Großstädte gegenwärtig offenbar neben der drängenden Bereitstellung bezahlbaren Wohnraums vor der Herausforderung, ausreichend eigene Flächen für Infrastruktur und Gewerbe zur Verfügung zu halten. Während der Preis innerhalb der Großstädte den hohen Flächenverbrauch in Grenzen hält, konnte im Umland durchaus in bestimmten Fällen festgestellt werden, dass die Neuausweisung und Bebauung von Flächen in einem ungünstigen Verhältnis zur Bevölkerungs- und Beschäftigtenentwicklung stand. Ein aktualisiertes Monitoring der Flächenentwicklung sollte folgen, um die Einschätzung dieser Beobachtung beurteilen zu können. Möglicherweise wurden im ersten Beobachtungszeitraum zunächst Flächenangebote geschaffen, die mittlerweile für Wohnen oder Gewerbe genutzt werden. Neu am vorliegenden Index-Modell ist nicht nur die mehrdimensionale Betrachtung, sondern der Ansatz, die mittelstädtische Dimension in die Bewertung der Suburbanisierung zu integrieren. Angesichts des gegenwärtig anhaltenden Wachstums der meisten Großstädte und der gesamten Großstadtregionen erscheinen die Mittelstädte als nachgeordnete urbane Zentren. Ein bundesweit berechneter Suburbanisierungsindex kann Hinweise auf Problemstellungen und Handlungsanforderungen geben. Er entlastet aber nicht von der Einzelfallbetrachtung im Detail und der Ergänzung um qualitative Methoden der Stadtbeobachtung vor Ort.
Literatur Adam, Brigitte (2019): Vom Siedlungsbrei zum Städtischen? Eine mehrdimensionale Bestandsaufnahme der Suburbanisierung. In: Raumforschung und Raumordnung, 77 (1), S. 35–55. Alisch, Monika (1993): Frauen und Gentrification. Der Einfluß von Frauen auf die Konkurrenz um den innerstädtischen Wohnraum. Wiesbaden. Bathen, Annette et al. (2019): Handbuch urbane Produktion: Potenziale. Wege. Maßnahmen. UrbaneProduktionRuhr. BBSR (Hrsg.)/Adam, Brigitte (Autorin) (2017a): Wachstumsdruck in deutschen Großstädten). BBSR-Analysen KOMPAKT 10/2017. Bonn. BBSR (Hrsg.)/Milbert, Antonia (Autorin) (2017b): Wie viel (Re-)Urbanisierung durchzieht das Land? BBSR-Analysen KOMPAKT 07/2017. Bonn. BBSR (Hrsg.)/Adam, Brigitte; Göddecke-Stellmann, Jürgen; Sturm, Gabriele (Autor*innen)
20
(2015): Divergenzen und Konvergenzen in Großstadtregionen – kleinräumige Analysen. BBSR-Analysen KOMPAKT 01/2015. Bonn. BMUB – Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit (Hrsg.) (2016): Den ökologischen Wandel gestalten. Integriertes Umweltprogramm 2030. Berlin. Brake, Klaus; Herfert, Günter (Hrsg.) (2012): Reurbanisierung. Materialität und Diskurs in Deutschland. Wiesbaden. Bucher, Hansjörg; Schlömer, Claus (2012): Eine demografische Einordnung der Re-Urbanisierung. In: BBSR (Hrsg.): Die Attraktivität großer Städte – ökonomisch, demographisch, kulturell. Bonn, S. 66–72. Bullinger, Hans-Jörg (2015): Holt die Produktion zurück in die Stadt! In: manager magazin. 27.12.2015. https://www.manager-magazin. de/unternehmen/industrie/deutschlandholt-die-produktion-zurueck-in-die-stadta-1068115-2.html (Zugriff: 12.12.2019).
STADTFORSCHUNG UND STATISTIK 1|2020
Geppert, Kurt; Gorning, Martin (2010): Mehr Jobs, mehr Menschen: Die Anziehungskraft der großen Städte wächst. In: Wochenbericht des DIW Berlin Nr. 19/2010, S. 2–11. Kohlmann, Uwe (1992): Gentrification in Mannheim. In: Bender, Rainer Joha (Hrsg): Wohnungsmärkte und Stadterneuerung. MannheimS. 15–34. Läpple, Dieter (2005): Phönix aus der Asche: Die Neuerfindung der Stadt. In: Berking, Helmuth; Löw, Martina (Hrsg.): Die Wirklichkeit der Städte. Baden-Baden, S. 397–413. Statistisches Bundesamt (Hrsg.) (2019): StädteBoom und Baustau: Entwicklungen auf dem deutschen Wohnungsmarkt 2008 – 2018 (Pressemitteilung Nr. N 012 vom 4. Dezember 2019). https://www.destatis.de/DE/ Presse/Pressemitteilungen/2019/12/PD19_ N012_122.html (Zugriff: 12.12.2019).
Schwerpunkt Aktuelle Befunde zu Wohnungsmarkt, Pendlerbeziehungen und Bevölkerungsentwicklung
Mirjam Schmid und Susann Kunadt
Von Nippes nach Pulheim – Über die zunehmende Abwanderung von Familien ins Kölner Umland Seit dem Jahr 2010 ist in Köln ein besonders starker Bevölkerungsanstieg zu verzeichnen, der sich laut der jüngsten Bevölkerungsvorausberechnung bis zum Jahr 2040 – wenngleich deutlich moderater – fortsetzen wird (Stadt Köln 2019a). Köln profitiert ebenso wie andere Ballungszentren insbesondere von hohen Zuzugsgewinnen junger Menschen, die für Ausbildung, Studium oder Berufseinstieg in die Domstadt ziehen. Gleichzeitig verlassen aber auch zahlreiche Einwohnerinnen und Einwohner Köln: Ein Trend, der trotz oder gerade wegen des Bevölkerungswachstums zunimmt. Dieser Beitrag nimmt die Abwanderungen aus Köln in die umgebenden Gemeinden, die sogenannte Wohnungsmarktregion, in den Blick. In das umgangssprachlich als Speckgürtel bezeichnete Gebiet ziehen vor allem Familien aus dem Kölner Stadtkern. Im Zeitverlauf lassen sich für Quell- sowie Zielregion sowohl Intensivierung als auch räumliche Ausdehnung der Umlandwanderungen beobachten.
Entschleunigtes Bevölkerungswachstum in Köln Ende Dezember 2018 lebten rund 1.090.000 Einwohnerinnen und Einwohner mit Haupt- oder Nebenwohnung in Köln. Verglichen mit dem Vorjahr wuchs die Bevölkerung um rund 5.200 Personen. Damit hielt auch im Jahr 2018 die positive Einwohnerentwicklung der letzten Jahre an. Allerdings fiel das Ausmaß des Wachstums wie bereits 2017 schwächer aus als in den Jahren hoher Zuwanderung durch Schutzsuchende (2015 und 2016), aber auch den Jahren davor. Zurückzuführen ist das Bevölkerungswachstum 2018 zu zwei Dritteln auf einen Wanderungsgewinn. Das verbliebene Drittel resultiert aus einem Überschuss der Geburten gegenüber den Sterbefällen (Stadt Köln 2019b).
Abstände zwischen Zuzügen und Fortzügen werden geringer Seit 2010 stieg das jährliche Zuzugsniveau in Köln beträchtlich an und wuchs dabei deutlich stärker als die Zahl der Wegzüge aus der Stadt. In jüngster Vergangenheit hat der Abstand zwischen beiden Wanderungskomponenten abgenommen, da sich sowohl die Zuzugszahlen verringerten als auch die Zahl der Fortzüge kontinuierlich anstieg. Resultierte hieraus im Jahr 2017 ein nahezu ausgeglichener Wanderungssaldo (+600), bilanzieren sich die Wanderungen 2018 auf ein moderates Niveau (+3.500) (Abb. 1).
Mirjam Schmid Soziologin, Wissenschaftliche Mitarbeiterin im Sachgebiet Analysen, Berichte, Umfragen im Amt für Stadtentwicklung und Statistik der Stadt Köln : mirjam.schmid@stadt-koeln.de
Abbildung 1: Wanderungen in Köln seit 2009 70.000
Dr. Susann Kunadt Soziologin, Leiterin des Sachgebiets Analysen, Berichte, Umfragen im Amt für Stadtentwicklung und Statistik der Stadt Köln : susann.kunadt@stadt-koeln.de Schlüsselwörter: Wanderungen – Umland – Abwanderung – Familien – familienrelevante Jahrgänge – Wohnungsmarktregion – Bevölkerungswachstum
60.000 50.000 40.000 30.000
Saldo
Zuzug
Fortzug
20.000 10.000 0
Quelle: Stadt Köln – Amt für Stadtentwicklung und Statistik
STADTFORSCHUNG UND STATISTIK 1|2020
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Schwerpunkt Stadt – Region.
Abbildung 2: Wanderungssaldo in Köln nach Staatsangehörigkeit 16.000 14.000 12.000
Deutsche
10.000
Ausländer/innen
8.000 6.000 4.000 2.000 0 -2.000 -4.000
Quelle: Stadt Köln – Amt für Stadtentwicklung und Statistik
Tabelle 1: Wanderungssaldo in Köln nach Alter und Staatsangehörigkeit Deutsche Staatsangehörigkeit
Alter
unter 18
2018
Durchschnitt 2014–2018
Ausländische Staatsangehörigkeit 2018
Durchschnitt 2014–2018
- 2.673
-2.364
1.268
2.189
18 bis unter 30
7.106
6.851
3.594
4.565
30 bis unter 45
-3.976
-3.865
710
1.657
45 bis unter 60
-1.259
-1.239
126
485
60 bis unter 75
-639
-596
-200
-94
75 und älter
-437
-467
-103
-69
zusammen
-1.878
-1.681
5.395
8.734
Quelle: Stadt Köln – Amt für Stadtentwicklung und Statistik
Köln profitiert von internationaler Zuwanderung und Zuzügen junger Menschen Getragen wird das Wanderungsplus der letzten Jahre im Wesentlichen durch die Wanderungsbilanz der ausländischen Bevölkerung. Der Wanderungssaldo der deutschen Bevölkerung lag hingegen schon seit den 1990er Jahren im negativen Bereich. Unterbrochen wurde diese Entwicklung bei der deutschen Bevölkerung zuletzt in den Jahren 2010 bis 20131 und erklärt somit den relativ starken Einwohnerzuwachs dieser Jahre. In diesem Zeitraum befand sich das Zuzugsniveau der Deutschen auf deutlich höherem Niveau als in den Folgejahren, das Fortzugsniveau blieb in etwa gleich (Abb. 2). Auch wenn der Wanderungssaldo der deutschen Bevölkerung in der jüngsten Vergangenheit insgesamt negativ ausfällt, zeigen sich in den einzelnen Altersgruppen deutliche Unterschiede. Es sind Bildungs- und Berufseinsteiger zwischen 18 und 30 Jahren, die Köln hinzugewinnen kann. Hier übersteigen die Zuzüge die Wegzüge beträchtlich. In allen anderen Altersgruppen der Deutschen überwiegen hingegen die Fortzüge. Dies gilt insbesondere für Personen in einem Alter, in dem die Familiengründung wahrscheinlich wird (30 bis unter 45 Jahre), beziehungsweise in dem bereits Familien gegründet wurden. Für sie gewinnen langfristige Wohnstandortentscheidungen an Relevanz. Letzteres verdeutlicht ein Blick auf die Gruppe der Kinder und Jugendlichen, da diese in der Regel gemeinsam mit ihren Eltern umziehen. Überdies fällt bei der deutschen Bevölkerung der Wanderungssaldo der Jahrgänge in der mittleren Lebensphase (45 bis unter 60 Jahre) in nicht unwesentlichem Maß negativ aus. Ein solches Wanderungsmuster – ausschließlich junge Erwachsene mit Wanderungsgewinnen – ist in Köln schon seit Längerem zu
Abbildung 3a: Wanderungssaldo 2017 nach Staatsangehörigkeit in kreisfreien Großstädten mit mindestens 600.000 Einwohnerinnen und Einwohnern
-10.000 -15.000
Köln
München
Deutsche
Ausländer/innen
Deutsche
-5.000
Deutsche
0
Frankfurt a. M.
Ausländer/innen
Ausländer/innen
Deutsche
5.000
Deutsche
10.000
Ausländer/innen
Ausländer/innen
15.000
Stuttgart
Düsseldorf
Quelle: Statistische Ämter des Bundes und der Länder, Regionaldatenbank Deutschland
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STADTFORSCHUNG UND STATISTIK 1|2020
Schwerpunkt Aktuelle Befunde zu Wohnungsmarkt, Pendlerbeziehungen und Bevölkerungsentwicklung
beobachten, wie ein Blick auf den 5-Jahres-Durchschnitt (2014 bis 2018) deutlich macht (Tab. 1). Bei Ausländerinnen und Ausländern verzeichnen ebenfalls die jungen Erwachsenen im Alter zwischen 18 und 30 Jahren die größten Wanderungsgewinne. Anders als unter der deutschen Bevölkerung überwiegen jedoch auch bei den Kindern und Jugendlichen sowie den 30- bis unter 45-Jährigen die Zuzüge. Darüber hinaus unterscheidet sich die Bilanz aus Zuund Fortzugszahlen der ausländischen Einwohnerinnen und Einwohner im Jahr 2018 vom Durchschnitt der vergangenen fünf Jahre. Vor allem bedingt durch die enormen Wanderungsgewinne in den Jahren 2015 und 2016, mit ausgesprochen hohen Zuwanderungen von Schutz suchenden Menschen, fällt das Wanderungsplus im 5-Jahres-Durchschnitt höher aus und hat sich in der jüngsten Vergangenheit reduziert.
der Landeshauptstadt München noch stärker als in Köln. In den anderen kreisfreien Städten fallen diese Verluste schwächer aus (Abb. 3b).2
Deutliche Verluste an das Umland Die räumliche Betrachtung zeigt vor allem Abwanderungen in das Umland Kölns. Im Jahr 2018 zogen im Saldo rund 4.100 Personen mehr in die sogenannte Wohnungsmarktregion3 als von dort nach Köln gekommen sind. Die Bilanz aus Zu- und Fortzügen mit den restlichen Landesteilen Nordrhein-Westfalens, dem übrigen Bundesgebiet sowie dem Ausland fällt indessen positiv aus (Tab. 2).
Vergleichbare Wanderungsmuster auch in anderen Großstädten
Tabelle 2: Wanderungen in Köln 2018 nach Herkunfts- und Zielgebiet
Dass es sich bei der Wachstumskonstellation – Wanderungsplus ausschließlich bei nichtdeutschen Staatsangehörigen sowie jungen Menschen – nicht um eine Köln spezifische Eigenart handelt, belegen die Wanderungssalden anderer Großstädte im Süden und Westen der Republik (Abb. 3a). Auch in Frankfurt am Main, Stuttgart und Düsseldorf lässt sich einzig für Ausländerinnen und Ausländer eine Wanderungsbilanz im Plus attestieren. Zudem weisen die Städte allesamt nur bei jungen Erwachsenen zwischen 18 und 30 Jahren positive Wanderungsbilanzen auf. Wanderungsverluste anderer Jahrgänge, insbesondere der Familien relevanten, zeigen sich in
Gebiet
Zuzug nach Köln
Fortzug aus Köln
Saldo
10.181 16.346 14.781 18.497 59.805
14.293 13.397 11.943 7.841 8.814 56.288
-4.112 2.949 2.838 10.656 -8.814 3.517
Wohnungsmarktregion übriges NRW übriges Bundesgebiet Ausland unbekannt* zusammen
* 8.814 Personen sind nach unbekannt verzogen Quelle: Stadt Köln – Amt für Stadtentwicklung und Statistik
-15.000 -20.000
Köln
München
Stuttgart
50 und mehr
30 bis unter 50
unter 18
50 und mehr
30 bis unter 50
18 bis unter 30
18 bis unter 30
Frankfurt a. M.
unter 18
50 und mehr
30 bis unter 50
unter 18
50 und mehr
-10.000
30 bis unter 50
-5.000
unter 18
0
30 bis unter 50
5.000
unter 18
10.000
50 und mehr
15.000
18 bis unter 30
18 bis unter 30
20.000
18 bis unter 30
Abbildung 3b: Wanderungssaldo 2017 nach Altersgruppe in kreisfreien Großstädten mit mindestens 600.000 Einwohnerinnen und Einwohnern
Düsseldorf
Quelle: Statistische Ämter des Bundes und der Länder, Regionaldatenbank Deutschland
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Schwerpunkt Stadt – Region.
Vor allem Familien ziehen ins Kölner Umland Zeitgleich mit den seit 2014 durchweg zu verzeichnenden Wanderungsverlusten der deutschen Bevölkerung erhöhten sich auch die Abwanderungen in das Kölner Umland. Zwar verliert Köln seit Längerem mehr Menschen an die Wohnungsmarktregion als im Gegenzug von dort in die Stadt ziehen, seit dem Jahr 2014 hat sich das Abwanderungsniveau jedoch deutlich erhöht. Das Wanderungsminus Kölns mit seinem Umland geht überwiegend auf deutsche Einwohnerinnen und Einwohner zurück. Unter den rund 4.100 Personen, die Köln 2018 an die Wohnungsmarktregion verloren hat, sind 3.500 Deutsche.
Abbildung 4: Wanderungssaldo Kölns mit Wohnungsmarktregion getrennt nach Staatsangehörigkeit 500 0 -500 -1.000 -1.500 -2.000 -2.500 -3.000 -3.500
Deutsche
-4.000
Ausländer/innen
Der Wanderungssaldo der ausländischen Bevölkerung mit dem Kölner Umland ist demnach nahezu ausgeglichen (Saldo 2018: -600) (Abb.4). Auch hier lässt sich das altersselektive Wanderungsmuster erkennen: Junge Erwachsene zieht es in die Stadt, im Gegenzug verlassen Familien vermehrt Köln. Annäherungsweise lassen sich diese über eine Betrachtung der Altersgruppen der unter 18-Jährigen sowie 30- bis unter 45-Jährigen identifizieren (zusammen: familienrelevante Jahrgänge). In der Lebensphase zwischen 30 und 45 Jahren erfolgt in der Regel der Übergang zur Familiengründung beziehungsweise Etablierung der Familie. In den jungen Familien leben die Kinder und Jugendlichen, die für gewöhnlich mit ihren Eltern oder Familienangehörigen umziehen (Tab. 3). Mit rund 51 Prozent (Durchschnitt 2014 bis 2018: 51,2 %) gehört die Hälfte aller, die jährlich aus Köln in die Wohnungsmarktregion fortzieht, der Altersgruppe im familienrelevanten Alter an. 28,2 Prozent zählen zu den jungen Erwachsenen zwischen 18 und 30 Jahren. Ältere sind unter den Fortziehenden in deutlich geringerem Maß vertreten (45 bis unter 60 Jahre: 12,7 %; ab 60 Jahren: 7,9 %). Bei Betrachtung der Wanderungsbeziehung Kölns mit seinem Umland lohnt daher eine Fokussierung auf die familienrelevanten Jahrgänge.
-4.500
Quelle: Stadt Köln – Amt für Stadtentwicklung und Statistik
Abbildung 5: Wanderungsbeziehung familienrelevanter Jahrgänge mit der Kölner Wohnungsmarktregion seit 2010 10.000
Saldo
Zuzug
Fortzug
8.000 6.000 4.000 2.000 0 -2.000
2010 -1.975
-4.000
2011
2012
-2.550
-2.287
2013 -2.782
2014
2015
2016
-3.593
-3.680
-3.733
-6.000
2017
-4.731
2018
-4.298
Quelle: Stadt Köln – Amt für Stadtentwicklung und Statistik
Wegzugsüberschuss der Familien in das Umland wird tendenziell größer Köln verliert nicht nur aktuell vor allem Personen im familienrelevanten Alter an umgebenden Gemeinden, bereits seit 2010 existiert diese Negativbilanz für die Stadt. Seit 2010 hat sich diese Entwicklung verstärkt. Da der Tendenz nach die Zahl der Fortzüge angestiegen ist, die Zuzugszahlen hingegen abgenommen haben, vergrößerte sich der negative Wanderungssaldo mit dem Umland im betrachteten Zeitraum. Dieser Prozess vollzieht sich parallel zum deutlichen Bevölkerungswachstum Kölns (Abb. 5). Familien entscheiden sich in der Regel dazu, vor der Einschulung der Kinder in das Umland zu ziehen. Die Fortzüge in der Altersgruppe unter fünf Jahren in die Wohnungsmarktregion übersteigen die Zahl der Zuzüge um mehr als das Vierfache (Fortzüge: 1.500, Zuzüge: 350) (Abb. 6).
Tabelle 3: Wanderungssaldo in Köln 2018 nach Altersklassen sowie Herkunfts- und Zielgebieten Differenz aus Zu- und Fortzügen (Saldo) Alter
Wohnungsmarktregion
unter 18
Übriges NRW
Übriges Bundesgebiet
Ausland
Unbekannt
Insgesamt
-1.671
-745
-99
2.100
-990
-1.405
18 bis unter 30
1.267
4.384
3.374
4.727
-3.052
10.700
30 bis unter 45
-2.627
-349
-104
2.706
-2.892
-3.266
45 bis unter 60
-597
-159
-61
1.103
-1.419
-1.133
60 bis unter 75
-241
-135
-181
57
-339
-839
75 und älter
-243
-47
-91
-37
-122
-540
zusammen
-4.112
2.949
2.838
10.656
-8.814
3.517
Quelle: Stadt Köln – Amt für Stadtentwicklung und Statistik
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STADTFORSCHUNG UND STATISTIK 1|2020
Schwerpunkt Aktuelle Befunde zu Wohnungsmarkt, Pendlerbeziehungen und Bevölkerungsentwicklung
Familien aus dem Stadtkern ziehen vermehrt ins Umland Ein Blick auf die 86 Stadtteile Kölns verdeutlicht, dass 2018 besonders viele Wegzüge von Einwohnerinnen und Einwohnern im familienrelevanten Alter aus dem Kern sowie den westlich und östlichen gelegenen Gebieten der Stadt in ihre Umlandgemeinden erfolgten. Hervorzuheben sind vor allem die Stadtteile Sülz, Lindenthal, Ehrenfeld, Nippes, Neustadt/ Süd, Bayenthal und Mülheim. Hier zogen jeweils über 200 Minderjährige sowie Menschen im Alter zwischen 30 und 45 Jahren in die Wohnungsmarktregion Kölns.
Im Zeitverlauf hat sich das Ausmaß der Fortzüge verstärkt. Verglichen mit 2010 zogen acht Jahre später deutlich mehr Familien in die Köln umgebenden Gemeinden. Etwa im Stadtteil Nippes erhöhte sich die Zahl der Fortzüge von 160 in 2010 auf 260 im Jahr 2018. Der generelle Anstieg der Wegzüge wird im Zeitverlauf von einer geografischen Ausdehnung begleitet: 2018 erfasste die Fortzugsentwicklung ausgehend vom Stadtzentrum besonders Gebiete im Westen sowie Stadtteile im Nordosten Kölns, die in der Vergangenheit weniger von Familien-Fortzügen betroffen waren (Karte 1).
Karte 1: Fortzüge familienrelevanter Jahrgänge aus Kölner Stadtteilen in die Wohnungsmarktregion
Quelle: Stadt Köln – Amt für Stadtentwicklung und Statistik
Abbildung 6: Wanderungsbeziehung 2018 mit der Kölner Wohnungsmarktregion nach Altersklassen 3.000 2.500 2.000
Zuzüge aus Wohnungsmarktregion Fortzüge in Wohnungsmarktregion
1.500 1.000 500 0
Quelle: Stadt Köln – Amt für Stadtentwicklung und Statistik
STADTFORSCHUNG UND STATISTIK 1|2020
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Schwerpunkt Stadt – Region.
Karte 2: Wanderungssaldo familienrelevanter Jahrgänge von Köln mit umgebenden Gemeinden
Quelle: Stadt Köln – Amt für Stadtentwicklung und Statistik
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STADTFORSCHUNG UND STATISTIK 1|2020
Schwerpunkt Aktuelle Befunde zu Wohnungsmarkt, Pendlerbeziehungen und Bevölkerungsentwicklung
Der Speckgürtel legt zu Es sind vor allem die unmittelbar an das Stadtgebiet angrenzenden Gemeinden, die aus Köln Einwohnerinnen und Einwohner in den familienrelevanten Altersgruppen hinzugewinnen. Vornehmlich zu nennen sind hier vor allem die Gemeinden Pulheim, Frechen und Hürth im Westen sowie Leverkusen, Bergisch Gladbach und Rösrath im Osten. Schon 2010 waren diese Gemeinden von zentraler Bedeutung für das Abwanderungsverhalten der Kölner Familien; der linksrheinische Westen etwas stärker als der rechtsrheinische Osten. Im Zeitverlauf hat sich die Dynamik ihrer Wanderungsbewegung in das Umland in zweierlei Hinsicht, Intensivierung und räumliche Ausdehnung, verändert: Das Ausmaß der Wanderungsverluste von Familien hat sich deutlich erhöht. Gegenüber 2010 fiel das Wanderungsdefizit 2018 weitaus größer aus. Mittlerweile gruppieren sich Bergisch Gladbach (Saldo 2018: -600), Pulheim (-400), Hürth (-400) und Leverkusen (-300) in die höchste Abwanderungskategorie ein. Mit Frechen fällt der Wanderungssaldo im Jahr 2018 (-200) etwas geringer als 2010 (-300) aus. Grundsätzlich kommt Bergisch Gladbach, Pulheim und Hürth eine Schlüsselrolle für das Wanderungsgeschehen von Familien zu. Über den kompletten Zeitraum von 2010 bis 2018 versammelten sie die weitaus größten Wanderungsdefizite aus Kölner Perspektive. Das heißt: jährlich zogen beträchtlich mehr familienrelevante Altersgruppen in diese Gemeinden als von ihnen im Gegenzug nach Köln kamen. Die negative Wanderungsbilanz betrifft 2018 alle betrachteten Umgebungsgemeinden.4 Anders als 2010 sind keine Wanderungsgewinne aus Kölner Sicht mehr zu verzeichnen. Vor allem an die Gebiete im Süden Kölns sowie die westlich gelegenen Gemeinden in einem „zweiten Ring“ – Bergheim, Kerpen und Erftstadt – verliert die Stadt im Zeitverlauf vermehrt Personen im familienrelevanten Alter. Waren 2010 im nahen Umland nur sechs Gemeinden zu finden, an die Köln 100 oder mehr von ihnen verloren hat, vergrößerte sich ihre Zahl 2018 bereits auf 15 Gemeinden. Mit neun Gemeinden sind weiterhin die linksrheinisch gelegenen Gebiete stärker von Zuwanderung aus Köln betroffen als die rechtsrheinischen (Karte 2).
Fazit und Diskussion In Köln vollziehen sich seit dem Jahr 2010 zwei parallele Prozesse: Bevölkerungswachstum und – jedoch auf niedrigerem Niveau – verstärkte Abwanderung ins Umland. Zum einen profitiert Köln ebenso wie andere Ballungszentren insbesondere von deutlichen Zuzugsgewinnen junger Menschen, die für Ausbildung, Studium oder Berufseinstieg zuziehen. Gleichzeitig verlassen zahlreiche Familien die Stadt. Im Zeitverlauf hat sich die Dynamik der Wanderungsbewegungen in das Umland in zweierlei Hinsicht, verändert: Intensivierung und räumliche Ausdehnung. Dies gilt sowohl für die Quellgebiete der Abwanderung (Stadtteile in der Innenstadt und am Innenstadtrand) als auch für die Zielregion (angrenzende Gemeinden der Wohnungsmarktregion).
Die Abwanderung in das Kölner Umland ist mittlerweile aus den Stadtteilen Sülz, Lindenthal, Ehrenfeld, Nippes, Neustadt/Süd, Bayenthal und Mülheim am stärksten. Mit Ausnahme von Bayenthal sind das genau die bevölkerungsstärksten Stadtteile Kölns. Der die Kölner Innenstadt umgebende Gürtel hat sich geschlossen und scheint angespannt. Waren 2010 im nahen Umland nur sechs Gemeinden zu finden, an die Köln 100 oder mehr Personen im familienrelevanten Alter verloren hat, vergrößerte sich ihre Zahl 2018 bereits auf 15 Gemeinden. Mit anderen Worten, der Kölner Speckgürtel wurde stärker unterfüttert und hat sich ausgedehnt. Während, wie in diesem Beitrag gezeigt, Köln wächst und die Abwanderungen in die Kölner Wohnungsmarktregion steigen, ist zeitgleich die Zahl der innerstädtischen Umzüge zurückgegangen. Mit insgesamt 68.400 Umzügen im Stadtgebiet wurde 2018 der niedrigste Wert innerhalb der letzten 20 Jahre erreicht. Vor allem bei der deutschen Bevölkerung ist ein kontinuierlicher Rückgang im Zeitverlauf zu beobachten. Unter ihnen nimmt die Zahl der Umzüge innerhalb Kölns seit dem Jahr 2010 fortlaufend ab. Die gleichzeitige Abnahme der innerstädtischen Umzüge und steigende Abwanderung in das Umland dürfte eine Folge des sich anspannenden Kölner Wohnungsmarktes sein, der die Möglichkeit für einen Wohnungswechsel im Stadtgebiet erschwert. Aus der Perspektive der Umlandgemeinden betrachtet stellen die Wanderungsverluste Kölns wiederum Wanderungsgewinne an Einwohnerinnen und Einwohnern im familienrelevanten Alter für die jeweiligen Gemeinden dar. Die Attraktivität dieser Wohnorte in der Wohnungsmarktregion für Familien spiegelt sich auch im dortigen geringeren Mietpreisniveau wider. Laut Preisspiegel 2019 (Immobilienverband Deutschland 2019) liegen die Wohnungsmieten etwa in Kerpen (6,10 €/m²), Leverkusen (6,20 €/m²) oder Euskirchen (6,50 €/m²) allesamt unter 7,00 Euro.5 In den Gemeinden, an welche Köln in der Vergangenheit bereits verstärkt Familien verloren hat und die in unmittelbarer Nachbarschaft zu der Stadt liegen, sind die Wohnungsmieten erwartungsgemäß höher. In Pulheim liegt der Preis bei 8,50 Euro, in Bergisch Gladbach sogar bei 9,00 Euro. Im Vergleich hierzu wird für Köln ein Quadratmeterpreis für Wohnungsmieten in mittleren Lagen von 10,80 Euro ausgewiesen. Auch bei Neubauwohnungen führen sich die Unterschiede fort. So müssen in den Gemeinden Bergisch Gladbach, Dormagen und Frechen Mietpreise von jeweils 10,00 Euro/m² bezahlt werden. Für Köln wird hingegen eine durchschnittliche NettoKaltmiete von 13,30 für eine Neubauwohnung mit mittlerem Wohnwert im Jahr 2019 angegeben. Der Beitrag konnte herausstellen, dass Köln als wachsende Großstadt nicht mehr ohne ihre umliegenden Gemeinden zu betrachten ist. Kölns Wachstum macht nicht an den Stadtgrenzen halt. Genauso wie die Stadt wächst, wächst das Umland mit. Diese Erkenntnis drückt sich bereits in regionalen Kooperationen aus, die immer stärker an Stellenwert gewinnen, wenn es um stadtentwicklungsrelevante Fragestellungen und Planungen geht.
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Schwerpunkt Stadt – Region.
1
2
Im betreffenden Zeitraum stellten mehrere Bundesländer das neunjährige Gymnasium auf ein achtjähriges um, was doppelte Abiturjahrgänge in Hamburg (2010), Bayern (2011), Niedersachsen (2011), Baden-Württemberg (2012), Berlin (2012), Brandenburg (2012), Bremen (2012), Hessen (2013) und Nordrhein-Westfalen (2013) zur Folge hatte (vgl. Beicht 2013: 38). Daraufhin erhöhte sich deutschlandweit die Zahl der Studienberechtigten in kürzester Zeit beträchtlich, was auch Auswirkungen für Köln mit sich brachte. Die Zahl der Studierenden an Kölner Hochschulen stieg allein im Wintersemester 2011/12 gegenüber dem Vorjahr um rund 7.100 Personen. Im gesamten Zeitraum 2010 bis 2014 wuchs die Studierendenzahl von 72.200 auf 94.000 an (+21.800) (vgl. Stadt Köln 2019c). Zwar hängen die Größenverhältnisse der Wanderungen von der Bevölkerungszahl in den jeweiligen Städten ab, wichtig ist uns hier jedoch die Darstellung vergleichbarer Wanderungsmuster.
3
4 5
Zur Kölner Wohnungsmarktregion gehören die Gemeinden: Bedburg, Bergheim, Bergisch Gladbach, Bornheim, Brühl, Dormagen, Elsdorf, Engelskirchen, Erftstadt, Euskirchen, Frechen, Gummersbach, Hennef (Sieg), Hürth, Kerpen, Kürten, Leverkusen, Lindlar, Lohmar, Much, Neunkirchen-Seelscheid, Niederkassel, Nümbrecht, Odenthal, Overath, Pulheim, Rommerskirchen, Rösrath, Siegburg, Troisdorf, Weilerswist, Wesseling, Wiehl, Zülpich. Karte 2 zeigt die 34 Gemeinden der sogenannten Wohnungsmarktregion Köln. Ergänzt wird dieses Gebiet um die direkt im Norden Kölns angrenzende Gemeinde Monheim am Rhein. Es handelt sich hierbei um durchschnittliche Quadratmeterpreise (Netto-Kaltmiete) für Wohnungen, die nach 1948 fertiggestellt wurden.
Literatur Beicht, Ursula (2013): Doppelte Abiturjahrgänge: Veränderte Chancen für Jugendliche am Ausbildungsmarkt. In: Berufsbildung in Wissenschaft und Praxis, 42, 6, S. 38–41. Immobilienverband Deutschland IVD (2019): Preisspiegel 2019 Wohnimmobilien NRW. Köln. Stadt Köln – Amt für Stadtentwicklung und Statistik (2019a): Bevölkerungsprognose für Köln 2018 bis 2040. Mit kleinräumigen Berechnungen bis 2030. Kölner Statistische Nachrichten
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4/2019. Köln. Abrufbar unter: https://www. stadt-koeln.de/mediaasset/content/pdf15/ statistik-einwohner-und-haushalte/ (zuletzt abgerufen: 12.12.2019). Stadt Köln – Amt für Stadtentwicklung und Statistik (2019b): Einwohnerentwicklung 2018. Kölns Wachstum setzt sich fort: Gestiegene Zuzüge kompensieren Abwanderungen ins Umland. Pegel Köln 4/2019. Köln. Abrufbar unter: https://www.stadt-koeln.de/mediaasset/content/pdf15/statistik-einwohner-und-
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haushalte/einwohnerentwicklung_2018 (zuletzt abgerufen: 12.12.2019). Stadt Köln – Amt für Stadtentwicklung und Statistik (2019c): Statistisches Jahrbuch Köln 2018, 95. Jahrgang. Kölner Statistische Nachrichten 1/2019. Köln. Abrufbar unter: https:// www.stadt-koeln.de/mediaasset/content/ pdf15/15_statistisches_jahrbuch_2018_bfrei. pdf (zuletzt abgerufen: 12.12.2019).
Schwerpunkt Aktuelle Befunde zu Wohnungsmarkt, Pendlerbeziehungen und Bevölkerungsentwicklung
Tobias Held, Attina Mäding
Das Ende der Reurbanisierung? Aktuelle Trends auf dem Wohnungsmarkt der Stadtregion Stuttgart Seit rund zehn Jahren sind die Groß- und Universitätsstädte in Deutschland wegen der anhaltenden Reurbanisierung auf Wachstumskurs. Die Städte sind heute von Knappheiten und stark steigenden Preisen auf den Wohnungs- und Immobilienmärkten gekennzeichnet und stoßen bei der Wohnungsversorgung an ihre Grenzen. In der Landeshauptstadt Stuttgart ist zunehmend zu erkennen, dass die Einwohner infolge des hohen Miet- und Kaufpreisniveaus wieder vermehrt in das Umland ausweichen. Im Gegensatz zur Suburbanisierungsphase des letzten Jahrhunderts profitieren von dieser Entwicklung vor allem Wohnlagen in den Mittelzentren und verkehrstechnisch gut erschlossenen Mittelstädten entlang der Schnellstraßen und S-Bahn-Trassen. Diese stadtregionale Einwohnerdynamik ist entsprechend nicht als neuerlicher Trend zu Ungunsten der Kernstadt zu interpretieren, sondern als Konsequenz des starken Wachstums der vergangenen Jahre, welches zunehmend weniger von der Kernstadt alleine bewältigt werden kann.
Tobias Held Dipl.-Geogr., seit 2016 Leiter des Sachgebiets Wohnen und Umwelt im Statistischen Amt der Landeshauptstadt Stuttgart: : tobias.held@stuttgart.de Dipl.-Geogr. Attina Mäding seit 2015 Leiterin des Sachgebiets Bevölkerung und Bildung im Statistischen Amt der Landeshauptstadt Stuttgart: : attina.maeding@stuttgart.de Schlüsselwörter: Bevölkerungswachstum – Großstadt – Mittelzentrum – Reurbanisierung – Stadtregion – Suburbanisierung – Umland – Wanderung –Wohnungsmarkt
Wie in den meisten wirtschaftlich dynamischen Großstädten Deutschlands übersteigt auch in Stuttgart die Wohnungsnachfrage das Angebot bei Weitem. Der Anstieg der Einwohnerund Beschäftigtenzahlen haben in den letzten Jahren einen Wachstumsdruck ausgelöst, der sich insbesondere in einer zunehmenden Nachfrage nach Wohnraum niederschlägt. In der Landeshauptstadt Stuttgart sind die Preise für Wohnraum besonders gestiegen. Die Angebotsmieten verteuerten sich im Zeitraum 2010 bis 2019 um rund 53 Prozent. Stuttgart ist nach München und Frankfurt am Main die Stadt mit den drittteuersten Mieten in Deutschland. Zeitgleich zu insgesamt steigenden Einwohnerzahlen sind die Wanderungsverluste Stuttgarts an die Region gestiegen. Im Jahr 2019 hat Stuttgart erstmals seit 10 Jahren wieder einen negativen Wanderungssaldo und eine stagnierende Einwohnerzahl. Auch zeichnet sich inzwischen eine Beruhigung des Mietwohnungsmarktes ab. Es ist zu erkennen, dass Stuttgarter Einwohner infolge des hohen Miet- und Kaufpreisniveaus in der Kernstadt wieder vermehrt in die Region ausweichen. Vor allem junge Familien befriedigen ihre Wohnbedürfnisse zunehmend an Wohnstandorten im Stuttgarter Umland. Mit dem Begriff „Reurbanisierung“ werden in der Praxis verschiedene regionale Entwicklungsmuster bezeichnet. Der Begriff wird oftmals verwendet um Einwohner- und/oder Beschäftigtengewinne von Groß- und/oder Mittelstädten zu beschreiben. Manche sprechen bereits von Reurbanisierung, wenn diese Städte eine günstigere Entwicklung zeigen als ihre Umlandgemeinden. Im engeren Sinne meint Reurbanisierung, dass Kernstädte gegenüber ihren Umlandgemeinden Wanderungsgewinne erzielen. Der vorliegende Beitrag geht daher folgenden Kernfragen nach. Ist die Reurbanisierung Stuttgarts gestoppt und in welcher Form zeigen sich wieder stärker Suburbanisierungstendenzen in die Region? Wie wirkt sich der Trend, ins Umland zu ziehen, auf den Wohnungsmarkt in der Region aus? In diesem Sinn werden in diesem Beitrag zuerst die Einwohnerentwicklung in der Region Stuttgart sowie die StadtUmlandwanderungen näher beleuchtet. Im Anschluss werden die Auswirkungen dieser Entwicklung auf den Wohnungsmarkt thematisiert. Hierbei ist zu berücksichtigen, dass zwischen Wohnungsangebot und Einwohnerentwicklung eine Wechselwirkung besteht.
STADTFORSCHUNG UND STATISTIK 1|2020
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Schwerpunkt Stadt – Region.
Struktur der Region Stuttgart Die im Folgenden betrachtete Stadtregion Stuttgart, ist eine von zwölf Raumordnungs- und Planungsregionen in BadenWürttemberg. Sie umfasst die Landeshauptstadt Stuttgart sowie die fünf umliegenden Landkreise: Böblingen, Esslingen, Ludwigsburg, Göppingen und den Rems-Murr-Kreis. Mit Ausnahme des Landkreises Göppingen grenzen alle Kreise direkt an die Stadt Stuttgart an. Die regionale Kooperation wird durch den Verband Region Stuttgart und weitere regionale Institutionen organisiert. Die Region besteht aus insgesamt 179 Städten und Gemeinden mit insgesamt 2,8 Mio. Einwohnern. Das ist ein Viertel aller Einwohner Baden-Württembergs. Mit einer Einwohnerdichte von 761 Einwohnern je Quadratkilometern gehört die Region somit zu den am dichtesten besiedelten und wirtschaftsstärksten Räumen Europas. Tabelle 1: Bevölkerungsanteile der Raumtypen
Stuttgart
Anzahl
Einwohner 2018
Anteil
1
634.830
23 %
18
846.625
30%
Weitere Gemeinden des nahen Umlands bis 10 km
9
242.738
9%
Weitere Gemeinden des mittleren Umlands 10 bis 20 km
53
526.819
19 %
Weitere Gemeinden des entfernten Umlands 20 bis 50 km
98
536.712
19%
Region Stuttgart insgesamt
179
2.787.724
100 %
Mittelzentren
Die Region Stuttgart ist gekennzeichnet durch eine polyzentrale Struktur. Zur Region gehören neben dem Oberzentrum Stuttgart insgesamt 18 Mittelzentren, die über leistungsfähige Verkehrssysteme gut erreichbar sind. Außerdem entfalten sie mit ihrer Größe und Ausstattung eine eigene Attraktivität. Die Städte Ludwigsburg und Esslingen sind mit je rund 90.000 Einwohnern sogar fast Großstädte. Auf der anderen Seite haben gut zwei Drittel der Gemeinden in der Region Stuttgart weniger als 10.000 Einwohner. Die Verflechtungsbereiche von weiteren Oberzentren außerhalb der Region, wie z. B. Pforzheim, Heilbronn sowie Reutlingen/Tübingen, reichen zudem bis in die Region hinein. Der Polyzentralität der Region wird durch die Betrachtung verschiedener Raumtypen Rechnung getragen (Karte 1). Dabei unterscheiden wir zwischen dem Oberzentrum Stuttgart sowie den 18 Mittelzentren. Alle anderen Gemeinden wurden gemäß ihrer Entfernung zum Stuttgarter Stadtzentrum in drei Entfernungsklassen eingeteilt: in ein nahes Umland (angrenzende Gemeinden im 10 Kilometer-Umkreis), ein mittleres Umland (10 bis 20 Kilometer) und ein entferntes Umland (20 bis 50 Kilometer). Während die Mittelzentren mit zusammen 30 Prozent den größten Bevölkerungsanteil der Gesamtregion ausmachen, liegt der Anteil der übrigen Städte im nahen Umland nur bei knapp 10 Prozent. Die übrigen Städte und Gemeinden im mittleren und entfernteren Umland sowie die Stadt Stuttgart kommen jeweils auf zirka 20 Prozent (Tabelle 1). Dieser pragmatische Ansatz wird vor allem aufgrund der Datenverfügbarkeit gewählt und lässt sich auch durch die einheitliche Zuständigkeit der Region im Bereich der Regionalplanung begründen. Alternativ könnte es auch sinnvoll sein, die Wohnungsmarktregion Stuttgart beispielsweise über Pendlerverflechtungen abzugrenzen.
Quelle: Statistisches Landesamt Baden-Württemberg
Karte 1: Raumtypen in der Region Stuttgart
Raumtypen Besigheim
Vaihingen a.d.E.
Stuttgart
Bietigheim-Bissingen
Ludwigsburg
Backnang
Ludwigsburg
Mittelzentren weitere Gemeinden im näheren Umland (bis 10 Kilometer) weitere Gemeinden im mittleren Umland (10 bis 20 Kilometer)
Rems-Murr-Kreis
Kornwestheim
Waiblingen Fellbach
Leonberg
weitere Gemeinden im weiteren Umland (20 bis 50 Kilometer)
Schorndorf
Stuttgart
Region Stuttgart
Esslingen a.N. Göppingen
Sindelfingen
Böblingen
Böblingen
Esslingen
Kirchheim u.T. Nürtingen
Herrenberg
Göppingen
Gemeinde Mittelzentrum
Geislingen a.d.S.
20 km Umkreis vom Marktplatz Stuttgart S-Bahn Liniennetz
Quelle: Landeshauptstadt Stuttgart, Statistisches Amt Quelle: Landeshauptstadt Stuttgart, Statistisches Amt
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STADTFORSCHUNG UND STATISTIK 1|2020
Schwerpunkt Aktuelle Befunde zu Wohnungsmarkt, Pendlerbeziehungen und Bevölkerungsentwicklung
Einwohnerzuwächse in Stuttgart und der Region gleichen sich an In den vergangenen knapp 30 Jahren war die Region Stuttgart fast ausnahmslos durch eine positive Einwohnerentwicklung gekennzeichnet. Ein Bevölkerungsverlust der Gesamtregion war letztmalig in der Wirtschaftskrise des Jahres 2009 zu beobachten. Zwischen 1990 und 2018 stieg die Bevölkerungszahl um rund 300.000. Zwischen 1992 und 1999 musste die Kernstadt Stuttgart Einwohnerverluste verkraften. Das Wachstum der Region wurde in dieser Zeit allein durch die Umlandgemeinden getragen (Abb. 1). Ab Mitte der 2000er-Jahre verlagerte sich der Schwerpunkt des Bevölkerungswachstums zunehmend nach Stuttgart. Denn gut erschlossene und infrastrukturell ausgestattete urbane Wohnstandorte hatten im Zuge der so genannten Reurbanisierung gegenüber dem „Wohnen im Grünen“ massiv an Bedeutung gewonnen (Schmitz-Veltin 2012). Auch das Bevölkerungswachstum der Mittelstädte zog ab Ende der 2000er-Jahre an. Seit dem Jahr 2000 erzielten ebenso die an die Kernstadt direkt angrenzenden Gemeinden des nahen Umlands durchgehend hohe Einwohnergewinne. Dagegen blieben die Zugewinne des mittleren und entfernten Umlands, die in den 1980er und 1990er Jahren noch äußerst dynamisch waren, nun hinter den Werten von Kernstadt, nahem Umland und Mittelzentren zurück.
Abbildung 1: Prozentuale Veränderung der Bevölkerungszahl Prozentuale Veränderung der Bevölkerungszahl der Gemeinden der Region Stuttgart nach Raumtypenzwischen der Gemeinden der Region Stuttgart nach Raumtypen zwischen 1990 und 2018 (über 5-Jahre geglättet) 1990 und 2018 (über 5 Jahre geglättet) 1,4%
Die deutlichen Einwohnerzuwächse Stuttgarts führten dazu, dass auch der Bevölkerungsanteil der Landeshauptstadt an der Gesamtregion seit 2004 zunimmt. Seit 2013 gilt das auch für die Mittelstädte. Das nahe Umland gewann im Gesamtzeitraum Bevölkerungsanteile hinzu, während der Bevölkerungsanteil des mittleren und des entfernten Umlands an der Gesamtbevölkerung der Region seit nunmehr fünfzehn Jahren zurückgeht (Abb. 2). Zwischen 2015 und 2018 verschob sich das Wachstum wieder stärker in das Umland. Während der Einwohnerzuwachs in der Landeshauptstadt, ihrem nahen Umland und den Mittelstädten der Region etwas nachgelassen hat, ist er im mittleren und entfernten Umland konstant geblieben. Anders als in den Jahren vor 2005 wächst die Einwohnerzahl jedoch nicht im ländlich geprägten Umland am stärksten, sondern vor allem dort, wo die Infrastrukturen und die Anbindung nach Stuttgart gut ausgebaut sind. Karte 2 fasst diese Entwicklungen noch einmal zusammen. Die Bevölkerung nahm zwischen 2012 und 2018 insbesondere in den unmittelbaren Nachbargemeinden, den Mittelzentren und den verkehrstechnisch gut erschlossenen Gemeinden entlang der Schnellstraßen und S-Bahn-Trassen zu. Hierzu gehören mit den Städten Böblingen, Sindelfingen, Ludwigsburg und Backnang eine Reihe von Mittelzentren. Konstante Einwohnerzahlen oder leichte Verluste wurden dagegen vor allem im Norden und Osten des Rems-Murr-Kreis sowie in einigen Gemeinden des Landkreises Göppingen registriert.
Abbildung 2: Veränderung des Bevölkerungsanteils der Raumtypen an der Bevölkerungszahl der Region Stuttgart insgesamt in Veränderung des Bevölkerungsanteils der Raumtypen an der Bevölkerungszahl der Region 1990 Stuttgartund insgesamt Prozentpunkten zwischen 2018in (über 5 Jahre geglättet) Prozentpunkten zwischen 1990 und 2018 (über 5-Jahre geglättet)
0,15
1,2%
0,10
1,0% 0,8%
0,05
0,6% 0,00
0,4% 0,2%
-0,05
0,0%
-0,10
-0,2%
2018
2016
2014
2012
2010
2008
2006
2004
2002
2000
1998
1996
1994
-0,20
1992
2018
2016
2014
2012
2010
2008
2006
2004
2002
2000
1998
1996
1994
1992
1990
-0,6%
1990
-0,15
-0,4%
Stuttgart
Stuttgart
Mittelzentren
Mittelzentren
weitere Gemeinden im nahen Umland (bis 10 Kilometer)
weitere Gemeinden im nahen Umland (bis 10 Kilometer)
weitere Gemeinden im mittleren Umland (10 bis 20 Kilometer)
weitere Gemeinden im mittleren Umland (10 bis 20 Kilometer)
weitere Gemeinden im entfernten Umland (20 bis 50 Kilometer)
weitere Gemeinden im entfernten Umland (20 bis 50 Kilometer)
Gesamtregion
Quelle: Statistisches Landesamt Baden-Württemberg, Quelle: Statistisches Landesamt Baden-Württemberg, eigene Berechnungen eigene Berechnungen
Quelle: Statistisches Landesamt Baden-Württemberg, eigene Berechnungen
Quelle: Statistisches Landesamt Baden-Württemberg, eigene Berechnungen
STADTFORSCHUNG UND STATISTIK 1|2020
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Schwerpunkt Stadt – Region.
Karte 2: Entwicklung der Bevölkerungszahl in den Gemeinden der Region Stuttgart zwischen 2012 und 2018 Einwohnerentwicklung 2012 bis 2018 in Prozent Besigheim
Vaihingen a.d.E.
bis unter -2
Bietigheim-Bissingen
Ludwigsburg
Backnang
Ludwigsburg
-2 bis unter 0 0 bis unter 2
Rems-Murr-Kreis
Kornwestheim
2 bis unter 4
Waiblingen Leonberg
4 bis unter 6
Schorndorf
Fellbach
6 bis unter 8
Stuttgart
8 und mehr
Esslingen a.N. Göppingen
Sindelfingen
Region Stuttgart: 5,3
Böblingen
Böblingen
Esslingen
Kirchheim u.T. Nürtingen
Göppingen
Region ohne Stuttgart: 5,1 Geislingen a.d.S.
Herrenberg
Stadt-/ Landkreis Gemeinde S-Bahn Liniennetz Quelle: Statistisches Landesamt Baden-Württemberg, eigene Berechnungen
Quelle: Statistisches Landesamt Baden-Württemberg, eigene Berechnungen
Karte 3: Durchschnittliches jährliches Wanderungssaldo mit Stuttgart je 1.000 Einwohner der jeweiligen Gemeinde zwischen 2013 und 2018 Durchschnittliches jährliches Wanderungssaldo mit Stuttgart je 1000 Einwohner der jeweiligen Gemeinde 2013 bis 2018
Besigheim
Vaihingen a.d.E.
Bietigheim-Bissingen
Ludwigsburg
Backnang
Ludwigsburg
bis unter -1 -1 bis unter 0
Rems-Murr-Kreis
Kornwestheim
0 bis unter +1 Waiblingen
Fellbach
Leonberg
+1 bis unter +2
Schorndorf
+2 bis unter +3
Stuttgart
+3 und mehr
Esslingen a.N. Göppingen
Sindelfingen
Böblingen
Böblingen
Esslingen
Kirchheim u.T. Nürtingen
Herrenberg
Göppingen
Region Stuttgart: + 1,7 Geislingen a.d.S.
Stadt-/ Landkreis Gemeinde S-Bahn Liniennetz Quelle: Landeshauptstadt Statistisches Amt; Quelle: Landeshauptstadt Stuttgart, Statistisches Amt; Statistisches Landesamt Stuttgart, Baden-Württemberg Statistisches Landesamt Baden-Württemberg
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STADTFORSCHUNG UND STATISTIK 1|2020
Schwerpunkt Aktuelle Befunde zu Wohnungsmarkt, Pendlerbeziehungen und Bevölkerungsentwicklung
von 1990 bis 2018 500
0
-500
-1.000
-1.500
2018
2016
2014
2012
2010
2008
2006
2004
2002
2000
1998
1996
-2.500
1994
-2.000
1992
Trotz ihrer insgesamt positiven Einwohnerentwicklung, die neben einer positiven natürlichen Entwicklung vor allem von Wanderungsgewinnen aus dem In- und Ausland getragen wird, verliert die Stadt Stuttgart durch Fortzugsüberschüsse Einwohner an ihr Umland. In den Jahren 2013 bis 2018 verlor sie im Saldo rund 23.000 Einwohner an die Region. Hierbei zeigen sich ähnliche Strukturen wie bei der Betrachtung der Bevölkerungsentwicklung der Region insgesamt. Stuttgarter ziehen insbesondere in das nähere Umland der Stadt sowie in die Mittelzentren und in weitere Orte mit einer guten S-BahnAnbindung (Karte 3). Am stärksten von den intraregionalen Wanderungen zwischen Stuttgart und seinem Umland profitieren bis 2013 die direkt an die Landeshauptstadt angrenzenden Gemeinden des näheren Umlands. Seitdem ist der Wanderungsverlust Stuttgarts an die Mittelzentren am höchsten (Abb. 3). Zwischen Mitte der 1990er Jahre bis ins Jahr 2010 gingen die Wanderungsverluste insbesondere mit den Gemeinden im Umkreis zwischen 10 und 20 km immer weiter zurück. In den 1990er Jahren profitierten diese weiter entfernt liegenden Gemeinden stärker von Fortzügen aus dem Zentrum, weil sich hier der Wunsch nach einem Eigenheim noch vergleichsweise einfach verwirklichen ließ und die damit verbundenen hohen Fahrtkosten und -zeiten in Kauf genommen wurden. In den 2000er Jahren hingegen zeigte sich immer mehr der Trend zur Reurbanisierung der Kernstadt Stuttgart und die Fortzüge in die weiteren Umlandgemeinden nahmen ab. Bereits seit 2010 haben die Wanderungsverluste Stuttgarts an die Region jedoch wieder zugenommen. Denn die Fortzüge aus Stuttgart sind in diesem Zeitraum wesentlich stärker gestiegen als die Zuzüge aus der Region. Getragen wurde diese Entwicklung vor allem von Familien. So sind seit 2010 fast ausschließlich die Wanderungsverluste Stuttgarts in der Altersgruppe der 30- bis 45-Jährige und der der Kinder unter 18 an das Umland gestiegen. Insbesondere in die Mittelzentren weicht diese Personengruppe zunehmend aus. Lag der Verlust Stuttgarts an die Mittelzentren bei diesen Altersgruppen im Jahr 2010 noch bei insgesamt 408, betrug er 2015 1 502 Personen. Gleichzeitig ziehen per Saldo etwas weniger junge Erwachsene zwischen 18 und 30 Jahren aus der Region in die Stadt als um das Jahr 2010 herum. Diese Entwicklung kann darauf zurückgeführt werden, dass die Mieten an zentralen Standorten besonders stark gestiegen waren und sich die Suche nach Wohnraum zu einem immer größeren Problem in Stuttgart entwickelte. Die aktuellste Stuttgarter Bürgerumfrage zeigte, dass die Bevölkerung sehr unzufrieden mit den Bedingungen am Wohnungsmarkt ist (Heinsohn und Schütt in diesem Heft). Zu hohe Mieten und fehlende Wohnungen werden in den Befragungen regelmäßig als zentrale Probleme wahrgenommen (Bartz 2015). In der Bürgerumfrage 2019 rangierten beide Themen erstmals an der Spitze der größten Stadtprobleme (Landeshauptstadt Stuttgart 2019). Viele, die sich eine Wohnung im Stuttgarter Zentrum nicht mehr leisten können, weichen auf Wohnstandorte im Umland aus. Stuttgart ist angesichts der knappen Flächen für den Wohnungsbau zunehmend nicht mehr in der Lage, die stetig wachsende Zahl der Einwohner mit Wohnraum zu versorgen.
Abbildung 3: Wanderungssaldo der Stadt Stuttgart mit den unWanderungssaldo der Gesamtstadt mit den unterschiedlichen Raumtypen der Region terschiedlichen Raumtypen der Region von 1990 bis 2018
1990
Starke Abwanderung aus Stuttgart ins Umland
Mittelzentren weitere Gemeinden im nahen Umland (bis 10 km) weitere Gemeinden im mittleren Umland (10 bis 20 km) weitere Gemeinden im entfernten Umland (20 bis 50 km)
Quelle: Landeshauptstadt Stuttgart, Statistisches Amt Quelle: Landeshauptstadt Stuttgart, Statistisches Amt
Seit 2016 haben sich die Wanderungsverluste Stuttgarts gegenüber seinem Umland wieder etwas abgeschwächt. So stieg der Gesamtsaldo der Kernstadt mit der Region von – 4.400 im Jahr 2015 auf – 3.000 im Jahr 2018. Bis auf sehr entfernte Gemeinden traf dies alle vier der untersuchten Raumtypen. Dennoch war in den Jahren 2013 bis 2017 die Wanderungsbilanz Stuttgarts mit der Region im Vergleich zu den vorangegangenen Jahrzehnten extrem negativ. Ähnliche hohe Verluste erfuhr Stuttgart zuletzt Mitte der 1990er Jahre.
Verknappung des Wohnungsangebots in der Region Der Wohnungsbestand in der Region Stuttgart umfasst rund 1,3 Mio. Wohnungen. Mit zunehmender Entfernung vom Stuttgarter Stadtzentrum nimmt der Anteil von Familienhäusern und Eigentümern in der Region stetig zu. Während die Quote der Wohnungen in Ein- und Zweifamilienhäusern in der Stadt Stuttgart bei rund 16 Prozent liegt, machen Familienhäuser im näheren Umland Stuttgarts und in den Mittelzentren rund 35 Prozent aus, im mittleren Umland schon 50 Prozent. In den übrigen Gemeinden im weiteren, ländlich geprägten Umland befinden sich gut 64 Prozent aller Wohnungen in Ein- und Zweifamilienhäusern. Im Jahr 2009 war der Stuttgarter Wohnungsmarkt noch annähernd ausgeglichenen. Die seither beobachteten Einwohnerzuwächse in der Region bedeuten nicht nur für die Kernstadt, sondern auch für die Städte im Umland, dass sie sich
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Schwerpunkt Stadt – Region.
Abbildung 4: Baufertigstellungen je 1.000 Einwohner in der Reum eine entsprechende Ausweitung des Wohnungsangebots gion Stuttgart nach Raumtypen bemühen müssen. Nach der Wirtschaftskrise 2009 und mit der Baufertigstellungen je 1 000 Einwohner in der Region Stuttgart nach Raumtypen steigenden Wohnungsnachfrage legte der Wohnungsneubau Fertiggestellte Wohnungen in der Region Stuttgart wieder zu. Im Schnitt der vergangenen je 1 000 Einwohner fünf Jahre wurden jährlich knapp 8.000 neue Wohnungen ge8 baut. In den vergangenen drei Jahren zog der Wohnungsbau in der Region jedoch nicht weiter an und hinkt der Dynamik 7 bei der Wohnraumnachfrage hinterher. Im Verhältnis zur Einwohnerzahl (Baufertigstellungen je 6 1.000 Einwohner) lag die Bautätigkeit in der Stadt Stuttgart bis 2010 deutlich unter den Fertigstellungen in der übrigen 5 Region. Wegen der anziehenden Nachfrage werden in Stutt4 gart seither wieder mehr Wohnungen gebaut und die Fertigstellungen erreichten in den vergangenen Jahren das Niveau 3 der gesamten Region. Insgesamt variierte die Bauintensität – bei großen jährlichen Schwankungen – zuletzt kaum mehr 2 zwischen den Raumtypen (Abb. 4). Dies deutet darauf hin, dass die Akzeptanz von Neubau1 vorhaben inzwischen auch in den näheren Umlandgemein0 den und Mittelzentren sinkt und die Bautätigkeit auch hier an 2015 2018 2000 2005 2010 ihre Grenzen stößt. Dies gilt insbesondere für den Geschosswohnungsbau, der vor allem in den Umlandgemeinden der Stuttgart Mittelzentren wenig politische Unterstützung erfährt. Noch Mittelzentren immer wird hier häufig an der klassischen Bauform der frühen weitere Gemeinden im näheren Umland (bis 10 Kilometer) Suburbanisierungsphase festgehalten: dem (freistehenden) weitere Gemeinden im mittleren Umland (10 bis 20 Kilometer) Einfamilienhaus (für Gutverdienende) (Unterreiner 2019). weitere Gemeinden im weiteren Umland (20 bis 50 Kilometer) Der Eigenheimsektor dominiert nach wie vor den WohRegion Stuttgart nungsbau in der Region Stuttgart: Rund drei Viertel der neu Quelle: Statistisches Landesamt Baden-Württemberg Quelle: Statistisches Landesamt Baden-Württemberg entstandenen Wohngebäude sind Ein- oder Zweifamilienhäuser. Anders sehen die Anteile aus, wenn man nicht die Gebäude, sondern die Wohnungen betrachtet. Hier kommt dem Geschosswohnungsbau die größte Bedeutung zu: In den letzten fünf Jahren wurden etwa zwei Drittel aller Wohnungen in neuen Wohngebäuden in Mehrfamilienhäusern gebaut. Der eher flächenintensive Bau von Ein- und Zweifamilienhäusern findet vor allem in den ländlich geprägten Kommunen der Region statt, während im ersten und zweiten Ring um Abbildung 5: Baufertigstellungen von Wohngebäuden nach Ge- in derinRegion Wohnungen in neu errichteten Ein-, Zweiund Mehrfamilienhäusern Stuttgart Stuttgart vor allem Geschosswohnungen gebaut werden. Das bäudeart in der Region Stuttgart Eigenheim ist nach wie vor ein Grund für Familien, ins weitere Wohnungen Umland zu ziehen. In Zukunft muss aber auch in kleineren Ge7.000 meinden viel stärker auf den Geschosswohnungsbau gesetzt werden, um den benötigten Wohnraum zu schaffen und die Einfamilienhäuser Flächeninanspruchnahme in Maßen zu halten. Zuletzt hat der 6.000 Zweifamilienhäuser Geschosswohnungsbau an Bedeutung gewonnen (Abb. 5). Die Mehrfamilienhäuser Fertigstellungen reichen insgesamt jedoch nicht aus, um die 5.000 derzeitige Nachfrage zu decken. Die Siedlungsentwicklung in der Region Stuttgart wird 4.000 im Rahmen der Regionalplanung vom Verband der Region Stuttgart koordiniert. Mit dem Regionalplan erfolgt eine lang3.000 fristige Flächenvorsorge. Der aktuelle Regionalplan sieht in allen Gemeinden einen Flächenzuwachs für die Wohnbauentwicklung vor. Die zuwandernden Menschen sind allerdings 2.000 vor allem im Kern der Region unterzubringen, da dort die Arbeitsplätze und eine gute Infrastrukturausstattung vorhan1.000 den sind. Daher sollen neue Wohnungen bevorzugt in Städten und Gemeinden entlang der S-Bahn-Linien („Entwicklungs0 achsen“) entstehen. Hierzu weist der Verband 41 regionale 2000 2005 2010 2015 2018 Schwerpunkte des Wohnungsbaus aus. Aktuell stehen mit Quelle: Statistisches Landesamt Baden-Württemberg rund 2 000 Hektar genügend Wohnbauflächen in der Region Quelle: Statistisches Landesamt Baden-Württemberg
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STADTFORSCHUNG UND STATISTIK 1|2020
Schwerpunkt Aktuelle Befunde zu Wohnungsmarkt, Pendlerbeziehungen und Bevölkerungsentwicklung
Abbildung 6: Entwicklung der Angebotsmieten in der Region Stuttgart
zur Verfügung (Verband Region Stuttgart 2018). Diese würde insgesamt für 190.000 zusätzliche Einwohner ausreichen. Der Regionalverband konstatiert allerdings seit einigen Jahren ein „Umsetzungsproblem“: Neben der schleppenden Aktivierung von Bauland (Bebauungsplanung, Erschließung und Erteilung von Baurecht) komme ein Engpass bei den Planungskapazitäten hinzu, die einer raschen Bearbeitung von Bauleitplanverfahren des Öfteren im Wege stehen (Verband Region Stuttgart 2018). Außerdem hemmen Widerstände bei den betroffenen Anwohnern in den jeweiligen Quartieren den Wohnungsbau. Die hohe Wohnungsnachfrage lässt auch in der übrigen Region Stuttgart die Mietpreise kräftig steigen. Die Nachfrageüberhänge führen in den Gemeinden im näheren Stuttgarter Umland zu Mietenniveaus von inzwischen über 11 Euro je m2. Entlang des S-Bahn-Netzes erreichen die Angebotsmieten bis weit in das Umland Niveaus von über 10 Euro je m2 (bspw. in Bietigheim-Bissingen, Kirchheim unter Teck und Weil der Stadt). Die Wohnungsengpässe der Region entspannen sich erst im dritten Ring um Stuttgart: In den ländlichen Gemeinden der weiteren Region werden Mietwohnungen deutlich günstiger angeboten, zumeist für unter 9 Euro je m2 (Karte 4). Bei der Betrachtung des typischen Preisgefälles von der Kernstadt Stuttgart ins Umland ist zu berücksichtigen, dass einige Mittelzentren in der Region über eigene Attraktivität verfügen. So fallen die Kreisstadt Ludwigsburg und ihr Umland mit einem eigenen Stadt-Land-Gefälle auf. In Stuttgart setzten hohe Mietensteigerungen bereits im Jahr 2012 ein. Im Umland lassen sich diese erst seit 2015 beobachten. Durch diese Entwicklung vergrößerte sich der Preisabstand zwischen Stuttgart und dem Umland. Aktuell wird
Angebotsmieten in der Region Stuttgart nach Raumtypen seit 2009
Angebotsmiete nettokalt in Euro je m2 15 14 13 12 11 10 9 8 7 6 5 1. Hj 1. Hj 1. Hj 1. Hj 1. Hj 1. Hj 1. Hj 1. Hj 1. Hj 1. Hj 1. Hj 2009 2010 2011 2012 2013 2014 2015 2016 2017 2018 2019 Stuttgart Mittelzentren weitere Gemeinden im näheren Umland (bis 10 Kilometer) weitere Gemeinden im mittleren Umland (10 bis 20 Kilometer) weitere Gemeinden im weiteren Umland (20 bis 50 Kilometer) Quelle: Eigene Berechnung auf Basis von Immobilienscout24.de-Inseraten
Quelle: Statistisches Landesamt Baden-Württemberg
Karte 4: Angebotsmieten von Wohnungen in der Region Stuttgart Mitte 2017 bis Mitte 2019 Wiedervermietungsmieten (nettokalt) Mitte 2017 bis Mitte 2019 in Euro/m² Besigheim
Vaihingen a.d.E.
bis unter 9
Bietigheim-Bissingen
Ludwigsburg
Backnang
Ludwigsburg
9 bis unter 10 10 bis unter 11
Rems-Murr-Kreis
Kornwestheim
11 bis unter 12
Waiblingen Fellbach
Leonberg
12 und mehr Schorndorf
Fallzahl zu gering
Stuttgart Esslingen a.N. Göppingen
Sindelfingen
Region Stuttgart: 11,50 Euro/m²
Böblingen Herrenberg
Böblingen
Esslingen
Kirchheim u.T. Nürtingen
Göppingen
Region ohne Stuttgart: 10,50 Euro/m² Geislingen a.d.S.
Stadt-/ Landkreis Gemeinde S-Bahn Liniennetz
Quelle: Eigene Berechnung auf Basis von Immobilienscout24.de-Inseraten Quelle: Eigene Berechnung auf Basis von Immobilienscout24.de-Inseraten
STADTFORSCHUNG UND STATISTIK 1|2020
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Schwerpunkt Stadt – Region.
eine Mietwohnung in der Landeshauptstadt durchschnittlich rund 2,50 Euro/m2 teurer angeboten, als in den Städten im 1. Ring um Stuttgart. Seit Mitte 2018 hat nun die Dynamik bei der Mietenentwicklung in der Kernstadt nachgelassen, so dass gegenwärtig die Angebotsmieten im Umland stärker steigen als in der Stadt Stuttgart und sich auch hier die Mieten an die hohe Nachfrage anpassen. In Verbindung mit den hohen Mietenniveaus verdeutlicht dies, dass auch in den Mittelzentren und in den Gemeinden im näheren und mittleren Umland wegen des Nachfrageüberhangs die Mietensituation angespannt ist.
Künftig weiter steigende Wohnungsnachfrage in der Region Vor dem Hintergrund der derzeit festzustellenden hohen Anziehungskraft der Kernstadt Stuttgart kann davon ausgegangen werden, dass die Einwohnerzahl in den nächsten Jahren weiter wachsen wird. Grundvoraussetzung dafür ist eine weiterhin gute Wirtschaftslage und ein entsprechendes Wohnungsangebot. Bei rund 2.000 fertiggestellten Wohnungen pro Jahr würde die Einwohnerzahl der Stadt Stuttgart bis 2030 um rund 38.000 Menschen (+ 6 %) steigen (Haußmann et al. 2019). Ob dieser Wert ausreicht, um die Nachfrage zu befriedigen, erscheint fraglich. Somit wird es in den kommenden Jahren weiterhin verstärkt darauf ankommen, den entstandenen Wohnraummangel regional zu lösen. Weiterhin werden viele Menschen nach Stuttgart ziehen und wiederum auch viele Haushalte in preisgünstigere Wohnstandorte in der übrigen Region ausweichen und der Druck auf das Umland hoch bleiben. Da sich jedoch auch in den gut erschlossenen Gemeinden im direkten Stuttgarter Umland und in den Mittelzentren der Region steigende Miet- und Kaufpreise zeigen, könnte es zu einer weiteren Verschiebung der Wanderungen an weiter entfernte Standorte kommen.
Fazit und Ausblick Die seit fast zwei Jahrzehnten anhaltende Reurbanisierung sorgt für einen ungebrochenen Boom auf dem Wohnungsmarkt der Region Stuttgart. Nach Prognosen der Stadt Stuttgart und des Statistischen Landesamtes werden die Ein-
wohnerzahlen in Stuttgart und den Gemeinden der übrigen Region auch künftig steigen. Nennenswerte Wanderungsgewinne verzeichnet die Region insgesamt derzeit jedoch nur noch aus dem Ausland. Vor allem in der Kernstadt Stuttgart wird das Wohnungsangebot der Nachfrage gegenwärtig nicht mehr gerecht. Die Stadt Stuttgart wird aufgrund ihrer hohen Attraktivität in den nächsten Jahren entsprechend der zusätzlich geschaffenen Wohnungen weiterwachsen, kann aufgrund von Flächenengpässen beim Wohnungsbau ihre Wachstumspotenziale jedoch alleine kaum mehr lösen. Dies hat zur Folge, dass die Mieten und Immobilienpreise weiter steigen und die Wanderungsbewegungen von der Kernstadt in das Umland wieder zugenommen haben. Vor allem für junge Familien ist die Attraktivität suburbaner Wohnstandorte wegen der hohen Wohnkosten in der Kernstadt gestiegen. Diese wiedererstarkten Suburbanisierungstendenzen überlagern derzeit die Reurbanisierung und haben einen Entlastungseffekt für den Wohnungsmarkt der Kernstadt. Sollte sich der Nachfrageüberhang in der Kernstadt spürbar abbauen, dürften auch diese Ausweichbewegungen in das Umland jedoch wieder nachlassen. Von den aktuellen Suburbanisierungstendenzen profitieren, im Gegensatz zur klassischen Suburbanisierung des letzten Jahrhunderts, vor allem die Mittelzentren und verkehrstechnisch gut erschlossene Mittelstädte entlang der Schnellstraßen und S-Bahn-Trassen. Die Mittelzentren verfügen über viele Angebote, die Urbanität und Attraktivität erzeugen, haben aber im Vergleich zur Kernstadt Stuttgart geringere Verkehrsbelastungen und Wohnkosten. Gleichwohl nimmt die Wohnungsknappheit im näheren Stuttgarter Umland und in den Mittelzentren zu, so dass die Mieten und Immobilienpreise auch hier bereits ein hohes Niveau erreicht haben. Dies könnte eine weitere Verschiebung der Wanderungen an weiter entfernte Standorte zur Folge haben. Die Region Stuttgart leidet gegenwärtig unter den wachstumsbedingten Belastungen: Steigende Wohnkosten, überlasteter Verkehr und begrenzte Akzeptanz für Neubauvorhaben könnten in den kommenden Jahren zu einer nachlassenden Wachstumsdynamik führen. Die Entwicklung von Wohnbauflächen in der Region stagnierte zuletzt. Damit sich die Versorgungssituation nicht weiter zuspitzt, müssen deutlich mehr Geschosswohnungen entlang der regionalplanerisch ausgewiesenen Entwicklungsachsen in der Region entstehen.
Literatur Bartz (2015): Die sechs größten Stadtprobleme aus Sicht der Stuttgarter/-innen im Zeitvergleich. In: Statistik und Informationsmanagement, Monatsheft 10/2015; S. 279. Haußmann, Michael; Mäding, Attina, SchmitzVeltin Ansgar (2019): Einwohnerprognose 2018 bis 2030 Annahmen und Ergebnisse für Stuttgart. In: Statistik und Informationsmanagement, Monatsheft 1/2019; S. 4–27. Heinsohn, Till; Schütt, Fabian (2020): Über den Wunsch im Umland zu wohnen. Einblicke aus
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der Stuttgarter Bürgerumfrage. In: Stadtforschung und Statistik, Heft 1/2020; S. 37–43. Landeshauptstadt Stuttgart (2019): Bürgerumfrage 2019 zeigt hohe Zufriedenheit mit Lebensqualität in Stuttgart. Pressemeldung vom 15.09.2019. Schmitz-Veltin (2012): Bevölkerungsdynamik und Wanderungen in der Stadtregion Stuttgart – Von der Sub- zur Reurbanisierung? In: Statistik und Informationsmanagement, Monatsheft 4/2012; S. 129–149.
STADTFORSCHUNG UND STATISTIK 1|2020
Unterreiner, Frank Peter (2019): Hauptproblem: Eigeninteresse der Umlandgemeinden. In: Immobilienbrief Stuttgart Nr. 269 vom 05.11.2019; S. 2–7. Verband Region Stuttgart (2018): Bedarfsgerechte Wohnraumbereitstellung – Zwischenbericht zu den bisherigen Aktivitäten des Verbands im Rahmen des „Aktionsprogramm Wohnen“ und künftige Schwerpunktsetzungen. Sitzungsvorlage Nr. 285/2018, Planungsausschuss am 11.07.2018. Stuttgart.
Schwerpunkt Aktuelle Befunde zu Wohnungsmarkt, Pendlerbeziehungen und Bevölkerungsentwicklung
Till Heinsohn und Fabian Schütt
Über den Wunsch lieber im Umland zu wohnen Einblicke aus der Stuttgarter Bürgerumfrage
Stuttgarterinnen und Stuttgarter zieht es zuletzt vermehrt ins Umland. Über die Ursachen ist jedoch kaum etwas bekannt. Entsprechend befasst sich dieser Beitrag mit den Faktoren, die einen Einfluss auf den Wunsch haben lieber im Umland zu wohnen. Die Studie bedient sich dazu der Bürgerumfrage aus dem Jahr 2019. Die Beurteilung der Lebensqualität erweist sich als stärkster Treiber. Darüber hinaus stellt die Zufriedenheit mit der Wohngegend eine einflussreiche Erklärung dar. Ohne Erklärungskraft sind die berücksichtigten äußeren Bedingungen Luftqualität, Lärmbelastung, Wohnungsangebot und Mieten. Diese werden von der Bevölkerung zwar als Problem wahrgenommen, die Vorteile, die das Wohnen in Stuttgart mit sich bringt, scheinen aber zu überwiegen. Zumindest äußern jene Befragte nicht vermehrt den Wunsch lieber im Umland zu wohnen.
Dr. Till Heinsohn Politikwissenschaftler, Dr. rer. soc., Sachgebietsleiter für Sozial- und Personalstatistik beim Statistischen Amt der Landeshauptstadt Stuttgart. : till.heinsohn@stuttgart.de Fabian Schütt Geograph, Sachgebietsleiter für Geographische Informationen beim Statistischen Amt der Landeshauptstadt Stuttgart. : fabian.schütt@stuttgart.de Schlüsselwörter: Stadt – Umland – Wohnen – Bürgerumfrage – Rational-Choice
Einleitung Die Landeshauptstadt Stuttgart verliert seit Jahrzehnten Einwohner an die umliegenden Landkreise. Im Durchschnitt beträgt der jährliche Saldo mehr als 3000 Personen (seit 2012). Im Jahr 2016 lag der Differenzbetrag bereits bei über 4000 Bürgerinnen und Bürgern. Für das aktuelle Jahr darf angenommen werden, dass die Abwanderung ins Umland ähnlich hoch ausfällt. Im Unterschied zu früheren Jahren wird dieser Verlust jedoch nicht mehr so stark durch Wanderungsgewinne aus dem Ausland und anderen Teilen Deutschlands ausgeglichen. Entsprechend ist zu erwarten, dass die Anzahl der Fortzüge die Anzahl der Zuzüge übersteigt. Dies würde einer Zäsur gleichkommen, da Stuttgart in den vergangenen 10 Jahren stets ein deutliches Wachstum aufgrund von Wanderungen verzeichnete. In Anbetracht dieser neuen Entwicklung geht der vorliegende Beitrag der Frage nach, welche Faktoren einen Einfluss auf den Wunsch der Bürgerinnen und Bürger haben lieber im Umland zu wohnen. Die Datengrundlage für diese quantitative Analyse liefert die repräsentative Bürgerumfrage aus dem Jahr 2019. Zufällig ausgewählte Stuttgarterinnen und Stuttgarter wurden unter anderem dazu befragt, ob sie gerne in Stuttgart leben oder ob sie lieber woanders (u. a. im Umland) wohnen würden. Folglich handelt es sich um eine Umfrage unter Personen, deren Hauptwohnsitz sich zum Befragungszeitpunkt in Stuttgart befand. Die Motive jener, die die Stadt bereits in Richtung Umland (und darüber hinaus) verlassen haben, werden in dieser Analyse nicht beleuchtet. Dies liegt zum einen darin begründet, dass in Stuttgart keine aktuellen Informationen über die Beweggründe der Verzogenen existieren. Zum anderen sind Informationen über bereits Verzogenen auch von geringerem Interesse. Denn mit Blick auf die Verwertung der gewonnenen Erkenntnisse durch kommunalpolitische Entscheidungsträger dürften die Motive derjenigen, die noch in Stuttgart wohnen, aber den Wunsch hegen ins Umland zu ziehen, den weitaus interessanteren Ansatzpunkt darstellen. Hier sind Maßnahmen und Stellschrauben denkbar, die bei denjenigen ansetzen, die Stuttgart noch nicht den Rücken gekehrt haben. Der nachfolgende Abschnitt befasst sich mit der theoretischen Einbettung ausgewählter Faktoren, die den Wunsch im Umland zu wohnen möglicherweise bedingen. Daran anschließend folgen Ausführungen zur Methodik der Bürgerumfrage und den multiplen logistischen Regressionsmodellen.
STADTFORSCHUNG UND STATISTIK 1|2020
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Schwerpunkt Stadt – Region.
Die Darstellung und Interpretation der Regressionsergebnisse erfolgt in erster Linie über die Ausweisung vorhergesagter Wahrscheinlichkeiten. Abschließend werden die gewonnenen Erkenntnisse bewertet und eingeordnet.
Rationale Motivlagen im Fokus Der Wunsch lieber im Umland zu wohnen kann vielfältige und komplexe Ursachen haben. Emotionale und rationale Motivlagen sind hier gleichermaßen denkbar. Dennoch konzentrieren wir uns nachfolgend ausschließlich auf rationale Motive. Diesem Vorgehen liegen unterschiedliche Überlegungen und Restriktionen zu Grunde: Zunächst müssen wir feststellen, dass die Bürgerumfrage der Stadt Stuttgart nicht explizit für die Beantwortung der hier aufgeworfenen Forschungsfrage konzipiert wurde. Vielmehr ist die vorliegende Analyse als Beifang einer Befragung mit viel breiterem Interesse zu sehen. Unabhängig davon gleicht die Abbildung emotionaler Motive in quantitativen Befragungen einer Herkulesaufgabe. Dies betrifft zum einen die Komplexität solche Motivlagen abzubilden. Zum anderen lassen sich emotionale Entscheidungen ungleich schwieriger verallgemeinern als dies bei rational basierten Entscheidungsprozessen und unter Zuhilfenahme eines etablierten Ansatzes der Fall ist. In der Absicht den Rational-Choice-Ansatz auf unsere Fragestellung zu adaptierend, setzten wir uns nachfolgend bewusst dem Vorwurf der Unterkomplexität aus. Im Wissen darum, dass Menschen nur begrenzt rational handeln und der Wunsch nach Wohnen im Umland ebenso emotionaler Natur sein kann, halten wir den Rational-Choice-Ansatz dennoch für ein tragfähiges theoretisches Gerüst. Laut Rational-Choice-Ansatz basieren individuelle Handlungen immer auf rationalen oder vernünftigen Handlungsentscheidungen (Diefenbach 2009: 239). Eine Hilfestellung, die eine Vorhersage darüber ermöglicht, für welche Handlung sich ein Akteur entscheiden wird, stellt die Wert-Erwartungstheorie dar. Sie geht davon aus, dass „ein Akteur genau die Alternative wählt, bei der die (…) Nutzenerwartung maximiert wird“ (Esser 1999: 248). Wenden wir die Wert-Erwartungstheorie auf unsere Fragestellung an, so ersetzt der Wunsch die Handlung. Ein Akteur wird also genau dann den Wunsch im Umland zu wohnen hegen, wenn er sich dadurch die Verbesserung seiner Situation erhofft. Im Unterschied zur tatsächlichen Handlung – in unserem Fall dem Umzug – kommt beim alleinigen Wunsch hinzu, dass dieser zunächst mit keinerlei Kosten oder Mühen verbunden ist. Der Rational-Choice-Logik folgend, werden in einem nächsten Schritt die Argumentationsmuster möglicher Treiber eines solchen Wunsches vorgestellt. Hierbei wird zwischen soziodemographischen Merkmalen, der individuellen Wohnsituation und äußeren Einflüssen unterschieden. Soziodemografische Merkmale können den Wunsch im Umland zu wohnen befördern oder ihm entgegenstehen. Mit Blick auf das Lebensalter wäre etwa zu vermuten, dass ältere Personen die kurzen Wege in der Stadt eher schätzen und nicht missen wollen. Des Weiteren dürfte eine Rolle spielen, dass ältere Menschen den Aufwand eines Umzuges eher scheuen. Dabei spielt sicherlich mit hinein, dass die Hürden neue soziale Kontakte zu knüpfen im Alter höher sind. Ent-
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STADTFORSCHUNG UND STATISTIK 1|2020
sprechend gehen wir davon aus, dass der Wunsch im Umland zu wohnen mit zunehmendem Lebensalter geringer ausfällt. Darüber hinaus ist zu erwarten, dass Personen in einem Haushalt mit Kleinkind(ern) tendenziell eher den Wunsch hegen könnten im Umland zu wohnen. Denn Wohnen auf dem Land verspricht ein „Häusle mit Garten“ und bedeutet insbesondere für Familien mit Kleinkindern der Dichte und den Gefahren der Stadt zu entfliehen. Die in dieser Phase der Familiengründung in Aussicht gestellte Geborgenheit überlagert die mit einem Umzug aufs Land einhergehenden Einbußen. Eine schlechtere Infrastruktur und längere Wege machen sich dann erst mit zunehmendem Alter der Kinder bemerkbar. Für die individuelle Wohnsituation der Befragten steht zu vermuten, dass auch diese einen Einfluss auf den Wunsch im Umland zu wohnen haben könnte. Die Wohnsituation umfasst dabei zum einen die Wohnlage. Wie in jeder Stadt existieren auch in Stuttgart bessere und schlechtere Lagen. Die Halbhöhenlage, welche sich durch eine überdurchschnittlich hohe Kaufkraft auszeichnet, gilt gemeinhin als beste Stuttgarter Wohnlage.1 In Abbildung 1 ist diese rot hervorgehoben. Im Vergleich hierzu können das innere und äußere Stadtgebiet als schlechtere Lagen bezeichnet werden. Unter Bewohnern besserer Lagen dürfte der Wunsch lieber im Umland zu wohnen folglich geringer ausfallen. Für Befragte, die in schlechteren Lagen wohnen, wird hingegen angenommen, dass diese vermehrt den Wunsch in sich tragen lieber im Umland zu wohnen um damit ihre Wohnsituation zu verbessern. Neben der Wohnlage könnte der Wohndauer in Stuttgart eine entscheidende Bedeutung als ein möglicher Treiber zukommen. Denn es ist davon auszugehen, dass mit steigender Wohndauer auch die Verbundenheit mit der Stadt wächst und die Anzahl sozialer Kontakte zunimmt. Entsprechend hoch wären die in Kauf zu nehmenden Nachteile eines Umzugs aufs Land. Beträgt die Wohndauer hingegen erst wenige Jahre, so dürfte der Tren-
Abbildung 1: Unterscheidung der Wohngebiete nach Lagen
Schwerpunkt Aktuelle Befunde zu Wohnungsmarkt, Pendlerbeziehungen und Bevölkerungsentwicklung
nungsschmerz weniger stark ausfallen und der Wunsch nach einem Umzug möglicherweise einen größeren Raum einnehmen. Zudem dürfte das Wohnverhältnis eine einflussreiche Größe darstellen. So wäre zu vermuten, dass der Wunsch im Umland zu wohnen unter Mietern höher ausfällt als unter Eigentümern. Dieser Vermutung erscheint plausible, da davon auszugehen ist, dass Mieter ihre Zelte schneller und mit weniger Aufwand abbrechen können. Zudem könnte eine mögliche Sehnsucht nach Wohneigentum, welche sich am ehesten noch im Umland bedienen lässt, eine treibende Kraft unter Mietern darstellen. Richten wir unser Augenmerk auf die Zufriedenheit mit der Wohngegend wäre zu vermuten, dass der Wunsch nach einer räumlicheren Veränderung stark mit der Zufriedenheit korreliert. Für Befragte, die angeben sehr zufrieden mit ihrer Wohngegen in Stuttgart zu sein, ist nicht anzunehmen, dass sie vermehrt den Wunsch hegen lieber im Umland zu wohnen. Lässt die Zufriedenheit mit der Wohngegend aber zu wünschen übrig, so ist davon auszugehen, dass unter den Betroffenen auch verstärkt über Wohnen im Stuttgarter Umland nachgedacht wird. Etwas allgemeiner als die spezifische Zufriedenheit mit der Wohngegend ist die Beurteilung der Lebensqualität in Stuttgart. Wird die allgemeine Lebensqualität von einer befragten Person hoch eingeschätzt, so ist tendenziell nicht davon auszugehen, dass diese Person sich wünscht lieber im Umland zu wohnen. Sollte die individuelle Beurteilung der Lebensqualität in Stuttgart hingegen schlecht ausfallen, dann dürfte für die entsprechende Person der Wunsch nach einer räumlichen Veränderung mit einer höheren Wahrscheinlichkeit eine Rolle spielen. Zuletzt wird äußeren Einflüssen eine potenzielle Wirkung auf den Wunsch lieber im Umland zu wohnen zugeschrieben. In Stuttgart von besonderer Aktualität und Bedeutung sind die Bereiche Umwelt und Wohnen. Wird die Luftqualität in Stuttgart von einer befragten Person als sehr großes Problem wahrgenommen, so könnte man annehmen, dass der Wunsch lieber im Umland zu wohnen bei dieser Person tendenziell ausgeprägter ist. Denn die Qualität der Luft sollte im Umland besser als in der Stuttgarter Kessellage sein. Für eine Person, die in der Luftqualität in Stuttgart kein Problem sieht, ist ein solcher Effekt hingegen nicht zu erwarten. Ein ähnliches Argumentationsmuster liegt der Bewertung der Lärmbelastung zugrunde. Unter der Annahme, dass die Lärmbelastung im Umland geringer ausfällt, wäre insbesondere dann mit einem Effekt zu rechnen, wenn eine Person die Lärmbelastung als Problem einstuft. Denn in diesem Fall würde ein Umzug ins Umland die Situation dieser Person entscheidend verbessern. Mit Blick auf das Wohnungsangebot in Stuttgart ist zu erwarten, dass Personen, die darin ein sehr großes Problem sehen, eher den Wunsch hegen ins Umland zu ziehen. Wird das Woh-
nungsangebot hingegen als weniger problematisch bewertet, dann verspricht ein Umzug ins Umland auch diesbezüglich keine Verbesserung. Schließlich dürften die Mieten einen Einfluss mit potentieller Wirkung darstellen. Werden die Mieten in Stuttgart als Problem wahrgenommen, so sollte der Wunsch lieber im Umland zu wohnen, und damit dem Stuttgarter Mietpreisniveau zu entfliehen, für die entsprechende Person in der Tendenz höher ausfallen. Wird die Höhe der Mieten hingegen nicht als Problem angesehen, so dürften sich diesbezügliche Umzugswünsche in Grenzen halten.
Stichprobe und methodisches Vorgehen Die repräsentative Bürgerumfrage der Stadt Stuttgart liefert alle zwei Jahre Einblicke in die Einstellungen und das Meinungsbild der Stadtbevölkerung. Auf Grundlage der Einwohnermeldedatei wird eine Zufallsstichprobe aus den mindestens 18 Jahre alten Bürgerinnen und Bürgern mit Hauptwohnsitz in Stuttgart gezogen. Die zufällig Ausgewählten werden mit der Bitte um freiwillige Teilnahme kontaktiert. Diese kann schriftlich oder online erfolgen. Mit dem Ziel einer umfassenderen Ausschöpfung werden zwei Erinnerungsschreiben zur Teilnahme an die Probanden versandt und der Verlosungsgewinn von Gutscheinen in Form von Eintrittskarten für städtische Einrichtungen und Veranstaltungen in Aussicht gestellt. Im Rahmen der Bürgerumfrage 2019 wurden 9415 Stuttgarterinnen und Stuttgarter postalisch kontaktiert – 3863 Personen haben sich an der freiwilligen Umfrage beteiligt. Die Rücklaufquote lag damit bei 41 Prozent. Dies entspricht in etwa dem Rücklauf, der auch bei den vergangenen Befragungen erzielt werden konnte. Die Zusammensetzung der Stichprobe lässt sich mit der amtlichen Einwohnermeldestatistik der Stuttgarter Gesamtbevölkerung hinsichtlich Alter, Geschlecht und Staatsangehörigkeit vergleichen. Die gezogene Stichprobe bildet die Stuttgarter Gesamtbevölkerung mit zwei Einschränkungen zufriedenstellend ab. Zum einen betrifft dies jüngere Personen (18 bis 29 Jahre). Mit einem Anteil von 15 Prozent in der Stichprobe und einem Anteil von 21 Prozent in der Gesamtbevölkerung sind jüngere Personen in der Stichprobe leicht unterrepräsentiert. Zum anderen liegt der Anteil der Personen ohne deutsche Staatsangehörigkeit in der Gesamtbevölkerung mit 27 Prozent um 15 Prozent höher als in der Befragung. Diese Einschränkungen entsprechen denen anderer Befragungen. Gleichwohl gilt es sie im Fortgang im Auge zu behalten. Die zu erklärende Variable wird über ein Item im Fragebogen gemessen, bei welchem sich die Befragten hinsichtlich der Frage positionieren sollen, ob sie gerne in Stuttgart oder lieber woanders wohnen würden.
Tabelle 1: Operationalisierung der abhängigen Variable Leben Sie eigentlich gerne in Stuttgart oder würden Sie lieber woanders wohnen, wenn Sie es sich aussuchen könnten? Ich lebe gerne in Stuttgart Ich würde lieber im Umland wohnen
( ) (x)
N = 3082 N = 233
0 1
Ich würde lieber woanders wohnen Ich würde lieber im Ausland wohnen
( ) ( )
N = 358 N = 121
-
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Schwerpunkt Stadt – Region.
In einem ersten Schritt wird der Datensatz um diejenigen Personen bereinigt, die angeben lieber woanders oder im Ausland zu wohnen. Für die Untersuchung sind diese Personen nicht relevant. Die verbliebenen Befragten leben entweder gerne in Stuttgart (N = 3082; codiert mit 0) oder würden lieber im Umland wohnen (N = 233; codiert mit 1). Umfassende Angaben zur Operationalisierung der insgesamt elf erklärenden Variablen finden sich in Tabelle 3 im Anhang. Mit Blick auf die mitunter geringe Anzahl der Fälle in einzelnen Subgruppen sind hier jedoch vereinzelt Anpassungen erforderlich. Mit dem Ziel robuster Vorhersagen werden die Subgruppen mit entsprechend geringer Fallzahl (N < 100) zusammengeführt. In der Tabelle 3 sind diese farblich hinterlegt. Die dichotome Ausprägung der zu erklärenden Variable erfordert ein multiples logistisches Regressionsmodell. Im Unterschied zu einer bivariaten Analyse (Kreuztabellierung, Korrelation) besteht der Vorteil einer multiplen (logistischen) Regression darin, dass sie den Einfluss eines einzelnen Merkmals (z. B. des Lebensalters) auf eine zu erklärende Variable (z. B. den Wunsch lieber im Umland zu Wohnen) unter Konstanthaltung der anderen Einflussgrößen im Modell (z. B. Wohnlage, Luftqualität, Mieten etc.) schätzt. Die nachfolgende Analyse wählt einen schrittweisen Zugang. Zunächst werden separate Berechnungen für die soziodemografischen Merkmale (Modell A), für die individuelle Wohnsituation (Modell B) und für die äußeren Einflüsse (Modell C) durchgeführt. Die hierbei als statistisch signifikant identifizierten Faktoren werden in ein abschließendes Modell D überführt (siehe Tabelle 2). Da sich die logistischen Regressionskoeffizienten nur bedingt interpretieren lassen, werden für all jene Faktoren, die ihre statistische Signifikanz in Modell D unter Beweis gestellt haben, vorhergesagte Wahrscheinlichkeiten mit 95%-Konfidenzintervallen ausgegeben. Diese lassen sich hinsichtlich ihrer Effektstärke wesentlich besser interpretieren (siehe Abbildungen 2 und 3).
Analyse Die in Modell D gewonnenen Erkenntnisse liefern die zuvor in Aussicht gestellten Einblicke in die rationalen Motivlagen der Bürgerinnen und Bürger in Stuttgart. Dies gilt zum einen für jene Faktoren, die sich im Zuge des mehrstufigen Analyseverfahrens als einflussreiche Treiber des Wunsches lieber im Umland zu wohnen offenbart haben. Gleichermaßen von Interesse sind jedoch auch die Faktoren, denen entgegen der theoretischen Argumentation kein signifikanter Effekt nachgewiesen werden konnte. Dies gilt zum Beispiel für die Unterscheidung zwischen besseren und schlechteren Wohnlagen. Allem Anschein nach spielt es für den Wunsch lieber im Umland zu wohnen keine Rolle, ob eine befragte Person in der Stuttgarter Halbhöhenlage oder im restlichen Stadtgebiet sesshaft ist. Ebenso macht es den Erkenntnissen der Analyse zur Folge keinen Unterschied, ob jemand zur Miete oder im Eigentum wohnt. Mit Blick auf die äußeren Einflüsse können wir darüber hinaus feststellen, dass weder der Luftqualität, der Lärmbelastung, dem Wohnungsangebot noch den Mieten ein signifikanter Einfluss nachgewiesen werden kann. Der im Modell C geschätzte signifikante Effekt der Luftqualität löst sich unter Kontrolle der übrigen Faktoren in Modell D auf. Hieraus schließen wir, dass die Bereiche Wohnen und Umwelt in der öffentlichen und politischen Debatte zwar einen hohen Stellenwert einnehmen und als Problem wahrgenommen werden, die Vorteile, die das Wohnen in Stuttgart mit sich bringt, allem Anschein nach aber überwiegen. Wenden wir uns den fünf Faktoren zu, denen in unserer Analyse ein statistisch signifikanter Effekt nachgewiesen werden kann, so haben wir es mit drei eher schwachen und zwei sehr robusten Treibern zu tun. Zu den eher schwachen Effekten gehört das Lebensalter. Unter Konstanthaltung der in Modell D berücksichtigten alternativen Erklärungsfaktoren beträgt
Tabelle 2: Multiple Regressionsanalyse Modell A Intercept Lebensalter Haushalt mit Kleinkind(ern) Wohnlage Wohndauer in Stuttgart Wohnverhältnis Zufriedenheit mit der Wohngegend Lebensqualität in Stuttgart Luftqualität Lärmbelastung Wohnungsangebot Mieten AIC BIC Log Likelihood Deviance N
Modell B
1.10 ***
(.02)
-0.03 *** 0.04 **
(.00) (.02)
299.28 323.63 -145.64 208.71 3260
1.56 ***
-0.01 -0.01 -0.01 -0.04 -0.09
*** *** ***
-188.76 -146.63 101.38 166.39 3038
Modell C (.03)
(.01) (.00) (.01) (.01) (.01)
0.93 ***
0.02 0.01 0.01 0.01
***
Modell D (.03)
(.00) (.00) (.01) (.01)
1.50
***
(.04)
-0.01 0.03
* *
(.01) (.02)
-0.01
*
(.00)
-0.05 -0.09 0.00
*** ***
(.01) (.01) (.00)
468.53 504.38 -228.27 199.03 2905
Anmerkung: logistische Regressionskoeffizienten mit Standardfehlern in Klammern; *** p < 0.001, ** p < 0.01, * p < 0.05.
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STADTFORSCHUNG UND STATISTIK 1|2020
-165.74 -117.83 90.87 162.34 2949
Schwerpunkt Aktuelle Befunde zu Wohnungsmarkt, Pendlerbeziehungen und Bevölkerungsentwicklung
Abbildung 2: Vorhergesagte Wahrscheinlichkeiten auf Grundlage der Berechnungen in Modell D
die vorhergesagte Wahrscheinlichkeit lieber im Umland zu wohnen in der Gruppe der 18- bis 29-Jährigen 6,4 Prozent. Ziehen wir in Betracht, dass die Anzahl derer, die lieber im Umland wohnen würden, insgesamt sehr gering ausfällt, gewinnt dieser, auf den ersten Blick niedrige Prozentwert etwas an Gewicht. Hinzu kommt die Beobachtung, wonach die Wahrscheinlichkeit lieber im Umland zu wohnen mit zunehmendem Alter signifikant abnimmt. In der Gruppe der über 64-Jährigen liegt die vorhergesagte Wahrscheinlichkeit lediglich bei 2,9 Prozent. Dies entspricht angestellten der theoretischen Vermutung. Gleichwohl fällt der substanzielle Effekt zwischen der jüngsten und der ältesten Gruppe mit 3,5 Prozentpunkten relativ gering aus. Auch die Annahme, wonach der Wunsch im Umland zu wohnen unter Personen in einem Haushalt mit Kleinkindern größer ist, findet empirische Bestätigung in unsere Analyse. Unter Konstanthaltung der alternativen Erklärungen im Modell beläuft sich die vorhergesagte Wahrscheinlichkeit für Personen mit mindestens einem Kind unter 4 Jahre auf 5,6 Prozent. Die vorhergesagte Wahrscheinlichkeit für Personen in Haushalten ohne Kleinkind beträgt hingegen nur 4 Prozent. Analog zum Lebensalter fällt der substantielle Effekt mit 1,6 Prozentpunkten auch hier sehr gering aus. Dennoch handelt es sich bei Kleinkindern offensichtlich um einen statistisch signifikanten Treiber des Wunsches lieber im Umland zu wohnen. Die eigentliche Effektstärke ist aber gering. Gleiches gilt für die Wohndauer in Stuttgart. Unter Konstanthaltung der berücksichtigten Faktoren nimmt die vorhergesagte Wahrscheinlichkeit einer Person lieber im Umland zu wohnen mit zunehmender Wohndauer in Stuttgart ab. Während Bürgerinnen und Bürger mit einer Wohndauer von maximal fünf Jahren den Umzug aufs Land mit einer vorhergesagten Wahrscheinlichkeit von 6,2 Prozent herbeiwünschen, beträgt die vorhergesagte Wahrscheinlichkeit für Personen, die bereits über 30 Jahre in Stuttgart wohnen lediglich 3,3 Prozent. Auch dieser Zusammenhang entspricht der zuvor auf-
gestellten theoretischen Vermutung. Der substantielle Effekt fällt mit 2,9 Prozentpunkten aber ebenfalls sehr gering aus. Ein etwas anderes Bild zeigt sich mit Blick auf die Zufriedenheit mit der Wohngegend. Hier haben wir es mit einem statistisch hoch signifikanten und ausgesprochen robusten Effekt zu tun. Befragte Personen, die mit ihrer Wohngegend (sehr) unzufrieden sind, weisen unter Konstanthaltung der im Modell berücksichtigten alternativen Erklärungen eine vorhergesagte Wahrscheinlichkeit lieber im Umland zu wohnen von 13,8 Prozent auf. Bei Personen, die mit ihrer Wohngegend in Stuttgart hingegen sehr zufrieden sind, liegt die vorhergesagte Wahrscheinlichkeit nur bei 2,5 Prozent. Dies entspricht der eingangs formulierten theoretischen Vermutung und stellt einen substantiellen Effekt von 11,3 Prozentpunkten dar. Trotz dieses Effektes überrascht etwas, dass die vorhergesagte Wahrscheinlichkeit des Wunsches lieber im Umland zu wohnen unter den (sehr) Unzufriedenen bei nur 13,8 Prozent liegt.
STADTFORSCHUNG UND STATISTIK 1|2020
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Schwerpunkt Stadt – Region.
Abbildung 3: Vorhergesagte Wahrscheinlichkeiten auf Grundlage der Berechnungen in Modell D
Hinsichtlich der Beurteilung der allgemeinen Lebensqualität in Stuttgart zeigt sich schließlich ein bemerkenswerter Zusammenhang. Unter Konstanthaltung der im Modell berücksichtigten alternativen Erklärungen beträgt die vorhergesagte Wahrscheinlichkeit einer Person, die die Lebensqualität in Stuttgart (sehr) schlecht einstuft 40,7 Prozent. Wird die allgemeine Lebensqualität in Stuttgart hingegen als sehr gut bewertet, so beträgt die vorhergesagte Wahrscheinlichkeit lieber im Umland zu wohnen lediglich 0,9 Prozent. Dies entspricht einem substantiellen Effekt von 39,8 Prozentpunkten. Damit stellt die Beurteilung der Lebensqualität den stärksten Treiber unter den berücksichtigten Faktoren dar. Das verhältnismäßig breite Konfidenzintervall der Ausprägung „(sehr) schlecht“ liegt in der geringen Fallzahl der bereits zusammengefassten Subgruppe (N = 88) begründet. Auf die statistische Signifikanz des Zusammenhangs hat dies jedoch keine Auswirkung.
Abschließende Bewertung und Einordnung Stuttgart ist eine ausgesprochen lebenswerte Stadt. Über 80 Prozent der zuletzt repräsentativ befragten Bürgerinnen und Bürger geben an, gerne in Stuttgart zu leben. Selbst unter jenen, die mit ihrer Wohngegend (sehr) unzufrieden sind, beträgt die vorhergesagte Wahrscheinlichkeit sich lieber ins Umland zu orientieren nicht einmal 14 Prozent. Dennoch nehmen die Wanderungsbewegungen ins Umland zu. Dies lässt sich dadurch erklären, dass zu denjenigen, die sich einen Umzug wünschen und dann auch in die Tat umsetzten, jene kommen, die sich zu einem Umzug ins Umland gezwungen sehen. Auch wenn hierüber keine empirisch belastbaren Informationen vorliegen, steht zu vermuten, dass die angespannte Wohnungsmarktsituation und die hohen Lebenshaltungskosten in Stuttgart ihren Beitrag dazu leisten.
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STADTFORSCHUNG UND STATISTIK 1|2020
Hinsichtlich der hier nachgewiesenen Effekte sticht die Einschätzung der Lebensqualität in Stuttgart hervor. Personen, die die Lebensqualität (sehr) schlecht bewerten, ziehen mit einer vorhergesagten Wahrscheinlichkeit von über 40 Prozent einen Umzug ins Umland in Erwägung. Tatsächlich ist diese Erkenntnis wenig überraschend. Viel interessanter erscheinen jene Faktoren, denen kein Effekt nachgewiesen werden kann. Zuvorderst betrifft dies die äußeren Einflüsse. Die Luftqualität, die Lärmbelastung, das Wohnungsangebot und die Mieten werden von der Bevölkerung zwar nachweislich als Belastung angesehen, die Vorteile, die das Wohnen in Stuttgart bietet, scheinen aber weiterhin zu überwiegen. Zumindest äußern jene Befragten nicht vermehrt den Wunsch lieber im Umland zu wohnen. Möglicherweise spielt hierbei aber eine Rolle, dass Luft, Lärm und Wohnungsmarkt auch im Umland zunehmend zum Problem werden und ein Umzug nicht zwangsläufig mit einer Verbesserung der individuellen Situation einhergehen würde. Die Herausforderungen, welchen es bei zukünftigen Untersuchungen dieser Art zu begegnen gilt sind mannigfaltig: Zunächst wäre es wünschenswert eine solche Fragestellung mit Hilfe eines explizit hierfür konstruierten Fragebogens zu beantworten. Insbesondere sollte hierbei darauf geachtet werden, jüngere Personen und Bürgerinnen und Bürger ohne deutsche Staatsangehörigkeit besser abzubilden. Unabhängig davon wären Überlegungen anzustellen, die die Vorteile einer quantitativen Befragung gegen die Vorteile eines qualitativen Vorgehens abwägen. Motivationale Faktoren wären mittels qualitativen Herangehensweisen sicher besser abzubilden. In diesem Zusammenhang wäre auch über eine Befragung der Verzogenen nachzudenken. Dies würde für kommunalpolitische Entscheidungsträger zwar bedeuten, dass sie ihre Maßnahmen und Stellschrauben auf Grundlage des gewonnenen Wissens über bereits Verzogenen begründen, hätte aber den Vorteil, auch Informationen über die Motivlager jener zu
Schwerpunkt Aktuelle Befunde zu Wohnungsmarkt, Pendlerbeziehungen und Bevölkerungsentwicklung
erhalten, die sich gezwungen sahen die Stadt in Richtung Umland zu verlassen. Mit Ausnahme eine Befragung aus dem Jahr 1997 wissen wir über diese Gruppe bislang kaum etwas. Der in Befragungen allgegenwärtigen Herausforderung der sozialen Erwünschtheit, also der Problematik, dass Befragte bevorzugt Antworten geben könnten, von denen sie glauben, sie träfen eher auf soziale Zustimmung des Interviewenden als die wahre Antwort, wäre aber auch damit nicht begegnet.
Anhang
1
Internetquelle: https://www.stadtklima-stuttgart.de/stadtklima_ filestorage/download/Rahmenplan-Halbhoehenlagen-2008.pdf (aufgerufen am 10.12.2019).
Literatur Diefenbach Heike (2009): Die Theorie der Rationalen Wahl oder „Rational Choice“-Theorie (RCT). In: Brock, Ditmar et al. (Hrsg.): Soziologische Paradigmen nach Talcott Parsons. VS Verlag für Sozialwissenschaften. Wiesbaden. Esser, H. (1999): Soziologie: Allgemeine Grundlagen. 3. Auflage. Frankfurt am Main.
Tabelle 3: Operationalisierung der unabhängigen Variablen Variable
Fragestellung
Codierung Ausprägung
Fallzahl
Lebensalter
In welchem Jahr sind Sie selbst geboren?
1 2 3 4
18 bis 29 Jahre 30 bis 44 Jahre 45 bis 64 Jahre 65 Jahre und älter
N = 562 N = 997 N = 1308 N = 927
Haushalt mit Kleinkind(ern) Geburtsjahre aller weiteren Haushaltsmitglieder?
1 2
Trifft nicht zu Mind. ein Kind unter 4 Jahre
N = 3559 N = 304
Wohnlage
Verschneidung mit Geokoordinaten
1 2
Inneres und äußeres Stadtgebiet N = 3395 Halbhöhenlage N = 467
Wohndauer in Stuttgart
Seit wann leben Sie in Stuttgart?
1 2 3 4 5
Bis zu 5 Jahre 6 bis 10 Jahre 11 bis 20 Jahre 21 bis 30 Jahre Über 30 Jahre
N = 529 N = 352 N = 578 N = 580 N = 1599
Wohnverhältnis
Wohnen Sie mit Ihrem Haushalt zur Miete oder im 1 Eigentum? 2
Mieter Eigentümer
N = 2175 N = 1638
Zufriedenheit mit der Wohngegend
Wie zufrieden oder unzufrieden sind Sie ganz 1 allgemein mit Ihrer Wohngegend, in der Sie leben? 1
Sehr unzufrieden Unzufrieden
N = 41 N = 133
2 3 4
Teils/teils Zufrieden Sehr zufrieden
N = 562 N = 1657 N = 1442
1 1
Sehr schlecht Schlecht
N = 11 N = 77
2 3 4
Teils/teils Gut Sehr gut
N = 700 N = 2347 N = 626
Lebensqualität in Stuttgart Wie beurteilen Sie alles in allem die Lebensqualität in Stuttgart?
Luftqualität
Was sind Ihrer Meinung nach zurzeit die größten Probleme in Stuttgart?
1 2 3 4 5
Überhaupt kein Problem Eher ein geringes Problem Teils/teils Eher ein großes Problem Sehr großes Problem
N = 270 N = 627 N = 1089 N = 859 N = 918
Lärmbelastung
Was sind Ihrer Meinung nach zurzeit die größten Probleme in Stuttgart?
1 2 3 4 5
Überhaupt kein Problem Eher ein geringes Problem Teils/teils Eher ein großes Problem Sehr großes Problem
N = 105 N = 375 N = 833 N = 1181 N = 1277
Wohnungsangebot
Was sind Ihrer Meinung nach zurzeit die größten Probleme in Stuttgart?
1 1
Überhaupt kein Problem Eher ein geringes Problem
N = 39 N = 110
2 3 4
Teils/teils Eher ein großes Problem Sehr großes Problem
N = 440 N = 953 N = 2036
1 1
Überhaupt kein Problem Eher ein geringes Problem
N = 50 N = 98
2 3 4
Teils/teils Eher ein großes Problem Sehr großes Problem
N = 335 N = 841 N = 2300
Mieten
Was sind Ihrer Meinung nach zurzeit die größten Probleme in Stuttgart?
STADTFORSCHUNG UND STATISTIK 1|2020
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Schwerpunkt Stadt – Region.
Carolina Föhl
Wer zieht nach Heidelberg und wer aus Heidelberg weg? Und welche Rolle spielen große Neubauprojekte? In den letzten Jahren gab es in deutschen Städten wieder vermehrt ein Bevölkerungswachstum. Interessant ist dabei vor allem die Frage: Wodurch entsteht Bevölkerungswachstum? Die Bevölkerung wächst entweder durch einen positiven Wanderungssaldo oder durch einen Geburtenüberschuss. Dieser Artikel nimmt beide Phänomene, Wanderungssaldo und natürlichen Saldo (Geburten abzüglich Sterbefälle), in den Blick, wobei der Fokus auf dem Wanderungssaldo liegt. Es gilt zu beleuchten was Wanderungsströme beeinflusst – wer wandert, in welcher Lebensphase und wohin?1
Carolina Föhl Master of Arts Soziologie, wissenschaftliche Mitarbeiterin und stellvertretende Abteilungsleiterin im Amt für Stadtentwicklung und Statistik der Stadt Heidelberg : carolina.foehl@heidelberg.de Schlüsselwörter: Außenwanderung – Bevölkerungsentwicklung – Demografie – Heidelberg – Neubaugebiet – natürlicher Saldo – Wanderungsmotiv – Wanderungssaldo – Wanderungsvolumen
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STADTFORSCHUNG UND STATISTIK 1|2020
Wanderungsströme und natürliche Salden beeinflussen nicht nur die Gesamteinwohnerzahl der Gemeinden, sondern auch in besonderem Maße deren Zusammensetzung, beispielsweise hinsichtlich der Altersstruktur, wodurch sich auch spezifische Anforderungen an die Infrastruktur der Stadt ergeben. Gleichzeitig können Zuwanderungen spezifischer Gruppen bedeuten, dass eine Stadt für diese Gruppen bereits besonders attraktive Angebote bereithält. Sind dagegen große Abwanderungstendenzen einer bestimmten Gruppe festzustellen, können für diese Gruppe ungünstige Infrastrukturangebote ein Abwanderungsauslöser sein. Die demografischen Entwicklungen reichen mit ihren Auswirkungen in viele gesellschaftspolitische Themenfelder hinein: den Bedarf an kommunaler Infrastruktur wie Kindergärten, Schulen und Pflegeeinrichtungen, das Verkehrsaufkommen, die technische Infrastruktur und vieles weitere. Auch die in Heidelberg sehr hohe Zahl an Zu- und Wegzügen bringt spezifische Anforderungen an die Stadtgesellschaft mit sich. Wanderungen, Bevölkerungszusammensetzung und Bereitstellung von Infrastruktur sind dementsprechend immer gemeinsam zu betrachten. In den, in diesem Artikel enthaltenen Analysen von Wanderungsströmen werden Bevölkerungsgruppen identifiziert, die in besonders großer Zahl nach Heidelberg ein oder auswandern. Wohin ziehen diese Personengruppen? Welche Motive stecken hinter der Wanderung? Es schließen sich Überlegungen zu Handlungsbedarf an. Wie kann das Wanderungsverhalten beeinflusst werden? Für Planungs- und Gestaltungsaufgaben ist die Kenntnis der demografischen Prozesse unerlässlich, um sich rechtzeitig auf Veränderungen einzustellen beziehungsweise Maßnahmen zu entwickeln, die unerwünschte Folgen abmildern. Um die aufgeworfenen Fragen näher zu beleuchten, wurden sowohl Daten des statistischen Landesamts BadenWürttemberg als auch kleinräumig verfügbare Daten des Einwohnermelderegisters ausgewertet. Daten des statistischen Landesamts wurden verwendet, um Vergleiche zwischen Stadtkreisen und anderen Regionen durchführen zu können. Alle anderen Analysen basieren auf dem Einwohnermelderegister. In Heidelberg gilt es, beim Thema Wanderungen eine Besonderheit zu beachten: Das Erstregistrierungszentrum des Landes Baden-Württemberg befindet sich seit Herbst 2015 auf Heidelberger Gemarkung und seit Mai 2016 werden dort die nach Deutschland Geflüchteten melderechtlich erfasst. Durch die sehr hohe Fluktuation im Erstregistrierungszentrum (die Personen werden zügig auf andere Gemeinden verteilt)
Schwerpunkt Aktuelle Befunde zu Wohnungsmarkt, Pendlerbeziehungen und Bevölkerungsentwicklung
stiegen die Wanderungszahlen in Heidelberg in den Jahren 2016 und 2017 deutlich an. Um jedoch die allgemeinen Wanderungen untersuchen und beschreiben zu können, werden in dieser Studie die im Erstregistrierungszentrum erfassten Geflüchteten nicht berücksichtigt. Aus den Daten des statistischen Landesamts können sie jedoch nicht herausgerechnet werden, wodurch es zu Abweichungen zwischen den Daten des statistischen Landesamts und der eigenen Fortschreibung aus dem Melderegister kommen kann. Das Hauptaugenmerk des Artikels liegt auf Entwicklungen in Heidelberg. Analysiert wird, welche Personengruppen nach Heidelberg wandern und welche aus Heidelberg fort, wohin sie gehen, beziehungsweise woher sie kommen und welche Motive dahinterstecken könnten.
Abbildung 1: Wanderungssaldo und natürlicher Saldo 2012 bis 2017 e e eg
e ee
e
eg
e
e
e
e
e
e
e
e
e 10.000 W
Großes Bevölkerungswachstum in Heidelberg insbesondere durch Wanderungsgewinne Nach der amtlichen Einwohnerzahl des Statistischen Landesamts hatte Heidelberg Ende 2017 160.601 Einwohner. Gegenüber 2011 ist die Heidelberger Bevölkerung um 8,2 Prozent gewachsen. Dies entspricht einer Zunahme von rund 12.200 Personen. Im Betrachtungszeitraum hat Heidelberg im Vergleich mit den anderen Land- und Stadtkreisen der Region Rhein-Neckar (in Baden-Württemberg) das größte Bevölkerungswachstum zu verzeichnen. Zu großen Teilen geht dieses Bevölkerungswachstum auf Wanderungsgewinne zurück, gleichzeitig hat Heidelberg auch, anders als zum Beispiel Mannheim, einen positiven natürlichen Saldo, wodurch die Bevölkerung zusätzlich wächst. Wie aus Abbildung 1 ersichtlich wird ist Heidelberg in den letzten Jahren maßgeblich durch einen positiven Wande-
0
eu g
10.000 2012
20.000
2017
ü
30.000
40.000
e
2012
50.000
60.000
2017
Quelle: Statistisches Landesamt Baden-Württemberg, Berechnungen des Amts für Stadtentwicklung und Statistik, Heidelberg 2018.
rungssaldo gewachsen. Heidelberg ist eine Durchgangsstadt: Jährlich ziehen durchschnittlich rund 17.600 Personen nach Heidelberg und rund 16.100 Personen verlassen gleichzeitig die Stadt. Betrachtet man den Bevölkerungsbestand am 31. Dezember 2017 hinsichtlich des Zuzugsdatums in die Gemeinde zeigt sich, dass seit dem 1. Januar 2010 bis Jahresende 2017 knapp die Hälfte der Heidelberger Bevölkerung neu von außerhalb in die Stadt gezogen ist oder hier geboren wurde. Dieser große Wechsel in der Bevölkerung stellt eine Herausforderung für die Stadtentwicklung und insbesondere für die Versorgung mit Wohnraum dar. Eine der zentralen Fragen ist dabei, woher kommen diese Personen und wohin wandern gleichzeitig Heidelberger ab?
Abbildung 2: Entwicklung der Zahl der jährlichen Zu- und Wegzüge* in Heidelberg seit 2010 25.000
20.000 17.796
17.354
15.342 13.441
19.299
18.985
18.077
16.122
14.223
15.000
18.732
15.883
17.526
18.363 17.975
16.327
14.370
10.000
5.000
0 2010
2011
2012
2013
2014
Zuzüge
Wegzüge
2015
2016
2017
* bezogen auf die Wohnbevölkerung, jeweils vom 1. Januar 2010 bis 31. Dezember 2017. Quelle: Stadt Heidelberg, Amt für Stadtentwicklung und Statistik, eigene Fortschreibung, 2018.
STADTFORSCHUNG UND STATISTIK 1|2020
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Schwerpunkt Stadt – Region.
Abbildung 3: Entwicklung des Wanderungssaldos* zwischen Heidelberg und ausgewählten Regionen 2010 bis 2017 3.000 2.500 2.000 1.500 1.000 500 0 500 1.000 1.500 2.000
2010
e
e
2011 e
e e u ge
2012
u
ge
2013 e
e
2014
2015
2016
We e e u e
e u ge
2017 ge
* bezogen auf die Wohnbevölkerung, jeweils vom 1. Januar 2010 bis 31. Dezember 2017. Quelle: Stadt Heidelberg, Amt für Stadtentwicklung und Statistik, eigene Fortschreibung, 2018.
Abbildung 4: Entwicklung des Wanderungssaldos* zwischen Heidelberg und Städten und Gemeinden nach deren Größe 2010 bis 2017 3.000 2.500 2.000 1.500 1.000 500 0
2010
2011
2012
2013
2014
2015
2016
2017
500 1.000 1.500 2.000 e e e e
500.000 u e e 100.000 u e 200.000 e u e 100.000 e
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200.000 u e 500.000 e u ge u
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* bezogen auf die Wohnbevölkerung, jeweils vom 1. Januar 2010 bis 31. Dezember 2017. Quelle: Stadt Heidelberg, Amt für Stadtentwicklung und Statistik, eigene Fortschreibung, 2018.
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STADTFORSCHUNG UND STATISTIK 1|2020
Schwerpunkt Aktuelle Befunde zu Wohnungsmarkt, Pendlerbeziehungen und Bevölkerungsentwicklung
Wanderungsgewinne vor allem durch Fernwanderung Heidelberg gewinnt im Betrachtungszeitraum Einwohner aus Fernwanderungen und Gemeinden, mit weniger als 200.000 Einwohnern hinzu. Dagegen verliert Heidelberg im Saldo Einwohner an den Nahbereich und an große Städte. Abbildung 3 zeigt, dass Heidelberg per Saldo im Betrachtungszeitraum nur an den Rhein-Neckar-Kreis, Mannheim und nach Unbekannt Einwohner verliert. Innerhalb von acht Jahren hat Heidelberg im Saldo 4.600 Personen an das engere Umland verloren. Aus dem weiteren Umland (+ 1.600 Personen) und aus der Fernwanderung (+ 19.000 Personen) gewann Heidelberg dagegen deutlich mehr Einwohner hinzu als es an das engere Umland verlor. Bemerkenswert ist dabei auch, dass Heidelberg mittlerweile durch Fernwanderungen aus dem Ausland (+ 12.600) knapp doppelt so viele Personen hinzugewinnt wie durch Fernwanderungen aus dem Inland (+ 6.700). Menschen auf der Flucht, die im Erstregistrierungszentrum des Landes (das sich in Heidelberg befindet) erfasst wurden, wurden wie eingangs beschrieben aus den Analysen herausgenommen.
Insgesamt hatte Heidelberg im Untersuchungszeitraum einen Zuwanderungsgewinn von 11.900 Einwohnern. Im Vergleich zu den Jahren vor 2000 hat sich das Wanderungsvolumen enorm erhöht. Im Jahr 2017 hat sich die positive Bilanz der Jahre 2010 bis 2016 jedoch wieder abgeschwächt. Es bleibt abzuwarten, wie sich die Wanderungsströme in den nächsten Jahren entwickeln werden. Besonders viele Einwohner hat Heidelberg per Saldo an Gemeinden verloren, die unmittelbar ans Stadtgebiet angrenzen, Leimen (- 790), Dossenheim (- 680), Sandhausen (- 540), Eppelheim (- 420). Die Abwanderung in den Rhein-NeckarKreis hat sich jedoch im Vergleich zu Betrachtungszeiträumen vor 2002 deutlich abgeschwächt. Mögliche Gründe hierfür könnten unter anderem die Verknappung des Wohnungsangebots im Umland und steigende Baulandpreise sein. Hohe Wanderungsverluste hatte Heidelberg auch an Mannheim (- 800). Die Wanderungsströme waren nicht einseitig ausgerichtet. Aus den Bereichen, an die Heidelberg die meisten Einwohner verlor, kamen gleichzeitig auch besonders viele Zuzüge.
Abbildung 5: Wanderungssaldo* 2010 bis 2017 zwischen Heidelberg und dem Rhein-Neckar-Kreis sowie Mannheim
* bezogen auf die Wohnbevölkerung vom 1. Januar 2010 bis 31. Dezember 2017. Quelle: Amt für Stadtentwicklung und Statistik, Heidelberg.
STADTFORSCHUNG UND STATISTIK 1|2020
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Schwerpunkt Stadt – Region.
Abbildung 6: Wanderungssaldo* 2010 bis 2017 nach Alter W
eu g
2010
2017
7.000
Wanderungsgewinne vor allem durch junge ledige Personen
Ein Großteil der Wanderungsgewinne in Heidelberg entfällt auf die Altersgruppe der 18- bis 29-Jährigen, tendenziell die klassische Altersgruppe der Ausbildungs-/Studiums-Wanderer 4.000 und Berufseinsteiger (Milbert, 2017; Brachat-Schwarz, 4/2018; 3.000 BBSR 2010). Von 2010 bis 2017 hatte Heidelberg in dieser Gruppe einen Zuwanderungsüberschuss in Höhe von 17.700 2.000 Personen. Dies ist mit großem Abstand die mobilste Alters1.000 gruppe. Es ist davon auszugehen, dass ein großer Teil dieser 0 Personengruppe zum Studium nach Heidelberg kommt. Mehr als drei Viertel der Zuzüge dieser Altersgruppe stammen von 1.000 0 5 10 15 20 25 30 35 40 45 50 55 60 65 70 u e außerhalb der Region. Die größten Wanderungsverluste entfallen demgegenüber * bezogen auf die Wohnbevölkerung vom 1. Januar 2010 bis 31. Deauf die Altersgruppe der 30- bis 44-Jährigen. An den Mittelzember 2017. Quelle: Stadt Heidelberg, bereich Heidelberg verliert die Stadt in allen Altersgruppen Amt für Stadtentwicklung und Statistik, eigene Fortschreibung 2018. Einwohner. Die Altersgruppen ab 45 zeigen eine deutlich geringere Mobilität als die jüngeren Altersgruppen, sie sind deutlich sesshafter. In der Gruppe der Kinder bildet sich zweierlei Abbildung 7: Anteil der 10 Nationen, die zwischen 2010 und ab: Heidelberg hat Wanderungsgewinne in der Altersgruppe 2017 die größten Wanderungsgewinne verbuchen konnten am der 6- bis unter 18-Jährigen und Wanderungsverluste in der gesamten Wanderungsgewinn der ausländischen Bevölkerung Altersgruppe der unter 6-Jährigen. Da im Schnitt jünger sind als e u e e e Zuwanderer e e nach u g eHeidelberg u e e ge e u e e e Abwanderer, e e bewirkt ug e u e eWanderungsprozess ge der eine konstant e u e e e e eHeidelberger ug e u e Bevölkerung. e ge junge e u e e e e e ug e u e e Ledige zwischen 18geund 29 Jahren haben die höchsten e u e e e e e ug e u e e ge Wanderungsgewinne, Ledige über 29 Jahren wandern dagee u e e e e e ug e u e e ge gen aus Heidelberg ab, Gleiches gilt für Verheiratete. Verheie u e e e e e ug e u e e ge ratete wandern vor allem in den Nahbereich ab. e u e e e e e ug e u e e ge Zwischen den Geschlechtern gibt es nur geringe Untere u e e e e e ug e u e e ge schiede im Wanderungsverhalten. u e e e e e ug e u e e ge 6.000 5.000
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e e e e ug e u e e in Heidelberg, ge * u bezogen auf dieeWohnbevölkerung jeweils vom 1. Januar 2010 bis 31. Dezember 2017.
Quelle: Stadt Heidelberg, Amt für Stadtentwicklung und Statistik, eigene Fortschreibung 2018.
Abbildung 8: Jährlicher Außen- und Binnenwanderungssaldo* für den Stadtteil Bahnstadt von 2013 bis 2017 u e
1.000
u
e
eu g
900 800 700
331
238
243
600 500 400 300
570
551
545
200
176
100 0
134
108
2013
2014 u e
*
109
2015 eu g
2016 e
2017
eu g
bezogen auf die Wohnbevölkerung, jeweils vom 1. Januar bis 31. Dezember des Jahres.
Quelle: Stadt Heidelberg, Amt für Stadtentwicklung und Statistik, eigene Fortschreibung 2018.
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STADTFORSCHUNG UND STATISTIK 1|2020
Wanderungsgewinne werden zum Großteil von Ausländern erzielt Seit 2010 zogen 61.300 Personen mit ausländischer Staatsangehörigkeit nach Heidelberg zu und 50.800 weg. Mit einer deutschen Staatsangehörigkeit zogen 79.600 Personen zu und 78.100 weg. Heidelberg gewinnt im Betrachtungszeitraum per Wanderungssaldo vor allem ausländische Einwohner (+ 10.500) hinzu, diese stammen am häufigsten aus China, Italien, Rumänien, Indien und Polen und sind sehr häufig im Alter zwischen 18 und unter 30 Jahren. Hier dürfte die Universität einen wesentlichen Anziehungsfaktor bilden, als Arbeitgeber und Studienort. Im Gegensatz zu früheren Betrachtungszeiträumen (vor 2002) erzielten im hier betrachteten Zeitraum aber auch die deutschen Einwohner Wanderungsgewinne, jedoch in wesentlich niedrigerem Umfang als die ausländischen Mitbürgerinnen und Mitbürger. Zudem war in den vergangenen zwei Jahren der Wanderungssaldo der Deutschen wieder negativ. In Heidelberg wird seit 2013 der neue Stadtteil Bahnstadt entwickelt und besiedelt. Die Wanderungsbewegungen dieses Stadtteils wurden zusätzlich zu den gesamtstädtischen Entwicklungen auch separat betrachtet und analysiert, um Besonderheiten von großen Neubauprojekten abbilden zu können.
Schwerpunkt Aktuelle Befunde zu Wohnungsmarkt, Pendlerbeziehungen und Bevölkerungsentwicklung
Abbildung 9: Binnenzuzüge in die Bahnstadt aus den einzelnen Stadtteilen von 2013 bis 2017
Quelle: Amt für Stadtentwicklung und Statistik, Heidelberg.
Abbildung 10: Binnenwegzüge aus der Bahnstadt in die einzelnen Stadtteile von 2013 bis 2017
Quelle: Amt für Stadtentwicklung und Statistik, Heidelberg.
STADTFORSCHUNG UND STATISTIK 1|2020
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Schwerpunkt Stadt – Region.
Das Neubauprojekt Bahnstadt erzielt zu mehr als einem Drittel Wanderungsgewinne durch Binnenwanderungen Zwischen 2013 und 2017 gewann die Bahnstadt per Außenwanderungssaldo 1.900 Personen hinzu. Binnenwanderungsgewinne erzielte sie in Höhe von 1.100 Personen. Entsprechend entfällt mehr als ein Drittel der Wanderungsgewinne auf Binnenwanderungen und 2/3 auf Außenwanderungen.
Abbildung 11: Außen- und Binnenwanderungssaldo* des Stadtteils Bahnstadt nach Altersklassen 2013 bis 2017 u e 3
80 87
e
u e 6
e
33 55
6
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32
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u e 30
e
3
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e
45
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55
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e
65
u e 75
e
75
eu
Ausblick 73 1.146
321 393 427 76 96 30 37 5
38
9 4
e 0
200 u e
*
Hinzukommt der hoch positive natürliche Saldo in der Bahnstadt, der das Bevölkerungswachstum des Stadtteils zusätzlich ankurbelt. In Summe standen 288 Geburten 18 Sterbefällen in der Bahnstadt von 2013 bis 2017 gegenüber. Der natürliche Saldo beträgt damit über die Jahre 2013 bis 2017 270 Personen. Die Bahnstadt hatte im Betrachtungszeitraum vor allem viele Außenwanderungsgewinne aus dem Ausland. Dies ist für Heidelberg insgesamt typisch. Binnenwanderungsgewinne erfolgten insbesondere aus den zentralgelegenen Heidelberger Stadtteilen. Außenwanderungsgewinne entfielen vor allem auf die Altersgruppe der 18- bis unter 30-Jährigen, Binnenwanderungsgewinne erfolgten verstärkt in der Gruppe der 30- bis unter 45-Jährigen sowie der Verheirateten. Etwa zwei Drittel der Zuwanderungsgewinne entfallen auf Menschen mit einer deutschen Staatsangehörigkeit.
400
600
eu g
800 e
1.000
1.200
1.400
eu g
bezogen auf die Wohnbevölkerung, jeweils vom 1. Januar 2013 bis 31. Dezember 2017.
Quelle: Stadt Heidelberg, Amt für Stadtentwicklung und Statistik, eigene Fortschreibung 2018.
Da sich Stadt- und Landkreise stark voneinander unterscheiden, zum Beispiel im Hinblick auf die Infrastruktur vor Ort, wird an dieser Stelle ein Überblick über die Entwicklungen in den baden-württembergischen Stadtkreisen gegeben. Dadurch können Heidelberger Entwicklungen besser eingeordnet werden. Handelt es sich um Spezifika, die nur Heidelberg betreffen, oder sind dies Entwicklungen die für Stadtkreise gängig sind? Datengrundlage für den Vergleich Heidelbergs mit den anderen baden-württembergischen Stadtkreisen ist die Fortschreibung des Statistischen Landesamts auf Basis des Zensus 2011.
Abbildung12: Wanderungssaldo in den baden-württembergischen Stadtkreisen 1. Januar 2012 bis 31. Dezember 2017 W eu g 12.000
10.000 8.000 6.000 4.000 2.000 0 2.000 2012
2013 e
e e
2014 e ug z e
2015 e e eg u g
2016 e
2017 u e
Quelle: Statistisches Landesamt Baden-Württemberg, Berechnungen des Amts für Stadtentwicklung und Statistik Heidelberg, 2018.
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STADTFORSCHUNG UND STATISTIK 1|2020
Schwerpunkt Aktuelle Befunde zu Wohnungsmarkt, Pendlerbeziehungen und Bevölkerungsentwicklung
Im Betrachtungszeitraum von 2011 bis 2017 stieg die Bevölkerungszahl in Baden-Württemberg um 4,9 Prozent. Im gleichen Zeitraum stieg die Einwohnerzahl der baden-württembergischen Stadtkreise um 6,9 Prozent. Die Stadtkreise hatten demnach in den vergangenen Jahren relativ gesehen ein größeres Einwohnerwachstum als Baden-Württemberg insgesamt. Heidelberg belegt mit einem Einwohnerzuwachs von 8,2 Prozent aktuell die Spitzenposition unter den Stadtkreisen, was das relative Bevölkerungswachstum angeht. In der Vergangenheit lagen die Heidelberger Entwicklungen meist etwa im Mittelfeld der Bevölkerungsentwicklungen der anderen Stadtkreise. Die nächsthöchsten Gewinne im Betrachtungszeitraum verzeichneten Pforzheim (+ 7,9 %), Heilbronn (+ 7,2 %) und Freiburg (+ 7,2 %). Das geringste Bevölkerungswachstum hatte im Betrachtungszeitraum der Stadtkreis Baden-Baden mit einem Wachstum in Höhe von 4,4 Prozent. Im Betrachtungszeitraum wuchs in allen Stadtkreisen die Bevölkerung relativ gleichmäßig an, Bevölkerungsrückgänge gab es kaum und unter den Startwert aus 2011 fiel kein Stadtkreis zurück. Vergleicht man die baden-württembergischen Stadtkreise untereinander hinsichtlich des natürlichen Saldos fällt direkt auf, dass nur Stuttgart, Freiburg, Heidelberg und Ulm im gesamten Betrachtungszeitraum einen positiven natürlichen Saldo aufweisen. Die übrigen fünf Stadtkreise und auch das Land Baden-Württemberg haben im Betrachtungszeitraum einen negativen natürlichen Saldo. Das heißt insbesondere in Stadtkreisen mit negativem natürlichem Saldo führen hohe Wanderungsgewinne zu einem Bevölkerungswachstum. Während der natürliche Saldo recht stabil ist, schwankt der Wanderungssaldo deutlich stärker im Zeitverlauf. Zwischen 2012 und 2017 ist der Wanderungssaldo in allen Stadtkreisen positiv, eine Ausnahme bildet nur die Stadt Mannheim im Jahr 2016. Die Gewinne aus den positiven Wanderungssalden kompensieren die Geburtendefizite der fünf Stadtkreise mit negativem natürlichem Saldo und sie übersteigen auch die Geburtenüberschüsse (Stuttgart, Freiburg, Heidelberg, Ulm) um ein Vielfaches. Das Bevölkerungswachstum der Stadtkreise geht entsprechend vor allem auf den hoch positiven Wande-
rungssaldo zurück. Auffällig bleiben dabei die starken Schwankungen des Wanderungssaldos im betrachteten Zeitraum. Derzeit gewinnen die Städte besonders durch Wanderungen von 18- bis unter 30-Jährigen Einwohner hinzu, was sich auch für Heidelberg zeigte (Brachat-Schwarz, 4/2018; BBSR 2010; Milbert, 2017). Wohingegen die Altersgruppen der 30–50-Jährigen sowie der unter 18-Jährigen eher die Zentren verlassen (Brachat-Schwarz, 4/2018), was auf Heidelberg nur in Teilen zutrifft. Die meisten Zuzüge in Stadtkreise finden der Literatur zufolge aus dem übrigen Baden-Württemberg statt. Abwanderungen haben die Stadtkreise vor allem gegenüber ihrem jeweiligen Nahbereich. Gleichzeitig ist in den Stadtkreisen der Zuzug von Ausländern erhöht (Brachat-Schwarz, 4/2018). Insgesamt ist es für Stadtkreise derzeit typisch, dass es eine sehr hohe Wanderungsdynamik in der Bevölkerung gibt und dass das Bevölkerungswachstum zu großen Teilen auf Wanderungsgewinne zurückgeht, hier bildet Heidelberg keine Ausnahme. Dagegen ist der positive natürliche Saldo, den Heidelberg in den letzten Jahren vorweisen konnte nur in manchen Stadtkreisen vorzufinden. Die Heidelberger Entwicklungen sind demnach durchaus mit den Entwicklungen anderer Stadtkreise vergleichbar. Ein Spezifikum bildet derzeit der neu entstehende Stadtteil Bahnstadt in Heidelberg. Hier lassen sich Bevölkerungs- und auch speziell Wanderungsentwicklungen in großen Neubauprojekten gut beobachten.
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Der ungekürzte Bericht ist online verfügbar unter: https://www.heidelberg.de/site/Heidelberg_ROOT/get/documents_E-1485595516/ heidelberg/Objektdatenbank/12/PDF/12_pdf_Wanderungsbericht_2018.pdf Er enthält beispielsweise zusätzlich eine kleine Sonderauswertung für das Erstregistrierungszentrum des Landes, das aus den sonstigen Analysen ausgeklammert wurde. Der Bericht ist eingerahmt in weitere Berichte, die angrenzende Themenfelder beschreiben beispielsweise: Bevölkerungsbericht 2017, Bevölkerungsprognose 2018, Pendlerbericht 2018, Wohnraumbedarfsanalyse. Verfügbar unter: https://www. heidelberg.de/hd/HD/Rathaus/Publikationen.html
Literatur BBSR. 2010. Fokus Innenstadt – Aspekte innerstädtischer Bevölkerungsentwicklung. In BBSRBerichte KOMPAKT 11/2010. (https://www. bbsr.bund.de/BBSR/DE/Veroeffentlichungen/ BerichteKompakt/2010/DL_11_2010.pdf?__ blob=publicationFile&v=2). Abgerufen am 5. November 2018. Brachat-Schwarz, Werner. 4/2018. Wer zieht in die Großstadt, wer von ihr weg? In Sta-
tistisches Monatsheft Baden-Württemberg 4/2018. (https://www.statistik-bw.de/Service/ Veroeff/Monatshefte/20180401). Abgerufen am 2. November 2018. Milbert, Antonia. 2017. Wie viel (Re-)Urbanisierung durchzieht das Land? In BBSR-Analysen Kompakt. 07/2017. (https://www.bbsr.bund. de/BBSR/DE/Veroeffentlichungen/AnalysenKompakt/2017/ak07-2017.html;jsessionid
=79E588B17E6DBB770CFAE543D962644E. live11292?nn=415476). Abgerufen am 2. November 2018. Statistisches Landesamt Baden-Württemberg. 2016. Statistische Berichte – Wanderungsbewegungen in Baden-Württemberg 2015. (https://www.statistik-bw.de/Service/Veroeff/ Statistische_Berichte/314515001.pdf ). Abgerufen am 12. November 2018.
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Schwerpunkt Stadt – Region.
Günther Bachmann
Stadt und Verkehr Neue Verkehrsanalysen mit Mobilfunkdaten – Ein Zwischenbericht Neue Möglichkeiten für Mobilitäts- und Pendleranalysen ergeben sich aus der Auswertung kleinräumiger Mobilfunkdaten. Mit dem Erringen des ersten Platzes beim bitkom-Wettbewerb „Digitalstadt Deutschland“ im Juni 2017 war auch die kostenlose Überlassung von Mobilfunkdaten der Telekom-Tochter Motionlogic verbunden. Die anonymisierten zeitlich und räumlich verfügbaren Mobilfunkdaten erlauben eine wesentlich differenziertere Analyse der Pendlerbewegungen in die Stadt und innerhalb der Stadt. Die Analyse von Pendlerbewegungen mittels Mobilfunkdaten bietet vollkommen neue Möglichkeiten und Perspektiven für die amtliche Statistik (z.B. regionale Pendleranalysen, Frequentierung öffentlicher Räume, etc.), wenn es noch besser gelingt, eine Verifizierung der Daten mit Quellen der amtlichen Statistik und lokalen Verkehrsmodellen zu erreichen.
Günther Bachmann Studium der Sozialwissenschaften, Geschichte, Mathematik und Physik an der Albert-Ludwigs-Universität in Freiburg im Breisgau mit dem Abschluss Magister Artium, Assistent von Prof. Heinrich Popitz am Freiburger Institut für Soziologie, Mitarbeiter am Öko-Institut Freiburg und Darmstadt. In den letzten 21 Jahren bis Oktober 2019 Leiter der Abteilung Statistik und Stadtforschung im Amt für Wirtschaft und Stadtentwicklung in der Wissenschaftsstadt Darmstadt, jetzt in passiver Altersteilzeit. : gbachmann@gmx.info Schlüsselwörter: Pendleranalyse – Mobilfunkdaten – neue Datenquellen der amtlichen Statistik – kleinräumige Verkehrsdaten – Stadtentwicklung – Stadtplanung – Verkehrsplanung
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STADTFORSCHUNG UND STATISTIK 1|2020
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Einführung
Mobilität zu ermöglichen ist eine der wesentlichen Herausforderung von Städten. Mobilität umfasst viele räumliche und soziale Dimensionen. Im 21. Jahrhundert zeichnet sich jedoch eine Wende bei der bislang vorherrschenden Art der Mobilität ab, da der motorisierte Individualverkehr in den Städten zunehmend zu erheblichen Problemen in den Städten beiträgt. So war die PKW-Nutzung seit Mitte des letzten Jahrhunderts das große Versprechen der Mobilität für alle, die Stadtentwicklung setzte in Bezug auf die Erreichbarkeit aller Orte – zum Leben, zum Arbeiten und zum Einkaufen – auf den individualisierten Autoverkehr. Dieses Modell der Stadt ist – nicht erst in den letzten Jahren – an seine Grenzen gekommen, da mit der zunehmenden Verkehrsbelastung Konflikte zwischen Verkehrsteilnehmern, die drastische Erhöhung der Luftschadstoffe, der verkehrsbedingte Lärm und die zeitraubende Parkplatzsuche zugenommen haben. Neue Strategien für eine angemessene Mobilitätsinfrastruktur sind deshalb in vielen deutschen Städten „Top 1“ auf der politischen und gesellschaftlichen Tagesordnung. Differenzierte und detaillierte Untersuchungen des Mobilitätsverhaltens in deutschen Städten sind mit hohen Kosten und aufwändigen Erhebungen verbunden, die eine häufige und zeitnahe Erfassung erschweren. Vor allem kleinräumige Mobilität, die sich zudem dynamisch nach dem Neubau von Straßen oder Radwegen in kurzen Zeiträumen verändert, ist mit den vorhandenen Mobilitätserhebungen nicht oder nur begrenzt abbildbar. So wurde z. B. die umfangreiche Untersuchung zur Mobilität in Deutschland nur in 2002, 2008 und 2017 durchgeführt (BMVI 2018). Vor diesem Hintergrund ist die Möglichkeit, vorhandenes und verändertes Mobilitätsverhalten in deutschen Städten mittels der Auswertung von Mobilfunkdaten zeitnah zu analysieren, ein im 21. Jahrhundert attraktives Mittel für Stadtentwicklung, Stadtplanung und Verkehrsplanung. Auf Basis erster Analysen zum Mobilitätsverhalten in einer Stadt soll der folgende Beitrag eine Übersicht über Möglichkeiten und Grenzen bieten.
Schwerpunkt Aktuelle Befunde zu Wohnungsmarkt, Pendlerbeziehungen und Bevölkerungsentwicklung
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Mobilitätsanalysen am Beispiel der Wissenschaftsstadt Darmstadt
Abbildung 1: Zahl der Ein- und Auspendler in Darmstadt
2.1 Kurzinfo zu Darmstädter Situation Darmstadt ist eine mittelgroße Großstadt und liegt südlich der Metropolregion Frankfurt/Rhein-Main. Seit 1998 ist die Einwohnerzahl von 135.315 Einwohnern auf 161.843 Personen (31.12.2018) angewachsen. Der Zuwachs um Einwohner mit einer Quote von rund 20 Prozent hat seine Gründe vor allem in der hohen Zahl moderner Arbeitsplätze und der stark gewachsenen Anzahl Studierender und junger Beschäftigter. So liegt die Zahl der Erwerbstätigen in 2016 bei über 131.000 Personen, in 1998 bei 115.800, und die Zahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten ist von rund 85.000 in 1998 auf 103.242 Personen in 2017 gewachsen, die Zahl der Studierenden hat auf rund 45.000 zugenommen. Besonders auffällig ist die hohe Zahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten mit (mindestens) Hochschulabschluss, die ein Drittel aller Beschäftigten ausmacht und damit neben Jena und Erlangen den höchsten Wert in Deutschland darstellt. Grundlage für diese hohe Zahl der Beschäftigten mit hoher Qualifikation sind die modernen Dienstleistungsbereiche, aber auch der industrielle Kern der Firmen, die weltweit aktive Cluster im Bereich Chemie, Pharmazie und mechatronische Unternehmen bilden. Ferner trägt der exzellente Cluster von IT- und Software-Unternehmen und der große Cluster wissenschaftlicher Institutionen mit Weltraummissionen (ESA/ESOC), Wettersatelliten (EUMETSAT), Hochenergiephysik (Gesellschaft für Schwerionenforschung GSI), mit IT u. a. zu diesem Profil der Wissenschaftsstadt Darmstadt bei. Im Bereich der Forschung sind die Fraunhofer-Institute ebenso bedeutsam wie die drei Universitäten mit Technischer Universität, Hochschule und Evangelischer Hochschule. 2.2 Folgekosten des Beschäftigtenwachstums Diese außerordentliche Erfolgsgeschichte Darmstadts in den letzten 20 Jahren hat jedoch ihren Preis: eine – im Vergleich zu anderen bundesdeutschen Städten – sehr hohe Anzahl von
Quelle: Bundesagentur für Arbeit
Pendlern, wie Abbildung 1 belegt, fährt jeden Tag in die Stadt zum Arbeitsplatz oder zur Ausbildungsstätte und am Abend wieder zurück in die umliegenden Städte und Gemeinden und trägt damit zu einer hohen Verkehrsbelastung bei. So beträgt die Zahl der Einpendlerinnen und Einpendler, die sozialversicherungspflichtig beschäftigt sind, derzeit knapp 70.000 Personen, die Zahl der Auspendler knapp 30.000.
Abbildung 2: durchschnittliche Feinstaubbelastung in Darmstadt in einem typischen Tagesverlauf
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Schwerpunkt Stadt – Region.
Abbildung 3: Belastung durch Verkehr und Feinstaub
Zur Zahl der beschäftigten Einpendler kommt noch die Zahl der Studierenden mit rund 20.000 Personen, sowie die Selbständigen, Beamte, mithelfende Angehörige, Schülerinnen und Schüler, Auszubildende, Einkaufende und Touristen. Ferner trägt die Zahl der PKW und LKW im Rahmen des Lieferverkehrs in die und innerhalb der Stadt weiter zu den hohen Verkehrsbelastungen bei. Darmstadt zählt zu den zehn mit Feinstaub am stärksten belasteten Städten in Deutschland und der EU-Grenzwert von 40 Mikrometern pro Kubikmeter Luft, zum Beispiel in der Hügelstraße, wird regelmäßig überschritten (EU-Richtlinie 99/30/EG von 1999, gültig seit 1. Januar 2005). Dies zeigt Abbildung 2. Mit diesen Belastungen sehen sich viele Städte in Deutschland und Europa konfrontiert. Die hohen Mobilitätslasten zeigen sich zum Beispiel in der hohen Feinstaubbelastung in der Stadtmitte (siehe Abbildung 3), im mobilitätsverursachten Lärm und durch anderen Folgekosten. In der Abbildung ist auffällig, dass es - anders als am Vormittag – keine lineare Korrelation zwischen Verkehrsaufkommen und Feinstaubmessung am Nachmittag wegen dem Wind nach Osten gibt. All dies bringt die Mobilitätsinfrastruktur täglich an ihre Grenzen, die sich in unerwünschten Staus im und am Rande des Stadtgebietes und in Konflikten der Verkehrsteilnehmer untereinander zeigen. Deshalb ist eine moderne Mobilitätsanalyse, die hohe räumliche und zeitliche Auflösung über die Verkehrsströme in der Stadt und in die Stadt bietet, eine wichtige Grundlage der Stadtentwicklung, der Stadt- und Verkehrsplanung – nicht nur in Darmstadt. Erst die Auswertung der Mobilfunkdaten ermöglicht es der kommunalen Statistik überhaupt, kleinräumig Verkehrsströme abzubilden. Das ist bislang nicht möglich, da kleinräumig in der Regel nur Bevölkerungsdaten und die Daten der Beschäftigten sowie Sozialdaten verfügbar sind. Mit den Auswertungen der Mobilfunkdaten liegen erstmals
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STADTFORSCHUNG UND STATISTIK 1|2020
kleinräumige Daten über die Mobilität in der Stadt, z. B. zu Unternehmensstandorten, Universitäten etc. sowie Daten über Pendlerströme innerhalb der Stadt und in bzw. aus der Stadt in definierte Verkehrszellen vor.
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Grundlagen der Mobilitätsanalyse mittels Mobilfunkdaten
3.1 Mobilfunkdaten der Telekom-Tochter Motionlogic Mit dem Erringen des ersten Platzes beim bitkom-Wettbewerb „Digitalstadt Deutschland“ im Juni 2017 war auch die kostenlose Überlassung von Mobilfunkdaten der Telekom-Tochter Motionlogic verbunden. Bislang war dies die erste Übermittlung von Mobilfunkdaten der Telekom-Tochter an eine Statistikabteilung; es handelte sich hierbei um einen Prototyp für eine Datenanalyse. In zwei Tranchen erfolgte die Überlassung der Daten zur Auswertung in der abgeschotteten Statistikstelle der Wissenschaftsstadt, im Januar 2019 und eine verbesserte Version im Juni 2019. Im Folgenden wird nur auf die Daten und Analysen der zweiten, deutlich verbesserten Lieferung Bezug genommen, da die Firma Motionlogic erhebliche Anstrengungen unternommen hat, die Auswertung der Mobilfunkdaten zu optimieren. Dem voraus gegangen war eine kritische Bestandsaufnahme der gelieferten Daten vom Januar 2019 und Hinweise zu Inkonsistenzen durch den Autor. Die gelieferten Daten weisen eine extrem hohe zeitliche und räumliche Auflösung auf, die neue Möglichkeiten der Mobilitätsanalyse für Darmstadt zulassen. Die Daten sind ausschließlich auf den Start- und Zielort der SIM-Karte, wie nachfolgend detaillierter erläutert wird, bezogen und eine Übermittlung der Route wird nicht vorgenommen. Selbstverständlich wurde von Motionlogic die Datenlieferung so aggregiert, dass ein Rückschluss auf individuelles Mobilitätsverhalten absolut ausgeschlossen ist und die Anonymität der Nutzer strikt gewahrt bleibt. Die Datenlieferung wurde
Schwerpunkt Aktuelle Befunde zu Wohnungsmarkt, Pendlerbeziehungen und Bevölkerungsentwicklung
nach vorgegebenen Standards vom bundesdeutschen Datenschutzbeauftragten der Firma Motionlogic genehmigt und ist damit für alle Städte mit abgeschotteter Statistikstelle ohne weitere Genehmigung möglich. Die gelieferten Daten haben folgende Struktur: Verkehrszellen Die Daten wurden als CSV-Datei zur Verfügung gestellt, ferner wurden die Motionlogic-Verkehrszellen als Shape-Datei geliefert. Zu bemerken ist, dass die Motionlogic-Verkehrszellen nicht den Telekom-Funkzellen entsprechen, sondern auf einem höheren Niveau aggregiert sind. Die Verkehrszellen sind in ländlichen Räumen, zum Beispiel im Landkreis Darmstadt-Dieburg deutlich größer als in der Innenstadt von Darmstadt. Für das Stadtgebiet Darmstadt sind 49 Verkehrszellen definiert, diese Zahl ist damit höher als die der Statistischen Bezirke (kleinräumige Einheit mit 37 Statistischen Bezirken). Für Darmstadt standen für die Analyse u. a. folgende Ziele im Vordergrund: - Mobilitätsanalyse von Einpendlern aus speziellen umliegenden Gemeinden und Städten in kleinräumige Bereiche in Darmstadt mit hoher räumlicher und zeitlicher Auflösung - Mobilitätsanalyse von innerstädtischen Pendlern und Einpendlern aus umliegenden Gemeinden und Städten an wichtige Firmen- und Hochschulstandorte in Darmstadt mit hoher räumlicher und zeitlicher Auflösung - Mobilitätsanalyse von Besuchern und Touristen auf der Mathildenhöhe anlässlich der vorliegenden Bewerbung des Jugendstilensembles Mathildenhöhe als Weltkulturerbe
Abbildung 4: Motionlogic-Verkehrszellen mit Darmstadt und umliegenden Gebieten – die Bebauungsstruktur Darmstadts ist grau gefärbt
Die Motivation zur Analyse der Pendlerbewegungen in Bereiche von Darmstadt besteht vor allem darin, die Verkehrsplanung mit aussagekräftigen Daten zu wichtigen kleinräumigen Standorten mit stark verkehrsbelasteten Zielen zu unterstützen. Zwar sind derzeit ausreichend Daten über Einpendler nach Darmstadt im Rahmen der sozialversicherungspflichtigen Einpendler von der Bundesagentur für Arbeit vorhanden; diese decken jedoch nur rund 70 Prozent der berufsbedingten Einpendler ab (Magistrat der Wissenschaftsstadt Darmstadt 2015) und sind, da nur jährlich verfügbar, für die Verkehrsanalyse in kleinräumige Bereiche mit hoher räumlicher und zeitlicher Auflösung nur begrenzt nutzbar. Für das Stadtgebiet Darmstadts wurden die per Shape-File gelieferten Verkehrszellen mittels der Software QGIS analysiert und mit den Grenzen der Statistischen Bezirke abgeglichen. Die folgende Abbildung 4 zeigt das Stadtgebiet mit der grau gehaltenen Bebauung und die Motionlogic-Verkehrszellen. Für die weitere Analyse konnten die Grenzen des Landkreises Darmstadt-Dieburg sowie weiterer Gebietskörperschaften mittels der Shape-Dateien des Bundesamtes für Kartografie und Geodäsie mit den Motionlogic-Verkehrszellen in QGIS kombiniert werden: damit war eine meist eindeutige Zuordnung der Verkehrszellen zu den Gebietskörperschaften möglich. Zwar sind die Statistischen Bezirke in Darmstadt vorläufig nicht kompatibel mit den Motionlogic-Verkehrszellen, die Unternehmensstandorte sind jedoch in den Verkehrszellen eindeutig identifizierbar. Ferner sind durch Befragungen der Unternehmen und Auswertung von Geschäftsberichten sowie durch das „klassische“ Unternehmensregister, das das Hessische Statistische Landesamt jährlich zur Verfügung stellt, die zur Plausibilisierung der Beschäftigtendaten an den Unternehmensstandorten notwendigen Angaben verfügbar. Damit ist eine drastische Verbesserung der amtlichen Statistik durch neue, volatile Mobilfunkdaten zur Verkehrsanalyse möglich, die bislang undenkbar war. Eine Analyse der Einpendler aus Darmstadts Osten, vor allem den Gemeinden Roßdorf und Groß-Zimmern, könnte die Debatte zum Bau einer Straßenbahn in diese Gemeinden mit wichtigen Grunddaten bereichern. Auch dies wäre eine wichtige neue Erkenntnis über Verkehrsströme in die Stadt, die bisher in dieser Art nur unvollkommen vorliegt. Jedoch sind nicht alle Verkehrszellen einer Gemeinde oder Stadt eindeutig zuordenbar: hier ist eine genaue Analyse der Überschneidung der Flächen notwendig; Patrick Vollmer vom Hessischen Statistischen Landesamt hat in einer Arbeitsgruppensitzung in Wiesbaden deshalb eine möglichst bundesweit gültige Vereinbarung über die Zuordnungskriterien empfohlen (z. B. die Zentroid-Analyse). Für bundesdeutsche Städte ist der Ansatz von Kollegin Sandra Hadam vom Statistischen Bundesamt methodisch interessant: sie hat erfolgreich mittels der Methode der Small Area Estimation die Mobilfunkdaten auf andere, statistisch interessante räumliche Einheiten umgerechnet und entsprechende Fehlerquoten angegeben (Hadam 2019).
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Schwerpunkt Stadt – Region.
CSV-Datei mit Verkehrsdaten Neben den gelieferten Shape-Files sind die eigentlichen Mobilfunkdaten in einer CSV-Datei gespeichert. Schnell zeigt sich, dass diese Datei angesichts ihrer 146.282 Datensätze mit sechs Angaben pro Datensatz eine „Big Data-Herausforderung“ für die Analyse darstellt. Zur Datenanalyse empfiehlt sich prinzipiell jede Statistiksoftware wie z. B. SPSS oder R; für Darmstadt wurde die Programmiersprache Java zur Auswertung genutzt. Java hat, neben dem einfachen Import von CSV-Dateien zur Verarbeitung, den Vorteil, dass sehr schnell viele Varianten der Datenanalyse erstellt werden können, die wiederum als CSV-Dateien abgespeichert und ausgewertet werden können. Für andere Städte hingegen, die ebenfalls diese Mobilfunkdaten beziehen, empfiehlt sich die Verwendung „klassischer“ Statistiksoftware mit Algorithmen, die hier vorgestellt werden. 3.2 Auswertung von Mobilfunkdaten für die Verkehrsanalyse Entscheidend für die Auswertung der Mobilfunkdaten für die Verkehrsanalyse ist vorab die Definition der Ziele: welche Erkenntnisse sollen gewonnen werden und welche Daten sollen ausgewertet werden? Angesichts der enormen Vielfalt der Daten und der Auswertungsmöglichkeiten ist nur durch eine klare Zieldefinition gewährleistet, die Daten für Aussagen zur Verkehrsanalyse sinnvoll zu verwenden.
Abbildung 5: Motionlogic-Verkehrszellen für das Stadtgebiet Darmstadt sowie den umgebenden Landkreis Darmstadt-Dieburg (rote Begrenzungslinien)
Am Beispiel der Auswertung der Einpendlerdaten aus den benachbarten Kreisgemeinden Roßdorf und Groß-Zimmern in die kleinräumig definierten Verkehrszellen, insbesondere Unternehmens- und Ausbildungsstandorte, soll hier der Analysealgorithmus für diese spezielle Fragestellung vorgestellt werden. Das Java-Analyseprogramm zur Auswertung der ODM-Matrix hat folgende Grundlagen: - öffne die CSV-Datei - lese die Daten zu den Werktagen ein (Wochentagstyp „workday“ = Werktag) - definiere die besonders interessanten Verkehrszellen im Stadtgebiet Darmstadt („destination“) - definiere die Verkehrszellen der zu untersuchenden Einpendlerorte („origin“) - definiere die Ankunftszeit am Zielort („time-destination“) - bilde die Summe(n) der Anzahl der Mobilfunkteilnehmer („count“) über Analyse-Zeit und Ziel-Verkehrszelle - schreibe Ergebnisse in eine CSV-Datei. Selbstverständlich lassen sich Datenauswertungen auch mit „klassischen“ Statistikprogrammen wie SPSS oder R vornehmen; der Algorithmus ist leicht übertragbar. Neben den vorgestellten Ergebnissen wurden die Pendler aus allen Darmstädter Verkehrszellen an die Unternehmensstandorte analysiert; dies ist eine Analyse, die die innerstädtischen Pendler berücksichtigt oder z. B. auch getrennt analysiert.
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Ergebnisse der Pendleranalyse mittels Mobilfunkdaten
5.1 Grundlagen Bei der Analyse der Pendlerdaten ist es von Vorteil, andere statistische Daten zur Kalibrierung und Plausibilisierung der gewonnenen Erkenntnisse zu haben. Prinzipiell unterscheiden die gegebenen Mobilfunkdaten nicht zwischen sozialversicherungspflichtig Beschäftigten, Studierenden, Selbständigen, Beamten, Schüler/innen und in die Stadt kommenden Einkaufenden oder Touristen. Ferner wird auch der Lieferverkehr an die Unternehmensstandorte mit abgebildet, sei er innerstädtisch oder von außerhalb des Stadtgebietes. Unter der Fragestellung des innerstädtischen Verkehrsaufkommens sind diese wünschenswerten Differenzierungen mit den gelieferten Mobilfunkdaten derzeit nicht abbildbar. An einem Beispiel sollen die Ergebnisse einer Auswertung der Mobilfunkdaten vorgestellt werden.
4
Datengrundlagen und Analysealgorithmen
Der Datenlieferung von Motionlogic inklusive der Verkehrszellen (als Shape-File), die eine Kombination von Verkehrszellen und GIS-Daten ermöglichen, liegt die sogenannte ODM-Matrix zugrunde. ODM-Matrix bedeutet, dass der Ursprungsort („origin“) sowie der Zielort („destination“) angegeben werden: diese Orte sind per Verkehrszelle, zeitliche Auflösung (stündliche Werte und Wochentag, Samstag oder Sonntag) und die Zahl der SIM-Karten (entspricht Personen bzw. Handys) verfügbar.
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5.2 Auswertungsbeispiel Für die geplante Straßenbahn in die im Osten der Stadt gelegenen Städte des Landkreises Darmstadt-Dieburg, Roßdorf und Groß-Zimmern, soll eine Pendleranalyse durchgeführt werden. Dabei soll eine möglichst hochdifferenzierte Auswertung in räumlicher und zeitlicher Auflösung erfolgen. Die Fragestellung ist insbesondere, wie viele Einpendler aus den beiden Nachbarstädten in welche kleinräumigen Verkehrszellen Darmstadts an Werktagen kommen und welche Unternehmensstandorte ein Ziel sind.
Schwerpunkt Aktuelle Befunde zu Wohnungsmarkt, Pendlerbeziehungen und Bevölkerungsentwicklung
Somit sind die Grundlagen für die Abfrage bekannt: Quelle: die Städte Roßdorf und Groß-Zimmern, Verkehrszellen 10836,10893,10956 Ziel: alle Verkehrszellen Darmstadts, besonders interessant sind u. a. die Firmenstandorte Fa. Merck (Pharma- und Chemiefirma mit rund 9.000 Beschäftigten), Darmstadts Innenstadt, die High Tech-Standorte Europaviertel und Verlegerviertel. Die zur Analyse vorgesehenen Zielorte sind alle Verkehrszellen im Darmstädter Stadtgebiet: Ankunftszeit: von 0 Uhr bis 24 Uhr Anzahl: Summen der Einpendler, bezogen auf die Ankunftszeit Tage: werktags
Personen im genannten Zeitraum ein, davon in der Spitze 578 Personen zwischen 7 und 8 Uhr. Deutlich zu erkennen ist die Abnahme der Pendlerzahlen nach 10 Uhr.
Aus Abbildung 6 ergibt sich die Stundenverteilung von 0 Uhr bis 24 Uhr bezüglich der gesamten Zahl der Einpendlerinnen und Einpendler aus den beiden Gemeinden Roßdorf und Groß-Zimmern nach Darmstadt. Insgesamt pendeln 3.801
Die Einpendler zur Firma Merck an einem Werktag werden durch obige Abbildung 8 gut abgebildet; die Spitzen zwischen 6 und 10 Uhr deuten klar auf die Beschäftigten hin, die zu ihrem Arbeitsplatz fahren.
Abbildung 6: Pendlerbewegungen insgesamt aus dem Ostkreis (Roßdorf und Groß-Zimmern) in alle Verkehrszellen der Wissenschaftsstadt Darmstadt an einem Werktag (0–24 Uhr)
Abbildung 7: Einpendler aus Roßdorf und Groß-Zimmern in besonders hoch frequentierte Verkehrszellen
Abbildung 8: Einpendler aus Roßdorf und Groß-Zimmern zur Verkehrszelle der Firma Merck
Abbildung 9: Einpendler aus Roßdorf und Groß-Zimmern an der Verkehrszelle Lichtwiese 4
Bei der Gesamtbetrachtung der Einpendler aus den beiden Gemeinden in die verschiedenen Verkehrszellen Darmstadts, die aus obiger Abbildung ersichtlich sind, ist der TU-Campus Lichtwiese am auffälligsten, gefolgt vom Oberfeld, der Fa. Merck, der Rheinstraße/Innenstadt und dem Stadtzentrum. Hier zeigen sich bereits Grenzen der Pendleranalyse mit Mobilfunkdaten, da die Verkehrszelle Oberfeld nur den morgendlichen Stau an PKW und LKW in Richtung Innenstadt wiedergibt, die sich an der Einfallstraße (B26) länger aufhalten. Die anderen Einpendlerdaten sind jedoch recht plausibel.
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Schwerpunkt Stadt – Region.
Abbildung 10: Sozialversicherungspflichtig beschäftigte Einpendler nach Darmstadt aus den Umlandgemeinden
Ein ganz anderes Profil zeigen die Daten, die sich für die Verkehrszelle an der Lichtwiese 4 ergeben, wie die Abbildung (Abbildung 9) zeigt. Die Spitze der hier Einpendelnden liegt in den Zeiten zwischen 7 und 10 Uhr, jedoch sinkt die Zahl der Einpendelnden auch nach 10 Uhr nicht so deutlich ab wie an anderen Standorten. Erst die genaue Ortskenntnis ergibt, dass es sich bei den hohen Zahlen in dieser Verkehrszelle um die PKW- und LKW-Fahrer handelt, die hier länger „am Tor zur Stadt Darmstadt“ auf der Bundesstrasse im Stau stehen!
Selbständige und Beamten u. a. wie die Schüler/innen oder Einkaufenden. Insofern sind die etwas höheren Daten der Motionlogic-Auswertung eine gute Annäherung an die Realität der Einpendlerströme, wenn auch verständlicherweise kein exaktes Abbild.
Als eine Möglichkeit zur Plausibilisierung der Ergebnisse sollen die ermittelten Zahlen mit den beschäftigten Einpendlern verglichen werden. Die Zahl der sozialversicherungspflichtig beschäftigten Einpendler aus den beiden Gemeinden nach Darmstadt beträgt 3.208 Personen (Abbildung 10), die obige Analyse hat mit den Daten von Motionlogic die Zahl von 3.801 Einpendlern ergeben.
Grundsätzlich stellen sich bei diesem Vergleich zwei Fragen, die in weiteren Gesprächen mit dem Datenlieferanten Motionlogic geklärt werden müssen: - derzeit sind nur die Daten von Motionlogic verfügbar. Damit wird ca. ein Drittel aller Mobilfunkteilnehmer abgedeckt; von den beiden anderen in Deutschland aktiven Mobilfunkanbietern Vodafone und Telefonica sind aktuell noch keine kleinräumigen auswertbaren Daten vorhanden. - die geradezu überraschende Übereinstimmung der ausgewerteten Motionlogic-Daten mit den Einpendler-Daten der sozialversicherungspflichtig beschäftigten Einpendler beruht auf einer nicht offen gelegten „Hochrechnung“ auf Einwohnerdaten von Motionlogic. Auch dieser Fakt muss in weiteren Diskussionen mit dem Datenlieferanten abgeklärt werden, um die Validität der gelieferten Daten absichern zu können.
Bekanntlich umfasst die Zahl der sozialversicherungspflichtigen Einpendler nur die von der Bundesagentur für Arbeit erfassten Zahlen der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten, nicht jedoch die Studierenden, die einpendelnden
Auffällig ist, dass die Darmstädter Firmenstandorte, die von Pendlern aus den genannten Orten angefahren werden, gut abgebildet werden. Zum ersten Mal können mithilfe der Mobilitätsdaten Pendlerbewegungen in die kleinräumigen
Diese Beispiele zeigen, dass es möglich ist, die Zahl der Einpendler aus dem Ostkreis (Roßdorf und Groß-Zimmern) in die Wissenschaftsstadt in zeitlicher Auflösung nach Stunden in verschiedene kleinräumige Verkehrszellen darzustellen.
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Schwerpunkt Aktuelle Befunde zu Wohnungsmarkt, Pendlerbeziehungen und Bevölkerungsentwicklung
Bereiche bzw. Verkehrszellen Darmstadts abgebildet werden. Mit den neuen Daten sind kleinräumige Start- und Zielorte sowie stündliche Intervalle für spezielle Auswertungen möglich. Jedoch erst eine gründliche Fehleranalyse führt zu einer Validierung der ermittelten Ergebnisse.
Stadtzentrum hohe Pendlerzahlen aus den östlich gelegenen Gemeinden, die Anzahl an dokumentierten Bewegungen mit ca. einem Drittel hat jedoch Staus an der im Osten gelegenen Stadtgrenze als Ursache (Zielort der Bewegung), wie man an dem roten Feld in der rechten Mitte erkennen kann. Damit wird die Aussagekraft der Daten eingeschränkt.
6
Wesentliche Ursachen genereller Art für eine Einschränkung der Aussagekraft der Daten sind: - die Gleichsetzung von Stau und Zielort aufgrund von der Aufenthaltsdauer (mehr als 12 Minuten), erzeugt durch die Mobilfunkdaten - die derzeit relativ grobe Verkehrszellenstruktur mit im Stadtgebiet nicht immer scharf trennbaren Quartieren, die derzeit keine Unterscheidung ermöglichen, ob der Zielort ein Arbeitsplatz, ein Zwischenziel (z.B. Bahnhof ) oder der morgendliche Berufsverkehr ist. Die relativ grobkörnige Verkehrszellenstruktur lässt auch feingliedrigere Untersuchungen bislang nicht zu (z. B. Touristenziel Mathildenhöhe oder Einkaufsbesuch auf dem Marktplatz).
Methodische Grundlagen und Fehleranalyse
Das Beispiel zeigt die Möglichkeiten, die sich aus der Analyse der Mobilfunkdaten für die Pendlerbewegungen in deutschen Städten ergeben. Die Herausforderung bleibt jedoch, die Mobilfunkdaten genau zu analysieren – so sind in wenigen bestimmten Verkehrszellen die Pendler entlang der Autobahn oder der nach Darmstadt führenden Bundesstraße aus dem Osten mit erfasst. Nur eine gute Kenntnis der örtlichen Gegebenheiten sowie eine geschickte Auswahl der Verkehrszellen vermeidet Fehlinterpretationen, z. B. falsche, zu hohe Gesamtsummen der Pendler etc. … Abbildung 11 zeigt einige der möglichen Fehleinschätzungen, die sich aus der Auswertung der Mobilfunkdaten ergeben können, wenn nicht eine genaue Analyse der erhobenen Ergebnisse vorgenommen wird. Hierbei zeigt sich eine starke Überschneidung der Mobilfunkdaten mit Arbeitsschwerpunkten und der übergeordneten Verkehrsinfrastruktur. Zwar zeigen die Zentren der Beschäftigung wie die Firma Merck oder die Quartiere (Verkehrszellen) Rheintor/Innenstadt und das
Abbildung 11: Überschneidung der Mobilfunkdaten mit Arbeitsschwerpunkten und der übergeordneten Verkehrsinfrastruktur
Auch liegen derzeit nur unvollständige Daten der Pendlerbewegungen vor, da aktuell nur ein Anbieter die Daten zur Verfügung stellt. Zudem ist die Hochrechnung zu den Mobilfunkteilnehmern, die der Anbieter vornimmt, nicht unabhängig überprüfbar. Eine Überprüfung auf Repräsentativität und Selektivitäten ist derzeit nur möglich, wenn die Analyse der Mobilfunkdaten in Kombination mit z. B. dem kommunalem Verkehrsmodell vorgenommen wird, um eine „Kalibrierung“ und Plausibilisierung der Daten zu ermöglichen. Weitere Verbesserungen der Aussagekraft der Mobilfunkdaten und deren Kalibrierung müssen mit neuen Algorithmen, z. B. der Analyse der Tages- und Nachtbevölkerung in einer Stadt oder mit anderen, verfügbaren amtlichen Statistiken (Studierendendaten, Beschäftigte an Firmenstandorten durch Auswertung des Unternehmensregisters u. a.) vorgenommen werden. Entscheidend ist die gute Ortskenntnis der Statistikämter, die die Fehleinschätzung der Daten begrenzen kann.
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Ausblick
Ein wichtiges Ziel der Wissenschaftsstadt Darmstadt ist die Verbesserung der Lebensqualität durch die Reduktion von Feinstaub- und NOx-Belastung, die überwiegend durch den individualisierten Autoverkehr erzeugt wird. Ferner sind Ziele wie die Verminderung des Lärmeintrages in städtischen Bezirken nur durch eine bessere und „smartere“ Mobilität in die Stadt und in der Stadt möglich. Durch die Auswertung der Mobilfunkdaten durch die Firma Motionlogic ist es möglich neuartige Pendleranalysen vorzunehmen, die die Verkehrsströme in die Stadt und in der Stadt abbilden. Dies stellt jedoch deutliche Herausforderungen für die Stadtentwicklung und Statistik dar, da „Big Data“-Analysen erforderlich sind. Durch neue Mobilfunkdaten über Pendlerbewegungen ist prinzipiell eine Verbesserung der amtlichen Statistik durch neue, volatile Daten möglich, die die Stadtentwicklung, die Stadt- und Verkehrsplanung unterstützt und ein besseres
STADTFORSCHUNG UND STATISTIK 1|2020
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Schwerpunkt Stadt – Region.
Verständnis der Verkehrsströme ermöglicht. Hier wurde nur ein Beispiel der Auswertung der übermittelten Mobilfunkdaten von Motionlogic vorgestellt. Weitere Auswertungen zu innerstädtischen Verkehrsströmen, zu Pendlerbewegungen mit Wiesbaden und Frankfurt am Main mit entsprechenden Plausibilisierungen konnten bereits ebenfalls vorgenommen werden. Weiterhin sind methodische und analytische Anstrengungen zum besseren Verständnis der Mobilfunkdaten und ihrer Aussagefähigkeit notwendig, die eine enge Zusammenarbeit mit den Statistikabteilungen anderer Städte und Forschungseinrichtungen erfordert. Der Workshop in Nürnberg im Januar 2020 war ein wichtiger Schritt in die Richtung, durch koordinierte Anstrengungen die neuen Möglichkeiten der Mobilfunkanalysen für die Statistikämter nutzbar zu machen. Denn „Ideen können nur nützen, wenn sie in vielen Köpfen lebendig werden.“ – Alexander von Humboldt
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Danksagung
Mein Dank gilt dem Hessischen Statistischen Landesamt für den Erfahrungsaustausch „Daten aus Mobilfunknetzwerken“ am Dienstag, den 23. Juli 2019 im Hessisches Statistisches Landesamt, Wiesbaden, insbesondere den Kollegen Tobias Gramlich und Patrick Vollmer. Ferner danke ich den Kolleginnen Sandra Hadam und Natalie Rosenski vom Statistischen Bundesamt für die fruchtbaren Diskussionen und den anderen, am Workshop teilnehmenden Kolleginnen und Kollegen. Mein Dank gilt auch Herrn Norbert Weber und seinen Kolleginnen und Kollegen von der Firma Motionlogic für die Bereitstellung der Daten und die anregenden Diskussionen bei der Datenanalyse. Mein besonderer Dank gilt dem Leiter der Abteilung Statistik und Stadtforschung im Darmstädter Amt für Wirtschaft und Stadtentwicklung, Herrn Dr. Jan Dohnke, der mir mit vielen Hinweisen zur Verbesserung dieses Beitrages geholfen hat.
Literatur Günther Bachmann, Umweltqualität und Umweltgerechtigkeit – Zur Kombination von Internetdaten und Statistikinformationen am Beispiel der Wissenschaftsstadt Darmstadt, Stadtforschung und Statistik, Heft 1/2016, Stuttgart 2016 BMVI 2018: Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur, Mobilität in Deutschland (MiD), letzte Aktualisierung: 26. August 2019, siehe https://www.bmvi.de/SharedDocs/DE/ Artikel/G/mobilitaet-in-deutschland.html, abgerufen am 02.10.2019 Bundesamt für Kartografie und Geodäsie, Regionalkarten, unter https://www.bkg.bund.de/DE/Produkte-undServices/Shop-und-Downloads/Landkarten/
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Karten-Downloads/Regionalkarten/regionalkarten.html Viele der verwendete Abbildungen und Karten sind in folgenden Publikationen zu finden: Magistrat der Wissenschaftsstadt Darmstadt, Studierende in der Wissenschaftsstadt Darmstadt, Statistische Berichte 1. Halbjahr 2014, Darmstadt 2014 Magistrat der Wissenschaftsstadt Darmstadt, Geringfügig Beschäftigte in der Wissenschaftsstadt Darmstadt, Statistische Berichte 1. Halbjahr 2015, Darmstadt 2015 Magistrat der Wissenschaftsstadt Darmstadt, Darmstadts Ein- und Auspendler, Statistische Berichte 2. Halbjahr 2017, Darmstadt 2017
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Magistrat der Wissenschaftsstadt Darmstadt, Demografiebericht 3, Darmstadt 2017 Magistrat der Wissenschaftsstadt Darmstadt, Datenreport 2018, Darmstadt 2018 (fortlaufend) Magistrat der Wissenschaftsstadt Darmstadt, Sozialversicherungspflichtig Beschäftigte in Darmstadt, Statistische Berichte 1. Halbjahr 2018, Darmstadt 2018 Aktuelle Daten, auf die Bezug genommen wurde, finden sich insbesondere im jährlich erscheinenden Datenreport der Wissenschaftsstadt Darmstadt.
Schwerpunkt Aktuelle Befunde zu Wohnungsmarkt, Pendlerbeziehungen und Bevölkerungsentwicklung
Christian Stein
Neue Datenquellen zur beruflichen Mobilität. Das Beispiel Frankfurt am Main
Wirtschaftlich prosperierende Zentren sind zugleich Knotenpunkte von Pendelmobilität. Besonders ausgeprägt zeigt sich die regionale Arbeitsmarktverflechtung in Frankfurt am Main, das seit vielen Jahren als Pendelhauptstadt Deutschlands gilt. Der vorliegende Beitrag betrachtet die durch wechselseitige Effekte von regionalem Arbeits- und Wohnungsmarkt entstehende Mobilität. Er zeigt am Beispiel Frankfurt am Main auf, welche Informationen sich unter anderem aus Daten der regionalen Erwerbstätigenrechnung sowie neuen Datenquellen zu Mobilitätsformen und Verkehrsströmen gewinnen lassen.
Im Fokus: beruflich Pendelnde von und nach Frankfurt am Main Für Frankfurt zeigt sich in besonderem Maße, was für Hessen (Dettmer u. Wolf 2018: 9) im Allgemeinen gilt: Die Mobilität der erwerbstätigen Bevölkerung nimmt insgesamt zu, da immer mehr Menschen täglich Wege zwischen Wohn- und Arbeitsort bewältigen. Insgesamt pendelten 2015 täglich über 400.000 Menschen von und nach Frankfurt zur Arbeit. Zusammengenommen legten sie dabei an jedem Arbeitstag rund 20 Millionen Kilometer Luftlinie zurück, im Durchschnitt 24,2 Kilometer pro Person und Weg. Der Großteil der Menschen, die beruflich über die Frankfurter Stadtgrenze fuhren, pendelte nach Frankfurt ein (78,9 %). Weniger als ein Viertel der Pendelnden fuhr von Frankfurt in andere Gemeinden zur Arbeit. Abbildung 1: Berufspendelnde – an jedem Werktag 20 Millionen Kilometer (© Stadt Frankfurt Stefan Maurer)
Christian Stein Dipl.-Geograph, seit 2016 Leiter des Sachgebiets Wirtschaft, Arbeitsmarkt, Bildung und Soziales in der Abteilung Statistik und Stadtbeobachtung der Stadt Frankfurt am Main. Er ist u.a. Vertreter des Deutschen Städtetages im Arbeitskreis Erwerbstätigenrechnung des Bundes und der Länder. : christian.stein@stadt-frankfurt.de Schlüsselwörter: regionaler Arbeitsmarkt – Erwerbstätige – Erwerbstätigenrechnung – Frankfurt a. M. – berufliche Mobilität – Pendelnde – Wohnungsmarkt
Diese Informationen zu den Tagespendelnden gehen zurück auf Berechnungen des Hessischen Statistischen Landesamtes, das 2018 im Rahmen der regionalen Erwerbstätigenrechnung erstmals Relationen pendelnder Erwerbstätiger veröffentlicht hat (Dettmer u. Kull 2018). Die Daten liegen in regionaler Gliederung auf Kreis- und Gemeindeebene ausschließlich für das Jahr 2015 vor. Diese Ergebnisse werden genutzt, um einen Überblick über die regionalräumlichen Ausprägungen beruflich induzierter Mobilität von und nach Frankfurt am Main zu geben.
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Schwerpunkt Stadt – Region.
Betrachtung von Pendelverhalten beschränkt sich bisher auf Beschäftigte Studien zum Umfang von Pendelrelationen beschränkten ihren Berichtskreis bisher auf die sozialversicherungspflichtig Beschäftigten als größte Gruppe von Berufstätigen (Initiative PERFORM Zukunftsregion FrankfurtRheinMain u. IHK Frankfurt am Main 2018; Kropp u. Schwengler 2008: 9; vgl. u. a. IHK Frankfurt am Main 2014). Über diese Gruppe liegen durch das zentrale Meldeverfahren der Bundesagentur für Arbeit umfassende Angaben zu Wohn- und Arbeitsort vor.
Pendelndenrechnung bietet Überblick über beruflich induzierte Mobilität aller Erwerbstätigen Die Arbeitsmobilität anderer Gruppen von Erwerbstätigen wurde bisher hingegen kaum in den Blick genommen. Diese empirische Lücke greift die Betrachtung von Berufspendelnden durch die regionale Erwerbstätigenrechnung auf. Sie bezieht neben den sozialversicherungspflichtig Beschäftigten auch die weiteren Gruppen von Erwerbstätigen mit ein (Tab. 1). Diese sind „alle Personen, die in einem Arbeits- oder Dienstverhältnis stehen, selbstständig ein Gewerbe oder eine
Landwirtschaft betreiben, einen freien Beruf ausüben oder als unbezahlt mithelfendes Familienmitglied tätig sind“ (Dettmer u. Emmel 2018: 30, zur Methodik siehe auch Infokasten „Methodik der Pendelndenrechnung Hessen“). Die sogenannten Pendelndenrechnungen sind vergleichsweise jung. Nach einer Pilotstudie des Landes Nordrhein-Westfalen im Jahr 2014 (Landesbetrieb Information und Technik NRW u. Statistik 2018), haben auch die Länder Baden-Württemberg (Bauer-Hailer u. Winkelmann 2015) und Hessen (Dettmer u. Emmel 2018) solche Berechnungen vorgelegt. In diesen werden Pendelrelationen für Arbeits- und Wohnort auf Kreis- und Gemeindeebene ausgewiesen. Für eine räumlich möglichst präzise Abbildung der Pendelverflechtungen nutzt der vorliegende Beitrag die Angaben zu den Tagespendelnden (Infokasten „Definition von Tagespendelnden“) auf Gemeindeebene.
Arbeits- und Wohnungsmarkt sind zentrale Faktoren für zunehmende Pendelverflechtungen Die starken und weiter zunehmenden Pendelverflechtungen Frankfurts mit seinem Umland und darüber hinaus gehen auf zwei zentrale Faktoren zurück. Der attraktive Wirtschaftsstandort mit der höchsten Arbeitsplatzdichte deutscher Großstädte (Stadt Frankfurt am Main 2019: 176) zieht einerseits viele
Tabelle 1: Personengruppen von Berufspendelnden in der Pendelndenrechnung Hessen Personengruppe
Datenquellen
Arbeiterinnen und Arbeiter, Angestellte, Auszubildende
Beschäftigungstatistik der Bundesagentur Wohn- und Arbeitsort auf Gemeindeebene, für Arbeit (Stichtag: 30. Juni) Art des Beschäftigungsverhältnisses, Stellung im Beruf
Merkmale
geringfügig Beschäftigte
Sonderauswertung der Bundesagentur für Wohn- und Arbeitsort auf Gemeindeebene Arbeit (Stichtag: 30. Juni)
Bedienstete im öffentlichen Dienst (Beamtinnen Personalstandstatistik des öffentlichen und Beamte, Richterinnen und Richter, Beamten- Dienstes (Stichtag: 30. Juni) anwärterinnen und Beamtenanwärter, Dienstordnungsangestellte)
Wohn- und Dienstort auf Kreis- und Gemeindeebene, Art des Beschäftigungsverhältnisses
Selbstständige und unbezahlt mithelfende Familienangehörige
Arbeitsort Wohnort auf Regierungsbezirksebene
Erwerbstätigenrechnung Mikrozensus
Bundesfreiwilligendienst, Freiwilliges Soziales Beschäftigungstatistik der Bundesagentur Wohn- und Arbeitsort auf Gemeindeebene Jahr, Freiwilliges Ökologisches Jahr für Arbeit (Stichtag: 30. Juni) Quelle: Bürgeramt, Statistik und Wahlen, Stadt Frankfurt am Main, verändert nach Dettmer und Emmel 2018: 30. Wehr- und Zivildienstleistende werden nicht erfasst.
Infokasten Methodik der Pendelndenrechnung Hessen Die Informationen zu den Strömen von Berufspendelnden basieren auf mehreren Datenquellen (siehe Tabelle 1 sowie Dettmer u. Kull 2018: 14 f.). Angaben zu den sozialversicherungspflichtig Beschäftigten – als größtem Teil der Erwerbstätigen – bietet die Beschäftigungsstatistik der Bundesagentur für Arbeit. Diese liefert auch Angaben zu den ausschließlich geringfügig Beschäftigten. Informationen zu Arbeits- und Wohnort von Beamtinnen und Beamten sowie Auszubildenden in einem Dienstverhältnis bietet die Personalstandstatistik des öffentlichen Dienstes. Anders als für die genannten Gruppen wird die berufliche Mobilität von Selbstständigen zurzeit nicht regionalisiert erfasst, weder auf Gemeinde- noch auf Kreisebene. Für die Selbstständigen schätzt die Pendelndenrechnung des Hessischen Statistischen Landesamtes daher deren Wege zwischen Wohn- und Arbeitsort auf Basis des Mikrozensus und der Kreisrechnung der regionalen Erwerbstätigenrechnung des Bundes und der Länder (für eine ausführliche Methodenbeschreibung der Pendelndenrechnung Hessen s. Dettmer u. Emmel 2018).
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Schwerpunkt Aktuelle Befunde zu Wohnungsmarkt, Pendlerbeziehungen und Bevölkerungsentwicklung
Erwerbstätige an. Währenddessen machen steigende Wohnungspreise den Wohnort Frankfurt am Main – insbesondere für Bezieherinnen und Bezieher niedriger bis mittlerer Einkommen – in Relation zu seinen Umlandgemeinden andererseits unattraktiver (Feld et al. 2019: 257 ff.).
re in räumlicher Hinsicht. So belegen Studien, dass es einen positiven Zusammenhang zwischen Pendeldistanz und Einkommen gibt. Wer größere Pendeldistanzen auf sich nimmt, verdient im Durchschnitt mehr (Pfaff 2016: 126).
Überdurchschnittliche Wohnkosten in Frankfurt Das verfügbare Pro-Kopf-Einkommen der privaten Haushalte stieg zwischen 2006 und 2016 zwar um 9,3 Prozent an (Stadt Frankfurt am Main 2018: 109). Trotzdem konnten die Einkommenssteigerungen nicht mit der Preisentwicklung auf dem Miet- und Kaufmarkt für Wohnraum im Stadtgebiet mithalten. Hier erreichten die Kaufpreise für gebrauchten Wohnraum in durchschnittlichen Objekten von 80 Quadratmetern mit im Schnitt 4 000 Euro pro Quadratmeter (Zentrale Geschäftsstelle der Gutachterausschüsse für Immobilienwerte des Landes Hessen (ZGGH) 2018) erneut den Spitzenwert in Hessen.
Frankfurt am Main in Relation zu seiner Größe deutsche Pendelhauptstadt
In den umliegenden Gemeinden lag der Median der Neuvertragsmieten mehr als ein Drittel (36,7 %) niedriger als in Frankfurt. Erwerbstätige, die in Frankfurt arbeiteten, konnten durch Pendeln somit deutlich bei den Wohnkosten sparen. Diese Relation setzt für Frankfurt einen grundsätzlichen Trend: Steigen die Wohnraumkosten stärker als die Verdienste, wächst die Zahl der Pendelnden. Attraktiver Arbeitsmarkt als Pull-Faktor für Pendelnde Im Hinblick auf den Arbeitsmarkt sorgen nicht nur viele Jobangebote dafür, dass nach Frankfurt eingependelt wird. Das relativ hohe Einkommensniveau verstärkt die Anziehungskraft des Arbeitsortes Frankfurt am Main zusätzlich – insbesonde-
Schließt man von der größten Gruppe, den pendelnden sozialversicherungspflichtig Beschäftigten, auf die täglich pendelnden Erwerbstätigen insgesamt, so zieht Frankfurt am Main in Relation zu seiner Größe die mit Abstand meisten Berufspendelnden unter den Großstädten mit mehr als 500.000 Einwohnerinnen und Einwohnern in Deutschland an (Stadt Frankfurt am Main 2019: 176). Nur geringfügig mehr Beschäftigte pendeln in das deutlich größere München und selbst nach Berlin und Hamburg pendeln weniger Beschäftigte ein als nach Frankfurt.
Einpendelnde fahren weiter als Auspendelnde Die von und nach Frankfurt am Main Pendelnden legen sehr unterschiedliche Distanzen zurück, wobei der durchschnittliche Zeitaufwand für das Pendeln zur Arbeit im Allgemeinen in den letzten zehn Jahren zugenommen hat (Rüger et al. 2018: 38). Die durchschnittliche Pendeldistanz der aus der Wohnortgemeinde Frankfurt am Main Auspendelnden betrug 45,8 Kilometer. Mit 47,2 Kilometer etwas weiter fuhren die Einpendelnden zu ihrem Arbeitsplatz nach Frankfurt (Abb. 3).
Abbildung 2: Innerstädtisches Wohnen – Preise steigen stärker als Einkommen (© Stadt Frankfurt Stefan Maurer)
Infokasten Definition von Tagespendelnden Im Fokus dieses Beitrags stehen die sogenannten Tagespendelnden. Es wird vereinfachend angenommen, dass pendelnde Erwerbstätige höchstens eine einfache Distanz von 80 Kilometern Luftlinie für einen täglichen Arbeitsweg in Kauf nehmen. Für Tagespendelrelationen wurde bereits bei der Volkszählung im Jahr 1987 eine Luftlinienentfernung von mehr als 80 Kilometern zwischen Wohn- und Arbeitsort als unplausibel betrachtet (Dettmer u. Emmel 2018: 35). Je nach Topographie und Ausbau des Verkehrswegenetzes entspricht dies einer realen Wegstrecke von etwa 100 bis 140 Kilometer.
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Schwerpunkt Stadt – Region.
Abbildung 3: Durchschnittliche Pendeldistanzen von Erwerbstätigen mit Arbeits- bzw. Wohnort Frankfurt am Main 2015
insgesamt Fernpendelnde 177,5 53 792 190,4 / 16 018
Tagespendelnde 47,2 378 788
80 km Distanz Luftlinie
25,6 324 998
45,8 102 829
Distanz pro Weg in km 0 10 20 30 40 50 60
19,1 86 811 Einpendelnde
40 20
60 Anzahl 40 Pendelnde in 1 000 20
0 Auspendelnde
0 Distanz in km Anzahl der Pendelnden
Flächen proportional zur kumulierten Distanz der einfachen Arbeitswege
Quelle: Bürgeramt, Statistik und Wahlen, Stadt Frankfurt am Main. Daten: Hessisches Statistisches Landesamt; Stadtvermessungsamt Frankfurt a. M.
Tageseinpendelnde legen im Schnitt 51,2 Kilometer Luftlinie zurück – an jedem Arbeitstag Die durchschnittliche Pendeldistanz der Tagesauspendelnden aus der Wohnortgemeinde Frankfurt am Main betrug 19,1 Kilometer. Erwerbstätige mit dem Arbeitsort Frankfurt legten mit 25,6 Kilometern durchschnittlich weitere Strecken zwischen Wohnung und Arbeitsplatz zurück. Deutlich weitere Entfernungen überwanden die Erwerbstätigen, für die das Modell der Pendelndenrechnung davon ausgeht, dass sie diese Distanzen nicht täglich zurücklegen: die sogenannten Fernpendelnden. Die durchschnittliche Pen-
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STADTFORSCHUNG UND STATISTIK 1|2020
deldistanz der Fernpendelnden mit Wohnsitz in Frankfurt am Main betrug 190,4 Kilometer, während die nach Frankfurt aus mehr als 80 Kilometer entfernten Gemeinden Einpendelnden im Schnitt 177,5 Kilometer für einen einfachen Weg zur Arbeit zurücklegten.1 In der Berichterstattung zu Pendelnden werden Erwerbstätige, die an ihrem Wohnort arbeiten, nicht betrachtet, da sie aus beruflichen Gründen keine Gemeindegrenzen überschreiten. Jedoch fahren auch die meisten Erwerbstätigen, die an ihrem Arbeitsort wohnen, innerhalb der Gemeinde zur Arbeit. In Frankfurt sind etwa die Hälfte (50,6 %) aller Erwerbstätigen am Arbeitsort Binnenpendelnde. Um einen umfassenden Blick
Schwerpunkt Aktuelle Befunde zu Wohnungsmarkt, Pendlerbeziehungen und Bevölkerungsentwicklung
auf die berufliche Mobilität von Erwerbstätigen zu erhalten, wurden die 260.744 Erwerbstätigen mit Wohn- und Arbeitsort Frankfurt am Main als innerstädtisch Pendelnde in die Darstellungen mit einbezogen.
vigationsfirma TomTom (Infokasten „TomTom Verkehrsindex“) ergab für diese Städte ein Pendelverhalten mit ausgeprägten morgendlichen und abendlichen Spitzen im Verkehrsaufkommen sowie Schwerpunkten auf Ein-, Ausfall- und Ringstraßen.
Vier Fünftel der übergemeindlichen Wege basieren auf motorisiertem Individualverkehr
Frankfurt bei Verkehrsbehinderungen auf Rang acht in Deutschland
Über die Stadtgrenze hinweg betrug der Anteil des motorisierten Individualverkehrs knapp 80 Prozent (Stadt Frankfurt am Main 2016: 67). Der Modal Split berufsbedingter übergemeindlicher Mobilität – also die Verteilung des Verkehrsaufkommens auf verschiedene Verkehrsmittel – dürfte zu ähnlich hohen Anteilen auf Autoverkehr basieren, da insbesondere die Spitzen im motorisierten Individualverkehr mit den Tageszeiten am Rande üblicher Arbeitszeiten korrespondierten. Belastungen der Verkehrsinfrastruktur in Form regelmäßiger Verkehrsstörungen auf Straßen und Autobahnen waren die Folge.
Frankfurt befindet sich deutlich hinter den Spitzenreitern Hamburg und Berlin und noch vor Köln auf Rang acht unter den Städten in Deutschland, in denen Autofahrende die meiste Zeit durch Verkehrsbehinderungen verlieren. Durchschnittlich benötigten Autofahrerinnen und -fahrer 2018 26 Prozent mehr Zeit für Wege mit dem Start- oder Zielort Frankfurt am Main als bei dauerhaft freiem Verkehrsfluss. Morgens benötigten Pendelnde 54 Prozent mehr Zeit, abends 51 Prozent und in der Spitze – an Donnerstagabenden um 17 Uhr – gar 62 Prozent länger (TomTom 2019).
Boomender Arbeitsmarkt, steigende Mieten – wachsende Staus
Besonders intensive Pendelverflechtungen mit angrenzenden Gemeinden
Eine parallele Betrachtung der Entwicklung von Erwerbstätigenzahlen (Stadt Frankfurt am Main 2019: 162), Mietpreissteigerungen (Silver et al. 2017) und Analyse von Verkehrsmustern (TomTom 2018) macht deutlich, dass Städte in Deutschland mit boomendem Arbeitsmarkt und besonders starken Mietpreissteigerungen überdurchschnittlich von staubedingten Verkehrsbehinderungen betroffen sind. Der Verkehrsindex der Na-
Die intensivsten Pendelverflechtungen bestanden – das ist naheliegend – mit den unmittelbar ans Stadtgebiet angrenzenden Gemeinden. Bis auf das vergleichsweise weit vom Frankfurter Stadtzentrum entfernt liegende Rüsselsheim, pendelten aus allen angrenzenden Gemeinden mehr als 20 Prozent der dort wohnenden Erwerbsfähigen nach Frankfurt zur Arbeit (Abb. 6). Aus Bad Vilbel pendelte sogar mehr als ein Drittel der erwerbsfähigen Bevölkerung täglich nach Frankfurt.
Infokasten TomTom Verkehrsindex Im sogenannten „Traffic Index“ (TomTom 2019) wird der Anteil der im Jahresdurchschnitt zusätzlich von Autofahrenden benötigten Zeit gemessen, im Vergleich zum Zeitverbrauch unter Bedingungen freien Verkehrsflusses. Der Basiswert für freien Verkehrsfluss orientiert sich dabei nicht an Geschwindigkeitsbegrenzungen, sondern an tatsächlichen Fahrtzeiten ohne Verkehrsbehinderungen.
Abbildung 4: Verkehrsinfrastruktur – ausgeprägte Belastung durch Pendelmobilität (© Stadt Frankfurt Stefan Maurer)
Offenbach–Frankfurt Top Pendelrelation in Hessen Die meisten täglich über die Stadtgrenze zur Arbeit Einpendelnden in absoluter Höhe kamen aus Offenbach. 20 502 Menschen, dies entsprach fast jeder vierten in Offenbach Abbildung 5: ÖPNV – deutlich positivere CO2-Bilanz als Autoverkehr (© Stadt Frankfurt Stefan Maurer)
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Schwerpunkt Stadt – Region.
Abbildung 6: Täglich pendelnde Erwerbstätige mit dem Arbeitsort Frankfurt am Main 2015
Marburg 7 507 bzw. mehr als ein Drittel der Erwerbs2,0 fähigen aus Bad Vilbel pendeln täglich nach Frankfurt zur Arbeit.
Dillenburg 1,0 Langgöns Herborn 6,9 Etwas mehr als die Hälfte der Erwerbsfähigen, Ober-Mörlen 1,2 13,2 die in Frankfurt wohnen, arbeiten auch hier. Lauterbach Gießen 260 744 Personen fahren somit auf dem Wöllstadt 1,7 Wetzlar Wehrheim 3,5 22,3 2,3 Weg zur Arbeit nicht über die Stadtgrenze. 15,2 Reichelsheim Butzbach 13,3 Nidda Wölfersheim Bad Nauheim 11,1 11,5 Selters Weilrod 4,9 12,3 15,2 12,0 Altenstadt Usingen Brechen Friedberg 14,9 13,6 14,4 Florstadt Friedrichs 15,8 NeuNiederdorfelden Nidda- 13,2 -dorf Rosbach Anspach 32,2 tal 19,7 v.d. Höhe 16,2 Limburg Neuhof 20,2 Montabaur 18,2 Wächters- 2,6 Karben Bad Schmitten a. d. Lahn 2,3 Nidderau bach 27,0 Homburg 6,8 Bad Camberg18,0 21,1 v. d. Höhe Büdingen 8,4 15,0 Schlüch21,1 7,9 Schöneck Oberursel tern KönigBad Vilbel Glashütten 28,1 Grün23,6 Kron5,4 stein 34,6 16,6 dau Bruchi. T. berg Idstein 10,3 Hünfelden i. T. köbel 19,6 13,6 Geln10,5 22,6 Steinbach 15,8 ErBad Sohau27,8 Bad Soden Hünstetten Niedernhausen den-Salsen lena. T. 9,5 münster 11,0 see 14,9 Maintal 26,8 Schwalbach a. T. 6,6 Epp11,8 26,2 Eschborn 29,8 stein RoTaunusstein 29,0 Linsen22,4 Kelkheim denHassel4,8 24,0 gericht Sulzbach bach roth 10,9 26,7 10,9 Hanau 13,8 Liederbach a. T. Langenselbold Mühl13,2 27,3 14,4 Frankfurt a. M. heim Alzenau Freigericht Hofheim a. T. 50,6 a. M. Eltville a. R. 7,3 10,4 19,0 22,6 5,1 Wiesbaden Kriftel 7,6 28,1 Großkrotzenburg Hainburg 13,3 12,7 Offenbach a. M. Hatters24,5 heim Obertshausen Ingelheim a. R. a. M. Flörs17,0 Kelster3,0 28,2 heim bach Seligenstadt a. M. Heusen31,8 12,4 20,6 stamm Mainz Neu-Isenburg 21,5 5,8 Hochheim a. M. Aschaffenburg 24,6 Raunheim 12,5 4,2 25,5 Rodgau Bad Kreuznach Dreieich 1,1 Mörfelden- Langen 20,0 Dietzen- 15,6 RüsselsWalldorf 19,2 Mainhausen bach heim a. M. 26,2 9,7 16,9 GinsheimEgelsbach 14,5 17,7 Gustavsburg Nauheim Rödermark 8,8 Trebur 11,3 Erzhausen 14,2 Bischofsheim 9,6 Groß- Büttel15,2 11,3 born Babenhausen Weiterstadt Gerau Alzey 7,3 11,2 11,6 9,4 1,1 Darmstadt Riedstadt 7,6 Griesheim Münster 8,5 7,6 Groß-Umstadt Dieburg 7,2 Mühltal 5,2 4,7 Pfungstadt 5,7 5,4 Worms Seeheim-Jugenheim 1,0 6,7 Bensheim 4,8 Die meisten einpendelnden ErwerbstätiHeppenheim gen – 20 502 – kamen aus Offenbach. Fast 3,2 jede/jeder vierte Erwerbsfähige von dort Mannheim 1,0 fährt zum Arbeiten in die Nachbarstadt. Ludwigshafen 0,6
Offenbach a. M. 24,5
Heidelberg 0,7
Anteil an den erwerbsfähigen Personen am Wohnort in % Gemeindegrenze
Einpendelnde 100 − 500 501 − 1 000 1 001 − 2 500 2 501 − 5 000 5 001 − 10 000 10 001 − 20 502 Binnenpendelnde 260 744
Quelle: Bürgeramt, Statistik und Wahlen, Stadt Frankfurt am Main. Daten: Bundesamt für Kartographie und Geodäsie, Größenverhältnisse verändert; Hessisches Statistisches Landesamt; Statistisches Bundesamt. Flächen der Gemeinden proportional zur Zahl der in/nach Frankfurt am Main pendelnden Erwerbstätigen vergrößert bzw. verkleinert („Rubber Sheet Distortion method“, Dougenik et al. 1985). Berücksichtigt wurden Gemeinden mit mehr als 100 täglich nach Frankfurt am Main pendelnden Erwerbstätigen.
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Schwerpunkt Aktuelle Befunde zu Wohnungsmarkt, Pendlerbeziehungen und Bevölkerungsentwicklung
Starke Pendelströme zwischen Großstädten in der Metropolregion
wohnenden erwerbsfähigen Person, fuhren zum Arbeiten ins benachbarte Frankfurt. Die Pendelverflechtung zwischen den beiden nördlich und südlich des Mains in unmittelbarer Nachbarschaft gelegenen Großstädte war damit die intensivste in Hessen (Dettmer u. Kull 2018: 24)(für Angaben zu Reisezeit, Kosten und CO2 nach Verkehrsträger für diese und Vergleiche weiterer Top 15 Pendelrelationen siehe Abb. 7).
Ebenfalls besonders groß, jedoch mit 28 Kilometer Entfernung Luftlinie deutlich weiter, war der Pendelstrom von der hessischen Landeshauptstadt Wiesbaden. Etwa jede dreizehnte dort wohnende erwerbsfähige Person, pendelte von Wiesba-
Abbildung 7: Top 15 Tagespendelrelationen von und nach Frankfurt 2015: Umfang, Dauer, Kosten und CO2-Ausstoß 18 5,17 18 2,4 5,17 2,4
CO2
3,39 14 0,7
7,33 27 3,4
€
3,39
7,33
0,7
3,4
CO2
22 7,33 22 3,4 7,33 3,4
27
14
€
20
€
22
€
3,39 22 1,0 3,39
CO2
€
1,0
CO2
19
€
CO2
CO2
3,39 20 0,9
€
3,39
6,47
€
3,39
7,33
€
3,39
6,90 22 3,2
1,0
6,90
Schwalbach a. T.
3,0
0,9
CO2
a. T. 22 Schwalbach 18
46 Sulzbach
35
3,39 17 1,0
3,4
6,47 19 3,0
Sulzbach 1,0
€
16,82 35 7,9
4,55 46 2,4
8,19 22 3,8
CO2
3,39 18 1,1
Eschborn
CO2
16,82
€
4,55
8,19
€
3,39
Eschborn
7,9
€
3,8
2,4
CO2
CO2
17
€ CO2
20
3,39 20 1,0
CO2
22 7,33 22 3,4
1,1
CO2
22
Bad Homburg v. d. Höhe 15 3,2
9 7 9 2 167 2 132 8 938
36
21 5 950
Rüsselsheim a. M. 21 5 950
€
16,82 36 7,9 16,82
CO2
€
7,9
CO2
4,55
21
38 2,4 4,55
8,62 21 4,0
2,4
8,62 4,0
23
11,64 27 5,4
CO2
3,39 23 1,7
11,64
€
3,39
5,4
17
CO2
1,7
23 9,06 23 4,2 9,06 4,2
€ CO2
€ CO2
5
10 km
0
5
10 km
3,39
3,39 1,3
17 1,2 € 3,39
CO2
2,8
24
€ CO2
3,39 24 0,8
€
3,39 0,8
CO2
Maintal 14 7 433 14 7 433
Hanau 20 8 070
2 358 Hanau 20 8 070 2 358
Offenbach a. M.
8 6 040 3 762 Dreieich 12 5 232
9 20 502 Offen7 343 bach a. M. 9 13 20 502 7 343 2,59 13 1,2 2,59
28
€ CO2
3,39 22 0,3
€
3,39
1,2
Dreieich 12 5 232
0,3
CO2
21
CO2
€
8,19 3,8
CO2
3,39 20 1,1
€
3,8 11
1,2
CO2
4,55 30 1,1 4,55 1,1
17
11 CO 1,2 2,59 €
20
€
CO2
8,19
Neu-Isenburg 2,59 €
8,19 21 3,8
30
€
8,19 28 3,8
22
Neu-Isenburg
2
3,39 17 0,3 3,39
CO2
0,3
3,39 1,1
Darmstadt 26 8 155 3 966 Darmstadt 26 8 155 3 966
30 15,09 30 7,0 7,0
Distanz Luftlinie in km Anzahl Einpendelnde Gemeinde Anzahl Auspendelnde Distanz Luftlinie in km Anzahl Einpendelnde Anzahl Auspendelnde
20 6,04 20 2,8 6,04
15,09
1,2
0,5
11 7 507 Bad 2 253 Vilbel 11 7 507 2 253
3,39 19 1,3
CO2
Gemeinde
0
€
1,6
15 5 912 Mörfelden1 928 Walldorf 15 5 912 1 928 19
€ 3,39
CO2
3,45
Bad Vilbel
8 6 040 3 762
MörfeldenWalldorf
Rüsselsheim a. M.
38
CO2
3,39 20 0,5
Frankfurt am Main
Mainz
20
€
Frankfurt am Main
a. M.
€
16 3,45 16 1,6
Maintal
13 4 993
27
1,0
7 12 9 1 856 2 132 8 938
17 5 790 1 737 a. T.Hattersheim Hofheim 17 a. M. 5 790 13 1 737 4Hattersheim 993
33 8 594 2 074 Mainz 33 8 594 2 074
€ CO2
3,39 21 1,0 3,39
i. T.
Hofheim a. T.
28 13 677 4 574 Wiesbaden 28 13 677 4 574
CO2
6 896 Bad Homburg 4 927 Oberursel v. d. Höhe 15 13 6 896 6 844 4 927 3 568 KronbergOberursel i. T. 13 12 6 844 1 856 3 568 Kronberg
9 2 167
Wiesbaden
21
€
39
€ CO2
€ CO2
Einpendelnde Auspendelnde Einpendelnde Gemeindegrenze Auspendelnde Frankfurt am Main Gemeindegrenze Frankfurt am Main
4,55 39 2,2 4,55 2,2
einfache Strecke per PKW ÖPNV in Min. Dauer Strecke einfache per PKW Kosten € in €ÖPNV in Min. Dauer CO2-Ausstoß CO in kg Kosten € in € Lorem ipsum
2
CO -Ausstoß
CO2
in kg
Quelle: Bürgeramt, Statistik und 2Wahlen, Stadt Frankfurt am Main. Daten: ADAC; Hessisches Statistisches Landesamt; RMV; Umweltbundesamt. Abweichungen zwischen dem Produkt von Distanzen und Anzahl der Tagespendelnden und kumulierten Distanzen sind rundungsbedingt. Grundlagen zur Berechnung der Kosten für den Pkw nach WLTP-Zyklus siehe Kostencheck des ADAC, für die Kosten des ÖPNV siehe RMV (persönliche Jahreskarte). Für die Berechnung des CO2-Ausstoßes siehe CO2-Rechner des Umweltbundesamtes. Lorem ipsum
STADTFORSCHUNG UND STATISTIK 1|2020
67
Schwerpunkt Stadt – Region.
den nach Frankfurt zur Arbeit. Darmstadt–Frankfurt war trotz einer Luftlinienentfernung von 26 Kilometern eine der Top 10 Pendelstrecken in Hessen. Und auch mehr als jede bzw. jeder siebte erwerbsfähige Hanauerin und Hanauer fuhr täglich rund 20 Kilometer berufsbedingt nach Frankfurt.
Intensität der Pendelverflechtungen räumlich divers Durch naturräumliche, siedlungsspezifische und infrastrukturelle Bedingungen, aber auch durch das Mobilitätsverhalten von Erwerbstätigen, bildet sich die Pendelintensität nicht gleichförmig, mit größerer Distanz abnehmend, im Raum aus. Vor allem die räumliche Struktur von Städten und Gemeinden aber auch das Netz von Verkehrswegen prägt sich auf die Pendelverflechtungen von Frankfurt mit seinem Umland und die Arbeitsmarktregion durch.
Weit ausgreifende Pendelverflechtungen entlang der Hauptverkehrsachsen Insbesondere nach Süden reichten die Pendelverflechtungen weit in die Metropolregion FrankfurtRheinMain hinein und auch darüber hinaus. 2.205 Personen, bzw. ein Prozent der erwerbsfähigen Bevölkerung Mannheims nahmen beispielsweise täglich die Entfernung von 69 Kilometer Luftlinie auf sich, um in Frankfurt zu arbeiten. Aus dem 79 Kilometer Luftlinie entfernt liegenden Heidelberg pendelten über die baden-württembergisch-hessische Landesgrenze immerhin noch 842 Erwerbstätige täglich nach Frankfurt. Dass ein Großteil des Pendelverkehrs über gut ausgebaute Verkehrsachsen wie Autobahnen, Bahnschnellstrecken und hochfrequentierte Schienenverbindungen des öffentlichen Personennahverkehrs abgewickelt wurde, zeigt sich auch in der Intensität weiterer Pendelrelationen. An Haltepunkten der ICESchnellfahrstrecke Köln–Frankfurt und der Autobahn 3 gelegen, wiesen auch das 51 Kilometer entfernte Limburg an der Lahn
Abbildung 8: Hochfrequentierte Schienenverbindungen – Tagespendelnde legen teils weite Strecken zurück (© Stadt Frankfurt Stefan Maurer)
und das kleine, 70 Kilometer entfernte Montabaur besonders viele Pendelnde in Richtung Frankfurt auf. Ähnlich weit ausgreifende Pendelverflechtungen bestanden entlang der Siedlungsund Verkehrsachsen in Richtung Osten und Südosten. Die stärkste Pendelrelation über eine Landesgrenze hinweg in Richtung Frankfurt bestand mit der 33 Kilometer Luftlinie entfernten rheinland-pfälzischen Landeshauptstadt Mainz. Sie bildete den fünftstärksten Pendelstrom in die Main-Metropole.
Preisunterschiede für Wohnimmobilien fördern bzw. hemmen Pendelverflechtungen Neben der Verkehrsanbindung hatte die Wohnungs- und Arbeitsmarktentwicklung entscheidenden Einfluss auf die langfristigen Trends von Pendelströmen. Parallel zum seit Jahren boomenden Frankfurter Arbeitsmarkt (Stadt Frankfurt am Main 2018: 128), schritt auch die Entwicklung der Neuvertragsmieten für Wohnraum in den Jahren seit 2015 weiter voran (Feld et al. 2019: 12 ff.). 2018 lagen die Mieten bei Abschluss eines neuen Mietvertrages in Frankfurt am Main im Durchschnitt bei 12,58 Euro pro Quadratmeter. Besonders stark kletterten die Preise für Wohneigentum. Bis zum dritten Quartal 2018 stiegen sie gegenüber dem Vorjahresquartal um 13,2 Prozent. Mit einem durchschnittlichen Kaufpreis von 4.350 Euro pro Quadratmeter lagen die Kosten für Eigentumswohnungen in keiner anderen deutschen Großstadt bis auf München so hoch wie in Frankfurt. Die Wohnungsmarktentwicklung wirkte, regional gesehen, nicht nur als treibend, sondern auch hemmend auf die Entwicklung der Pendelrelationen, je nach Stand und Entwicklung von Preisunterschieden. „In den Gemeinden der Frankfurter Umlandkreise reichte die Spanne der Neuvertragsmieten 2018 von 86,2 % (Bad Homburg v. d. Höhe) bis 42,0 % (Birstein) des Frankfurter Niveaus“ (Feld et al. 2019: 261). Der Mietmarkt im Frankfurter Umland beförderte damit weiterwachsende Pendelströme mit Ausrichtung auf den Arbeitsort Frankfurt – wenn auch unterschiedlich stark. Preisvorteile von im Schnitt 13,8 Prozent im Falle von Bad Homburg dürften jedoch durch die Kosten des Pendelns in etwa kompensiert worden sein, während größere Differenzen die Trennung von Wohn- und Arbeitsort begünstigten. Obwohl die Unterschiede im Mietpreisniveau mittlerweile vergleichsweise gering ausfallen, pendelten auch aus den südlich des Taunus-Hauptkamms gelegenen Gemeinden täglich tausende Erwerbstätige nach Frankfurt. Für diese Gemeinden ist daher zukünftig eine unterdurchschnittliche Entwicklung der Pendelströme in Richtung Frankfurt zu erwarten.
Kaufpreise unterscheiden sich räumlich stärker als Mietpreise Die Preisniveaus von Wohneigentum unterschieden sich im Frankfurter Umland deutlich stärker als die Mietpreisniveaus (Abb. 10). Der Median des Kaufpreisniveaus von Eigentumswohnungen (52,9 %) bzw. von Ein- und Zweifamilienhäusern (66,7 %) lag im Umland deutlich unter dem Preisniveau in Frankfurt, variierte zwischen den Gemeinden aber stark.
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STADTFORSCHUNG UND STATISTIK 1|2020
Schwerpunkt Aktuelle Befunde zu Wohnungsmarkt, Pendlerbeziehungen und Bevölkerungsentwicklung
Abbildung 9: Innerstädtisches Wohnen – Eigentum nur in München teurer (© Stadt Frankfurt Stefan Maurer)
Abbildung 10: Miet- und Kaufpreisniveau in den Gemeinden der Frankfurter Umlandkreise in Relation zur Kernstadt 2018
120
114,2
100 86,2 80,9
80
Spannweite
60
52,9 40
42,0 31,1
20 Miete (Wohnungen)
Maximum
66,7
63,3
Kauf (Eigentumswohnungen)
27,1 Kauf (Ein-/Zweifamilienhäuser)
Median
Minimum in % des Indexwertes Frankfurt am Main = 100
Quelle: Bürgeramt, Statistik und Wahlen, Stadt Frankfurt am Main, verändert nach Feld et al. 2019: 261. Mittleres Angebotspreisniveau (Median) auf Gemeindeebene, Bestandsobjekte mittlerer Ausstattungsqualität, 40 bis 120 m² (Miete, Eigentumswohnungen) bzw. 80 bis 240 m² (Ein- und Zweifamilienhäuser). Datenbasis: sämtliche Miet- und Kaufinserate von ImmobilienScout24 in den Umlandkreisen von Frankfurt am Main aus den ersten drei Quartalen 2018.
STADTFORSCHUNG UND STATISTIK 1|2020
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Schwerpunkt Stadt – Region.
Kaufpreisniveau von Wohnungen im Vordertaunus hemmt zunehmende Pendelströme Ein umgekehrtes Stadt-Land-Preisgefälle zeigte sich für einige nördlich von Frankfurt gelegene Gemeinden. Insbesondere einige Kommunen im Vordertaunus wiesen ein höheres Kaufpreisniveau für Ein- und Zweifamilienhäuser auf als Frankfurt (Abb. 11). In Kronberg, einer der kaufkraftstärksten Kommunen in Deutschland, lag das Kaufpreisniveau für Ein- und Zweifamilienhäuser um 14,2 Prozent über dem gesamtstädtischen Median in Frankfurt (Feld et al. 2019: 263). Das geringe Kaufpreisgefälle spiegelte sich auch in einem vergleichsweise kleinen Einpendelndenüberschuss wider. Dass die Pendelströme in Richtung Frankfurt aus den Gemeinden nordwestlich der Stadt nicht noch stärker wuchsen, hatte neben den Wohnungsmarktbedingungen einen weiteren Grund: Es gab Kommunen, die – wie insbesondere Eschborn – ein großes, wachsendes Arbeitsplatzangebot aufwiesen. Ihre Lagegunst mit idealer Verkehrsanbindung an die Metropole Frankfurt und zugleich hoher Freizeitqualität mach-
te sie zu besonders attraktiven Standorten für Unternehmen aus dem quartären Sektor. Diesen gelang es mit Betrieben in solch bevorzugter Lage besonders gut, hochqualifizierte Arbeitskräfte, unter anderem für die Bereiche Forschung und Entwicklung, zu rekrutieren.
Einzig Taunusgemeinden mit positivem Pendelndensaldo – insbesondere Eschborn Besonders groß war der Strom von Auspendelnden aus Frankfurt mit dem Ziel Eschborn. Die 8.938 aus Frankfurt an den Arbeitsort Eschborn Pendelnden entsprachen mehr als zwei Dritteln (67,2 %) der dort wohnenden erwerbsfähigen Personen. Dies stellte nicht nur den größten Strom von Pendelnden aus Frankfurt dar, sondern war auch die am vierthäufigsten frequentierte Pendelrelation in Hessen. Eschborn konnte mit 5.083 Erwerbstätigen als einzige Kommune neben Sulzbach (620) im Saldo mehr Erwerbstätige aus Frankfurt anziehen, als es an die größte Stadt Hessens abgab.
Abbildung 11: Kaufpreisniveau für Ein- und Zweifamilienhäuser in den Gemeinden in Frankfurter Umlandkreisen in Relation zur Kernstadt 2018
Wetteraukreis Hochtaunuskreis Main-Kinzig-Kreis
Main-TaunusKreis
Frankfurt am Main
Offenbach am Main
Offenbach Groß-Gerau
Gemeindegrenze Kreisgrenze gemeindefreies Gebiet
0
5
10 km
bis 39 40 bis 49 50 bis 59 60 bis 69 70 bis 99 mehr als 100 in % des Indexwertes Frankfurt am Main = 100
Quelle: Bürgeramt, Statistik und Wahlen, Stadt Frankfurt am Main, verändert nach Feld et al. 2019: 264.
70
STADTFORSCHUNG UND STATISTIK 1|2020
Schwerpunkt Aktuelle Befunde zu Wohnungsmarkt, Pendlerbeziehungen und Bevölkerungsentwicklung
Abbildung 12: Täglich pendelnde Erwerbstätige mit dem Wohnort Frankfurt am Main 2015
NordrheinWestfalen
Marburg
260 furterinnen und Frankfurter fahren täglich innerhalb der Stadt zur Arbeit.
Hessen Gießen Wetzlar
Eschborn und wohnen in Frankfurt. Nidda
Dernbach Limburg a. d. Lahn
Wölfersheim
Butzbach
Bad Nauheim
Usingen
Schlüchtern
Friedberg Neu- Wehrheim Anspach Büdingen Rosbach v. d. Höhe Altenstadt Waldems Schmitten Wächtersbach Friedrichsdorf Gründau Karben Nidderau Kronberg i. T. Hammersbach Idstein Bad HomGlashütten Bad Orb Schöneck burg v. d. Oberursel Höhe Bruchköbel Königstein i. T. Bad Gelnhausen Langenselbold Bad Soden a. T. Niederdorfelden Steinbach Vilbel Niedernhausen Kelkheim Maintal Erlensee Schwalbach a. T. Eppstein Taunusstein SulzLiederbach a. T. Hanau bach Eschborn Mühlheim a. M. Alzenau Hofheim Offenbach Kriftel a. T. Obertshausen a. M. Wiesbaden Hainburg Eltville a. R. Hattersheim a. M. KelsterNeuSeligenstadt Geisenheim Heusenbach Flörsheim a. M. Isenburg stamm Mainhausen Hochheim a. M. Raunheim DietzenDreieich bach Rüdesheim a. R. Kleinostheim Aschaffenburg MörfeldenLangen RüsselsRodgau Mainz heim a. M. Walldorf Babenhausen BischofsIngelheim a. R. Egelsbach Rödermark Nauheim Ginsheim- heim Weiterstadt Gustavsburg Dieburg Großostheim Groß-Gerau Darmstadt Groß-Umstadt Riedstadt Groß-Zimmern 343 erwerbsGriesheim Bad Kreuznach tätige Frankfurter/-innen zur Arbeit. Pfungstadt
Bayern
Gernsheim Seeheim-Jugenheim
Rheinland-Pfalz
Bensheim
Worms
Mannheim Ludwigshafen a. R.
924 Erwerbstätige aus Frankfurt fahren 1
0
10
BadenWürttemberg
Weinheim
Auspendelnde
Heidelberg
ro Tag.
20 km
Gemeindegrenze Bundeslandgrenze Frankfurt a. M.
Anzahl
100
500 1 000
2 000
5 000
51 − 100 101 − 500 501 − 1 000 1 001 − 2 000 2 001 − 5 000 5 001 −
Quelle: Bürgeramt, Statistik und Wahlen, Stadt Frankfurt am Main. Daten: Bundesamt für Kartographie und Geodäsie; Hessisches Statistisches Landesamt. Berücksichtigt wurden Gemeinden, in die täglich mindestens 50 Erwerbstätige mit dem Wohnort Frankfurt am Main pendelten.
STADTFORSCHUNG UND STATISTIK 1|2020
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Schwerpunkt Stadt – Region.
Städte im Umland besonders attraktiv für erwerbstätige Frankfurterinnen und Frankfurter Vor allem Städte im direkten Umland waren weitere Anziehungspunkte für Berufspendelnde aus Frankfurt. Ins nahegelegene Offenbach pendelten täglich 7.343 Frankfurterinnen und Frankfurter zur Arbeit (Abb. 7 und 12). Auch die Städte an der südlichen Taunusabdachung zogen besonders viele Berufstätige aus Frankfurt an. Anziehungspunkte für Berufspendelnde aus Frankfurt boten ebenso die in unmittelbarer Nachbarschaft nördlich und südlich gelegenen Städte Neu-Isenburg und Bad Vilbel sowie das rund 20 Kilometer Luftlinie entfernt liegende Hanau.
Auch weiter entfernte Städte bieten attraktive Arbeitsplätze für aus Frankfurt Pendelnde Viele Erwerbstätige mit dem Wohnort Frankfurt pendelten in die Großstädte der Metropolregion zur Arbeit, vor allem nach Wiesbaden, Darmstadt und Mainz. Auch mit deutlich weiter entfernten Städten bestanden intensive Pendelrelationen – ähnlich wie in Richtung Frankfurt –, wenn auch absolut gesehen in geringerem Umfang. Mannheim zog deutlich weniger als halb so viele Erwerbstätige an, als von dort in anderer Richtung nach Frankfurt einpendelten. Auch nach Heidelberg, Gießen und Aschaffenburg pendelten täglich mehr als 500 Berufstätige aus Frankfurt zur Arbeit.
Rahmenbedingungen zukünftiger Entwicklungen von Pendelströmen Neben dem in Relation zu den meisten Umlandgemeinden erhöhten Preisniveau auf dem Wohnungsmarkt induzierten die hohe und seit 2015 weiter gestiegene Arbeitsplatzdichte (Stadt Frankfurt am Main 2018: 131) weiter zunehmende Pendelströme. Dazu trägt auch der Ausbau der Verkehrsinfrastruktur, sowohl für die Nahdistanz u.a. mit Radschnellwegen (Regionalverband FrankfurtRheinMain 2019) als auch im Personenfernverkehr u. a. mit dem Ausbau des Eisenbahnknotenpunktes Frankfurt am Main (Deutscher Bundestag 2018: 4) bei. Ebenso ist die Förderung von Wohnungsbau im erweiterten Umland von Frankfurt (Bebenburg 2019: F1) geeignet, größere Pendelströme über längere Distanzen zu bewirken.
Bessere Datenlage bietet Chance für genauere Modellierung von Tagespendelrelationen Die Analyse des Pendelverhaltens von Erwerbstätigen ermöglicht einen umfassenderen Blick auf das Phänomen beruflich induzierter Mobilität, als sie eine rein auf sozialversicherungspflichtig Beschäftigte fokussierte Berichterstattung bieten kann. In der Kombination mit anderen Quellen, u. a. zu zeitlichen und finanziellen Kosten oder dem Modal Split besitzen diese Daten das Potential, sowohl infrastrukturelle wie auch individuelle Belastungen durch Pendelmobilität abzubilden.
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STADTFORSCHUNG UND STATISTIK 1|2020
Zur Beantwortung der Frage, ob und in wie weit die Überwindung von größeren Pendeldistanzen individuell lohnenswert erscheint, tragen nicht nur verkehrliche sowie arbeitsund wohnungsmarktspezifische Rahmenbedingungen bei. Den Abwägungen der Erwerbstätigen liegen unter anderem jeweils spezifische berufliche und private Aspekte zugrunde, die letztendlich in den aufgezeigten Ein- und Auspendelströmen resultieren. Den gegebenenfalls positiven beruflichen Gesichtspunkten des Pendelns stehen – mit zunehmender Pendeldistanz – unter Umständen auch negative entgegen. Über die für die Pendelstrecke aufzuwendenden zeitlichen und finanziellen Ressourcen hinaus werden von vielen Studien mittlerweile zusätzlich belastende Aspekte des Pendelns, wie beispielsweise die erhöhte Trennungswahrscheinlichkeiten von Paaren (Kley 2016) oder ein geringeres emotionales Wohlbefinden von Kindern, deren Eltern pendeln, aufgezeigt (Li u. Pollmann-Schult 2016). Diesen Aspekten wird vielfach durch eine Flexibilisierung von Arbeitszeit und -ort im Rahmen mobilen Arbeitens oder von Home-Office Lösungen begegnet. Inwieweit Arbeitswege durch flexible Arbeitsmodelle vermieden werden, kann mit klassischen Auswertungen anhand dichotomer Arbeitsort-Wohnort-Modelle wie in den Erwerbstätigenrechnungen oder Analysen von Meldedaten sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung nicht nachgezeichnet werden. Veränderungen in der Intensität von Pendelrelationen können hier eher über innovative Methoden u.a. anhand von Mobilfunkdatenauswertungen abgeschätzt werden (Bachmann 2019). Bei den Pendelndenrechnungen aus der regionalen Erwerbstätigenrechnung handelt es sich außerdem zwangsläufig um eine Berichterstattung, deren aktuellste Daten vergleichsweise weit zurückliegen und für die bisher nur in einem Bundesland eine kontinuierliche Berichterstattung angestrebt wird. Eine präzisere Einschätzung zum Grenznutzen von Tagespendeldistanzen könnten Reisezeitmodelle erbringen, die den zeitlichen Aspekt des Pendelns als Distanzmaßstab heranziehen. Mit daraus resultierenden differenzierteren Annahmen hinsichtlich der maximalen Entfernung, die täglich zurückzulegen von Erwerbstätigen noch als sinnvoll erachtet wird, ergäbe sich ein dem tatsächlichen Pendelverhalten besser adaptiertes Modell. In Bezug auf die Verbindungspläne öffentlicher Nahverkehrsträger existieren solche Berechnungen bereits (Wehrmeyer 2019). Multimodale Pendeldistanzmodelle, die Erreichbarkeiten für sowohl öffentliche als auch individuelle Nah- und Fernverkehrsmittel mit einbeziehen, bedürften einer Zusammenführung von Daten aus Reisezeit-Distanz-Modellen verschiedener Verkehrsträger. Eine solche Datengrundlage böte die Möglichkeit, die regionale Verflechtung von Städten durch beruflich induzierter Mobilität genauer in den Blick zu nehmen und so zukünftige verkehrsplanerische sowie wohnungsmarktpolitische Maßnahmen zu adressieren.
1
Bei diesen Angaben berücksichtigt sind nur die Pendelnden aus Hessen und den daran angrenzenden Bundesländern.
Schwerpunkt Aktuelle Befunde zu Wohnungsmarkt, Pendlerbeziehungen und Bevölkerungsentwicklung
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73
Schwerpunkt Stadt – Region.
Stefan Lenz
Heidelberg, die Einpendlerhochburg
Die Entwicklungen und Veränderungen der Pendlerzahlen und -bewegungen spiegeln die Verschiebung auf dem regionalen Arbeits- und Wohnungsmarkt wieder. Ebenso geben Sie einen Hinweis auf die Qualität eines Standorts. Als Wissenschaftsstadt und Dienstleistungsschwerpunkt kommt der Stadt Heidelberg innerhalb der Metropolregion Rhein-Neckar eine herausragende Stellung zu. Inhalt dieses Beitrags ist die Darstellung der Pendlerbewegungen innerhalb der Region und vor allem die Entwicklung der Ein- und Auspendler nach und von Heidelberg zwischen 2010 und 2017. Hierbei wird der Fokus auf die Verflechtungen mit den Gemeinden des Rhein-Neckar-Kreises sowie Mannheim und Ludwigshafen gelegt.
Seit 1992 enthält die Beschäftigtenstatistik neben dem Arbeitsplatz auch Informationen zum Wohnort des erfassten Personenkreises. Die Bundesagentur für Arbeit stellt auf dieser Basis jährlich Angaben zu den ein- und auspendelnden sozialversicherungspflichtig Beschäftigten zur Verfügung. In der Erhebung werden aus methodischen Gründen nur die sozialversicherungspflichtig Beschäftigten erfasst. Beamte, Selbständige, mithelfende Familienangehörige sowie geringfügig Beschäftigte sind hier nicht enthalten. Auf Grundlage der zur Verfügung stehenden Daten kann nicht festgestellt werden, ob der Arbeitsweg täglich oder in einem anderen Rhythmus zurückgelegt wird. Ebenso kann keine Aussage zu den genutzten Beförderungsmitteln getroffen werden. Eine kleinräumigere Aufbereitung der Pendlerdaten zum Beispiel auf Ebene der Stadtteile ist datentechnisch leider nicht möglich. Die aktuellste Auswertung liegt zum 30. Juni 2017 vor. Nach Definition der Bundesagentur für Arbeit gelten alle Personen, deren Arbeitsplatz beziehungsweise betrieblicher Ausbildungsplatz in einer anderen Gemeinde als der Wohnsitzgemeinde liegt als Pendler. Nach der Richtung der Pendlerwanderung wird zwischen Auspendlern und Einpendlern unterschieden. Personen, die von der Wohnsitzgemeinde in eine andere Gemeinde zur Arbeit beziehungsweise Ausbildung fahren, gelten als Auspendler. Betrachtet man dieselben Pendler dagegen von den Zielgemeinden her, in denen die
Abbildung 1: Erwerbstätige in Heidelberg 2010 und 2017
2010
Stefan Lenz Diplom-Geograph, Abteilungsleiter Statistik im Amt für Stadtentwicklung und Statistik der Stadt Heidelberg : stefan.lenz@heidelberg.de Schlüsselwörter: Arbeitsort – Beschäftigtenstatistik – Heidelberg – Pendlerverflechtung – Wohnort – Einpendler
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31.399
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40.000
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60.000
g e ge
g
e e
30.627
ge e e e
e
80.000 zu
ge
30. u ge
e
100.000 e
e
e
e u
120.000
140.000
e
Quelle: Bundesagentur für Arbeit; Arbeitskreis „Volkswirtschaftliche Gesamtrechnung der Länder; Amt für Stadtentwicklung und Statistik, Stadt Heidelberg.
Schwerpunkt Aktuelle Befunde zu Wohnungsmarkt, Pendlerbeziehungen und Bevölkerungsentwicklung
Arbeits- und Ausbildungsstätten liegen, so spricht man von Einpendlern. In 2017 waren in Heidelberg circa 121.800 Personen erwerbstätig. Rund 91.200 (74,9 Prozent) der Erwerbstätigen sind sozialversicherungspflichtig Beschäftigte am Arbeitsort Heidelberg. Die Analyse der Pendlerbewegungen bildet die räumlichen Verflechtungen dieser Beschäftigtengruppe für den gesamten Arbeitsmarkt sehr gut ab. Bei den Selbständigen und mithelfenden Angehörigen ist davon auszugehen, dass Wohn- und Arbeitsort häufiger übereinstimmen.
Beschäftigtenentwicklung Entwicklung der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten am Arbeitsort Heidelberg Sozialversicherungspflichtig Beschäftigte am Arbeitsort sind Personen, welche ihren Arbeitsplatz in der jeweiligen Gemeinde haben. Die Anzahl ergibt sich aus den sozialversicherungspflichtig Beschäftigten, bei denen Arbeitsort und Wohnort gleich sind, sowie den sozialversicherungspflichtig beschäftigten Einpendlern.
2010 waren noch circa 479.000 Menschen in der Region sozialversicherungspflichtig beschäftigt. Zwei Jahre später wurde erstmals die Marke von einer halben Million überschritten. Zum 30. Juni 2017 stieg die Zahl weiter kontinuierlich auf fast 547.800 an. Dies entspricht einem Anstieg um 14,3 Prozent oder circa 68.700. Im Vergleich mit Mannheim (+ 11,7 Prozent) und Ludwigshafen (+ 14,0 Prozent) hat Heidelberg im Betrachtungszeitraum mit 14,3 Prozent den größten Zuwachs an sozialversicherungspflichtig Beschäftigten am Arbeitsort. Im Rhein-Neckar-Kreis stiegen zwischen 2010 und 2017 die sozialversicherungspflichtig Beschäftigten um 17,6 Prozent oder mehr als 25.300 Personen. Damit war der Anstieg im Kreis prozentual höher als in den drei Großstädten Heidelberg, Mannheim und Ludwigshafen. Dieser starke Anstieg fokussiert sich im Wesentlichen auf die drei Gemeinden Walldorf, Weinheim und Sinsheim, die mehr als 40 Prozent oder circa 10.600 der neu hinzugekommenen sozialversicherungspflichtig Beschäftigten im Rhein-Neckar-Kreis für sich verbuchen konnten. Ausschlaggebend für diese Zunahme dürfte zum einen die Verlagerung der Heidelberger Druckmaschinen AG von Heidelberg in das Doppelzentrum Wiesloch-Walldorf sein, sowie eine gute wirtschaftliche Situation der regionalen Aushängeschilder
Abbildung 2: Entwicklung der Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter zwischen 2011 und 2017
Quelle: Statistisches Landesamt Baden-Württemberg; Amt für Stadtentwicklung und Statistik, Heidelberg.
STADTFORSCHUNG UND STATISTIK 1|2020
75
Schwerpunkt Stadt – Region.
SAP in Wiesloch-Walldorf und Freudenberg in Weinheim. Das Wachstum in Sinsheim basiert auf der Ausweitung ortsansässiger Gewerbebetriebe. Im Mittelbereich Heidelberg (ohne Stadt Heidelberg) nahmen die sozialversicherungspflichtig Beschäftigten lediglich um 13,9 Prozent oder 3.020 Personen zu. In den 57 untersuchten Gemeinden stiegen in 48 die sozi-
alversicherungspflichtig Beschäftigten an. In neun Gemeinden zeigte sich eine negative Entwicklung. Die Spannbreite der Änderungen im Untersuchungsraum reichen von minus 21,9 Prozent in Schönbrunn bis zu einem Plus von 93,8 Prozent in Heddesheim. Insgesamt kann von einer positiven Arbeitsplatzentwicklung in der Region gesprochen werden.
Abbildung 3: Entwicklung der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten am Arbeitsort nach Gemeinden zwischen dem 30. Juni 2010 und 30. Juni 2017
Quelle: Statistisches Landesamt Baden-Württemberg; Amt für Stadtentwicklung und Statistik, Heidelberg.
Tabelle 1: Entwicklung der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten am Arbeitsort zwischen dem 30. Juni 2010 und 30. Juni 2017 Gemeinde
2010
2017
Entwicklung
2010/2017
absolut
absolut
absolut
in Prozent
Heidelberg
79.801
91.173
11.372
14,3
Mannheim
165.889
185.371
19.482
11,7
89.453
102.017
12.564
14,0
Ludwigshafen Mittelbereich Heidelberg (ohne Stadt Heidelberg) restlicher Rhein-Neckar-Kreis
21.800
24.820
3.020
13,9
122.088
144.381
22.293
18,3
Rhein-Neckar-Kreis
143.888
169.201
25.313
17,6
Insgesamt
479.031
547.762
68.731
14,3
Quelle: Bundesagentur für Arbeit; Amt für Stadtentwicklung und Statistik, Stadt Heidelberg.
76
STADTFORSCHUNG UND STATISTIK 1|2020
Schwerpunkt Aktuelle Befunde zu Wohnungsmarkt, Pendlerbeziehungen und Bevölkerungsentwicklung
Entwicklung der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten am Wohnort Heidelberg Sozialversicherungspflichtig Beschäftigte am Wohnort sind Personen, welche ihren Wohnort in der jeweiligen Gemeinde haben. Die Anzahl ergibt sich aus den sozialversicherungspflichtig Beschäftigten, bei welchen der Arbeitsort auch gleichzeitig der Wohnort ist, sowie den sozialversicherungspflichtig beschäftigten Auspendlern. In Heidelberg waren zum 30. Juni 2017 mehr als 51.200 Bewohner sozialversicherungspflichtig beschäftigt und somit knapp 10.300 Personen (+ 25,1 Prozent) mehr als noch im Jahr 2010. Bezogen auf die Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter ergibt dies, dass 45,7 Prozent aller Einwohner im Alter zwischen 18 bis 64 Jahren in sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnissen einer Arbeit nachgehen. Davon leben und arbeiten knapp 28.100 Menschen in Heidelberg. Dies zeigt die hohe Attraktivität Heidelbergs als Wohn- und Arbeitsstandort. Zusehends mehr Menschen leben und arbei-
Abbildung 4: Entwicklung der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten am Wohnort zwischen dem 30. Juni 2010 und 30. Juni 2017 130 125 120 115 110 105 100 95 2010
2011 e e eg e e eg
ge
25 1 e
2012 ze 15 0 17 9
2013 ze
2014 u
e g
2015 2016 19 3 ze e 19 5 ze
2017
ze
Quelle: Bundesagentur für Arbeit; Amt für Stadtentwicklung und Statistik, Stadt Heidelberg.
Abbildung 5: Entwicklung der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten am Wohnort nach Gemeinden zwischen dem 30. Juni 2010 und 30. Juni 2017
Quelle: Statistisches Landesamt Baden-Württemberg; Amt für Stadtentwicklung und Statistik, Heidelberg.
STADTFORSCHUNG UND STATISTIK 1|2020
77
Schwerpunkt Stadt – Region.
ten in Heidelberg. Seit 2010 hat die Zahl der Beschäftigten, welche in Heidelberg wohnen und arbeiten von circa 24.300 um knapp 3.800 auf fast 28.100 zugenommen (Tabelle 12). Im Zuge der Entwicklung der Konversionsflächen und der weiteren Entwicklung der Bahnstadt ist davon auszugehen, dass zukünftig mehr Menschen in Heidelberg leben und arbeiten. Eine Grundvoraussetzung ist dabei, dass neuer Wohnraum für die erwerbsfähige Bevölkerung bereitgestellt werden muss. In allen Gemeinden des Untersuchungsraumes stiegen die sozialversicherungspflichtig Beschäftigten am Wohnort an. Die Spannbreite im Untersuchungsraum lag zwischen plus 3,3 Prozent in Mauer und plus 25,1 Prozent in Heidelberg. Heidelberg weist im Betrachtungszeitraum mit 25,1 Prozent den größten Zuwachs an sozialversicherungspflichtig Beschäftigten am Wohnort in der gesamten Region aus. Die Städte Ludwigshafen (+ 19,5 Prozent) und Mannheim (+ 19,3 Prozent) liegen ebenfalls über dem Durchschnitt der Region (+ 17,9 Prozent). Der Rhein-Neckar-Kreis hat sich mit 15,0 Prozent ebenso positiv entwickelt, allerdings nicht so stark wie die Oberzentren. Insbesondere Heidelberg hat als Schwarmstadt eine sehr hohe bundesweite Anziehungskraft.
Berufseinpendler Gemessen an der Einpendlerzahl verfügt die Universitätsstadt im Verhältnis zu ihrer Größe über die höchste Arbeitsplatzzentralität. Zur Jahresmitte 2017 waren in Heidelberg rund 91.200 Menschen sozialversicherungspflichtig beschäftigt. Das sind circa drei Viertel aller Beschäftigten (121.800). Davon pendeln mehr als zwei Drittel oder rund 63.100 Personen nach Heidelberg ein (69,2 Prozent). Damit hat Heidelberg im Untersuchungsraum und in Baden-Württemberg unter den Oberzentren die höchste Einpendlerquote1. Ludwigshafen
Abbildung 6: Einpendlerquote in den 9 Stadtkreisen von BadenWürttemberg und Ludwigshafen zum 30. Juni 2017
kommt vor allem wegen BASF auf einer Einpendlerquote von 68,9 Prozent, Ulm auf 67,2 Prozent. Während in den Oberzentren Mannheim, Karlsruhe, Pforzheim und Ulm die Einpendlerquote leicht anstieg, ist sie in Heidelberg in den letzten Jahren relativ stabil geblieben. Da jedoch die Zahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten anstieg, führte dies auch zu einem Anstieg der Einpendler – bei gleichbleibender Quote. Zum 30. Juni 2010 lag die Zahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten bei über 79.800 Personen und ist seitdem um knapp 11.400 Beschäftigte (+ 14,3 Prozent) auf circa 91.200 im Jahr 2017 angestiegen. Die Zahl der Einpendler stieg im gleichen Zeitraum von 55.350 um circa 7.750 oder 14,0 Prozent auf 63.100 an. Von drei Arbeitsplätzen, die seit 2010 neu geschaffen wurden, pendeln zwei Arbeitnehmer nach Heidelberg ein (68,0 Prozent). Im Vergleich der Oberzentren in der Region weist Ludwigshafen mit 15,5 Prozent den höchsten Zuwachs auf, dicht gefolgt von Heidelberg (14,0 Prozent). Mannheim weist mit 12,6 Prozent einen geringeren Zuwachs auf. Während die Zahl der Einpendler nach Heidelberg von 2010 zu 2017 um 14,0 Prozent anstieg, stieg im gleichen Zeitraum die Zahl der Menschen die in Heidelberg leben und arbeiten mit 15,3 Prozent leicht überdurchschnittlich an. Heidelberg als Oberzentrum bietet vielen Menschen aus dem Umland attraktive Arbeitsplätze. Knapp über 44.300 (70,2 Prozent) der circa 63.100 Einpendler kamen aus dem Rhein-Neckar-Kreis, Mannheim oder Ludwigshafen. Dieser Anteil ist im Zeitraum 2010 bis 2017 um 2,9 Prozentpunkte gesunken. Die genannten Städte und der Rhein-Neckar-Kreis sind weiterhin das Gros des Heidelberger Arbeitskräftereservoirs. Absolut betrachtet, waren die Anstiege der Einpendler aus Mannheim, Ludwigshafen, Leimen und Weinheim am stärksten.
Abbildung 7: Sozialversicherungspflichtig Beschäftigte am Arbeitsort Heidelberg sowie Einpendler vom 30. Juni 2010 bis 30. Juni 2017 100.000
e e eg u
g
69 2
e
e
68 9
e e
80.000
67 2
70.000
67 0
60.000
30.000 60 3
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0
36 00
10 0
20 0
30 0
40 0
50 0
60 0
70 0
Quelle: Bundesagentur für Arbeit; Amt für Stadtentwicklung und Statistik, Stadt Heidelberg.
78
2 .728
26.068
26.
6
.69
7. 32
8.73
9. 2
60.
1
2011
2012
2013
2014
27.303
28.061
.3 1
62.2 6
63.07
2016
2017
10.000
9
z e
2 .367
20.000
83
e ug
2 .027
40.000
60
u g
2 .3 3
50.000
63 2 e
90.000
STADTFORSCHUNG UND STATISTIK 1|2020
2010
zu e z e eu g g e e e e e eg
ge
e
2015 e e eg
Quelle: Bundesagentur für Arbeit; Amt für Stadtentwicklung und Statistik, Stadt Heidelberg.
Schwerpunkt Aktuelle Befunde zu Wohnungsmarkt, Pendlerbeziehungen und Bevölkerungsentwicklung
Abbildung 8: Anzahl der Einpendler nach Herkunftsorten nach Heidelberg zum 30. Juni 2017
Quelle: Statistisches Landesamt Baden-Württemberg; Amt für Stadtentwicklung und Statistik, Heidelberg.
Abbildung 9: Entwicklung der Einpendler nach Heidelberg nach Herkunftsgemeinden zwischen 2010 und 2017
Quelle: Statistisches Landesamt Baden-Württemberg; Amt für Stadtentwicklung und Statistik, Heidelberg.
STADTFORSCHUNG UND STATISTIK 1|2020
79
Schwerpunkt Stadt – Region.
Tabelle 2: Herkunftsorte der Einpendler nach Heidelberg am 30. Juni 2010 im Vergleich zum 30. Juni 2017 Herkunftsort
Einpendler 30. Juni 2010
30. Juni 2017
Entwicklung 2010/2017
absolut
in Prozent
absolut
in Prozent
absolut
in Prozent
35.455
64,1
37.773
59,9
2.318
6,5
Gemeinden des Mittelbereichs Heidelberg1
17.452
31,5
18.449
29,2
997
5,7
übrige Gemeinden des Rhein-Neckar-Kreises
Rhein-Neckar-Kreis davon
18.003
32,5
19.324
30,6
1.321
7,3
Mannheim
4.200
7,6
5.356
8,5
1.156
27,5
Landkreis Karlsruhe
1.936
3,5
2.169
3,4
233
12,0
Stadt Karlsruhe
434
0,8
524
0,8
90
20,7
1.049
1,9
902
1,4
- 147
- 14,0
übriger Regierungsbezirk Karlsruhe2
276
0,5
313
0,5
37
13,4
Stuttgart
226
0,4
205
0,3
-21
-9,3
Landkreis Heilbronn
384
0,7
362
0,6
-22
-5,7
übriges Baden-Württemberg
1.340
2,4
1.401
2,2
61
4,6
Regierungsbezirk Darmstadt darunter
3.659
6,6
4.767
7,6
1.108
30,3
Kreis Bergstraße
2.342
4,2
2.762
4,4
420
17,9
Stadt Darmstadt
156
0,3
213
0,3
57
36,5
824
1,5
1.176
1,9
352
42,7
rheinland-pfälzischer Teil Metropolregion3
1.927
3,5
2.442
3,9
515
26,7
übriges Bundesgebiet, Ausland
3.631
6,6
5.685
9,0
2.054
56,6
55.341
100,0
63.075
100,0
7.734
14,0
Neckar-Odenwald-Kreis
Ludwigshafen
Insgesamt 1 2 3
Gemeinden des Mittelbereichs Heidelberg nach dem Landesentwicklungsplan 2002, Bammental, Dossenheim, Eppelheim, Gaiberg, Heddesbach, Heiligkreuzsteinach, Leimen, Neckargemünd, Nußloch, Sandhausen, Schönau, Schriesheim, Wiesenbach, Wilhelmsfeld, ohne Stadt Heidelberg Baden-Baden, Landkreis Rastatt, Pforzheim, Landkreis Calw, Enzkreis, Landkreis Freudenstadt außer Ludwigshafen: Frankenthal, Landau, Neustadt, Speyer, Worms/ Landkreise Bad Dürkheim, Germersheim, Südliche Weinstraße, RheinPfalz-Kreis Quelle: Bundesagentur für Arbeit, Amt für Stadtentwicklung und Statistik, Stadt Heidelberg.
Berufsauspendler Von den mehr als 51.200 sozialversicherungspflichtig Beschäftigten am Wohnort arbeiten etwa 28.100 in Heidelberg, die übrigen circa 23.200 haben ihren Arbeitsplatz außerhalb. Die sozialversicherungspflichtig Beschäftigten am Wohnort Heidelberg, welche auch hier arbeiten sind eine Schnittmenge zu den sozialversicherungspflichtig Beschäftigten am Arbeitsort Heidelberg. Mit einem Anteil von 45,2 Prozent an Auspendlern, gemessen an der Zahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten am Wohnort, liegt Heidelberg im Vergleich der Oberzentren in Baden-Württemberg auf einem vorderen Platz im Mittelfeld. Seit 2010 hat sich dieser Wert deutlich um 4,7 Prozentpunkte erhöht. Mit dieser Auspendlerquote liegt Heidelberg im Vergleich der drei Oberzentren der Region an mittlerer Position zwischen Ludwigshafen mit einer Quote von 50,5 Prozent und Mannheim mit 39,9 Prozent. Alle Gemeinden des RheinNeckar-Kreises weisen eine deutlich höhere Auspendlerquote auf als die drei Oberzentren der Region. Die Spannbreite liegt hier bei 67,0 Prozent in Weinheim und 96,1 Prozent in Gaiberg.
80
STADTFORSCHUNG UND STATISTIK 1|2020
Abbildung 10: Auspendlerquote2 in den 9 Stadtkreisen von Baden-Württemberg und Ludwigshafen zum 30. Juni 2017
u
g e
e
0
e
00
e
96
e e eg
2
z e
1
e
39 9 39 7
u e
37 7
u g
36
e ug
30 00
10 0
20 0
30 0
40 0
50 0
60 0
Quelle: Bundesagentur für Arbeit; Amt für Stadtentwicklung und Statistik, Stadt Heidelberg.
Schwerpunkt Aktuelle Befunde zu Wohnungsmarkt, Pendlerbeziehungen und Bevölkerungsentwicklung
Die Anzahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten am Wohnort Heidelberg ist im Zeitraum von 2010 bis 2017 um mehr als 10.300 Beschäftigte (+ 25,1 Prozent) auf knapp über 51.200 angestiegen. Zwei von drei dieser neuen Arbeitnehmer pendeln aus (6.600 oder 63,9 Prozent). Diese Menschen haben sich ganz bewusst für Heidelberg als Wohnstandort entschieden. Auch hier ist der Trend, die Stadt als Wohnort, klar erkennbar. Aufgrund der verhältnismäßig starken Zunahme der Auspendler erhöhte sich auch die Auspendlerquote von 40,5 Prozent um 4,7 Prozent auf 45,2 Prozent. Damit hat bald jeder zweite in Heidelberg wohnende sozialversicherungspflichtig Beschäftigte seinen Arbeitsplatz außerhalb der Stadtgrenze. Die Zahl der Auspendler hat sich im Zeitraum von 2010 bis 2017 von circa 16.600 auf annähernd 23.200 erhöht. Von den knapp 23.200 Auspendlern pendeln circa 14.000 (60,5 Prozent) in den Rhein-Neckar-Kreis sowie nach Mannheim und Ludwigshafen. Dieser Anteil ist im Zeitraum 2010 bis 2017 deutlich um 4,4 Prozent gefallen. Dennoch pendeln weiterhin 22,9 Prozent und damit fast jeder Vierte nach Mannheim oder
Abbildung 11: Sozialversicherungspflichtig Beschäftigte am Wohnort Heidelberg sowie Auspendler zwischen 30. Juni 2010 und 30. Juni 2017 60.000
50.000
40.000
30.000
2 .367
2 .728
26.068
2 .3 3
2 .027
16. 98
17.161
17.9 9
18.
19.3
2010
2011
2012
26.
6
27.303
28.061
20.000
10.000
0
8
2013
zu e z e eu g g e u e e u e e eg
2014
ge
W
20.660
22.127
23.167
2015
2016
2017
e e eg
Quelle: Bundesagentur für Arbeit; Amt für Stadtentwicklung und Statistik, Stadt Heidelberg.
Tabelle 3: Arbeitsorte der Auspendler aus Heidelberg am 30. Juni 2010 im Vergleich zum 30. Juni 2017 Herkunftsort
Auspendler 30. Juni 2010
30. Juni 2017
Entwicklung 2010/2017
absolut
in Prozent
absolut
in Prozent
absolut
in Prozent
6.849
41,3
8.708
37,6
1.859
27,1
Gemeinden des Mittelbereichs Heidelberg1
2.116
12,7
2.549
11,0
433
20,5
übrige Gemeinden des Rhein-Neckar-Kreises
4.733
28,5
6.159
26,6
1.426
30,1
Rhein-Neckar-Kreis davon
Mannheim
3.182
19,2
4.266
18,4
1.084
34,1
Landkreis Karlsruhe
348
2,1
615
2,7
267
76,7
Stadt Karlsruhe
414
2,5
638
2,8
224
54,1
Neckar-Odenwald-Kreis
95
0,6
195
0,8
100
105,3
übriger Regierungsbezirk Karlsruhe2
127
0,8
159
0,7
32
25,2
Stuttgart
373
2,2
500
2,2
127
34,0
97
0,6
224
1,0
127
130,9
Landkreis Heilbronn übriges Baden-Württemberg
497
3,0
864
3,7
367
73,8
Regierungsbezirk Darmstadt darunter
1.835
11,1
2.366
10,2
531
28,9
Kreis Bergstraße
445
2,7
555
2,4
110
24,7
Stadt Darmstadt
233
1,4
321
1,4
88
37,8
Ludwigshafen
733
4,4
1.045
4,5
312
42,6
rheinland-pfälzischer Teil Metropolregion3
443
2,7
575
2,5
132
29,8
übriges Bundesgebiet, Ausland Insgesamt 1 2 3
1.605
9,7
3.012
13,0
1.407
87,7
16.598
100,0
23.167
100,0
6.569
39,6
Gemeinden des Mittelbereichs Heidelberg nach dem Landesentwicklungsplan 2002 Bammental, Dossenheim, Eppelheim, Gaiberg, Heddesbach, Heiligkreuzsteinach, Leimen, Neckargemünd, Nußloch, Sandhausen, Schönau, Schriesheim, Wiesenbach, Wilhelmsfeld, ohne Stadt Heidelberg Baden-Baden, Landkreis Rastatt, Pforzheim, Landkreis Calw, Enzkreis, Landkreis Freudenstadt außer Ludwigshafen: Frankenthal, Landau, Neustadt, Speyer, Worms/ Landkreise Bad Dürkheim, Germersheim, Südliche Weinstraße, RheinPfalz-Kreis
Quelle: Bundesagentur für Arbeit, Amt für Stadtentwicklung und Statistik, Stadt Heidelberg.
STADTFORSCHUNG UND STATISTIK 1|2020
81
Schwerpunkt Stadt – Region.
Abbildung 12: Anzahl der Auspendler aus Heidelberg nach Zielgemeinden zum 30. Juni 2017
Quelle: Statistisches Landesamt Baden-Württemberg; Amt für Stadtentwicklung und Statistik, Heidelberg.
Abbildung 13: Entwicklung der Auspendler aus Heidelberg nach Zielgemeinden zwischen 2010 und 2017
Quelle: Statistisches Landesamt Baden-Württemberg; Amt für Stadtentwicklung und Statistik, Heidelberg.
82
STADTFORSCHUNG UND STATISTIK 1|2020
Schwerpunkt Aktuelle Befunde zu Wohnungsmarkt, Pendlerbeziehungen und Bevölkerungsentwicklung
Ludwigshafen. Weitere wichtige Zielgemeinden sind das Doppelzentrum Wiesloch-Walldorf (3.122) und Eppelheim (634). Die Pendlerbewegungen in Gebiete außerhalb der Region haben ebenso stark zugenommen. Besonders profitierten dabei die Städte Karlsruhe (+ 224), Berlin (+ 223), Frankfurt (+ 203), Stuttgart (+ 127) und Darmstadt (+ 88). Dies unterstreicht das urban orientierte Auspendeln der Heidelberger – sei es in die Städte im Umland oder die verkehrstechnisch sehr gut erschlossenen Groß- und Mittelstädte Baden-Württembergs und Hessens. Die prozentual stärksten Zunahmen bei den Auspendlern waren in Richtung des Landkreises Heilbronn (130,9 Prozent), Neckar-Odenwald-Kreises (105,3 Prozent) sowie des Landkreises Karlsruhe (76,7 Prozent).
Fazit: Pendlerhochburg Heidelberg Das Oberzentrum Heidelberg bietet für viele Beschäftigte aus dem Umland attraktive Arbeitsplätze. Der Großteil der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten mit Arbeitsort Heidelberg kommt aus dem umliegenden Rhein-Neckar-Kreis. Ein Großteil dieser Gemeinden bildet seit Jahren klassischerweise den Suburbanisierungsraum des Oberzentrums Heidelberg. Die absolut größten Einpendlerströme nach Heidelberg kommen aus Mannheim (5.356 Personen), gefolgt von Leimen (4.242 Personen) und mit größerem Abstand Eppelheim (2.833 Personen), Sandhausen (2.199 Personen) sowie Dossenheim (2.077 Personen). Dennoch dehnt sich der Einzugsbereich Heidelbergs sukzessive weiter über den Rhein-Neckar-Kreis hinaus aus. Dabei verschieben sich die Pendlerströme im Zeitverlauf und das Bild der Einpendler differenziert sich weiter aus. Dabei treten folgende Effekte zutage. Der Rhein-Neckar-Kreis verliert als Arbeitskräftereservoir etwas an Bedeutung. Er bildet zwar weiterhin knapp 60 Prozent aller Einpendler ab, jedoch fiel der Anteil an allen Einpendlern von 2010 bis 2017 um 4,2 Prozentpunkte. Von den fast 37.800 Einpendlern aus dem Rhein-Neckar-Kreis, kommen circa 18.500 aus den 14 Gemeinden des Mittelbereichs (29,2 Prozent). 2010 lag dieser noch bei 31,5 Prozent. Dennoch sind unter den zehn wichtigsten Einpendlergemeinden weiterhin sieben Gemeinden aus diesem Bereich und mit Schwetzingen und Wiesloch zwei weitere aus dem Landkreis zu finden. Der sukzessive Ausbau oder auch der barrierefreie Umbau von Haltestellen fördert weiterhin die Verflechtung der RheinNeckar-Region und somit auch die weitere Entwicklung des Pendlerverhaltens. Das Pendlerverhalten dürfte zukünftig auch unter anderem durch den Ausbau des Radwegenetzes und dem Bau von Radschnellwegen beeinflusst werden. Das Einzugsgebiet der Einpendler dehnt sich nach Norden hin aus. Aus dem Regierungsbezirk Darmstadt pendeln annähernd 4.800 (7,6 Prozent) der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten an ihren Arbeitsplatz in Heidelberg. Allein aus dem Kreis Bergstraße und der Stadt Darmstadt kommen hiervon fast 3.000 Einpendler. Die Zahl der Einpendler aus dem Regierungsbezirk Darmstadt stieg von 2010 bis 2017 um über 1.100 an. Ein- und Auspendler pendeln gerne von Stadt zu Stadt. Oft ist die verkehrstechnische Infrastruktur, insbesondere der öffentliche Personennahverkehr gut ausgebaut, so dass das
Pendeln zwischen den Großstädten sehr gut funktioniert. Die steigenden Ein- und Auspendlerzahlen von beziehungsweise nach Mannheim und Ludwigshafen stehen sinnbildlich für diesen Pendlertypus. Das Pendeln nimmt aber auch über weitere Distanzen zu. Frankfurt ist vom Heidelberger Hauptbahnhof aus in circa einer Stunde, Stuttgart in knapp 40 Minuten und Karlsruhe in 45 Minuten erreichbar. Allein dorthin pendeln knapp 2.000 Menschen aus. Der rheinland-pfälzische Teil der Metropolregion gewinnt zusehends an Bedeutung. Von dort pendelten im Juni 2017 über 3.600 Personen (inklusive Ludwigshafen) in die Universitätsstadt ein. Dabei stieg die Zahl der Einpendler seit 2010 um fast 900 an. Seit 2003 sind die ersten Linien des regionalen S-Bahn-Netzes in Betrieb, die den rheinland-pfälzischen Teil der Metropolregion nun deutlich besser als früher mit Baden-Württemberg verbinden. Nach Abschluss der zweiten Ausbaustufe wird das Streckennetz eine Gesamtlänge von 550 Kilometern umfassen und damit zu den größten Nahverkehrssystemen in Deutschland gehören. Der Ausbau wird sich auch weiterhin in den Pendlerströmen widerspiegeln. Trotz der Ausweitung des Pendlereinzugsbereiches ist auch ein gegenläufiger Trend zu beobachten, bei dem die Wege zwischen Wohnen und Arbeiten möglichst kurz sein sollten. Dies hat oftmals zum Ziel, Wohnen und Arbeiten an einem Ort zu verbinden. In Heidelberg stieg die Zahl der Menschen die in Heidelberg leben und arbeiten von 24.300 auf 28.100 um 15,3 Prozent an – und damit anteilig stärker als die Zahl der Einpendler (+ 14,0 Prozent). Heidelberg gewinnt als attraktiver Wohnstandort an Bedeutung. Die Gruppe der Auspendler wächst mit einem Plus von 39,6 Prozent oder fast 6.600 prozentual deutlich stärker als die Einpendler (+ 14,0 Prozent oder 7.750) oder der Gruppe die in Heidelberg lebt und arbeitet (+ 15,3 Prozent oder 3.800). Die Ausdehnung des Einzugsgebietes geht auf mehrere Indikatoren zurück. Unter anderem führen die Wohnungsknappheit und hohe Mietpreise zu dieser Entwicklung. In Heidelberg Beschäftigte sind aufgrund der Wohnungsknappheit, des Nachfragedrucks und der daraus resultierenden erhöhten Mietpreise gezwungen, in Städten oder Gemeinden außerhalb von Heidelberg zu wohnen.
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Die Einpendlerquote errechnet sich aus der Anzahl der Einpendler nach Heidelberg bezogen auf die Zahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten am Arbeitsort. Die Auspendlerquote errechnet sich aus der Anzahl der Auspendler aus Heidelberg bezogen auf die Zahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten am Wohnort.
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Stadtforschung
Nadine Blätgen, Gabriele Sturm
Zur demografischen Internationalisierung in Deutschland
In Fortführung des letzten Themenschwerpunktes in Stadtforschung und Statistik (2/2019) werden in diesem Beitrag regionalisierte Indikatoren über ausländische Bevölkerung in Deutschland vorgestellt und analysiert, die für jede*n Interessierte*n in einem Internetportal zugänglich und auswertbar zur Verfügung stehen. Mittels INKAR online lassen sich Verteilungen von Indikatoren in Form von Karten oder Tabellen darstellen. Für alle Indikatoren sind Definitionen und Berechnungsmodi hinterlegt. Da es sich bei den Indikatoren nicht um Absolutzahlen, sondern meistens um Anteile handelt, ist für das Verständnis unverzichtbar, als Bezugsgrundlage die Referenzgrößen aus den entsprechenden Veröffentlichungen des Statistischen Bundesamtes hinzuzuziehen. Neben der regionalen Verteilung von Ausländern nach siedlungsstrukturellem Kreistyp – mit Fokus auf kreisfreie Großstädte – geht die Analyse insbesondere auf Wanderungsmobilität sowie Bildung, Beschäftigung und Einbürgerung als Integrationsanzeiger ein.
Nadine Blätgen Diplom-Geografin, wissenschaftliche Sachbearbeiterin im Referat Stadt-, Umwelt- und Raumbeobachtung des Bundesinstituts für Bau-, Stadt- und Raumforschung (BBSR) im Bundesamt für Bauwesen und Raumordnung (BBR). : nadine.blaetgen@bbr.bund.de Dr. Gabriele Sturm Diplom-Soziologin, Dr. rer. soc., Lehrbeauftragte am GeografieInstitut der Universität Bonn, bis 2016 Projektleiterin im Referat Stadt-, Umwelt- und Raumbeobachtung des Bundesinstituts für Bau-, Stadt- und Raumforschung (BBSR) im Bundesamt für Bauwesen und Raumordnung (BBR), davor Hochschuldozentin für Methoden empirischer Sozialforschung bzw. wissenschaftliche Angestellte an verschiedenen deutschen Universitäten. : gsturm@uni-bonn.de Schlüsselwörter: Ausländer – (sozialversicherungspflichtige) Beschäftigung – Bildung – Demografie – Einbürgerung – Geschlechterproportion – (kreisfreie) Großstädte – Indikatoren – Migration – Regionalstatistik – Wanderungssaldo
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Deutschland, ein Einwanderungsland Deutschland ist bereits seit Jahrzehnten ein Einwanderungsland. Aber vor allem seit der Banken- und Finanzkrise der Jahre 2008 bis 2010 nimmt die Zuwanderung stark zu: Auslöser sind Kriege und diktatorisch-terroristische Regime in den Herkunftsländern, Umweltzerstörung und, alle Motive übergreifend, das ökonomische Ungleichgewicht zwischen den Staaten – auch innerhalb der EU. So stammt die Mehrheit der Zuwandernden wie der in Deutschland lebenden Ausländer aus europäischen Staaten: Etwa 43 % der hier Lebenden ohne deutsche Staatsangehörigkeit stammt aus EU-Staaten, insbesondere aus Polen, Italien und Rumänien. Infolge des Freizügigkeitsrechts für Unionsbürger wurde in Medien und Politik zwischen 2013 und 2015 die Zuwanderung aus den ost- und südosteuropäischen EU-Staaten alle anderen Migrationsthemen dominierend diskutiert. Vor allem durch die Fluchtbewegungen aus dem Bürgerkriegsland Syrien richtete sich der Fokus der Diskussionen spätestens ab 2015 auf die Themen Geflüchtete und Aufnahmeschlüssel, Asyl und Asylmissbrauch, Integration und Parallelgesellschaften. Infolge des immer virulenter werdenden Facharbeiter*innen-Mangels in der nach wie vor boomenden deutschen Wirtschaft wie im Service- und Pflegebereich werden aktuell verstärkt Arbeits-/ Erwerbsmigration sowie die dafür anzupassenden Regelungen und Gesetze thematisiert. Die Erörterungen gehen in der Regel von einer nationalen Perspektive aus – eher selten stehen weltweite Migrationszusammenhänge und nachhaltige Steuerungsinteressen wie -möglichkeiten im Zentrum des öffentlichen Nachdenkens. Zahlenmäßig bedeuten die Europa erreichenden Migrationswege zusammen mit den Wanderungsbewegungen innerhalb Europas, dass laut Statistischem Bundesamt 2017 der Außenwanderungsüberschuss Deutschlands mit dem Ausland bei 416.000 Personen (darunter auch rückwandernde Deutsche) lag. Im Jahr 2016 lag dieser bei knapp 500.000 – 2018 dürfte er bei etwa 386.000 Personen liegen. Dies führt dazu, dass sich Deutschland derzeit mit der höchsten Bevölkerungszahl und der buntesten Nationalitätenmischung seit der deutschen Einheit zeigt. Ausländische Bevölkerung bzw. ihr herkunftstypisches ökonomisches Gewerbe fallen vor allem in Großstädten auf. Städte waren und sind in modernen Gesellschaften aufgrund der Erwerbsmöglichkeiten sowie ihrer kulturellen Vielfalt und Vernetzungsmöglichkeiten Anziehungsorte vor allem für jüngere Bevölkerung – aus dem In- wie aus dem Ausland. Zudem
Stadtforschung
Karten 1 a–c: Anteil der Ausländer an den Einwohnern auf Ebene der Bundesländer, der NUTS-2-Regionen und der Kreise,2017
Karte 1 a
Karte 1 c
Karte 1 b
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Stadtforschung
sind große Städte in der Regel gut in internationale Verkehrsnetze eingebunden, was die Mobilität der Bevölkerung und die Anforderungen der Wirtschaft an Flexibilität und Vernetzung unterstützt. Insofern werden wir in diesem Beitrag vor allem die Bevölkerungsstruktur der deutschen Großstädte im Hinblick auf deren internationale Mischung thematisieren.
Die Datenbasis und ihre Analysemöglichkeiten Die folgenden Darlegungen beruhen auf Daten der Laufenden Raumbeobachtung des Bundesinstituts für Bau-, Stadt- und Raumforschung, die zum großen Teil als Indikatoren und Karten zur Raum- und Stadtentwicklung = INKAR online auch einer interessierten Öffentlichkeit zur Verfügung stehen (BBSR 2019: INKAR). Welche Daten stellt dieser Katalog zur Verfügung? Aufgenommen werden nur regelmäßig (mindestens jährlich) erscheinende regionalstatistische Daten von amtlichen Stellen. „Regional“ bedeutet, dass es die Daten für verschiedene territoriale Einheiten von der Ebene der Bundesrepublik bis ggf. auf die Ebene der Gemeinden gibt. Der Katalog enthält Indikatoren zu Demografie, Arbeitsmarkt, Bildung, Einkommen, Sozialleistungen, Wirtschaft, Wohnen, öffentlichen Finanzen, Verkehr und Umwelt. Da diese Daten zunächst bei den liefernden Stellen aufbereitet und geprüft und dann nochmals im BBSR für eine Veröffentlichung in Form von Indikatoren aufbereitet werden, gibt es immer eine zeitliche Verzögerung, so dass sich derzeit (Oktober 2019) die aktuellsten Befunde auf das Jahr 2017 beziehen. Die Bundes-, Landes- und auch die meisten Kommunalstatistiken erlauben in der Regel nur Aussagen über Ausländer – nicht über Menschen mit Migrationshintergrund oder über Geflüchtete. Alle darüberhinausgehenden Informationen sind Interpretationen im Zusammenhang mit Kontextdaten anderer amtlicher Stellen. Zur ausländischen Bevölkerung (Karten 1 a–c und Abb. 1 a–c) zählen alle Personen, die nicht
Deutsche im Sinne von Artikel 116 Absatz 1 des Grundgesetzes sind. Zu ihnen gehören auch Staatenlose und Personen mit ungeklärter Staatsangehörigkeit. Deutsche, die zugleich eine fremde Staatsangehörigkeit besitzen (Mehrstaater), zählen in der Statistik als Deutsche. Die Mitglieder der noch verbliebenen Stationierungsstreitkräfte sowie der ausländischen diplomatischen und konsularischen Vertretungen unterliegen mit ihren Familienangehörigen nicht den Bestimmungen des Ausländergesetzes und werden statistisch nicht erfasst. Umfassendere Indikatoren über Mehrstaater oder den Migrationshintergrund der Bevölkerung werden teilweise in den Statistikämtern deutscher Großstädte vorgehalten, die dafür ihre Einwohnermelderegister auswerten. Solche Daten werden im Kooperationsprojekt der Innerstädtischen Raumbeobachtung gesammelt und analysiert (z. B. Sturm u. Körner-Blätgen 2015, BBSR 2015 und 2016; Lauerbach u. Göddecke-Stellmann 2019). Hinsichtlich der folgenden Informationen über die ausländische Bevölkerung stammen die zugrunde liegenden Daten und die daraus abgeleiteten Indikatoren aus der Fortschreibung des Bevölkerungsstandes und der Wanderungsstatistik des Bundes und der Länder, aus den Statistiken der allgemeinbildenden und der beruflichen Schulen des Bundes und der Länder sowie der Hochschulstatistik des Bundes, aus Statistiken der Bundesagentur für Arbeit oder aus der Eurostat Regio Datenbank. Der kleinsträumige zur Verfügung stehende Regionalbezug aller Ausländerstatistiken ist dabei aus Datenschutzgründen die Kreisebene. Im BBSR werden diese Daten zeitreihenkonform aufbereitet einschließlich der Anpassung an Gebietsstandsänderungen. Bei den hier präsentierten Zeitreihen gehen wir nur bis zum Jahr der letzten Volkszählung 2011 zurück. Die hier betrachteten Indikatoren werden in Kartenform in der Regel auf der europäischen NUTS-2-Ebene mit 38 Regionen, die in Westdeutschland weitgehend derzeitigen oder früheren Regierungsbezirken entsprechen, dargestellt. Nur die Karten 1 a–c zeigen den Ausländeranteil zum 31.12.2017
Abbildungen 1 a–c: Entwicklung des Ausländeranteils an der Bevölkerung in % sowie des Anteils von Männern und Frauen unter den Ausländern nach Kreistyp, 2011 bis 2017 – jeweils zum 31.12.
Quelle: BBSR 2019: INKAR.
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Stadtforschung
auch auf den Raumgliederungsebenen der Bundesländer und der Kreise, wodurch die unterschiedlichen Aussagequalitäten ersichtlich werden. Wir unterscheiden jeweils nach neun Indikatorausprägungen mit äquidistanten Klassengrenzen (obwohl dadurch teilweise unbesetzte Klassen entstehen), um ein möglichst differenziertes und zugleich noch anschauliches Kartenbild zu gewährleisten. Für die Zeitreihenbetrachtung verwenden wir die Ebene des viergliedrigen siedlungsstrukturellen Kreistyps (BBSR 2019: Raumabgrenzungen), der Aussagen über die generelle Entwicklung in den kreisfreien Großstädten mit mehr als 100.000 Einwohnern (außer den kreisangehörigen Aachen, Hannover, Saarbrücken) zulässt – ggf. auch differenziert nach Ost- und Westdeutschland (wobei zu bedenken ist, dass Berlin mehr Einwohner hat als die anderen neun ostdeutschen Großstädte zusammen). In den kreisfreien Großstädten Deutschlands leben derzeit knapp 30 % der Bevölkerung.
Ausländer in Deutschland Was ist die Ausgangssituation für die hier betrachteten Indikatoren und deren Entwicklung? Laut Statistischem Bundesamt (Pressemitteilung Nr. 347 vom 14.09.2018) nahm 2017 die Gesamtbevölkerung Deutschlands im Vergleich zum Vorjahr um 270.700 Personen (+ 0,3 %) zu und lag zum 31.12.2017 bei 82,8 Millionen. Die Zunahme beruhte ausschließlich auf Wanderungsgewinnen in Höhe von 405.000 Personen (2016: + 500.000 Personen) bei einem Geburtendefizit von - 147.000 Personen (2016: - 119.000 Personen). Von den 82,8 Millionen Menschen hatten rund 9,7 Millionen ausschließlich eine ausländische Staatsangehörigkeit, was einem Ausländeranteil von 11,7 % an der Gesamtbevölkerung entspricht. Abbildung 1 a zeigt die Steigerung des Ausländeranteils, der 2012 im Bundesdurchschnitt bei 8,3 % lag (Indikator aus dem INKARBereich Bevölkerung). Das Ausländerzentralregister (AZR) weist für 2017 mit 10,6 Millionen Menschen eine von der Bevölkerungsfortschreibung abweichende Zahl in Deutschland lebender Ausländerinnen und Ausländer nach. Diese Differenz ist insbesondere darauf zurückzuführen, dass der Bevölkerungsbestand in der Bevölkerungsfortschreibung aufgrund der Ergebnisse des Zensus 2011 um 1,1 Millionen Personen nach unten korrigiert wurde, im AZR hingegen nicht. Zum Vergleich mit anderen Studien sei hier noch darauf hingewiesen, dass gemäß der Befragung des Mikrozensus 2017 rund 19,3 Millionen Menschen oder 23,6 % der in Privathaushalten lebenden Bevölkerung (einschließlich der hier betrachteten Ausländer) einen Migrationshintergrund aufwiesen. Dies bedeutet, dass sie selbst oder mindestens ein Elternteil die deutsche Staatsangehörigkeit nicht von Geburt an haben. Die uns interessierende regionalisierte Betrachtung zeigt anhand der Abbildungen 1 a–c nun deutlich, dass 2017 die Ausländeranteile (Indikator aus dem INKAR-Bereich Bevölkerungsstruktur) in den kreisfreien Großstädten mit durchschnittlich 17,3 % (West: 18,5 %/Ost: 13,6 %; zwischen 35,0 % für Offenbach am Main und 5,9 % für Rostock) deutlich über dem Bundesdurchschnitt liegen. Dies ist kein neues Phänomen, sondern Städte waren seit jeher das bevorzugte Ziel für Bildungs- und Erwerbsmigration aus dem In- wie aus dem
Ausland. Zusammen mit den zuvor erwähnten generellen Außenwanderungsgewinnen führte die (Groß-) Stadtpräferenz der Zuwandernden während der jüngst vergangenen Jahre zum anhaltenden Großstadtwachstum trotz fortbestehender Stadt-Umland-Wanderungen, weshalb wir im Folgenden kurz auf Wanderungssalden eingehen. Weiter ist zu bedenken, dass in die analysierte Phase die Jahre mit hoher Fluchtmigration fallen. So zeigen nicht nur die Großstädte als traditionelle Wanderungsziele höhere Werte, sondern auch alle (Land-) Kreise, in denen Erstaufnahmeeinrichtungen liegen. In der Folge zählen auch ostdeutsche Kreise und kreisfreien Städte mit solchen Einrichtungen in Kategorien mit höheren Zuwächsen. Auch wenn regionale Entwicklungen aufgrund des höheren Volumens stärker von Binnenwanderungen geprägt werden, sind hinsichtlich der Geschlechterverteilung (Abb. 1b und c) in der ausländischen Bevölkerung die Volumen der Außenwanderungen bedeutsamer. Bei diesen dominieren nicht erst seit der aktuellen Fluchtmigration sondern auch schon aufgrund der EU-Arbeitnehmerfreizügigkeit Männer im Alter zwischen 25 und 49 Jahren. Entsprechend sind 2017 von allen in Deutschland gemeldeten Ausländern 46,8 % weiblichen und 53,2 % männlichen Geschlechts – noch 2012 lag die Geschlechterproportion bei 49,4 % zu 50,6 %. Die Spreizung wird insbesondere in ländlich geprägten Kreisen sichtbar – was wiederum mit der amtlichen Zuweisung von ohne Familie geflüchteten Männern erklärt werden kann. In den kreisfreien Großstädten sieht die Verteilung leicht anders aus: 2017 sind von allen dort lebenden Ausländern 47,9 % Frauen und 52,1 % Männer – 2012 waren es 49,6 zu 50,4 %. Große Städte sind also hinsichtlich der deutschen wie der ausländischen Bevölkerung etwas weiblicher als kleinere Kommunen (BBSR 2016). Für die folgenden Indikatoren werden wir aus Platzgründen nicht weiter auf die jeweilige Geschlechterverteilung eingehen. Hauptsächlich hängt die Ungleichverteilung der internationalen Migration in und nach Deutschland bislang mit der Siedlungsstruktur und dem wirtschaftlichen Potenzial der Städte und Regionen sowie mit historischen Besonderheiten der Ost-West-Entwicklungen zusammen. Infolge der Fluchtmigration kann sich dies – wie bei der Geschlechterverteilung – durch die politisch gesteuerten Zuweisungen ändern. Deren nachhaltige Auswirkungen lassen sich anhand der hier betrachteten Indikatoren jedoch noch nicht beurteilen.
Wanderungsmobilität 2017 hatten die kreisfreien Großstädte in Deutschland zusammen einen Binnenwanderungsverlust von 19 Personen auf 10.000 Einwohner (West: - 31/Ost: + 16). Zugleich konnten sie Außenwanderungsgewinne von 73 Personen (West: +71/Ost: + 79) verzeichnen, so dass sie insgesamt einen positiven Wanderungssaldo von 54 auf 10.000 Einwohner (West: + 40/Ost: + 95) aufwiesen (Indikatoren aus dem INKAR-Bereich Mobilität). Die fortgesetzte Suburbanisierung aus den Großstädten in ihr Umland zeigt sich an den zeitgleichen Binnenwanderungsgewinnen der städtischen Kreise in Höhe von 5 Personen auf 10.000 Einwohner bei einem Gesamtwanderungsgewinn von 48 Personen auf 10.000 Einwohner. Damit bestätigt sich der seit längerem beobachtbare Trend, dass sich das Großstadt-
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Stadtforschung
Karten 2 a–c: Gesamtwanderungssaldo (Zuzüge abzüglich Fortzüge insgesamt), Binnenwanderungssaldo und Außenwanderungssaldo der NUTS-2-Regionen, 2017
Karte 2 a
Karte 2 c
Karte 2 b
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wachstum derzeit ausschließlich aus Auslandszuwanderung speist. Der inzwischen negative Binnenwanderungssaldo lässt sich nicht nur durch die fortwährende Familiensuburbanisierung erklären, sondern er beruht auch auf den kleiner werdenden Jahrgängen junger Erwachsener, die traditionellerweise für Ausbildung und Studium aus eher ländlichen Regionen in die größeren Städte ziehen (und nicht wieder in die Heimatregion zurückkehren, sondern sich arbeitsplatznah niederlassen). Die Zeitreihen für die Jahre 2011 bis 2017 zeigen, dass die kreisfreien Großstädte letztmalig 2012 Bevölkerungsgewinne aus Binnenwanderungen verzeichnen konnten, während städtisch geprägte und ländliche Kreise erst seit 2014 wieder Bevölkerungswachstum aus innerdeutschen Wanderungen ziehen. In allen Jahren lagen die Außenwanderungssalden aller Kreistypen deutlich über denen der Binnenwanderung. Wie erwartet richtet sich bei Außen- und Gesamtwanderungssalden der erste Blick auf die Jahre 2014 und 2015, die durch verstärkte EU-Freizügigkeits-Wanderungen und vor allem durch die Fluchtmigration über die Balkanroute gekennzeichnet waren, was sich in allen Kreisen unabhängig vom siedlungsstrukturellen Typ auswirkte. 2017 haben sich die Gesamtwanderungssalden in etwa dem durchschnittlichen Niveau der Auslandszuwanderung angeglichen. Die Mobilität ausländischer Bevölkerung ist auf Grundlage der hier dargestellten Aggregatdaten zur Außenwanderung nur im Hinblick auf ihre Ankunftsregionen zu beobachten. Für Binnenwanderungen stehen keine nach Nationalität differenzierten Daten zur Verfügung, so dass ein Weiterwanderungsverhalten im Dunkeln bleibt bzw. nur aus der Veränderung der Bestandszahlen erschlossen werden kann (Karten 1 a–c; Abb. 1 a–c).
Qualifikation ausländischer Bevölkerung Obwohl derzeit viel über Fachkräftezuwanderung geredet wird, haben es bereits in Deutschland lebende Ausländer auf dem Arbeitsmarkt schwer. Überproportional viele von ihnen – und offenbar auch mehr als in anderen europäischen Ländern – arbeiten im Niedriglohnsektor oder sind arbeitslos. Solches wird mit fehlenden Sprachkenntnissen und der Nichtanerkennung ausländischer Bildungs- und Berufsabschlüsse begründet. Da die Bevölkerung ohne deutsche Staatsangehörigkeit jünger ist als die mit deutschem Pass, wollen wir dafür zunächst anschauen, welche Anteile junge Ausländer*innen an den Schulen, in Lehrberufen mit Berufsschulbesuch und an den Studierenden deutscher Hochschulen haben. Der Anteil ausländischer Schüler*innen an allen Schulen des Landes lag 2017 bei 10,1 % – in den kreisfreien Großstädten bei 14,5 % (West: 15,0 %/Ost: 12,8 %), was auf den derzeit höheren Anteil von noch nicht lange in Deutschland lebenden Familien ohne deutsche Staatsangehörigkeit in den Großstädten hinweist. Aufgrund der Änderung des Staatsangehörigkeitsrechts in den 1990er Jahren sind alle Kinder, von denen ein Elternteil bei Geburt Deutsche*r war, deutsch ebenso wie alle seit dem 01.01.2000 in Deutschland geborenen Kinder ausländischer Eltern, von denen bei Geburt ein Elternteil seit mindestens acht Jahren mit unbefristetem Aufenthaltsrecht in Deutschland lebte. An allen ausländischen Kindern und Jugendlichen im Alter von 6 bis unter 18 Jahren hatten 2017 die Schüler*innen bundesweit einen Anteil von 94,2 % – in den kreisfreien Großstädten von 100,1 % (West: 99,4 %/Ost: 103,0 %; Indikator aus dem INKAR-Bereich Bildung). Werte über 100 % ergeben sich durch Fahrschüler*innen aus der Suburbia in die großstädtischen Schulzentren. Die in kreisfreien
Abbildungen 2 a-c: Entwicklung der Wanderungssalden nach siedlungsstrukturellem Kreistyp, 2011 bis 2017
Quelle: BBSR 2019: INKAR
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Karten 3 a–c: Anteil ausländischer Schüler*innen, Berufsschüler*innen und Student*innen an allen Schülern, Berufsschülern und Studierenden in den NUTS-2-Regionen, 2017
Karte 3 a
Karte 3c
Karte 3b
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Großstädten im Vergleich zu ländlichen Kreisen höheren Werte verweisen zunächst auf einen längeren Schulbesuch städtischer Jugendlicher ohne deutsche Staatsangehörigkeit. Sie könnten zudem aber auch auf eine größere Bildungsnähe der in Großstädte zugewanderten Familien hinweisen. Um diesen Aspekt zu vertiefen, werfen wir noch einen kurzen Blick auf den Anteil ausländischer Gymnasiast*innen: Bundesweit lag deren Quote 2017 bei 4,9 % – in den kreisfreien Großstädten bei 7,7 % (West: 7,7 %/Ost: 7,4 %), was die Vermutung größerer Bildungsnähe in Großstädten lebender Familien ohne deutsche Staatsangehörigkeit stützt bzw. auf ein besseres Bildungsangebot in der Stadt hinweist. Allerdings sagen diese Anteile nichts über die erfolgreichen Bildungsabschlüsse aus, für die wir keine regionalisierten Daten haben. In der Zeitreihenbetrachtung (Abb. 3 a) fällt auf den ersten Blick die Zunahme ausländischer Schüler*innen – und damit ausländischer Familien – im Vergleich zu 2011 in allen Kreistypen auf. (In den kreisfreien Großstädten hatte dieser Indikatorwert bis 2014 leicht abgenommen, was auf das Staatsangehörigkeitsrecht verweist, wonach Kinder ausländischer Eltern häufig Deutsche sind.) Auf den zweiten Blick erstaunt deren überdurchschnittliche Zunahme in den ländlichen Kreisen. Da sich die stärksten Steigerungen von 2014 auf 2015 und vor allem von 2015 auf 2016 zeigen, dürften dies Auswirkungen der Arbeitnehmerfreizügigkeit innerhalb der EU für Bürger*innen der osteuropäischen Mitgliedsstaaten und der Fluchtmigration von Familien aus den sogenannten Asylherkunftsstaaten und deren Zuweisung in ländliche Kreise sein. Berufsschulen haben die Aufgabe, die Allgemeinbildung der Schüler*innen zu vertiefen und die für den Beruf erforderliche fachtheoretische Grundausbildung zu vermitteln. Sie werden in der Regel pflichtgemäß nach Beendigung der neunbzw. zehnjährigen Vollzeitschulpflicht von Personen besucht, die in der beruflichen Erstausbildung mit/ohne Ausbildungs-
vertrag oder in einem anderen Arbeitsverhältnis stehen und das 18. Lebensjahr noch nicht vollendet haben. Die Verteilung der ausländischen Jugendlichen an Berufsschulen setzt die Verteilung unter den Schüler*innen fort: 2017 hatten bundesweit 14,8 % aller Berufsschüler*innen keinen deutschen Pass – in den kreisfreien Großstädten waren es 16,2 % (West: 16,9 %/ Ost: 12,7 %). Bundesweit lag ihr Anteil somit deutlich über dem der ausländischen Schüler*innen aller allgemeinbildenden Schulen, was zu den niedrigen Anteilen an Gymnasien passt. Die Zeitreihenbetrachtung (Abb. 3 b) weist auf eine ähnliche Begründung wie die der seit 2014 steigenden Schülerzahlen an allen Schulen des Landes. Zugleich aber ist eine stetige Steigerung über alle Jahre seit 2011 festzustellen, was auf den positiv zu bewertenden Aspekt hinweisen dürfte, dass – wahrscheinlich auch aufgrund des immer virulenter werdenden Arbeitskräftemangels – ausländische Jugendliche zunehmend in das duale Ausbildungssystem integriert werden. Der Studierendenanteil an der Bevölkerung ist zunächst ein Indikator für das in der Region ausgebildete Potenzial an hochqualifizierten Arbeitskräften. Von besonderer Bedeutung sind Fachhochschulen aufgrund ihrer Praxisnähe und ihrer vielfältigen Beziehungen zu den regionalen wirtschaftlichen Akteuren. Der Anteil von Ausländer*innen an den Studierenden sagt darüber hinaus etwas über das internationale Ansehen deutscher Hochschulen aus – allenfalls nachgeordnet weist er auf die Integrationsfähigkeit des deutschen Bildungssystems hin. 2017 begannen 104.940 Studierende, die ihre Hochschulreife im Ausland erworben hatten, ihr Studium in Deutschland. Das weist auf die bislang höchste Zahl ausländischer Studienanfänger*innen an deutschen Hochschulen. Sie sagt allerdings nichts darüber aus, wie lange sie im Land bleiben, ob sie ihr Studium erfolgreich abschließen und ob sie nach erfolgreichem Abschluss dem deutschen Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen oder in ihr Herkunftsland zurückkehren.
Abbildungen 3 a–c: Entwicklung des Anteils ausländischer Schüler*innen, Berufsschüler*innen und Student*innen an allen Schülern, Berufsschülern und Studierenden nach siedlungsstrukturellem Kreistyp, 2011 bis 2017
Quelle: BBSR 2019: INKAR.
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Die seit 2011 allerorts stetig steigenden Zahlen von ausländischen Studierenden dürften die Hochschulpräsidenten freuen. 2017 lag der Anteil ausländischer Studierender bundesweit bei 13,2 % und damit deutlich über den Anteilen unter den Gymnasiast*innen, was zum Befund passt, dass viele dieser Studierenden ihre Hochschulzulassung nicht in Deutschland erworben haben. Ihre Verteilung auf die Hochschulen zeugt vom Ruf der Hochschulen und deren Fächerangebot und hängt vor allem von der Höhe der Studiengebühren ab. In der Folge weisen die ostdeutschen Hochschulen für alle vier Ausprägungen des Kreistyps höhere Anteile ausländischer Studierender auf als die westdeutschen – z. B. im Direktionsbezirk Chemnitz 19,4 % oder in Berlin 18,1 %.
Abbildung 3 d: Entwicklung des Anteils ausländischer Student*innen an allen Studierenden nach siedlungsstrukturellem Kreistyp West und Ost, 2011 bis 2017
Quelle: BBSR 2019: INKAR
Beschäftigung ausländischer Bevölkerung Menschen suchen vor allem wegen besserer Arbeits- und Lebensbedingungen den Weg nach Deutschland. In der alten Bundesrepublik gab es – ausgelöst durch den Wirtschaftsboom – zwischen 1955 und 1968 eine Reihe von Anwerbeabkommen mit verschiedenen europäischen Staaten, aus denen in der Folge Arbeitsmigrant*innen kamen. In der DDR übernahmen Vertragsarbeiter*innen eine ähnliche Funktion – lebten jedoch deutlich abgeschirmter und in der Regel zeitlich befristet im Arbeitgeberland. Erfolgreiche Migration wird unter anderem anhand der erfolgreichen Teilhabe am Arbeitsmarkt des Einwanderungslandes beurteilt (Güleş u. Sturm 2014). Innerhalb der EU gilt seit 1993 die Personenfreizügigkeit als eine der vier Grundfreiheiten. Zur Personenfreizügigkeit gehören die Niederlassungsfreiheit und die Arbeitnehmerfrei-
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zügigkeit. Für die seit 2004 beigetretenen Länder sind diese zunächst mit Einschränkungen in Kraft gesetzt worden. Die volle Freizügigkeit für Personen, die aus Bulgarien und Rumänien stammen, gilt in Deutschland erst seit dem 01.01.2014. Zugleich führt der zunehmende Fachkräftemangel in Deutschland dazu, dass in bestimmten Fächern und Berufsfeldern wieder gezielt Interessierte in ihren Heimatländern umworben werden. Dieser Fachkräftemangel ist jedoch nicht mit einem generellen Arbeitskräftemangel gleichzusetzen – worauf die fortbestehende Arbeitslosenquote (Anteil der Arbeitslosen an den zivilen Erwerbspersonen als Indikator für Arbeitskräfteangebot) 2017 bundesweit in Höhe von 5,7 % – in den kreisfreien Großstädten 7,7 % (West: 7,4 %/Ost: 8,4 %) – hinweist. Die während der vergangenen Jahrzehnte angeworbenen Arbeitnehmer*innen und ihre Familien kamen in der Regel mit einem vergleichsweise niedrigen Bildungsabschluss ins Land. Da Integration lange kein Thema war, hatten selbst die Angehörigen der zweiten Migrantengeneration noch selten gleiche Bildungsmöglichkeiten wie die bereits lange in Deutschland Ansässigen. In der Folge lag 2017 laut Mikrozensus die Armutsgefährdungsquote bei Ausländern mit 36,2 % wesentlich höher als bei Deutschen ohne Migrationshintergrund mit 11,8 % (destatis 2019: 99). Armutsgefährdung ist Folge einer geringen schulischen und beruflichen Qualifikation und bei Zugewanderten zudem der eingeschränkten Anerkennung von Abschlüssen, von Sprachbarrieren sowie zum Teil von eingeschränktem Zugang zum Arbeitsmarkt und zu speziellen Hilfen zur beruflichen Eingliederung. Schwierig sind zudem oftmals eine zeitlich begrenzte Aufenthaltsdauer sowie die häufigere Ausübung von befristeten und/oder schlechter bezahlten Tätigkeiten. An den üblichen Indikatoren zur Arbeitsmarktstruktur lässt sich die Armutsgefährdung nicht ohne weiteres ablesen: - Die Erwerbsbeteiligung (Anteil Erwerbstätiger und Erwerbsloser an der jeweiligen erwerbsfähigen Bevölkerungsgruppe, bestehend aus Personen im Alter von 15 bis unter 65 Jahren) lag 2017 insgesamt bei 78,2 % – die Lücke ausländischer Bevölkerung zur Bevölkerung ohne Migrationshintergrund lag 2017 bei 15,8 % (destatis 2019). Der Indikator Erwerbsbeteiligung weist für Ausländer auf den schlechteren Zugang zum Arbeitsmarkt hin. Er verbirgt dabei den zeitlichen Umfang einer Erwerbstätigkeit, die Art des Arbeitsverhältnisses und vor allem die Altersstruktur. - Schauen wir uns die Beschäftigungsquote gemäß der Statistik der Bundesagentur für Arbeit (BA) an, mit der der Anteil der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten am Arbeitsort an den Erwerbsfähigen bezeichnet wird (obwohl damit insgesamt nur rund 70 % aller Erwerbstätigen erfasst werden, wird dieser Indikator als Maß der dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehenden Arbeitsplätze verwendet), so zeigen sich die einer Armutsgefährdung zugrunde liegenden Unterschiede deutlicher (Indikatoren aus dem INKAR-Bereich Beschäftigung und Erwerbstätigkeit). Während 2017 bundesweit die Beschäftigtenquote bei 59,3 % lag (nach Bundesländern zwischen 64,2 % in Sachsen und 53,7 % in Berlin), betrug sie unter Ausländern nur 43,4 % (nach Bundesländern zwischen 52,8 % in Bayern und 29 % in Sachsen-Anhalt; Karte 4 a). In der Folge hatten sie 2017 trotz ihrer günstigeren Altersstruk-
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Karten 4 a–c: Beschäftigungsquote an erwerbsfähigen Ausländern, Anteil ausländischer Beschäftigter an allen Beschäftigten und Anteil Arbeitsloser an der ausländischen Bevölkerung jeweils in NUTS-2-Regionen, 2017
Karte 4 a
Karte 4 c
Karte 4 b
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tur bundesweit an allen Beschäftigten nur einen Anteil von 10,8 % – in den kreisfreien Großstädten von 12,5 % (West: 13,3 %/Ost: 9,4 %; Karte 4 b). Ausländer dürften ihr Einkommen also deutlich häufiger aus selbstständiger Arbeit, aus Saisonarbeit oder Minijobs etc. beziehen. Arbeitslos (im Unterschied zu arbeitssuchend) kann sich nur melden, wer zuvor eine sozialversicherungspflichtige Tätigkeit ausgeübt hatte. 2017 waren bundesweit 5,7 von 100 Personen – aber 8,6 von 100 Ausländern im erwerbsfähigen Alter arbeitslos gemeldet (nach Bundesländern zwischen 5,1 % in Bayern und 13,7 % in Bremen; Karte 4 c). Bezüglich des überproportional hohen Anteils der Ausländer an den Arbeitslosen von bundesweit 25,9 % ist zudem die niedrigere Erwerbsbeteiligung der Ausländer zu berücksichtigen (Indikatoren aus dem INKAR-Bereich Arbeitslosigkeit). Das in der Zeitreihe (Abb.4 c) sichtbare Sinken des Arbeitslosenanteils 2015 ist ausschließlich auf die große Zahl der in diesem Jahr Zugewanderten zurückzuführen.
Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes waren 2018 rund 266.000 Ausländer*innen aus Staaten außerhalb der EU mit einem Aufenthaltstitel zum Zwecke der Erwerbstätigkeit nach Deutschland gekommen. 2017 waren es noch 217.000 gewesen. Zu den Hauptherkunftsländern dieses Personenkreises zählten Indien (12 %), China (9 %), Bosnien und Herzegowina (8 %) sowie die Vereinigten Staaten (7 %). Die Beschäftigungsstatistik gibt Hinweise auf eine Spreizung der beruflichen Qualifikation der in Deutschland lebenden Ausländer: Der Anteil der Hochqualifizierten (u.a. durch Blaue Karte der EU als Aufenthaltstitel für Hochqualifizierte) ist ähnlich hoch wie unter den Deutschen, der Anteil der Geringqualifizierten ist deutlich höher. Die letzte Aussage ist allerdings nur sehr vorsichtig zu verwenden, da die Angaben zur Qualifikation häufig nicht vergleichbar und unter anderem
deshalb oft nicht vorhanden sind. Auf jeden Fall verdienen Ausländer weniger als Deutsche: Eine Sonderauswertung der BA zum Medianentgelt sozialversicherungspflichtig Vollzeitbeschäftigter im Jahr 2017 zeigt, dass Beschäftigte mit deutscher Staatsangehörigkeit monatlich im Mittel 3.294 Euro, Ausländer 2.463 Euro verdienen. Diese Entgeltungleichheit zieht sich durch alle vier Berufsklassifikationen – Helfer, Fachkraft, Spezialist, Experte. Ausländer aus den Asylherkunftsstaaten (Syrien, Afghanistan, Irak, Nigeria, Eritrea, Iran, Pakistan, Somalia) verdienen sogar nochmals deutlich weniger. Mit den aktuellen Zuwanderungen scheint sich die Qualifikationsstruktur der in Deutschland lebenden und beschäftigten Ausländer also noch weiter aufzuspreizen: Unter den neu Ankommenden sind sowohl mehr Studierende und Akademiker als auch mehr Personen ohne Berufsabschluss.
Integrationsindikator Einbürgerung Formal wird Einbürgerung dadurch definiert, dass sie einem Ausländer oder einer Ausländerin das Recht gibt, fortan als deutsche*r Staatsbürger*in zu gelten und entsprechende Rechte zu genießen (Die Bundesausländerbeauftragte.de). Damit einher gehen die Aufhebung der Aufenthaltsbeschränkung sowie die der Arbeitserlaubnis. Für eine Einbürgerung müssen gewisse Bedingungen erfüllt werden: In Deutschland muss ein Inlandaufenthalt von mindestens acht Jahren nachgewiesen werden, die Bewerber*innen dürfen nicht vorbestraft sein und müssen ihren Lebensunterhalt eigenständig sichern können. Ein Einbürgerungstest setzt neben guten Sprachkenntnissen auch Kenntnisse der deutschen Rechtsund Gesellschaftsordnung voraus. Zudem ist ein Bekenntnis zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung des Grundgesetzes abzulegen. Seit 1990 gilt Einbürgerung als vom Bundesverfassungsgericht vorgegebenes und mittlerweile allge-
Abbilden 4 a-c: Entwicklung der Beschäftigungsquote an erwerbsfähigen Ausländern, des Anteils ausländischer Beschäftigter an allen Beschäftigten und des Anteils Arbeitsloser an der ausländischen Bevölkerung nach siedlungsstrukturellem Kreistyp, 2011 bis 2017
Quelle: BBSR 2019: INKAR.
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mein anerkanntes integrationspolitisches wie staatspolitisches Ziel. Wie nun sehen die Einbürgerungsquoten derzeit aus? Die Bezugsgrößen für diese Betrachtung stammen vom Statistischem Bundesamt: 2017 wurden rund 112.200 Ausländer*innen eingebürgert. Das war der höchste Stand seit dem Jahr 2013. Am häufigsten ließen sich wie schon in den Vorjahren türkische Staatsangehörige einbürgern (14.984), gefolgt von britischen (7.493), polnischen (6.613), italienischen (4.256) und rumänischen (4.238) Staatsangehörigen. Während das Durchschnittsalter von Eingebürgerten insgesamt bei 34,8 Jahren lag, waren die aus EU-Staaten durchschnittlich 40,9 Jahre alt. Bundesweit gab es 2017 je 1.000 Einwohner 1,3 Einbürgerungen (zwischen 3,1 in Hamburg und 0,3 in vier ostdeutschen Flächenländern; Karte 5 a) – von 1.000 ausländischen Mitbürger*innen nahmen 11,3 die deutsche Staatsangehörigkeit an (zwischen 18,9 in Hamburg und 6,9 in Brandenburg; Karte 5 b). Dass Städte seit jeher nicht nur Ankunftsorte
sondern auch Integrationsmotoren sind, zeigt sich wiederum an den Einbürgerungswerten für die kreisfreien Großstädte: Dort gab es je 1.000 Einwohner 2,1 und je 1.000 Ausländer 12,2 Einbürgerungen (Indikatoren aus dem INKAR-Bereich Bevölkerungsstruktur). Da sich die Anteile in den jüngst vergangenen Jahren kaum verändert haben, verzichten wir auf die Darstellung von Zeitreihen. Ergänzend zu den bisher vorgestellten Quoten ist von Interesse, aus welchen Herkunftsregionen die Eingebürgerten stammen. Diesbezüglich stellt INKAR als relativen Indikator den Kontinent bezogenen Anteil an allen Einbürgerungen zur Verfügung. Deutschlandweit hatten 62,4 % aller Eingebürgerten zuvor die Staatsangehörigkeit eines europäischen Staates (einschließlich Türkei), 22,7 % die eines asiatischen (einschließlich arabische Halbinsel) und 10,1 % die eines afrikanischen Staates. Hinsichtlich der Einbürgerungen in kreisfreien Großstädten sieht dieses Verhältnis etwas anders aus: 56,5 % stammen (selbst oder ihre Eltern) aus europäischen, 25,2 % aus
Karten 5 a–b: Zahl der Einbürgerungen je 1.000 Einwohner sowie je 1.000 Ausländer in NUTS-2-Regionen, 2017 Karte 5 a
Karte 5 b
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Karten 6 a–c: Anteil der Einbürgerungen nach Herkunftskontinenten Europa, Asien und Afrika an allen Einbürgerungen in NUTS-2-Regionen, 2017
Karte 6 a
Karte 6 c
Karte 6 b
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asiatischen und 12,9 % aus afrikanischen Staaten. Da sich das Verhältnis der Herkunftskontinente der Eingebürgerten während der dokumentierten Jahre ebenfalls kaum geändert hat, verzichten wir auch hier auf die Zeitreihenbetrachtung.
Abschließende Bemerkungen Im europäischen Vergleich ist Deutschland seit einigen Jahren das Wunschziel zahlreicher nach Europa Geflüchteter. Darüber hinaus ist Deutschland aus demografischen und ökonomischen Gründen vor allem ein ranghohes Zielland für Arbeitsmigrant*innen – innereuropäisch und weltweit. Zusammen hat dies in den letzten Jahren zu einer bemerkbaren Zunahme der Internationalisierung in allen Teilen der Republik geführt. Abgesehen von den in ländlichen Kreisen angesiedelten Erstaufnahmeeinrichtungen für Geflüchtete ist die Zunahme ausländischer Bevölkerung jedoch vor allem in den Großstädten sichtbar. Diese bieten als Ankunftsorte sowohl umfangreichere Bildungs- und Erwerbsmöglichkeiten als auch komplexere soziale Netzwerke, die für Neubürger*innen von zentraler Bedeutung sind. In jedem Fall haben Arbeitgeber*innen wie Kommunen mit einem veränderten Aufgaben- und Problemspektrum zu tun. Zu diesem zählen (EU-) rechtliche Rege-
lungen oder überfüllte Wohnungsmärkte genauso wie sprachliche Kompetenzen und soziokulturelle Unterschiede. Insofern ist Integration ein immerwährender Prozess, für den große Städte aufgrund jahrhundertelanger Erfahrung tendenziell besser gerüstet sind als ländliche Gemeinden. Die hier präsentierten Indikatoren für Internationalisierung(-sprozesse) in Deutschland entstammen alle dem Internetportal INKAR. Dieses bietet für das Themenfeld der Internationalisierung noch weitere Indikatoren – z. B. in Bezug auf den Arbeitsmarkt oder Unterstützungsleistungen. Je nach Fragestellung stehen etwa 700 Indikatoren nicht nur für deutschlandweite Analysen zur Verfügung, sondern sie ermöglichen auch kleinräumigere Vergleiche auf Ebene eines Bundeslandes, eines Kreises oder von Nachbargemeinden. In jedem Falle ist es wichtig, die jedem Indikator hinterlegten Informationen in die Analyse einzubeziehen. Wir hoffen, dass wir mit unserer hier präsentierten Analyse Interesse an der Arbeit mit diesem Indikatorenportal wecken konnten.
1
Hinsichtlich der Zeitreihenabbildungen ist anzumerken, dass diese nicht automatisch von INKAR online abzurufen sind. Sie müssen aus den exportierten INKAR-Excel-Dateien erstellt werden.
Literatur BAMF – Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Hrsg.) (2018): Das Bundesamt in Zahlen 2017 – Asyl, Migration und Integration. Nürnberg. Abgerufen im Oktober 2019 von http:// www.bamf.de BAMF – Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Hrsg.) (2018): Freizügigkeitsmonitoring: Migration von EU-Bürgern nach Deutschland (Bericht 2017). Nürnberg. BAMF – Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Hrsg.) (2018): Wanderungsmonitoring: Erwerbsmigration nach Deutschland (Bericht für das Jahr 2017). Nürnberg. BBSR – Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung (Hrsg.) (2019): INKAR online. Indikatoren und Karten zur Raum- und Stadtentwicklung. Abgerufen im Oktober 2019 von http://www.bbsr.bund.de BBSR – Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung (Hrsg.) (2019): Raumabgrenzungen. Abgerufen im Oktober 2019 von http://www.bbsr.bund.de
BBSR – Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung (Hrsg.)/Körner-Blätgen, Nadine; Sturm, Gabriele (2016): Informationen aus der vergleichenden Stadtbeobachtung: Wandel demografischer Strukturen in deutschen Großstädten (BBSR-Analysen KOMPAKT 04/2016). Bonn. BBSR – Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung (Hrsg.)/Körner-Blätgen, Nadine; Sturm, Gabriele (2015): Informationen aus der vergleichenden Stadtbeobachtung: Internationale Migration in deutsche Großstädte (BBSR-Analysen KOMPAKT 11/2015). Bonn. BMI/BAMF – Bundesministerium des Innern/Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Hrsg.) (2019): Migrationsbericht 2016/2017 des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge im Auftrag der Bundesregierung. Berlin /Nürnberg. Destatis – Statistisches Bundesamt (2019): Bevölkerung und Erwerbstätigkeit: Erwerbsbeteiligung der Bevölkerung – Ergebnisse des Mikrozensus zum Arbeitsmarkt (Fachserie 1, Reihe 4.1). Wiesbaden.
Destatis – Statistisches Bundesamt (2019): Migration und Integration: Integrationsindikatoren 2005–2017. Wiesbaden. Güleş, Antje; Sturm, Gabriele (2014): Was kann die vergleichende Stadtbeobachtung über Ausländer in Deutschland zeigen. Informationen zur Raumentwicklung, 6.2014, S. 517–532. Konar, Özlem; Kreienbrink, Axel; Stichs, Anja (2017): Zuwanderung und Integration. Aktuelle Zahlen, Entwicklungen, Maßnahmen. In: APuZ – Aus Politik und Zeitgeschichte, Heft 27-29 (Schwerpunkt: Integrationspolitik), S. 13–20. Lauerbach, Teresa; Göddecke-Stellmann, Jürgen (2019): Segregation, Konzentration, Dekonzentrationsstrukturen von Zuwanderern in deutschen Großstädten. In: Stadtforschung und Statistik, 32 (2), S. 6–13. Sturm, Gabriele; Körner-Blätgen, Nadine (2015): Ausländer in Deutschland – Herausforderungen und Chancen. In: Nachrichten der ARL, 45 (3), S. 6–10.
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Jürgen Spiegel, Arno Schiffert
Lebensqualität und Zukunftsplanung der Generation 55plus: Die zweite Erhebungswelle des KOSIS-Projekts Aktives Altern Die KOSIS-Gemeinschaft Aktives Altern hat zum Ziel, durch regelmäßige kommunale Bevölkerungsbefragungen Informationen zum Thema „Demografischer Wandel“ zu erheben und bereitzustellen. Inhaltlich werden vor allem die durch die Alterung der Gesellschaft erwachsenden Chancen und Herausforderungen in den Blick genommen. Als Chance kann gesehen werden, dass in der Generation 55plus ein Lebensentwurf des Aktiven Alterns an Bedeutung gewinnt. Herausforderungen ergeben sich durch den stark zunehmenden Anteil der Pflegebedürftigen in der Bevölkerung. Es werden Ablauf und ausgewählte Ergebnisse der zweiten Erhebungswelle von 2019 vorgestellt. Die Daten und Befunde geben den Praktiker*innen vor Ort wertvolle Hinweise auf Problemlagen und mögliche Handlungsansätze. Als besonders hilfreich erweist sich dabei eine kleinräumige, stadtgebietsbezogene Betrachtung, da sich dadurch zielgerichtet Maßnahmen ableiten lassen.
Arno Schiffert Soziologe M. A., Mitarbeiter in der Geschäftsstelle der KOSISGemeinschaft Aktives Altern im Amt für Bürgerservice und Informationsmanagement der Stadt Freiburg im Breisgau : duva@stadt.freiburg.de Jürgen Spiegel Soziologe M. A., Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Freiburger Institut für angewandte Sozialwissenschaft (FIFAS), Arbeitsschwerpunkte: Alter und Pflegebedürftigkeit, empirische Sozialforschung, kommunale Bürgerbefragungen : spiegel@fifas.de Schlüsselwörter: aktives Altern – Demografischer Wandel – Befragungsstudie – kleinräumige Daten – Einstellung – Grundversorgung – Kommunalvergleich – (Un-)Sicherheit
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Die KOSIS-Gemeinschaft Aktives Altern Obwohl durch Zuwanderung und leicht gestiegene Kinderzahlen in Deutschland aktuell ein demografisches Zwischenhoch zu verzeichnen ist, besteht doch weitgehend Einigkeit darüber, dass sich der demografische Wandel in den nächsten Jahrzehnten fortsetzen und enorme Auswirkungen auf unterschiedlichen Ebenen haben wird. Erwartet werden erhebliche soziale, kulturelle und ökonomische Veränderungen, die jedoch gemäß der Prognosen regional sehr unterschiedlich ausgeprägt sein werden. Während auf der einen Seite Regionen beispielsweise mit Bevölkerungsrückgang und Schrumpfungsprozessen zu kämpfen haben werden, werden andere Regionen boomen und Mühe haben, die erforderliche Infrastruktur für eine wachsende Bevölkerung bereitzustellen. Dabei schlägt sich der Wandel insbesondere kleinräumig nieder: Wachsende, prosperierende Stadtviertel können sich in direkter Nachbarschaft zu Vierteln mit gegenläufiger Entwicklung befinden. Vor allem auf der kommunalen Ebene werden sich sowohl Herausforderungen als auch Chancen des demografischen Wandels manifestieren. Deshalb ist diese Ebene in besonderem Maße gefordert, Maßnahmen für eine erfolgreiche Bewältigung zu ergreifen: Innerhalb von Kommunen und deren kleinräumigen Umfeld findet sich ein Großteil der sozialen, wirtschaftlichen und baulichen Gegebenheiten, die in ihrem Zusammenspiel die Lebenswelt der dort wohnenden Menschen prägen. Gleichzeitig bestimmt das Prinzip der Subsidiarität eine kommunale Verankerung relevanter Akteure (Stadtpolitik und -verwaltung, Wohlfahrtsverbände, Zivilgesellschaft, etc.) und nicht zuletzt auch eine kommunale Hoheit über die Erhebung, Vorhaltung und Verwendung kleinräumiger statistischer Daten und Informationen. Vor diesem Hintergrund wurde 2014 die KOSIS-Gemeinschaft Aktives Altern als Zusammenschluss von Kommunen gegründet1. Ziel ist es, durch gemeinsame, regelmäßige und einheitlich durchgeführte empirische Erhebungen wissenschaftlich fundierte Informationen zum Thema „Demografischer Wandel“ in Bezug auf die Alterung der Bevölkerung auf möglichst kleinräumiger Ebene zu sammeln und ein Informationssystem aufzubauen, das es den teilnehmenden Kommunen ermöglicht, durch Vergleiche und den Austausch von Erfahrungen die mit der demografischen Alterung verbundenen Chancen zu nutzen sowie den Herausforderungen zu begegnen. Das von der KOSIS-Gemeinschaft Aktives Altern
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betriebene Vorhaben füllt damit in kommunaler Eigenverantwortung und mit vergleichsweise geringem Aufwand eine Informations- und Wissenslücke, die die bisher verfügbaren Datenbestände zu diesem Themenfeld hinterlassen.2 Durch die enge Kooperation mit der KOSIS-Gemeinschaft DUVA, die mit ihrem gleichnamigen Informationsmanagementsystem die technische Infrastruktur für die Informationsbereitstellung zur Verfügung stellt, stärkt die KOSIS-Gemeinschaft Aktives Altern die interkommunale Zusammenarbeit. Inhaltlich bezieht sich das Projekt auf die Generation 55+. Als Chance des demografischen Wandels wird v.a. in den Blick genommen, dass in dieser Altersgruppe in zunehmendem Maße ein Lebensentwurf des „aktiven Alterns“ an Bedeutung gewinnt. Eine Grundlage dafür ist, dass durch steigende Lebenserwartung, bessere medizinische Versorgung, gesündere Ernährung und gestiegenes Gesundheitsbewusstsein immer mehr Menschen im Alter länger gesund und fit bleiben. Herausforderungen ergeben sich u. a. daraus, dass gleichzeitig durch die Alterung der Bevölkerung der Anteil der pflegebedürftigen oder chronisch kranken Menschen stark zunehmen wird und damit auch verstärkt Versorgungsleistungen durch Mitmenschen und Organisationen benötigt werden.
jeweiligen Stadt differenzierte Ergebnisse beinhalten. Da der Kreis Mettmann an beiden bisherigen Erhebungswellen teilgenommen hat, konnten für die 10 kreisangehörigen Städte auch Zeitvergleiche zwischen 2019 und 2015 berichtet werden. Damit die Vergleichbarkeit erhalten bleibt, wurden 2019 die Erhebungsinhalte und die Auswertungsmethodik nahezu unverändert von der 2015er-Erhebung übernommen. Die Auswertung folgt einem Prozess der Datenreduktion. Die Fragen aus dem Erhebungsbogen werden in einem ersten Schritt zu Indikatoren transformiert. Mehrere Indikatoren werden danach weiter zu Indizes oder Skalen verdichtet, die Aussagen zu Konstrukten wie „Aktives Altern“ oder „Sicherheit bei Pflegebedürftigkeit“ ermöglichen. Alle Kennziffern, Indizes und Skalen werden dabei in einen Wertebereich von 0 bis 100 überführt, so dass abgelesen werden kann, wie viel Prozent der maximal möglichen Ausprägung erreicht wurden. Im Folgenden stellen wir ausgewählte Ergebnisse und Befunde der zweiten Befragung aus dem Jahr 2019 vor. Wir beschränken uns dabei auf die Darstellung von Verteilungen. Über die vorhandenen bi- und multivariaten Zusammenhänge zwischen Indikatoren, Indizes und Kennziffern und den damit verbundenen Implikationen wurde – bezogen auf die erste Erhebungswelle 2015 – bereits ausführlich berichtet (Blinkert 2016, s. auch Blinkert 2017a, Blinkert 2017b).4
Methodische Umsetzung Eine erste Erhebungswelle in Form von postalischen Bürger*innen-Befragungen fand 2015 statt; teilgenommen haben die Städte Bielefeld, Freiburg, Karlsruhe, Moers, Villingen-Schwenningen sowie der Kreis Mettmann, dem 10 Mittelstädte angehören.3 Anfang 2019 wurden nun die zweiten Befragungen durchgeführt. Erneut haben sich die Stadt Villingen-Schwenningen und der Landkreis Mettmann beteiligt, neu hinzugekommen sind die Städte Sindelfingen und Böblingen. Bei dieser Welle ausgesetzt haben Bielefeld, Freiburg, Karlsruhe und Moers, so dass 2019 keine Großstadt (ab 100.000 Einwohner) vertreten war. Die standardisierten Fragebögen der zweiten Erhebungswelle wurden im Januar 2019 an insgesamt 35.230 Einwohner*innen ab 55 Jahren der 13 teilnehmenden Städte versandt. Dafür wurden (z. T. disproportional) geschichtete Zufallsstichproben aus den Melderegistern der Städte gezogen, wobei die Fallzahlen so bemessen wurden, dass Auswertungen für einzelne Stadtgebiete möglich wurden. Die Anzahl der von den Städten vorgegebenen Gebiete liegt zwischen drei (u. a. Erkrath im Kreis Mettmann) und zwölf (Böblingen). Geantwortet haben 13.255 Personen, was einer vergleichsweise hohen Rücklaufquote von 37,5 % entspricht. Die Zusammensetzung der Befragten stimmt hinsichtlich der Merkmale Geschlecht und Alter recht gut mit den Grundgesamtheiten in den Städten überein. Unterrepräsentiert sind – wie auch in vielen anderen postalischen Befragungen – Personen ohne deutsche Staatsangehörigkeit. Für die Auswertungen stand also eine breite Datenbasis zur Verfügung. Die Ergebnisse wurden den Städten in Form eines Arbeitsberichts übergeben, der Aussagen zur Gesamtstichprobe sowie Vergleiche zwischen den Städten enthält (Spiegel 2019). Zusätzlich wurden für die Städte, die das beauftragt hatten, Städteberichte erstellt, die nach den Stadtgebieten der
Chancen: Aktives Altern als persönlicher Lebensentwurf Als Chance des demografischen Wandels kann gesehen werden, dass immer mehr ältere Menschen einen Lebensentwurf aufweisen, der durch ein hohes Maß an aktiver und selbstbestimmter gesellschaftlicher Teilhabe gekennzeichnet ist. Als Indikatoren für Verhaltensweisen und Orientierungen, die auf „aktives Altern“ in diesem Sinne schließen lassen, wurden im Bürger*innen-Survey folgende Merkmale erhoben5: - Körperliche Aktivitäten: In welchem Umfang sind Menschen der Generation 55+ körperlich aktiv? - Erwerbsbeteiligung, gewünschtes Ruhestandsalter: Wie stark und in welcher Weise sind sie am Erwerbsleben beteiligt? Was für Vorstellungen haben sie über das Ruhestandsalter? - Teilnahme an Fortbildungen, Weiterbildungen: In welchem Umfang nutzt die Generation 55+ Angebote zur Fort- und Weiterbildung? - Internetnutzung: In welchem Umfang wird von der Generation 55+ das Internet genutzt? - Ehrenamtliches Engagement: Wie und in welchem Umfang ist die Generation 55+ ehrenamtlich engagiert? - Übernahme von Pflege- und Versorgungsverpflichtungen: In welchem Umfang übernehmen Menschen der Generation 55+ Pflegeverpflichtungen für ihnen nahestehende Personen? - Persönliche Einstellungen als Neugier, Risikobereitschaft oder Vorsicht und Sicherheitsstreben: Wie stark sind Orientierungen im Sinne von Offenheit und Neugier ausgeprägt? Zu diesen sieben Bereichen wurden jeweils Indikatoren gebildet und zu dem Index „Aktives Altern“ zusammengefasst (Wertebereich jeweils 0 bis 100).
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Die Ausprägungen der Indikatoren und des Index hängen sehr stark von den Formulierungen im Fragebogen und der Art der Berechnung ab. Deshalb sind weniger die absoluten Kennwerte von Interesse, als vielmehr Vergleiche auf verschiedenen Ebenen. An dieser Stelle können nur die wichtigsten Ergebnisse zu diesem Themenblock berichtet werden. So zeigt sich, dass zwischen den Städten bzw. dem Kreis nur relativ geringe Unterschiede bestehen. Der Indexwert variiert zwischen 45,5 und 47,7, auch die Einzelindikatoren zeigen keine größeren Abweichungen (Tab. 1). Die Erwerbsbeteiligung ist mit einem Kennzifferwert von 36,5 in Villingen-Schwenningen am höchsten, der Kreis Mettmann hat die meisten Internetnutzer (66,6) und Befragten mit einer Orientierung an Offenheit und Neugier (60,9). Sehr viel größer sind die Unterschiede bei einem Vergleich auf Ebene der insgesamt 84 Stadtgebiete der 13 Städte. Die Indexwerte für „Aktives Altern“ bewegen sich zwischen 39,0 (in einem Teilgebiet von Böblingen) und 54,0 (in einem Teilgebiet von Villingen-Schwenningen). Entsprechend deutlich sind auf der kleinräumigen Ebene der Stadtgebiete auch die Schwankungen bei den Einzelindikatoren. Die größten Spannen weisen die Indikatoren „Internetnutzung“ (Minimum 46,3 bis Maximum 76,1), „Erwerbsbeteiligung“ (18,4 bis 48,0) und „Fortbildungsteilnahme“ (35,0 bis 63,0) auf. Ansatzpunkte für die kommunalen Praktiker*innen – Politik, Verwaltung, aber auch Akteure der kommunalen Zivilgesellschaft – ergeben sich bereits aus dem interkommunalen Vergleich der Ergebnisse. Während der zusammenfassende Indexwert wenig Varianz aufweist, lassen sich an den Einzelindikatoren doch einige Unterschiede zwischen den Kommunen ablesen, die sich z. T. durch die jeweilige Sozialstruktur der Bevölkerung aber auch durch deren kulturelle Prägung, Einstellungen und Aktivitäten erklären lassen. So stellt sich beispielsweise die Frage, wie es zu der relativ hohen Erwerbsbeteiligung in Villingen-Schwenningen kommt und ob – nach genauerer Inspektion der verfügbaren Daten – ein Gegensteuern sinnvoll und ratsam erscheint. Ein erster Blick auf die
Daten zeigt z. B., dass der Anteil der 55- bis 65-Jährigen an den Befragten in Villingen-Schwenningen mit 48 % deutlich größer ist als in Sindelfingen (38 %). Sehr viel zielgerichteter können Maßnahmen aus der kleinräumigen Betrachtung der Daten der Teilgebiete einer Stadt abgeleitet werden. Dadurch können Gebiete mit besonderem Bedarf identifiziert und z. B. entsprechende Angebote dort angesiedelt werden. Wenn in den Teilgebieten einer Stadt z.B. die Kennziffern für Pflegeverpflichtungen zwischen 34 und 52 variieren, dann spricht doch einiges dafür, das Augenmerk vorrangig auf die Gebiete mit weit überdurchschnittlichen Werten zu richten.
Herausforderungen: Sicherheiten und Unsicherheiten Neben den Chancen ist die demografische Alterung mit erheblichen Herausforderungen verbunden. Mit steigendem Alter spielt Sicherheit eine zunehmend wichtigere Rolle. Die Perzeption von Sicherheiten und die Deckung des Bedarfs wurden im Bürger*innen-Survey für folgende Bereiche erhoben: Allgemeine Sicherheit: a. Allgemeine Grundversorgung: In welchen Maße ist die Grundversorgung durch Angebote und Möglichkeiten (Einkaufen, ÖPNV, Zugang zu medizinischer und pflegerischer Versorgung) gesichert? b. Wohnen und Wohnumfeld: Ist eine zufriedenstellende Wohnsituation gesichert und ist das Angebot an altersgerechten Wohnformen ausreichend? c. Sicherheit vor Straftaten: Muss man sich Sorgen machen, Opfer einer Straftat zu werden oder ist es bereits geworden? Versorgungssicherheit bei Pflegebedürftigkeit und längerer Krankheit: d. Hilfe durch Angehörige und das erweiterte Netzwerk: Wie sicher kann man sich sein, auf sein soziales Netzwerk von Angehörigen und anderen zurückgreifen zu können,
Tabelle 1: Kennziffern für Indikatoren in den teilnehmenden Kommunen Stadt/Kreis Böblingen
Sindelfingen
VillingenSchwenningen
Kreis Mettmann
körperliche Aktivität
57,5
56,6
58,5
58,0
57,9
Erwerbsbeteiligung
28,8
26,7
36,5
27,6
28,4
Teilnahme an Fortbildung
49,8
49,1
48,2
51,9
51,0
Internetnutzung
63,3
61,0
62,7
66,6
65,3
ehrenamtliches Engagement
30,9
29,5
30,4
27,5
28,4
Pflegeverpflichtungen
44,8
45,6
45,2
44,2
44,5
Offenheit, Neugier
57,9
54,4
57,4
60,9
59,5
47,0 n = 1528
45,5 n = 1414
47,7 n = 1119
47,4 n = 9148
47,2 n = 13255
Indikatoren
Index „Aktives Altern“
insg.
Quelle: KOSIS-Projekt Aktives Altern/FIFAS 2019.
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Stadtforschung
wenn man Hilfe und Unterstützung im Fall von Pflegebedürftigkeit oder Krankheit benötigt? e. Organisierte Hilfen: Kann man in einem solchen Fall auf organisierte Hilfen in der Kommune vertrauen? f. Versorgungspläne: Welche Wünsche und Erwartungen bestehen für eine Versorgung im Falle von Pflegebedürftigkeit? Im Folgenden werden einige Ergebnisse und Befunde zu diesem Themenbereich berichtet: a) Allgemeine Grundversorgung Inwieweit die allgemeine Grundversorgung am Wohnort gesichert ist und somit ein selbständiges Alltagsleben im Alter erleichtert wird, wurde für die Angebote bzw. Möglichkeiten für wohnungsnahe Einkaufmöglichkeiten, gute öffentliche Verkehrsanbindung sowie Ärzte und Apotheken in erreichbarer Nähe abgefragt. Erhoben wurde jeweils, wie wichtig das für die Befragten ist und ob es ausreichend vorhanden ist. Ein ungedeckter Bedarf wird angenommen, wenn ein Thema zwar für wichtig erachtet wird, aber keine entsprechenden Angebote bzw. Möglichkeiten vorhanden sind. Zwischen den teilnehmenden Kommunen finden sich deutliche Unterschiede. So variiert die zusammenfassende Kennziffer für „ungedeckter Bedarf – Grundversorgung“ zwischen 20,9 im Kreis Mettmann und 26,7 in Villingen-Schwenningen (Tab. 2). Hinsichtlich der Einzelthemen fällt besonders ins Auge, dass in Sindelfingen gut ein Drittel der Befragten fehlende wohnungsnahe Einkaufsmöglichkeiten bemängeln und rund 30 % Ärzte in erreichbarer Nähe vermissen. In Villingen-Schwenningen besteht ein besonders hoher ungedeckter Bedarf an öffentlicher Verkehrsanbindung (33,9 %) und an nahe gelegenen Apotheken (20,2 %). Um diese Unterschiede besser einordnen zu können, könnten die Praktiker*innen vor Ort weitere verfügbare Informationen heranziehen – etwa die Ärzte- oder Apothekendichte (in den Wohnvierteln) – und sich auf dieser Grundlage mit ihren Kolleg*innen in den anderen Städten über Interpretationen und Handlungsoptionen austauschen.
Wiederum fallen die Unterschiede sehr viel deutlicher aus, wenn man einzelne Stadtgebiete vergleicht. Die zusammenfassende Kennziffer „ungedeckter Bedarf – allgemeine Grundversorgung“ variiert hier zwischen 9,1 und 50,7 (jeweils in einem Teilgebiet der Städte des Kreises Mettmann). b) Wohnen und Wohnumfeld Unterschiede zwischen den Städten finden sich auch hinsichtlich der Bedarfsdeckung im Bereich Wohnen. Die zusammengefasste Kennziffer weist mit 46,1 einen besonders hohen ungedeckten Bedarf in Böblingen aus und einen deutlich geringeren im Kreis Mettmann (39,3) (Tab. 3). In Böblingen fehlen überdurchschnittlich häufig preisgünstige Wohnmöglichkeiten, ein ruhiges Wohnumfeld und betreutes Wohnen, Sindelfingen ist besonders schlecht mit Parkplätzen versorgt, in VillingenSchwenningen mangelt es an Barrierefreiheit im Wohnumfeld. Beim Vergleich der 84 Stadtgebiete zeigt sich eine Spannbreite der zusammengefassten Kennziffer „ungedeckter Bedarf – Wohnen“ von 31,7 (Teilgebiet im Kreis Mettmann) bis 50,7 (Teilgebiet von Sindelfingen). Zum Thema „Sicherung der Lebensqualität im Bereich Wohnen“ wurden noch weitere Kennziffern aus den erhobenen Daten gebildet. Der Anteil der Wohneigentümer in der Generation 55+ schwankt zwischen 67,8 % im Kreis Mettmann und 75,4 % in Böblingen. Der Bedarf an einer barrierefreien Ausstattung der Wohnung ist in Sindelfingen am höchsten gedeckt (Kennziffer: 40,5), im Kreis Mettmann am niedrigsten (34,1). Dafür ist die Zufriedenheit mit der Wohnsituation im Kreis Mettmann am höchsten (Kennziffer: 85) und in Sindelfingen am niedrigsten (80,5). c) Sicherheit vor Straftaten Haben die Befragten Angst vor Kriminalität in ihrer Wohngegend oder sind sie in den letzten fünf Jahren sogar Opfer einer Straftat (Diebstahl, Einbruch, Überfall) geworden? Zu beiden Fragen wurden Kennziffern berechnet, die im Kreis Mettmann jeweils am stärksten ausgeprägt sind (Kriminalitätsfurcht: 47,7, Opfererfahrung: 7,4) und in Sindelfingen am geringsten (44,6 und 4,9) (Tab. 4).
Tabelle 2: Grundversorgung – Ungedeckter Bedarf in den teilnehmenden Kommunen Stadt/Kreis Böblingen
Sindelfingen
VillingenSchwenningen
Kreis Mettmann
insg.
Anteil „ungedeckter Bedarf“ Einkaufsmöglichkeiten
30,4 %
33,9 %
29,2 %
28,2 %
29,2 %
öffentliche Verkehrsanbindung
26,2 %
24,3 %
33,9 %
24,9 %
25,8 %
Ärzte
19,8 %
30,3 %
23,3 %
17,4 %
19,6 %
Apotheke
14,8 %
12,6 %
20,2 %
12,9 %
13,7 %
100,0 % n = 1528
100,0 % n = 1414
100,0 % n = 1119
100,0 % n = 9148
100,0 % n = 13255
22,8
25,3
26,7
20,9
22,1
insg. Kennziffer ungedeckter Bedarf – Grundversorgung
Quelle: KOSIS-Projekt Aktives Altern/FIFAS 2019.
STADTFORSCHUNG UND STATISTIK 1|2020
101
Stadtforschung
Tabelle 3: Ungedeckter Bedarf im Bereich Wohnung und Wohnumfeld in den teilnehmenden Kommunen Stadt/Kreis Böblingen
Sindelfingen
VillingenSchwenningen
Kreis Mettmann
insg.
Anteil „ungedeckter Bedarf“ preisgünstig wohnen
56,0 %
53,2 %
43,8 %
45,4 %
47,4 %
ruhiges Wohnumfeld
35,9 %
32,1 %
29,3 %
26,8 %
28,7 %
Sauberkeit der Straßen / Grünanlagen
43,7 %
39,7 %
44,1 %
41,8 %
42,0 %
Parkplätze
54,5 %
56,2 %
48,3 %
40,1 %
44,2 %
barrierefreies Wohnumfeld
43,4 %
41,8 %
50,0 %
39,4 %
41,0 %
betreutes Wohnen insg.
42,9 %
41,6 %
37,7 %
42,3 %
41,9 %
100,0 % n = 1528
100,0 % n = 1414
100,0 % n = 1119
100,0 % n = 9148
100,0 % n = 13255
46,1
44,1
42,2
39,3
40,9
Kennziffer ungedeckter Bedarf – Wohnen
Quelle: KOSIS-Projekt Aktives Altern/FIFAS 2019.
Tabelle 4: Kriminalitätsfurcht und Opfererfahrung in den teilnehmenden Kommunen Stadt/Kreis
insg.
Böblingen
Sindelfingen
VillingenSchwenningen
Kreis Mettmann
47,5
44,6
45,1
47,7
47,1
5,2
4,9
6,0
7,4
6,7
Kennziffer Kriminalitätsfurcht (Sicherheitsgefühl im Wohngebiet) Kennziffer Opfererfahrung (Opfer von Diebstahl, Einbruch, Überfall)
Quelle: KOSIS-Projekt Aktives Altern/FIFAS 2019.
Tabelle 5: Angehörigen-Netzwerk in den teilnehmenden Kommunen Stadt/Kreis Böblingen
Sindelfingen
VillingenSchwenningen
Kreis Mettmann
insg.
69,5
70,7
69,8
70,2
70,1
75,3 % 53,2
75,3 % 56,4
74,6 % 55,8
75,5 % 52,5
75,4 % 53,3
79,7
80,4
79,6
82,7
81,8
Kennziffer „Verfügbarkeit über Angehörigennetzwerk“ Objektive Bedingungen Anteil mit anderen zusammenlebend Kennziffer: Erreichbarkeit von Kindern Kennziffer: subjektive Wahrscheinlichkeit für Hilfe durch Angehörige
Quelle: KOSIS-Projekt Aktives Altern/FIFAS 2019.
Tabelle 6: Erweitertes soziales Netzwerk in den teilnehmenden Kommunen Stadt/Kreis Böblingen
Sindelfingen
VillingenSchwenningen
Kreis Mettmann
insg.
40,5
41,9
41,7
44,6
43,6
44,5 %
49,9 %
46,9 %
52,0 %
50,4 %
23,6
24,0
25,3
30,0
28,2
55,5
55,6
56,9
56,7
56,5
39,1
38,7
38,0
40,2
39,7
Kennziffer „erweitertes Netzwerk“ Anteil nachbarschaftliche Unterstützung vorhanden Kennziffer „Hilfewahrscheinlichkeit durch Freunde, Nachbarn“ Kennziffer „Kontakthäufigkeit mit Freunden, Verwandten“ Kennziffer „Teilnahme an geselligen Ereignissen“
Quelle: KOSIS-Projekt Aktives Altern/FIFAS 2019.
102
STADTFORSCHUNG UND STATISTIK 1|2020
Stadtforschung
Sehr viel deutlichere Unterschiede zeigen sich wiederum bei einer Betrachtung der Stadtgebiete. So ist die Kriminalitätsfurcht in einem Teilgebiet von Villingen-Schwenningen mit dem Kennzifferwert 33,0 sehr viel geringer als in einem Teilgebiet einer Stadt im Kreis Mettmann (67,0). Noch erheblicher unterscheiden sich die Opfererfahrungen in den Stadtgebieten: der niedrigste Wert von 2,0 wurde in einem Böblingen Teilgebiet gemessen, der höchste von immerhin 13,0 in einem Gebiet einer Stadt im Kreis Mettmann. d)
Hilfe bei Pflegebedürftigkeit und Krankheit durch soziale Netzwerke Mit zunehmendem Alter steigt die Wahrscheinlichkeit einer schweren Erkrankung und/oder von Pflegebedürftigkeit. Im Bürger*innen-Survey wurden die Vorstellungen, Möglichkeiten und Grenzen der Generation 55+ zu einem geeigneten Sicherheitsmanagement für diese Risiken unter den Gesichtspunkten der Art der Hilfe und den Akteuren der geleisteten Hilfe differenziert. Zunächst geht es um die informell (also nicht beruflich) geleistete Hilfe durch soziale Netzwerke, die aus Angehörigen bestehen können, aber auch deutlich weiter reichen können. Soziale Netzwerke können zu Unterstützungsnetzwerken werden, wenn auf sie in einer (dauerhaften) Notsituation zurückgegriffen werden kann. In welchem Ausmaß die Befragten im Falle von Pflegebedürftigkeit oder Krankheit auf ein Angehörigen-Netzwerk zurückgreifen können, wird in einer Kennziffer abgebildet, die sich aus objektiven Bedingungen zusammensetzt (ob man alleine oder mit anderen zusammen lebt und wie erreichbar evtl. vorhandene Kinder sind) sowie der subjektiven Einschätzung der Befragten zur Wahrscheinlichkeit für Hilfe durch Angehörige. Die Kennziffer für ein Angehörigen-Netzwerk ist für die teilnehmenden Kommunen nahezu identisch und auch bei den einzelnen Indikatoren gibt es kaum Abweichungen (Tab. 5). Auch bei diesem Thema lohnt sich die kleinräumige Betrachtung: Die Verfügbarkeit über ein Angehörigen-Netzwerk ist in einem Stadtgebiet von Böblingen sehr viel geringer als in einem Gebiet in Sindelfingen (Kennziffer: 53,5 vs. 78,3).
Inwiefern ein erweitertes soziales Netzwerk vorhanden ist, wurde über vier Indikatoren erhoben: Ob es nachbarschaftliche Unterstützung gibt, wie wahrscheinlich Hilfe bei Pflegebedürftigkeit durch Freunde und Nachbarn ist, wie oft man sich mit Freunden oder Verwandten trifft und wie häufig man an geselligen Ereignissen teilnimmt. Die durch die Kennziffer gemessene Einbindung in ein erweitertes soziales Netzwerk variiert für die teilnehmenden Kommunen nur wenig zwischen 41 (Böblingen) und 45 (Kreis Mettmann) (Tab. 6). Auf Ebene der Einzelindikatoren zeigen sich etwas größere Unterschiede: In Böblingen gibt es weniger nachbarschaftliche Unterstützung als im Kreis Mettmann (45 % vs. 52 %) und auch die Wahrscheinlichkeit, von Freunden oder Nachbarn Hilfe im Fall von Krankheit oder Pflegebedürftigkeit zu erhalten, wird niedriger eingeschätzt (Kennziffer 24 vs. 30). e) Organisierte Hilfen Im Alter ist es wichtig, sich im Falle von schwerer Krankheit oder Pflegebedürftigkeit auf Versorgungseinrichtungen und organisierte Hilfen am Wohnort verlassen zu können. Erhoben wurde, ob organisierte Hilfen bekannt sind und wie sie von den Befragten bewertet werden. Als Kennziffer wurde die „subjektive Verfügbarkeit“ berechnet. Diese ist gegeben, wenn organisierte Hilfen für die Bereiche „Medizin“ und „Pflegebedürftigkeit“ bekannt sind und auch positiv bewertet werden. Nur dann würden sie in einer Krisensituation von den Befragten auch genutzt werden. Zwischen den teilnehmenden Kommunen finden sich keine größeren Unterschiede (Tab. 7). In allen zeigt sich das gleiche Muster: Die subjektive Verfügbarkeit ist für den medizinischen Bereich erheblich größer als für den Bereich Pflegebedürftigkeit. Wie zu erwarten, fallen die Unterschiede bei einer Betrachtung auf Ebene der Stadtgebiete sehr viel deutlicher aus. Die Kennziffer „subjektive Verfügbarkeit medizinischer Hilfen“ ist in einem Stadtgebiet im Kreis Mettmann mit 44,3 sehr viel niedriger als in einem anderen Teilgebiet einer Stadt dieses Kreises mit 74,8. Und die subjektive Verfügbarkeit organisier-
Tabelle 7: „Subjektive Verfügbarkeit von organisierte Hilfen“ (Informiertheit x Bewertung) in den teilnehmenden Kommunen Stadt/Kreis Subjektive Verfügbarkeit … (Kennziffern)
Böblingen
Sindelfingen
VillingenSchwenningen
Kreis Mettmann
insg.
organisierte Hilfen insgesamt
42,9
41,3
42,2
38,9
39,9
medizinische Hilfen insgesamt Krankenhaus Zahnarzt medizinische Experten Hausarzt
68,8 65,9 80,4 52,4 76,4
65,1 65,9 81,1 48,3 64,9
65,1 57,2 79,4 45,0 79,1
62,0 50,7 76,0 43,2 78,2
63,4 54,7 77,3 45,0 76,7
Pflegebedürftigkeit insgesamt Pflegedienste haushaltsnahe Dienstleistungen Pflegeheim Beratungsstellen
16,9 20,9 12,1 17,0 17,8
17,5 21,7 12,5 17,5 18,1
19,3 26,0 13,6 19,5 18,1
15,7 20,1 9,7 18,8 14,2
16,3 20,9 10,6 18,5 15,4
Quelle: KOSIS-Projekt Aktives Altern/FIFAS 2019.
STADTFORSCHUNG UND STATISTIK 1|2020
103
Stadtforschung
ter Hilfen im Bereich Pflegebedürftigkeit variiert zwischen 10,3 (Stadtviertel im Kreis Mettmann) und 25,1 (Teilgebiet von Villingen-Schwenningen). f) Versorgungspläne: Wünsche und Erwartungen Den Befragten wurden sechs Optionen für eine Versorgung im Falle von eigener Pflegebedürftigkeit vorgelegt mit der Frage, was davon gewünscht wird und für wie wahrscheinlich sie eine Realisierung halten. Das Spektrum reicht dabei von ambulanter bis zu stationärer und von informeller bis zu professioneller Pflege. Aus der Fülle an Informationen wurden drei aussagekräftige Kennziffern berechnet: - Die „Versorgungsphantasie“ gibt an, wie viele der sechs Versorgungsalternativen überhaupt bewertet werden konnten; es den Befragten also möglich war, sich aufgrund einer Beschäftigung mit dem Thema ein Urteil zu bilden. - Der „Grad der Zustimmung“ drückt die Zustimmung bzw. Ablehnung (kommt „auf jeden Fall“ oder „auf keinen Fall“ in Frage) einer Versorgungsalternative auf einer Skala von -100 bis +100 aus. - Der „Erwartungswert“ gibt die von den Befragten geäußerte Realisierungswahrscheinlichkeit für eine Alternative an und liegt zwischen 0 (sehr unwahrscheinlich) und 1 (sehr wahrscheinlich). Hinsichtlich der „Versorgungsphantasie“, also der Fähigkeit der Befragten, die vorgelegten Alternativen zu bewerten, sowie den Erwartungswerten gibt es nur wenig Unterschiede zwischen den Kommunen (Tab. 8).
Deutlich variieren jedoch die Zustimmungswerte für einzelne Alternativen. Ein sehr viel größerer Anteil der Befragten aus Villingen-Schwenningen als aus dem Kreis Mettmann lehnt eine Versorgung im Pflegeheim ab (- 12,8 vs. - 2,5). Dafür wird im Kreis Mettmann sehr viel stärker als in Villingen-Schwenningen die Versorgung im Haushalt von Angehörigen mit Unterstützung durch Pflegedienste abgelehnt (- 39,4 vs. - 24,8). Während in Villingen-Schwenningen die Versorgung im eigenen Haushalt durch eine privat eingestellte Fachkraft mit - 9,0 abgelehnt wird, wird diese Alternative in Böblingen deutlich positiver gesehen (+ 3,3).
Zusammenfassung: Perzeption von Sicherheiten und Bedarfsdeckung in verschiedenen Bereichen Die Lebensqualität der älteren Bevölkerung hängt in erheblichem Umfang von den in den vorigen Abschnitten beschriebenen Sicherheiten ab. Subjektiv erfahrene Sicherheit stellt sich ein, wenn die angeführten grundlegenden Versorgungsansprüche als ausreichend gedeckt wahrgenommen werden. Als zusammenfassendes Maß für die perzipierte Sicherheit bzw. Bedarfsdeckung lässt sich ein „Sicherheitsbarometer“ definieren, in das die verschiedenen Indikatoren eingehen. Eine anschauliche Darstellungsform ist ein Netzdiagramm, wobei sich der zusammenfassende Wert für das „Sicherheitsbarometer“ aus dem Durchschnitt der Einzelindikatoren ergibt (ca. 52 von 100) (Abb. 1).
Tabelle 8: Kennziffern für Versorgungswünsche und -erwartungen im Fall von eigener Pflegebedürftigkeit in den teilnehmenden Kommunen Stadt/Kreis VillingenSindelfingen Schwenningen
Kreis Mettmann
insg.
76,2
76,4
77,2
- 7,8 34,0 - 2,9
- 12,8 39,1 - 9,0
- 2,5 34,2 - 6,1
- 4,4 34,3 - 4,8
- 4,9
- 8,7
- 6,6
- 1,9
- 3,4
18,2
25,1
26,1
19,3
20,4
- 35,9
- 29,9
- 24,8
- 39,4
- 36,6
0,53 0,61 0,45
0,53 0,62 0,40
0,52 0,66 0,38
0,54 0,64 0,38
0,54 0,63 0,39
0,34
0,33
0,34
0,36
0,35
0,51
0,54
0,54
0,52
0,52
0,26
0,28
0,31
0,26
0,26
Versorgungsalternativen
Böblingen
„Versorgungsphantasie“
79,7
80,6
- 6,5 31,7 3,3
Grad der Zustimmung - in Pflegeheim - in eigenem Haushalt durch professionellen Pflegedienst - in eigenem Haushalt durch privat eingestellte Fachkraft - in kleiner wohngruppenähnlichen Einrichtung im eigenen Wohngebiet - in eigenem Haushalt durch Familienangehörige unterstützt durch professionelle Pflegedienste - im Haushalt von Familienangehörigen unterstützt durch professionelle Pflegedienste Erwartungswerte (Wahrscheinlichkeiten) - in Pflegeheim - in eigenem Haushalt durch professionellen Pflegedienst - in eigenem Haushalt durch privat eingestellte Fachkraft - in kleiner wohngruppenähnlichen Einrichtung im eigenen Wohngebiet - in eigenem Haushalt durch Familienangehörige unterstützt durch professionelle Pflegedienste - im Haushalt von Familienangehörigen unterstützt durch professionelle Pflegedienste
Quelle: KOSIS-Projekt Aktives Altern/FIFAS 2019.
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STADTFORSCHUNG UND STATISTIK 1|2020
Stadtforschung
-
Abbildung 1: Perzipierte Sicherheit/Bedarfsdeckung
Bedarfsdeckung und Sicherheit sind relativ gut (Werte ab 70) für die Bereiche „allgemeine Versorgung“ (71) und „Angehörigen-Netzwerk“ (70). Sie haben einen mittleren Wert (50 bis 69) für die Bereiche „Verfügbarkeit über medizinische Hilfen“ (63), „Wohnen“ (58) und „Sicherheit vor Straftaten“ (53). Bedarfsdeckung und damit Sicherheiten sind relativ gering (Werte < 50) für die Bereiche „Erwartungssicherheit bei Pflegebedürftigkeit“ (45), „erweitertes soziales Netzwerk“ (44) und „Verfügbarkeit über organisierte Hilfen bei Pflegebedürftigkeit“ (16).
-
-
Da es sich bei der Kennziffer „Sicherheitsbarometer“ um eine Zusammenfassung von insgesamt acht Einzelindikatoren handelt, überrascht es nicht, dass sie sich zwischen den teilnehmenden Kommunen nur wenig unterscheidet (Tab. 9). Auf der kleinräumigen Ebene der Stadtgebiete variieren die Werte für das „Sicherheitsbarometer“ in deutlich größerem Umfang: von 46,2 bis 56,8. Auch bei diesem Thema zeigt sich, wie wichtig und hilfreich es ist, die Daten kleinräumig, auf Ebene der Stadtgebiete, in den Blick zu nehmen. Die auf Ebene der Einzelindikatoren beobachtbaren Unterschiede wurden bereits in den vorangegangenen Abschnitten kommentiert.
Stadtentwicklung reichen. Die Ergebnisse der 2019 durchgeführten Befragung wurden bzw. werden jeweils vor Ort in diese bereits laufenden Projekte oder in entsprechend neu aufgelegte Aktivitäten eingebracht. Die Methodik der durchgeführten Befragung wurde in verschiedenen Fachgremien präsentiert und dort mit großem Interesse aufgenommen. 2016 wurde die erste Befragungswelle mit einer gemeinsamen Buchveröffentlichung abgeschlossen (Blinkert 2016). Bei nur drei Jahren Abstand zur ersten Befragungswelle und der Beteiligung von insgesamt vier Gemeinschaftsmitgliedern (darunter zwei erstmalig beteiligten Kommunen) wird es keine vergleichbare Publikation zu den 2019 vorliegenden Daten geben. Mit der bereits ins Auge gefassten dritten Befragungswelle sind mit dann sechs Jahren Abstand zur ersten Befragung und auf Basis einer höheren Zahl an teilnehmenden Kommunen zusätzlich zu den Einzelergebnissen und Querschnittsvergleichen in besonderem Maße relevante Ergebnisse aus dem Zeitvergleich der Erhebungen zu erwarten. Über die Einspeisung von Befragungsergebnissen in die kommunalen Aktivitäten der beteiligten Städte hinaus kann dies Anlass dazu bieten, die Ergebnisse dieser dritten Befragungswelle wieder
Wie geht es weiter? Die 2019 erhobenen Daten einschließlich der daraus für ihren Zuständigkeitsbereich abgeleiteten Indizes und Kennziffern stehen den jeweiligen Städten für eigene Auswertungen zur Verfügung. Nach einer Karenzzeit werden die vorhandenen Daten, Indizes und Kennziffern öffentlich gemacht und sind damit auch für vergleichende Untersuchungen zugänglich. Nach der ersten Befragungswelle des Jahres 2015 bildeten die erhobenen Daten die Grundlage für vielfältige Aktivitäten, die von der Erstellung interner Berichte bis hin zu Beiträgen in öffentlichen Bürgerforen zu dem Thema „Demografischer Wandel“ und zu den Leitbildern einer zukunftsorientierten
Tabelle 9: Sicherheitsbarometer als perzipierte Sicherheit/Bedarfsdeckung in den teilnehmenden Kommunen Stadt/Kreis Böblingen
Sindelfingen
VillingenSchwenningen
Kreis Mettmann
insg.
„Sicherheitsbarometer“ (Fläche des Netzdiagramms)
52,4
52,8
52,0
52,3
52,4
-
70,7 57,9 52,5 69,5 40,5 68,8 16,9
67,9 58,5 55,4 70,7 41,9 65,1 17,5
64,0 58,4 54,9 69,8 41,7 65,1 19,3
71,6 57,2 52,3 70,2 44,6 62,0 15,7
70,5 57,5 52,9 70,1 43,6 63,4 16,3
43,0 n = 1528
46,6 n = 1414
43,5 n = 1119
45,9 n = 9148
45,4 n = 13255
Bedarfsdeckung allgemeine Versorgung Bedarfsdeckung Wohnen / Wohnumfeld Sicherheit vor Straftaten Verfügbarkeit über ein Angehörigen-Netzwerk Verfügbarkeit über ein erweitertes Netzwerk subjektive Verfügbarkeit über medizinische Hilfen subjektive Verfügbarkeit über organisierte Hilfe bei Pflegebedürftigkeit - Erwartungssicherheit insg.
Quelle: KOSIS-Projekt Aktives Altern / FIFAS 2019
STADTFORSCHUNG UND STATISTIK 1|2020
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Stadtforschung
in Form einer Buchveröffentlichung aufzuarbeiten und allgemein zugänglich zu machen. Ein zusätzlicher Benefit für die beteiligten Kommunen wird dann auch darin liegen, dass mit den gewonnenen Erkenntnissen nicht nur eine proaktive Beteiligung an Zukunftsprojekten und Planungen möglich sein wird: Mit dem retrospektiven Blick auf die über die Zeit fassbaren Veränderungen und auf die Auswirkungen getroffener Maßnahmen sollte ab 2022 unter dem Stichwort Monitoring eine weitere Säule aus der Agenda dieses Gemeinschaftsunternehmens in Wert gesetzt werden können.
Fazit Chancen und Herausforderungen des demografischen Wandels stehen im Fokus des KOSIS-Projekts Aktives Altern. Als Chance kann gesehen werden, dass immer mehr Menschen länger fit und gesund bleiben und Vorstellungen von aktivem Altern an Bedeutung gewinnen. Für die Kommunen ist mit einer verstärkten Nachfrage nach entsprechenden Angeboten und Möglichkeiten zu rechnen, aber auch mit einem zunehmenden Potenzial an älteren Menschen, die sich vor Ort ehrenamtlich engagieren wollen und können. Zunehmen werden aber auch die Herausforderungen, die sich u.a. dadurch ergeben, dass mit der Alterung die Anzahl und der Anteil der Menschen steigt, die aufgrund von Krankheit oder Pflegebedürftigkeit auf die Solidarität anderer angewiesen sind. Weitere Herausforderungen können durch Unsicherheiten in den Bereichen allgemeine Grundversorgung, Wohnen und Kriminalität entstehen. Diese Herausforderungen sind von großer Bedeutung für die Lebensqualität der Generation 55+, aber auch für die für eine grundlegende Daseinsvorsorge mitverantwortlichen Kommunen. Durch die Erhebungen der KOSIS-Gemeinschaft Aktives Altern werden eine Fülle von bisher nicht oder zumindest nicht in der nötigen kleinräumigen Differenzierung verfügbaren Daten zu diesen Themen gesammelt, aufbereitet und den kommunalen Praktiker*innen als Arbeitsmittel in die Hand gegeben. Für die beteiligten Kommunen ergeben sich daraus wertvolle Hinweise auf Problemlagen und mögliche Handlungsansätze. Durch Vergleiche zwischen den Städten ergeben sich Grundlagen für Diskussionen über unterschiedliche Handlungsstrategien der lokalen Akteure. Dabei müssen natürlich die unterschiedlichen Rahmenbedingungen der Städte, wie
etwa ihre Lage (u. a. Bundesland), Größe oder Wirtschafts- und Sozialstruktur, mit berücksichtigt werden. Die Auswertungen bestätigen aber noch einmal sehr eindrücklich, wie wichtig eine kleinräumige Betrachtung ist, die Differenzierungen dort erfasst, wo sie greifbar und wirksam sind: Eine nach Stadtgebieten differenzierte Analyse erlaubt den Städten die Identifikation von Gebieten mit Handlungsbedarf und öffnet die Tür zu sehr viel zielgerichteteren Maßnahmen sowie zu umfangreichen Möglichkeiten des Monitorings. Insofern kann festgehalten werden, dass den beteiligten Kolleginnen und Kollegen mit den Befragungen der KOSIS-Gemeinschaft Aktives Altern ein passendes und in der Praxis bewährtes Instrument zur Erstellung relevanter und nachgefragter Expertisen in die Hände gegeben wird. Damit die KOSIS-Gemeinschaft Aktives Altern ihr Ziel – die Unterstützung der Kommunen bei der Bewältigung des demografischen Wandels – in noch stärkerem Umfang erfüllen kann, wäre es sehr wünschenswert, dass sich die derzeitigen Mitglieds-Kommunen weiter und möglichst vollzählig daran beteiligen und die Datengrundlage sowie die Reichweite der mit diesem Gemeinschaftsprojekt verbundenen Chancen durch neue Gemeinschaftsmitglieder weiter wächst.
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Siehe https://www.staedtestatistik.de/arbeitsgemeinschaften/kosis/ aktives-altern. Inhaltlich und organisatorisch baut „Aktives Altern“ auf dem von der Europäischen Union geförderten „TooLS“-Projekt auf (Blinkert 2013). Für Deutschland ist zwar eine Reihe von regelmäßigen, repräsentativen Erhebungen verfügbar (SOEP, ESS, Eurobarometer, ALLBUS, etc.). die zumindest einzelne Fragestellungen des Themenbereichs abdecken, aber deren Daten sind maximal bis auf Kreisebene auswertbar. Kleinräumigere Analysen auf Ebene der Städte oder gar deren Teilgebiete sind nicht möglich. Die Methodik und die Ergebnisse wurden ausführlich in Buchform publiziert (Blinkert 2016). Die Befragungen, die Auswertung und die Berichterstellung wurden sowohl 2015 als auch 2019 vom Freiburger Institut für angewandte Sozialwissenschaft – FIFAS durchgeführt. Es kann davon ausgegangen werden, dass sich die wesentlichen biund multivariaten Zusammenhänge zwischen den Indikatoren, Kennziffern und Indizes in der relativ kurzen Zeitspanne von vier Jahren zwischen der ersten und zweiten Erhebungswelle nicht grundlegend geändert haben. Die dafür verwendeten Fragen im Erhebungsbogen und die Berechnungsmethode sind in der o.g. Buchpublikation beschrieben (Blinkert 2016) und haben sich bei der Erhebung 2019 nicht geändert.
Literatur Blinkert, Baldo (2013): Chancen und Herausforderungen des demografischen Wandels. Aktives Altern und Pflegebedürftigkeit in europäischen Kommunen und Ländern der EU (FIFAS-Schriftenreihe Bd. 11). Münster: LIT. Blinkert, Baldo (2016): Generation 55plus: Lebensqualität und Zukunftsplanung. Das KOSIS-Projekt „Aktives Altern“ in den Städten Bielefeld, Freiburg, Karlsruhe, Moers, VillingenSchwenningen und im Landkreis Mettmann (FIFAS-Schriftenreihe Bd. 13). Münster: LIT.
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Blinkert, Baldo (2017a): Lebensqualität und Zukunftschancen der Generation 55plus. Das Projekt der KOSIS-Gemeinschaft „Aktives Altern“, in: Stadtforschung und Statistik, Jg. 30, H. 2, S. 54–64. Blinkert, Baldo (2017b): Aktives Altern – Voraussetzungen und Widersprüche, in: Sozialer Fortschritt, Jg. 66, H. 10, S. 675–698.
STADTFORSCHUNG UND STATISTIK 1|2020
Spiegel, Jürgen (2019): Generation 55plus: Lebensqualität und Zukunftsplanung. Zweite Erhebungswelle 2019 des KOSIS-Projekts „Aktives Altern“ in den Städten Böblingen, Sindelfingen, Villingen-Schwenningen und im Kreis Mettmann, Freiburg. Online: https://nbnresolving.org/urn:nbn:de:0168-ssoar-65445-2.
Statistik & Informationsmanagement
Gotthard Meinel
Herausforderung Flächenmonitoring – Datenquellen für ein Flächeninformationssystem und was sie leisten können Eine flächendeckende aktuelle Realnutzungskartierung ist Voraussetzung für die Planung einer nachhaltigen Entwicklung von Städten und Gemeinden. Die Erhebung und fortlaufende Aktualisierung der Realnutzung ist allerdings aufwendig und herausfordernd, denn die derzeit verfügbaren amtlichen Geobasisdaten zur Flächennutzung erfüllen (noch) nicht alle Anforderungen an Aktualität sowie räumliche und thematische Auflösung. Der Monitor der Siedlungs- und Freiraumentwicklung (IÖR-Monitor) analysiert die Geodaten des ATKIS Basis-DLM und bietet indikatorbasierte Informationen zur Flächennutzung flächendeckend für Deutschland. Interaktive Karten, Tabellen und Entwicklungsgraphen ermöglichen sowohl vergleichende Analysen mit anderen Städten in Deutschland als auch innerstädtische Untersuchungen. Der Beitrag knüpft an den Themenschwerpunkt im Heft 2/2018 an.
Dr.-Ing. Gotthard Meinel seit 2009 Leiter des Forschungsbereiches Monitoring der Siedlungs- und Freiraumentwicklung, Leibniz-Institut für ökologische Raumentwicklung, Weberplatz 1, 01217 Dresden, Tel.: +49 351 4679254, Forschungsschwerpunkte: Raumanalyse, Monitoring, räumliche Visualisierung : G.Meinel@ioer.de Schlüsselwörter: Flächenmonitoring – Flächenmanagement – Siedlungsentwicklung – Blockkarte – IÖR-Monitor
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Problemstellung
Das Baugesetzbuch (BauGB) fordert einen sparsamen Umgang mit Grund und Boden, die Wiedernutzbarmachung von Brachen, Innenentwicklungen und die Begrenzung der Bodenversiegelungen. Diese Forderungen vertritt auch die Bundesregierung in ihrer Nachhaltigkeitsstrategie (Bundesregierung 2002), in dem sie das Ziel verfolgt, die Flächeninanspruchnahme für Siedlungs- und Verkehrszwecke bis 2020 auf 30 ha pro Tag für Deutschland zu begrenzen. Dieses Ziel wurde in der Neuauflage der Nachhaltigkeitsstrategie im Jahr 2016 bekräftigt. Das gilt weniger bzgl. des neuen Ziels, die Flächeninanspruchnahme auf 30 ha minus X pro Tag zu begrenzen, als vielmehr durch das Bestreben, den Verlust an Freiraum pro Einwohner zu senken und die Siedlungsdichte im Vergleich zu 2000 konstant zu halten (Bundesregierung 2017). Insbesondere das letzte Ziel ist hoch ambitioniert und ergänzt den quantitativen Indikator Flächenneuinanspruchnahme nun auch um einen qualitativen Aspekt, in dem es die Siedlungsund Verkehrsfläche ins Verhältnis zur Einwohnerzahl setzt. Beckmann und Dosch schlagen mit einem bundesweiten Siedlungsflächenbarometer ein erweitertes Siedlungsmonitoring vor mit den ergänzenden Indikatoren Bodenversiegelung, Innenentwicklungspotenziale, Wohnflächendichte und Zersiedelung (Beckmann et al. 2018). Problematisch ist, dass das bundesweite Flächensparziel niemals regionalisiert wurde. Das erfolgte nur „spielerisch“ durch eine Erstzuteilung von Flächenzertifikaten an Gemeinden im „Modellvorhaben Flächenzertifikatehandel“ des Umweltbundesamtes (UBA 2019). Im Rahmen dieses Projekts wurde u. a. auch der Anteil der verschiedenen Planungsebenen an der Flächeninanspruchnahme in Deutschland untersucht und empirisch abgeschätzt. Danach tragen Bund und Länder mit 30 % nicht unerheblich zur gesamten Flächenneuinanspruchnahme in Deutschland bei (Meinel et al. 2019). Wegen fehlender Vorgaben haben sich viele Bundesländer inzwischen eigene Flächensparziele gesetzt. Eine Übersicht dazu und ein Vergleich mit den aktuellen Werten der Flächenneuinanspruchnahme findet sich in Krüger et al. 2019. Aber auch Regionen und Kommunen verfolgen teilweise eine dezidierte Flächensparpolitik (z. B. Bodenschutzkonzept Stuttgart BOKS (Stuttgart 2019). Flächensparen ist eine Anforderung an alle administrativen Ebenen. Insbesondere aber eine an die Kommunen, die durch die Flächennutzungsplanung bauliche Entwicklungen – oft
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auch mit einer Flächenneuinanspruchnahme verbunden – beschließen. Eine zielgenaue Steuerung der Flächennutzung im Rahmen eines städtischen Flächenmanagements verlangt zuverlässige Informationen zur Nutzung, Nutzungsänderungen, Leerständen, der Bevölkerungsentwicklung usw. Darum stellt Munzinger fest „Folglich ist das Instrument des Flächenmanagements immer auch mit einem Monitoring verbunden“ (Munzinger 2018). Und Preuß verlangt „Um im Sinne eines aktiven Flächenmanagementansatzes wirken zu können, bedarf es einer verbindlichen Operationalisierung der Flächensparziele“ (Preuß 2018) In jedem Falle führen die Bemühungen um eine flächensparende Siedlungsentwicklung auch zu einer gestiegenen Nachfrage nach verlässlichen Flächennutzungsinformationen, die räumlich und thematisch differenziert, vergleichbar und vor allem auch genügend genau sind, um auch kleinste Veränderungen zu erfassen. Wie hoch dabei die Anforderungen sind, zeigt die folgende Überlegung: Die tägliche Zunahme der Siedlungs- und Verkehrsfläche beträgt 58 ha/Tag (Statistisches Bundesamt 2018a). Das entspricht einer jährlichen Zunahme des SuV-Anteils um ca. 0,1 %! (dieser beträgt derzeit 14,4 %). Diese Zunahme ist, verglichen mit den Auswirkungen datentechnischer Veränderungen, eher gering.
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Anforderungen und Systeme des Flächenmonitorings
Datengrundlage der amtlichen Flächenerhebung der Tatsächlichen Nutzung (kurz Flächenstatistik) ist das Liegenschaftskataster. Dieses basiert bis 2015 auf den Flächenangaben des Liegenschaftsbuches (ALB) und seit 2016 auf den Geometriedaten des Amtlichen Liegenschaftskatasterinformationssystems (ALKIS). Der Qualitätsbericht zur Flächenstatistik (Statistisches Bundesamt 2019) und ein Methodenbericht zur Flächenerhebung (Statistisches Bundesamt 2018b) listen die zahlreichen Probleme dieser Statistik auf. Darunter leidet insbesondere der Kernindikator „Zunahme der Flächenneuinanspruchnahme“. Dieser wird vom Statistischen Bundesamt u. a. alle zwei Jahre im nationalen Indikatorenbericht zur nachhaltigen Entwicklung in Deutschland (Statistisches Bundesamt 2018c) veröffentlicht. 2.1 Bund Die Flächennutzung bundesweit flächendeckend zu erheben und aktuell zu halten, ist eine riesige Herausforderung. Dabei sind die Anforderungen an das Flächenmonitoring und damit an die Datengrundlagen in den verschiedenen Raumebenen sehr unterschiedlich. Aus Bundessicht geht es bei dem Monitoring der Nachhaltigkeitsindikatoren der Bundesregierung insbesondere um einen Soll-Ist-Vergleich zwischen dem 30-ha-Ziel und dem jeweils aktuellen Wert der Flächenneuinanspruchnahme. Auch wenn Erhebungsunterschiede dieses Indikators zwischen den Bundesländern existieren, die sich im Ergebnis nur bedingt harmonisieren lassen, ist der bundesdeutsche Gesamtwert noch als vergleichsweise verlässlich einzuschätzen gegenüber den kommunalen Werten.
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2.2 Land und Region Raumordnungsregionen führen in der Regel Digitale Raumordnungskataster oder Regionale Rauminformationssysteme, die neben grundlegenden Informationen zur Fläche auch eine Vielzahl von Fachdaten und -planungen enthalten. Da hier die Planungen und Bewertungen im Maßstab 1 : 100.000–1 : 50.000 erfolgen, spielen auf dieser Ebene die Geotopographischen Daten des Amtlichen TopographischKartographischen Informationssystems ATKIS in der Ausprägung DLM50 (1 : 50.000) und Basis-DLM (1 : 10.000–1 : 25.000) die größte Rolle. Da die Aktualität und Qualität der Flächennutzungsgeometriedaten in ATKIS teilweise problematisch sind und waren, werden in einigen Bundesländern, z. B. NRW mit seinem Siedlungsflächenmonitoring (Flächenportal NRW 2019) und Regionen (z. B. Flächeninformationssystem ruhrFIS 2019), eigene Flächennutzungsdaten erhoben und regelmäßig aktualisiert. Auf deren Grundlage werden u. a. auch Berichte zur Siedlungsflächenentwicklung veröffentlicht (u. a. Rheinblick 2019). 2.3 Kommunen Die Kommunen benötigen für die Flächennutzungs- und Bauleitplanung verlässliche räumliche kleinräumige Informationen zur aktuellen Flächennutzung, zu Flächennutzungsänderungen sowie auch Zeitreihen der Flächenneuinanspruchahme, die Erfolge, Misserfolge und die Wirkung von Maßnahmen der Flächenhaushaltspolitik mess- und bewertbar machen. In den Kommunen sind darum die Anforderungen an Realdaten zur Flächennutzung, was die räumliche und thematische Auflösung sowie die Aktualität betrifft, vergleichsweise am höchsten. Zudem verlangt ein Flächenmanagement und Flächenmonitoring hochauflösende Informationen zu Innenentwicklungspotenzialen, zum Stand der Revitalisierung von Brachflächen, zu Daten zum Leerstand, zu Kompensationsflächen (Eingriffs- und Ausgleichregelungen), zur Bevölkerungsstruktur und -entwicklung und zur Sozialstruktur. Auf kommunaler Ebene spielen ALKIS-Daten mit ihrer flurstücksscharfen Auflösung (1 : 1.000) die größte Rolle, weniger die blockbezogenen geotopographischen Daten des ATKIS Basis-DLM.
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Datenquellen eines Flächenmonitorings und Bewertung
Im Folgenden werden übersichtsweise wichtige Datengrundlagen, Datenprodukte und -dienste vorgestellt, die relevante Informationen zur Flächennutzung enthalten oder aus denen sich derartige Informationen ableiten lassen. 3.1 Ortholuftbilder Orthophotos sind die wichtigste Grundlage für die Ableitung der Flächenbedeckung und -nutzung. Flächendeckende orthorektifizierte Luftbildmosaike (Digitale Orthophotos DOP) werden inzwischen seitens der Vermessungsverwaltungen der Länder zyklisch alle 2–3 Jahre erstellt und als WMS-Dienst, inzwischen meist Open Data, im Internet visualisiert. Die Bilddaten sind in verschiedenen Ausprägungen darstellbar:
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Echtfarbe (DOP-RGB), Grauton (DOP-PAN), Color-Infrarot (DOPCIR) oder (DOP-RGBI). Die Bilddaten sind verfügbar über eine Bodenauflösung von 20 cm bzw. 40 cm. Darüber hinaus werden von den Städtischen Vermessungsämtern häufig eigene Luftbilddaten mit einer räumlichen Auflösung von bis zu 5 cm und häufig auch kürzeren Wiederholzeiten erstellt. Diese Daten sind eine hervorragende Grundlage für die manuelle Ableitung bzw. automatisierte Klassifikation der Flächenbedeckung und -nutzung. 3.2 Liegenschaftskataster ALKIS Das Liegenschaftskataster ist die amtliche Grundlage des Liegenschaftsverkehrs und sekundärstatische Grundlage der amtlichen Flächenerhebung. Das Liegenschaftskataster enthält flächendeckend und überschneidungsfrei die Flurstücksgrenzen und die Tatsächliche Nutzung (TN) der Flurstücke. Durch die wiederholte Veränderung des Nutzungsartenkataloges und die Migration der ALB/ALK zu ALKIS ist die Zeitreihe des Indikators „Zunahme der Siedlungs- und Verkehrsfläche“ belastet. So erfolgt beispielsweise eine Neuzuordnung von Schutzflächen und Übungsgeländen, entsprechend ihrer realen Nutzung bzw. Bedeckung, von Gewässerbegleitflächen (vormals Verkehrsfläche) zu Unland (Vegetation), von Betriebsflächen der Land- und Forstwirtschaft (vormals Landwirtschaft) zu Flächen gemischter Nutzung (Siedlung). Zudem wird das Kataster in Deutschland dezentral in über 400 Liegenschaftsämtern der Stadt- bzw. Landkreise geführt. Trotz der durch die AdV mit allen Bundesländern abgestimmten ALKIS-Modellierungsvorschrift (AdV 2019a) gibt es erhebliche Unterschiede zwischen den Datenprodukten, teilweise sogar zwischen den Katasterämtern eines Landes. Bisher wurde die Tatsächliche Nutzung nur auf Antrag des Grundstücksinhabers bzw. bei Neuvermessungen von Flurstücken aktualisiert. Darum sind die Flächennutzungsinformationen häufig veraltet. Jetzt beginnt sukzessiv eine geometrische Harmonisierung der Tatsächlichen Nutzung zwischen ALKIS und ATKIS, die in den einzelnen Bundesländern mit ganz unterschiedlicher Geschwindigkeit erfolgen wird. Diese Umstellungen sind nicht geeignet, die Zeitreihen der Flächenstatistik zu stabilisieren. In Zukunft wird mit der beginnenden Umsetzung der GeoInfoDok Neu1 (Referenzversion ab 31.12.2023) die TN nicht mehr flurstücksscharf geführt, sondern generalisiert und periodisch mit Luftbildunterstützung aktualisiert. Diese Umstellung ist sehr zeitaufwendig, erfolgt in den Katasterämtern mit unterschiedlichem Tempo und wird die sensible Indikatorzeitreihe „Zunahme der Siedlungs- und Freifläche“ weiter über lange Zeit erheblich beeinflussen. Von den Statistikstellen der Bundesländer werden die Zahlen zur Veränderung der Siedlungs- und Verkehrsfläche (Flächenneuinanspruchnahme) nur in wenigen Bundesländern und dort auch nur bis zur Kreisebene ausgewiesen mit Ausnahme von Bayern, die die Zahlen auch auf Gemeindeebene wiedergeben. Bei der Erhebung von Flächennutzungsbilanzen einschließlich Bilanzen zur Flächenneuinanspruchnahme spielt ALKIS aus vorgenannten Gründen nur eine untergeordnete Rolle. Hier findet eher die Auswertung auf Grundlage von Blockkarten Anwendung.
3.3 Digitales Landschaftsmodell ATKIS Basis-DLM Das Amtliche Topographisch-Kartographische Informationssystem (ATKIS®, AdV 2019b) wurde von der Arbeitsgemeinschaft der Vermessungsverwaltungen der Länder der Bundesrepublik Deutschland (AdV) Mitte der 80er Jahre als digitales Landschaftsmodell zur geotopographischen Beschreibung des Landes konzipiert und schrittweise realisiert (erste flächendeckende Erhebung um 1997). Es enthält flächendeckende und überschneidungsfreie Informationen zur Tatsächlichen Nutzung der Flächen in einem hierarchischen, die vier Hauptklassen Siedlung (10 Objektklassen), Verkehr (11 Objektklassen), Vegetation (8 Objektklassen) und Gewässer (7 Objektklassen) umfassenden Nutzungsartenkatalog. Die Erhebungen im ATKIS Basis-DLM erfolgen im Maßstab 1: 10 000 – 1: 25 000. Die Daten zeigen damit die Flächennutzung in hoher semantischer Auflösung und ausreichender räumlicher Differenzierung. Die Nutzung wird aus Luftbildern und weiteren Fachinformationen bestimmt und in einem 2- bis 5-jährigen Turnus flächendeckend aktualisiert. Die Führung des Nutzungsartenkataloges erfolgt in Verantwortung der Länder. Da die Modellbeschreibungen GeoInfoDok 6.0 (AdV 2019c) nicht immer sehr genau umgesetzt werden, ist auch dieses Datenprodukt nicht vollständig homogen und durch Länderspezifika geprägt. Für bundesweite und länderübergreifende Anwendungen erfolgt deshalb durch das Bundesamt für Kartographie und Geodäsie (BKG) eine Datenhomogenisierung. Dadurch sind die Inhomogenitäten in ATKIS deutlich geringer als die von ALKIS. Die flächendeckende regelmäßige Aktualisierung, die gute Zugänglichkeit und die öffentliche Sichtbarkeit (ATKIS ist Grundlage der Präsentationsgrafik TopPlus) bedingen eine vergleichsweise hohe Qualität der Flächennutzungsinformationen. Deshalb ist das ATKIS Basis-DLM auch Grundlage der Indikatoren und Zeitreihen im Monitor der Siedlungs- und Freiraumentwicklung. Soll ATKIS im Flächennutzungsmonitoring angewendet werden, müssen die nur linienhaft modellierten Verkehrswege und schmalen Fließgewässer in Flächen überführt werden. Dies kann durch Pufferung der Linien mit den jeweiligen Breiten (bzw. bei fehlendem Attributwert durch straßenwidmungsabhängige Standardbreiten) erfolgen. Die linienhafte Modellierung von Verkehrswegen in ATKIS hat allerdings auch Vorteile, denn diese ermöglicht die Berechnung von Indikatoren zur Verkehrswegeinfrastruktur (Längen, Dichten, Erreichbarkeiten) sowie zur Landschaftszerschneidung und deren Entwicklung. Das ATKIS Basis-DLM wurde länderabhängig zwischen 2009 und 2013 einer Migration unterzogen, die die Zeitreihen der Flächennutzung vorübergehend belastet haben. So wurden beispielsweise Kleingärten im früheren Modell der Landwirtschaft und im neuen Modell der Sport-, Freizeit- und Erholungsfläche zugeordnet, was bei der Berechnung der Flächenneuinanspruchnahme zu berücksichtigen ist. Das gilt auch für Wochenend-/Ferienhausflächen, die von der Klasse „Flächen besonderer funktionaler Prägung“ (Siedlungsfläche) in Sport-, Freizeit- und Erholungsfläche (Siedlungsfreifläche) wanderten. Das ATKIS Basis-DLM spielt in den Städten in der Regel nur als Hintergrunddarstellung des Stadtumlandes eine Rolle, wo eigene genauere städtische Flächennutzungsdaten nicht vorliegen.
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3.4 Die Städtische Blockkarte Der KOSIS-Verbund (eine vorwiegend von kommunalen Gebietskörperschaften getragene Selbsthilfeeinrichtung zur Entwicklung und Bereitstellung von Instrumenten und Standards für das Statistische Informationssystem) hat mit dem Programm AGK das Konzept eines kommunalen statistischen Raumbezugssystems geschaffen, das in vielen Städten Anwendung findet (Städtestatistik 2019, Schönheit 2011). Es unterstützt den Aufbau und die Pflege einer kleinräumigen Gliederung einschließlich Adresszentraldatei und einer Gebäudedatei. Es gründet sich auf Straßen, Hausnummern und einer hierarchischen Gebietsgliederung, beginnend beim Block, d. h. auf die Adresse und eine bis zum (Bau-)Block und zur Blockseite differenzierte räumliche Gliederung des gesamten Stadtgebietes. Die Blöcke werden durch die Straßenknotenkarte gebildet. Außerdem wird zwischen Bruttoblock- (Flächen bis zur Straßenmitte) und Nettoblockkarte (Bruttoblockflächen abzüglich der Straßenfläche) unterschieden. Diese Blockkarte ermöglicht u. a. die Abbildung statistischer Merkmale einer Stadt. Darüber hinaus wird eine derartige Blockkarte oft auch in Fachanwendungen genutzt, so z. B. in der Landeshauptstadt Dresden. Dort wird die Blockkarte erweitert, in dem der Freiraum stärker differenziert wird und dann auch Grundlage des Landschaftsplanes ist. Die Flächennutzungsart wird für jeden Block zyklisch (0,5- bis 2-jährlich) aus dem Luftbild aktualisiert. Diese Blockkarte mit ihren Flächennutzungsattributen, dem Bodenversiegelungsgrad2 oder dem spezifischen Grünvolumen3 jedes Blockes ist eine hervorragende Grundlage für ein Flächenmonitoring.
Datenprodukte im Rahmen des Copernicus Land Monitoring Services bereit: den Urban Atlas und einen High Resolution Layer (HRS) der Bodenversiegelung. Der Urban Atlas stellt u. a. Daten zur Flächennutzung für inzwischen 94 Stadtregionen mit einer Fläche von 192.996 km² (54 % Deutschlands) bereit. Die Erhebung erfolgt im Maßstab 1 : 10.000. Der Nutzungsartenkatalog umfasst 20 Klassen, die Mindestflächengröße beträgt 0,25 ha. Damit ist der Urban Atlas gut für städtische und stadtregionale Vergleiche geeignet. Der High Resolution Layer der Bodenversiegelung des europäischen Copernicus-Programms stellt europaweit seit 2006 alle 3 Jahre Daten bereit. Die Daten eignen sich insbesondere für Stadtvergleiche. Eine Messung der Veränderung der Bodenversiegelung ist allerdings stark beeinträchtigt, da frühere Erhebungsdaten immer wieder durch neue Erhebungen nachträglich korrigiert werden. Auch werden die Veränderungen der Bodenversiegelung im Change-Layer des Datenprodukts stark unterschätzt und sind häufig auch fehlerhaft (Krüger et al. 2019). Weltweite Datenprodukte sind der Global Urban Footprint (GUF 12 m Bodenauflösung) und der Global Human Settlement Layer (GHSL, verfügbar für 1975, 1990, 2000, 2014), die eine weltweite Analyse der Siedlungsentwicklung ermöglichen.
3.5 Individuelle Realnutzungskartierungen Verschiedene Regionale Planungsstellen führen eine eigene Realnutzungskartierung. Diese beruht auf der Aktualisierung von ALKIS, ATKIS und Flächennutzungsplänen durch Luftbilder. Diese Daten sind dann Hindergrundkarten oder Ausgangsdaten für ein weiterführendes Flächennutzungsmonitoring. Hier seien beispielhaft das Siedlungsflächenmonitoring NRW (Bezirksregierung Köln 2019) mit seinen jährlichen Flächenreports und das Flächeninformationssystem ruhrFIS des Regionalverbandes Ruhr mit seinem Siedlungsflächenmonitoring, den Siedlungsflächenbedarfsrechnungen und dem Monitoring der Daseinsvorsorge genannt. Darüber hinaus gibt es Fachsysteme zur Erfassung von Innenentwicklungspotenzialen (Müller und Gründler 2016) (Lagemann 2016) oder Brachflächen oder Leerständen (Elgendy 2017).
Der Monitor der Siedlungs- und Freiraumentwicklung (IÖRMonitor) stellt seit 2010 kostenfrei Informationen zur Flächennutzung, zum Gebäudebestand, zur Verkehrsinfrastruktur und zur Landschaftsqualität im Internet bereit (www.ioer-monitor. de). Er stellt eine dauerhafte wissenschaftliche Dienstleistung des Leibniz-Institutes für ökologische Raumentwicklung (IÖR) dar. Als Fachinformationssystem richtet er sich an Wissenschaft, Verwaltung, Planung, Wirtschaft und Öffentlichkeit. Er liefert Basisinformationen für die Bewertung der Flächenentwicklung, insbesondere hinsichtlich deren Nachhaltigkeit. Dabei werden sowohl der Status Quo der Flächennutzung als auch frühere Zustände erfasst und beschrieben. Das erfolgt mittels eines hierarchischen Indikatorensystems, welches inzwischen 85 Einzelindikatoren der Kategorien Siedlung, Gebäude, Verkehr, Bevölkerung, Freiraum, Landschafts- und Naturschutz, Landschaftsqualität, Ökosystemleistungen, Risiko, Energie, Materiallager und Relief umfasst. Die Zeitreihen beginnen im Jahr 2000 und umfassen derzeit 13 Zeitschnitte (Stand 11/2019), die jährlich im März um den aktuellen Zeitschnitt ergänzt werden. Um frühere Flächennutzungszustände zu erfassen, werden die Siedlungsflächen automatisiert aus analogen Topographischen Karten im Maßstab 1 : 25.000 sukzessiv abgeleitet und die Zeitreihen damit ergänzt. Die Indikatorenwerte werden als interaktive Karten zur Einschätzung räumlicher Verteilungen und Disparitäten, durch Tabellen zur Einschätzung der Zahlenwerte mit anderen Gebietseinheiten, durch Entwicklungsgraphen zur Einschätzung der Veränderungen, durch Gebietsprofile (alle Indikatorwerte einer Gebietseinheit) und statistischen Auswertungen visualisiert. Die Karten können individuell angepasst (z. B. Klassifizie-
3.6 Weitere Datenprodukte mit Flächennutzungsinformationen Ein weiteres Datenprodukt mit Flächeninformationen ist das Landbedeckungsmodell für Deutschland (LBM-DE), welches flächendeckend für die Zeitschnitte 2009, 2012, 2015 und 2018 Geoinformationen zur Landbedeckung, -nutzung und Bodenversiegelung bereitstellt. Es beruht auf einer Kartierung auf Grundlage eines europaweiten multispektralen Satellitenbildmosaiks. Durch die Mindestkartierfläche von einem Hektar und methodischen Erhebungsveränderungen sind die Daten für ein kommunales Monitoring bisher noch wenig geeignet (Meinel u. Reiter 2019). Die Europäische Umweltagentur (EEA) stellt zwei auch für städtische Anwendungen interessante flächendeckende
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Flächenmonitoring mit dem Monitor der Siedlungs- und Freiraumentwicklung (IÖR-Monitor)
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rung, Zusatzelemente), dauerhaft mittels Link gespeichert und so in Berichte eingebunden oder versandt werden. Damit die Daten auch unmittelbar in eigene GIS-Arbeiten des Nutzers einfließen können, werden die Karten auch als WebMappingServices (WMS), WebFeatureServices (WFS) und als WebCoverageServices (WCS) bereitgestellt. Die Indikatorwerte werden jeweils räumlich so hochauflösend wie möglich und sinnvoll berechnet und für die administrativen Gebietseinheiten Bund, Land, Kreise, Gemeinden, Städte und Stadtteile, für Raumordnungs- bzw. Planungsregionen und als inspirekonforme Rasterkarten von 100 m- bis 10 km-Rasterweite visualisiert. Grundlage für die Berechnungen sind die folgenden amtlichen Geobasisdaten Deutschlands: die Flächendaten des ATKIS Basis-DLM, die liegenschaftskatasterbasierten Hausumringe (HU-DE), die Gebäudeadressen (GA) und die 3D-Gebäudemodelle (LoD1-DE). Außerdem werden die folgenden Geofachdaten genutzt: Schutzgebiete, rechtlich festgesetzte Überschwemmungsgebiete, Bodenversiegelung (Copernicus Land Monitoring) und Statistikdaten (Bevölkerungszahl und -raster), die kombiniert verarbeitet werden. Besondere Bedeutung haben die Nachhaltigkeitsindikatoren: Flächenneuinanspruchnahme, Siedlungsdichte, einwohnerbezogener Freiraumverlust, Analyseergebnisse zu Flächenwanderungsbewegungen und die Indikatoren der Kategorie Ökosystemleistungen, die u. a. die Grünausstattung und -erreichbarkeit der deutschen Städte umfassen. Die Daten des IÖR-Monitors sind für ein Flächenmonitoring auf allen administrativen Ebenen, insbesondere auch auf der
kommunalen Ebene, bestens geeignet. Die Zeitreihen sind gegenüber der amtlichen Flächenerhebung belastbarer. Auch wenn Städte teilweise über genauere individuelle Flächeninformationen verfügen, liegt die Stärke des IÖR-Monitors, durch die Nutzung einheitlicher Datengrundlagen, in der räumlichen Vergleichbarkeit. So ermöglicht ein interaktiver Geoviewer die Wahl interaktiver Indikatorkarten, Tabellen und Entwicklungsgraphen auch für vergleichende Analysen mit anderen Städten. Damit wird den Mitarbeitern einer Stadtverwaltung und den gewählten Stadtpolitikern eine Einschätzung ihrer Stadt hinsichtlich vieler Merkmale ermöglicht. Darum sollte der IÖR-Monitor auch noch stärker als bisher im Verwaltungsalltag der Kommunen einschließlich der Städtestatistik Anwendung finden.
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Ausgewählte Ergebnisse des IÖR-Monitors
An dieser Stelle sollen zwei Ergebnisse die Leistungsfähigkeit des IÖR-Monitors exemplarisch zeigen. Zum einen der Nachhaltigkeitsindikator „Freiraumverlust pro Einwohner“, den Abbildung 1 bzw. Tabelle 1 zeigt. Tabelle 2 zeigt beispielhaft die Erreichbarkeit städtischer Grünflächen. Dieser mit dem BMU und BfN abgestimmte Indikator berechnet sich als Quotient aus der Einwohnerzahl, die im 300 m Umkreis von öffentlichen Grünflächen > 1 ha (tägliche Naherholung) bzw. 700 m Umkreis von öffentlichen Grünflächen > 10 ha (Wochenenderholung) wohnt und der Einwohnerzahl der Stadt.
Abbildung 1 und Tabelle 1: Freiraumverlust pro Einwohner (2017, IÖR-Monitor) Rang
Bundesland
Freiraumverlust [m²/Einw.]
1
Mecklenburg-Vorpommern
9,6
2
Saarland
5,4
3
Sachsen
3,9
4
Sachsen-Anhalt
3,9
5
Niedersachsen
3,8
6
Bayern
3,2
7
Schleswig-Holstein
2,9
8
Rheinland-Pfalz
2,7
9
Brandenburg
2,6
10
Baden-Württemberg
2,2
11
Nordrhein-Westfalen
1,4
12
Hessen
0,7
13
Hamburg
0,6
14
Thüringen
0,4
15
Berlin
0,3
16
Bremen
0,0
Information zum Indikator: Mittlerer jährlicher Verlust von Freiraumfläche pro Einwohnen. Datengrundlage: ©GeoBasis-DE/BKG (2020) Statistische Ämter des Bundes und der Länder.
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Abbildung 2: Anteil SuV- an Gebietsfläche, oben: stadtscharf; unten: stadtteilscharf
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Tabelle 2: Erreichbarkeit städtischer Grünflächen für deutsche Städte > 50.000 Einwohner (Stand: 2013, Quelle: IÖR-Monitor, die Berechnung beruht auf der Einwohnerverteilung in einem 100 m-Raster des Zensus) Rang
Erreichbarkeit städtischer Grünflächen [%]
1
Stolberg (Rhld.)
99,1
2
Hattingen
98,7
3
Baden-Baden
98,7
4
Schwäbisch Gmünd
98,5
91
Stuttgart
79,9
123
Köln
74,1
142
Hamburg
70,1
148
Düsseldorf
68,8
161
Frankfurt am Main
65,8
170
München
62,6
173
Berlin
61,4
180
Wiesbaden
53,4
181
Worms
49,4
182
Wolfenbüttel
47,8
…
…
Inzwischen werden viele Indikatorwerte im IÖR-Monitor auch stadtteilscharf für die 191 deutschen Städte mit mehr als 50.000 Einwohnern für insgesamt 2.277 Stadtteile gezeigt. Den Informationsgewinn zeigt der Vergleich der Karten in Abbildung 2 für den Indikator Anteil Siedlungs- und Verkehrsfläche an der Gebietsfläche. Seit kurzer Zeit kann man im IÖR-Monitor auch die Flächennutzungsstruktur kartographisch und flächendeckend für Deutschland einsehen (Abb. 3). Dazu zeigt die „IÖR-MonitorBasiskarte Flächennutzung“ die Hauptnutzungen der Fläche farbig und in sehr hoher Auflösung (2,5 m-Raster). Der Blick auf die Tatsächliche Nutzung ermöglicht sowohl ein besseres Verständnis der jeweiligen Indikatorwerte als auch eine Abschätzung der Intensität der Flächennutzungsänderung, denn die Karten sind ab dem Jahr 2000 für jeden Zeitschnitt des IÖR-Monitors verfügbar.
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Zusammenfassung und Ausblick
Die Bereitstellung aktueller und genügend kleinräumiger Flächennutzungsdaten für Städte und Gemeinden bleibt nach wie vor eine große Herausforderung. Der Zugriff auf amtliche Geobasisdaten hat den Vorteil, dass diese den Städten kostenfrei zur Verfügung stehen und deren Fortschreibung gesetzlich gesichert ist. So steht mit ALKIS ein räumlich hochauflösendes Datenprodukt mit Flächennutzungsinformationen zur Verfügung. Allerdings eignet sich dieses für ein Flächenmonitoring nur bedingt, da es sich in einem ständigen Modellwandel befindet, der auch noch einige Jahre anhalten wird. Robuster und thematisch höher, dafür aber geringer räumlich auflösend, sind die Flächeninformationen aus ATKIS. Allerdings wird durch die Harmonisierung von ALKIS und ATKIS auch dieses Produkt in den nächsten Jahren Modellanpassungen erfahren, wenn diese auch nicht so grundlegend sind wie die von ALKIS.
Abbildung 3: IÖR-Monitor-Basiskarte Flächennutzung – Ausschnitt Köln (Stand 2018)
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Beste Ergebnisse im Flächenmonitoring lassen sich auf eigenen blockscharfen Erhebungen der Flächennutzung erzielen, die allerdings selbst bei Nutzung KI-basierter Klassifikation hochauflösender Ortholuftbilddaten durch die notwendigen manuellen Korrekturen sehr aufwendig sind. Um stabile Langzeitreihen der Flächennutzung aufzubauen, sollten nur Veränderungen kartiert und Erhebungsmethodik und Datengrundlage nicht verändert werden. So könnten, z. B. durch Auswertung der Erfassungsbögen der Bautätigkeitsstatistik, schnell und kostengünstig belastbare Zahlen
zum Flächenverbrauch abgeleitet werden, wozu allerdings eine Novellierung des Hochbaustatistikgesetzes erforderlich wäre, um die Lageinformationen GIS-technisch auswerten zu können (Meinel 2017).
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http://www.adv-online.de/GeoInfoDok/GeoInfoDok-NEU/ https://www.dresden.de/media/pdf/umwelt/ua_1_3_text.pdf https://geomis.sachsen.de/terraCatalog/Query/ShowCSWInfo. do?fileIdentifier=fa1fb755-9150-4830-a438-8c57853c1bb5
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2020 fällt der Equal-Pay-Day auf dem 17. März
Der Equal Pay Day ist der Tag, bis zu dem Frauen zu Beginn eines Kalenderjahres arbeiten müssten, um auf das gleiche Einkommen zu kommen, das Männer bereits zum 31.12. des Vorjahres erreicht hatten. Dieser internationale Aktionstag verweist auf die durchschnittliche Entgeltungleichheit zwischen Frauen und Männern – und wird in den Staaten entsprechend der lokalen Gegebenheiten an unterschiedlichen Tagen begangen. In Deutschland beträgt laut Statistischem Bundesamt der geschlechtstypische Entgeltunterschied seit einigen Jahren 21 %. Entsprechend müssten Frauen im Vergleich zu Männern 11 Wochen länger arbeiten. Der Einkommensunterschied unterscheidet sich sowohl regional als auch nach Berufen. Die Lücke lässt sich zu einem Teil durch die geschlechtstypische Berufswahl und die unterschiedliche Entlohnung trotz vergleichbarer Qualifikationsvoraussetzungen erklären: Frauen arbeiten überdurchschnittlich häufig in schlecht bezahlten sozialen oder Dienstleistungs-Berufen – Männer häufiger in besser bezahlten technischen Berufen. Das wirkt sich im Bundesländervergleich (Abb. links) aus: In den wirtschaftlich starken süddeutschen Ländern ist das verarbeitende Gewerbe mit eher hohen Löhnen z. B. in der Automobilindustrie mit ihren Zulieferfirmen besonders stark verankert. In den ostdeutschen Bundesländern wurden viele Industriearbeitsplätze nach der deutschen Einheit wegrationalisiert, so dass auch die ostdeutschen Männer zur Aufnahme schlechter bezahlter Arbeit gezwungen waren. Darüber hinaus wirken sich Kinderbetreuung oder häusliche Pflege und damit verbunden die längeren Phasen von Teilzeitarbeit mehrheitlich für Frauen nicht nur ein-
Abbildungen: Gender Pay Gap 2019 auf Basis von 309.000 Online-Interviews
Quelle: Online-Portal Lohnspiegel.de der Hans-Böckler-Stiftung.
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kommensmindernd, sondern auch als Karrierehindernis aus. Da während der letzten Jahre die Monatsentgelte sozialversicherungspflichtig in Vollzeit Beschäftigter zwar gestiegen sind, sich die Entgeltlücke aber nicht verkleinert hat, können die nach Kreistyp differenzierten Medianeinkommen für das Jahr 2017 (INKAR.de; entsprechen nicht den bislang referierten Durchschnittseinkommen) hinsichtlich der damit gemessenen Unterschiede weiterhin Gültigkeit beanspruchen: Laut Statistik der Bundesagentur für Arbeit betrug das monatliche Medianeinkom-
men 2017 auf Bundesebene 3.070,00 € (brutto), für Männer 3.229,00 € und für Frauen 2.712,00 €. In Westdeutschland lag es insgesamt bei 3.140,50 € (Männer 3.302,50 €/Frauen 2.743,00 €), in Ostdeutschland insgesamt bei 2.408,00 € (Männer 2.427,00 €/Frauen 2.361,00 €). Weiter lässt der viergliedrige siedlungsstrukturelle Kreistyp des BBSR Aussagen über die generelle Entwicklung in kreisfreien Großstädten mit mehr als 100.000 Einwohnern (außer den kreisangehörigen Aachen, Hannover, Saarbrücken) zu. In Großstädten gibt es nicht nur mehr Dienstleistungsarbeitsplätze, sondern
auch mehr Arbeitsplätze für hochqualifizierte Arbeitskräfte. Entsprechend lag das Medianeinkommen dort mit 3.379,00 € höher als das bundesweite (Männer 3.602,00 €/Frauen 3.071,00 €). In den ostdeutschen Großstädten einschließlich Berlin betrug es 2.813,00 € (Männer 2.840,00 €/Frauen 2.806,50 €), in den westdeutschen Großstädten 3.445,00 € (Männer 3.639,00 €/Frauen 3.108,00 €). Gemessen am Medianeinkommen ist die Entgeltlücke in Großstädten also etwas geringer als in ländlicher geprägten Kreisen. Gabriele Sturm
Klimawandel und Stadtentwicklung
In der Süddeutschen Zeitung erschien ein Artikel zu den Klimaveränderungen, die München in den nächsten Jahren bevorstehen. „Viel zu warm und viel zu sonnig: In München macht sich der Klimawandel bemerkbar - und er wird bald auch Einfluss auf das Stadtbild haben“ schrieb die SZ am 2. Januar 2020. Die Durchschnittstemperatur in der bayerischen Hauptstadt lag in den vergangenen zwei Jahren bei 11,4 Grad Celsius, das langjährige Mittel ist lediglich 9,2 Grad: Dies sind klare Zeichen dafür, dass der Klimawandel längst auch München betrifft. Jedoch ist das nicht alleine das Problem von München: Experten sind sich darin einig, dass sich Wetterextreme wie Hitzeperioden und Dürrephasen auch zunehmend in anderen deutschen Städten verschärfen. So verwandelte sich die Isar im Mai 2019 in München in einen reißenden Fluss, wobei die Flut bis auf einen Pegel von
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3,57 Metern im Stadtgebiet anstieg, normal liegt der Pegel bei 80 Zentimeter, wie die SZ vermeldete. Größere Hitze, extreme Starkregenereignisse und gleichzeitig ein trockeneres Klima bedeuten, dass in deutschen Städten künftig wohl verstärkt mediterrane Bäume gepflanzt werden müssen. Einige Baumarten werden wegen des zunehmend extremen Wetters wohl in nicht allzu ferner Zukunft aus dem Stadtbild verschwunden sein. Viele heimische Baumarten zeigten laut Waldschadensbericht Trockenschäden; Krankheiten und Schädlinge rafften ganze Waldbestände dahin. Ein weiterer Beitrag zum Klima- und Temperaturmonitoring in einer Stadt findet sich in der aktuellen Urban AuditBroschüre vom November 2019: Am Beispiel Mannheims berichtet der Autor Christopher Barron über den: Einsatz von Crowd Data für stadtklimatische Fragestellungen. Die zunehmende Verfügbar-
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keit hochwertiger Geofachdaten bei der Stadt Mannheim (u. a. Laserscannbefliegung, flächenscharfe Versiegelungsdaten, Grünvolumen) ist ausschlaggebend dafür, dass die Stadtklimaanalyse für Mannheim 2020 auf Grundlage eines mesoskaligen Modells berechnet wird und damit für die Stadtentwicklung neue Möglichkeiten des Reagierens auf den Klimawandel in einer Großstadt gegeben sind. Natürlich wird für die Folgeabschätzung der Beitrag der Statistik, z. B. für die Kombination der kleinräumigen Bevölkerungsdichte, der Wohnbebauung u. a. von großer Bedeutung sein. Die Urban-Audit-Broschüre enthält weitere interessante Beiträge und kann unter dem Link www.urbanaudit.de heruntergeladen werden. Der Klimawandel ist die aktuell größte globale Herausforderung für die Menschheit. Der CO2-Ausstoß stieg 2019 auf ein Rekordhoch und auch der Meeresspiegel,
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Editorial
Impressum Stadtforschung und Statistik Jahrgang 33 | Heft 1/2020 www.stadtforschung-statistik.de redaktion@stadtforschung-statistik.de Herausgeber Verband Deutscher Städtestatistiker c/o Landeshauptstadt Stuttgart, Statistisches Amt Eberhardstr. 37 70173 Stuttgart Tel.: 0711/216-98542 www.staedtestatistik.de Zeitschriftenleitung Dr. Ansgar Schmitz-Veltin Hartmut Bömermann Hermann Breuer Redaktion Günther Bachmann (Buchhinweise und Rezensionen), Nadine Blätgen, Hubert Harfst (Historie), Dr. Till Heinsohn, Udo Hötger, Dr. Grit Müller, Dr. Jochen Richter, Roland Richter, Martin Schlegel, Rudolf Schulmeyer, Dr. Gabriele Sturm Herstellung Schibri-Verlag Milow 60, 17337 Uckerland, Tel.: 039753/22757 E-Mail: info@schibri.de www.schibri.de Bezugsbedingungen Jahresabonnement (2 Ausg.) | 15 Euro Einzelheft | 8,50 Euro Bezug über den Schibri-Verlag oder den Buchhandel ISSN 0934-5868 Auszugsweise Vervielfältigung und Verbreitung mit Quellenangabe gestattet. Belegexemplare erbeten.
Im Zeitalter der Suburbanisierung waren die Rollen klar verteilt: Hier die Kernstadt als Arbeits-, Kultur- und Versorgungsort, dort das suburbane Umland als Wohnort für alle, die es sich leisten konnten, ein Häuschen im Grünen zu bauen – oder wenigstens eines zu kaufen. So entwickelte sich der suburbane Wohnstandort quasi als räumlich und baulich manifestierter Ausdruck der bürgerlichen Normalfamilie der 1960er Jahre zum Wohnideal der „Städter“. Im Zuge gesellschaftlicher Umbrüche, einer zunehmenden Erwerbsbeteiligung der Frauen, neuer Erwerbsformen und –biografien, einer fortschreitenden Tertiärisierung und nicht zuletzt einer gezielten Attraktivierung der städtischen Zentren bröckelte dieses Ideal seit Beginn der 2000er Jahre und wurde abgelöst durch eine Wiederentdeckung des Städtischen: Unter dem Oberbegriff der Reurbanisierung wurden die Zentren zunehmend wieder als Wohnstandorte interessant. Hier, an gut erschlossenen und ausgestatteten Wohnstandorten in der Nähe der Arbeitsplätze ließ sich der Alltag moderner Familien meist besser organisieren als weit draußen im Umland. Nur: Weil seit bald zwei Jahrzehnten immer mehr Menschen in Richtung Zentrum tendierten, steigen die Grundstücks- und Wohnungspreise und in Folge die Mieten dort deutlich an. Dies bleibt nicht ohne Konsequenzen: Denn obwohl der Wunsch nach guter Erreichbarkeit und infrastruktureller Ausstattung bestehen bleibt, weichen zuletzt wieder mehr Haushalte in das Umland der Städte aus, da sie sich nur hier eine ausreichend große und komfortable Wohnung leisten können. Aus dem hierdurch entstandenen Nebeneinander stadtregionaler Verflechtungen ergeben sich neue Raummuster, die in den Beiträgen des vorliegenden Schwerpunkts differenziert dargestellt werden sollen. Dieser gliedert sich im Wesentlichen in drei Abschnitte: Im ersten wird den Fragen nachgegangen, wie die eng miteinander verflochtenen Städte und deren Umland raumanalytisch abgegrenzt werden können (Antonia Milbert), welche Sub- und Reurbanisierungsprozesse in den Großstadtregionen Deutschlands zu beobachten sind und welche Blickwinkel in die Analyse dieser Prozesse einbezogen werden sollten (Brigitte Adam). Im zweiten Teil des Schwerpunkts werden Befunde zur residentiellen Mobilität am Beispiel von drei Großstadtregionen dargestellt: In Köln (Mirjam Schmid, Susann Kunadt), Stuttgart (Tobias Held, Attina Mäding) und Heidelberg (Carolina Föhl) zeigt sich, dass die Städte zwar auf der einen Seite von internationaler Zuwanderung und dem Zuzug junger Menschen profitieren, auf der anderen Seite aber eine verstärkte Abwanderung in das Umland zu beobachten ist. Neben Daten zur Einwohner- und Wanderungs- und Wohnungsmarktentwicklung wird am Beispiel von Stuttgart anhand von Befragungsdaten zusätzlich untersucht, was den Wunsch bedingt, lieber im Umland zu wohnen (Till Heinsohn, Fabian Schütt). Scheinbar spielen äußere Zwänge hierbei eine zumindest ebenso große Rolle wie der Wunsch selbst. Im dritten Teil geht es schließlich um Alltags- und Verkehrsmobilität. Am Beispiel von Heidelberg wird die Verflechtung der Stadt mit ihrem Umland anhand von Pendlerdaten der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten dargestellt (Stefan Lenz). Räumlich schärfer auflösend und thematisch weitergefasst sind Informationen aus Mobilfunkdaten, wie sie aktuell in Darmstadt im Zuge von Verkehrsanalysen erprobt werden (Günther Bachmann). Dass es tatsächlich noch viele weitere Datenquellen gibt, um die berufliche Mobilität in Stadtregionen zu analysieren und anschaulich darzustellen, zeigt das Beispiel Frankfurt am Main (Christian Stein).
wie ganz aktuelle Untersuchungen belegen, steigt stärker denn je. Extremwetterereignisse wie Stürme, Dürre und Waldbrände häufen sich. So wird der Anstieg des Meeresspiegels auch auf Städte wie Hamburg, Lübeck oder Kiel bedeutende Auswirkungen haben, die heute im vollen Umfang noch nicht absehbar sind. Drastisch ist das Vorgehen des indonesischen Ministerpräsidenten, der Jakarta, das alte Batavia, komplett verlegen will, weil die Hauptstadt Indonesiens durch Klimawandel und steigenden Meeresspiegel extrem bedroht ist, wie bereits die letzten Jahre mit drastischen Überschwemmungen gezeigt haben. „Wohltätig ist des Feuers Macht, wenn sie der Mensch bezähmt, bewacht“ schrieb Friedrich Schiller in seinem Gedicht von der Glocke. Wie unbezähmbar das Feuer wüten kann, ließen die beiden extremen Brände in Brasiliens Amazonaswäldern und insbesondere in Australiens Eukalyptuspflanzungen erkennen: viele Tote, eingeschlossen von riesigen Feuersbrünsten, mehr als eine Milliarde Tiere wie Käguruhs, Koalas und andere wurden vernichtet. Insbesondere in Australien scheinen die Schäden ir-
reparabel, der wirtschaftliche Schaden und das menschliche Leid übersteigen mittlerweile jede Vorstellungskraft. Ist dies nur ein Vorgeschmack dessen, was auch – wenn auch in anderer Form – deutschen Städten bevorsteht? „I want you to panic“, so lautet die Botschaft der 17-jährigen Klimaaktivistin Greta Thunberg. Wer das für übertrieben hält, wird durch das Buch „Die unbewohnbare Erde“ von David Wallace-Wells eines Besseren belehrt. In seinem Buch schildert der amerikanische Journalist, stellvertretender Chefredakteur des „New York Magazine“, anhand drastischer Beispiele die Folgen der Erderwärmung. „Egal, wie gut Sie informiert sind, Sie sind nicht beunruhigt genug“, warnt er die Leser. Auf der Grundlage ausführlicher Recherchen und zahlreicher Interviews mit Wissenschaftlern beschreibt er, was es tatsächlich bedeutet, wenn sich die Erde in den nächsten Jahrzehnten um 2, 3, 4 oder gar noch mehr Grad erwärmt. Daß die Klimaveränderungen auch Auswirkungen auf die Entwicklung deutscher Städte haben wird, wird nach der Lektüre offensichtlich. Erschienen ist das Buch im Verlag Ludwig Verlag/ Random House.
Deutlich wird zum Beispiel, dass die Waldbrandgefahr unter den gegebenen Klimaveränderungen auch in deutschen Städten – durch das trockenere Klima – steigen wird. So arbeitet das Umweltbundesamt an Studien zur Anpassung an die Folgen des Klimawandels in der Stadtplanung und Stadtentwicklung (siehe www.umweltbundesamt.de/ für eine Vielzahl neuer Veröffentlichungen). Von besonderer Bedeutung ist die Rolle der Statistikämter in den deutschen Großstädten, die aufgrund der vorhandenen Wetter- und Umweltdaten und anderer Daten zum Wohnen oder Bevölkerungsdichte einen entscheidenden Beitrag zum Monitoring der Klimaveränderung in der Stadt beitragen können. Vorschläge dazu finden sich unter anderem in der BBSR-Publikation Klimawandelgerechte Stadtentwicklung – Ursachen und Folgen des Klimawandels durch urbane Konzepte begegnen, Forschungen Heft 149, zum Download unter https://www.nationale-stadtentwicklungspolitik.de/ (klimagerechte_ stadtentwicklung.pdf ). Günther Bachmann
Dr. Ansgar Schmitz-Veltin
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