St+St 2-2020

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Inhalt

Stadtforschung

Schwerpunkt

Heft 2 | 2020

75 Neue Muster des Darmstädter Pendlerverkehrs Jan Dohnke

Moderation: Till Heinsohn 2

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Der Unfallatlas – Eine interaktive Kartenanwendung der Statistischen Ämter des Bundes und der Länder: Hintergrund, Funktionalitäten und Analysepotenzial Hannes Hagedorn, Hanna Hoffmann

85 Zur statistischen Erfassung von Wohnungs- und Obdachlosigkeit in den USA: Die „Point-in-Time“Zählung am Beispiel von Portland, Oregon Ingo Heidbrink

Wo lebt es sich am sichersten? Strukturgleichungsmodell des Verkehrsunfallrisikos in Niedersachsen Inga Faller, Joachim Scheiner

16 Zu Fuß in der Stadt, nicht immer ein sicheres Vergnügen! Jörg Ortlepp 22 „Auf’s Radl – Fertig? – Los!“ Ergebnisse der Raddauerzählstellen in München 2017 und 2018 Ulrike Teubner, Monika Wreszinski, Silke Joebges 30 Erschließung von Crowd Data und Verknüpfung mit Befragungsdaten im Bereich Verkehr Sebastian Baur 36 Nutzungsanalyse des Bike-SharingAngebots in Stuttgart Fabian Schütt

Statistik und Informationsmanagement 92 WEBWiKo – digitale Werkzeuge zur Unterstützung der kooperativen Regionalentwicklung Laura Wette, Bernd Kramer

Entdeckt 100 Die Geschichte des „Grand Hotels Abgrund“ Günther Bachmann

42 Weiterentwicklung und mögliche Anwendungsbereiche von Erreichbarkeitsanalysen am Beispiel der Landeshauptstadt Düsseldorf Franziska Fritz 54 Der Modal Split als Verwirrspiel Christian Holz-Rau, Karsten Zimmermann, Robert Follmer 64 Vom Fahrzeugregister zur Kfz-Statistik Uwe Dreizler

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Schwerpunkt Mobilität und Verkehr

Hannes Hagedorn, Hanna Hoffmann

Der Unfallatlas – Eine interaktive Kartenanwendung der Statistischen Ämter des Bundes und der Länder: Hintergrund, Funktionalitäten und Analysepotenzial Der Unfallatlas der Statistischen Ämter des Bundes und der Länder basiert auf georeferenzierten Unfalldaten. Die interaktive Kartenanwendung bietet den Nutzerinnen und Nutzern die Möglichkeit, für eine Vielzahl von Bundesländern Unfälle mit Personenschaden koordinatenscharf zu erkunden. Im Sommer 2020 wurde der Unfallatlas für das Berichtsjahr 2019 aktualisiert und um die Unfalldaten der Bundesländer Nordrhein-Westfalen und Thüringen erweitert. Die interaktive Kartenanwendung mit ihrer georeferenzierten Datenbasis bietet vielfältige Analysepotenziale. Diese beziehen sich nicht nur auf die Analyse der Verteilung von Unfällen in verschiedenen Kategorien. Aufgrund von erhobenen Eigenschaften der Unfälle sowie der kartographischen Verortung lassen sich auch mögliche Ursachen analysieren.

Hannes Hagedorn Sachbearbeiter, Statistisches Landesamt Nordrhein-Westfalen (IT.NRW), Sachgebiet Georeferenzierung : hannes.hagedorn@it.nrw.de Dr. Hanna Hoffmann Referentin, Statistisches Landesamt Nordrhein-Westfalen (IT. NRW), Sachgebiete Regionalstatistik und Georeferenzierung : hanna.hoffmann@it.nrw.de Schlüsselwörter: Straßenverkehrsunfallstatistik – interaktive Kartenanwendung – Georeferenzierung – kleinräumige Daten – Analysepotenzial

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Der Unfallatlas: Ortsgenaue Darstellung von Straßenverkehrsunfällen mit Personenschaden Aktuelle Zahlen zu den Straßenverkehrsunfällen mit Personenschaden vom Statistischen Bundesamt (Destatis) zeigen eine deutliche Entwicklung: Das durch die Corona-Pandemie bedingte geringe Verkehrsaufkommen im März 2020 wirkt sich auf die Zahl der Straßenverkehrsunfälle aus. Mit 166.000 Unfällen lag ihre Zahl gemäß den vorläufigen Ergebnissen für den März 2020 um 23 Prozent niedriger als ein Jahr zuvor. Gleichzeitig ist auch die Anzahl an Verletzten und Verkehrstoten zurückgegangen. Die Zahl der Verletzten ist gegenüber dem Vorjahresmonat um 27 Prozent auf rund 20.400 gesunken. Weiterhin zeigen die vorläufigen Ergebnisse, dass 158 Menschen im März 2020 bei Verkehrsunfällen starben, wobei es im März 2019 noch 234 waren (Statistisches Bundesamt 2020). Diese Ergebnisse geben einen übergeordneten Blick über die Entwicklungen der Straßenverkehrsunfälle in Deutschland. Aber wo ereignen sich die meisten Unfälle? Gibt es bestimmte Orte, an denen sich Unfälle häufen und Unfall-Hotspots entstehen? Diese und weitere Fragen können mit dem Unfallatlas der Statistischen Ämter des Bundes und der Länder für eine Vielzahl von Bundesländern beantwortet werden (https://unfallatlas. statistikportal.de). Aktuell sind die Daten für 2019 verfügbar, teilweise können die Unfallgeschehnisse zusätzlich bis 2016 zurückverfolgt werden. Zukünftige Aktualisierungen werden auch die Analyse der Entwicklungen in 2020 ermöglichen. Der Unfallatlas basiert auf georeferenzierten Daten, die es erlauben, Unfalldaten kartographisch kleinräumig und koordinatenscharf darzustellen. Die Geokoordinaten bzw. geografischen Gitterzellen werden in Zeiten von Open Data als fester Bestandteil der Metadaten und als weiterer Standardraumbezug verstanden, deren Analysepotenzial weit über kleinräumige Darstellungen hinausgeht. Die Statistischen Ämter des Bundes und der Länder haben es sich als Statistischer Verbund zur Aufgabe gemacht, die Geokoordinaten bzw. die geografische Gitterzelle als ein relevantes Attribut der amtlichen Statistiken zu etablieren. Mit der Novellierung des Bundesstatistikgesetzes 2013 wurde die Speicherung von geografischen Gitterzellen für die räumliche Zuordnung amtlich statistischer Daten ermöglicht (§ 10 Erhebungs- und Hilfsmerkmale). Besondere rechtliche Regelungen lassen in Einzelfällen, wie im Fall der Straßenverkehrsunfallstatistik, auch die Speicherung von Geokoordinatenpaaren zu.1 Durch


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die Ergänzung eines weiteren, tiefergegliederten Standardraumbezugs können Statistiken kleinräumig, zeitgemäß und entsprechend internationaler Standards bereitgestellt und verbreitet werden. Im Ergebnis wird mehr räumliche Tiefe, größere Diversität sowie Flexibilität der Regionaleinheiten erlangt und die Möglichkeit gegeben, stabile Zeitreihen aufzubauen, da die einmal festgelegten Gitterzellen keinen administrativen Änderungen unterliegen. Über die Geokodierung lassen sich darüber hinaus Informationen aus verschiedenen Quellen, die jeweils einen Raumbezug aufweisen, miteinander verknüpfen und gemeinsam analysieren. Insofern leisten georeferenzierte Informationen auch einen wichtigen Beitrag zur Verbesserung von Entscheidungsprozessen.

Welche Informationen und Funktionalitäten bietet der Unfallatlas? Der Unfallatlas wurde im Geoinformationszentrum bei Information und Technik Nordrhein-Westfalen (IT.NRW) im Auftrag der Statistischen Ämter des Bundes und der Länder programmiert und wird dort betrieben sowie weiterentwickelt. Die interaktive Kartenanwendung bietet den Nutzerinnen und Nutzern die Möglichkeit, deutschlandweit Unfallorte bzw. Unfallhäufigkeiten mit Personenschaden bis zu einem Maßstab von 1 : 2.500 zu erkunden. Bei seiner Veröffentlichung im September 2018 konnten noch nicht die Unfalldaten aller Bundesländer integriert werden. Hintergrund ist, dass sich die Datenverfügbarkeit im Bundesgebiet unterscheidet, da

die elektronische Erfassung der Geokoordinaten der Unfallorte in den einzelnen Bundesländern unterschiedlich stark vorangeschritten ist. So waren im September 2018 für die Berichtsjahre 2016 und 2017 die Daten der Länder BadenWürttemberg, Bayern, Bremen, Hamburg, Hessen, Niedersachsen (nur 2017), Sachsen, Sachsen-Anhalt (nur 2017) und Schleswig-Holstein im Atlas verfügbar. Im November 2018 wurde der Unfallatlas für das Berichtsjahr 2017 um die Daten der Länder Brandenburg, Rheinland-Pfalz und dem Saarland erweitert. Im August 2019 erfolgte die Aktualisierung des Unfallatlas für das Berichtsjahr 2018 und Daten aus Berlin kamen neu hinzu. Im Sommer 2020 ist die nächste Aktualisierung für das Berichtsjahr 2019 erfolgt. Mit dieser Aktualisierung wurde der Unfallatlas um zwei zusätzliche Bundesländer erweitert: Nordrhein-Westfalen und Thüringen konnten erstmalig Daten zur Verfügung stellen und füllen damit weitere freie Flächen in der Karte (Abb. 1). Die im Unfallatlas dargestellten Unfälle basieren auf den Ergebnissen der Statistik der Straßenverkehrsunfälle. Als Straßenverkehrsunfälle werden Unfälle definiert, bei denen auf öffentlichen Wegen und Plätzen infolge des Fahrverkehrs, Personen getötet oder verletzt werden bzw. Sachschäden auftreten. Der Unfallatlas stellt ausschließlich Unfälle mit Personenschaden dar. Es fehlen Unfälle mit Sachschaden (ohne Personenschaden) sowie Unfälle, die nicht durch die Polizei aufgenommen wurden. Gemäß Straßenverkehrsunfallstatistikgesetz (StVUnfStatG) übermitteln die Polizeidienststellen eines Landes – sobald die technischen Rahmenbedingungen

Abbildung 1: Startbildschirm Unfallatlas, Unfälle Berichtsjahr 2019

Quelle: Unfallatlas

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dies zulassen – monatlich die von ihnen erfassten Daten zu Straßenverkehrsunfällen mit den dazugehörigen Geokoordinaten an das jeweils zuständige Statistische Landesamt. Nachdem die Geokoordinaten in den statistischen Ämtern geprüft und aufbereitet wurden, lassen sie sich im Unfallatlas visualisieren. Einzelne Unfallereignisse werden auf oberen Ebenen über Straßenabschnitte aggregiert, damit Unfall-Hotspots in der Karte leichter zu identifizieren sind. Die Voraussetzung für eine Zuordnung der Unfallkoordinaten zu den korrekten Straßenabschnitten ist eine erfolgreiche Plausibilisierung der Daten. Im Prüfprozess wird dabei ein Abgleich der Unfalldaten mit den Straßengeometrien der amtlichen Vermessungsverwaltungen durchgeführt. Entsprechen Daten nicht den Plausibilisierungsanforderungen, werden sie entfernt und nicht im Unfallatlas abgebildet. Grundsätzlich liegen die Zuordnungsquoten der Unfallkoordinaten in den Bundesländern bei mehr als 90 Prozent (Unfallatlas). Welche Informationen zu Unfällen im Atlas angezeigt werden können, ist abhängig von dem Maßstabsbereich (Zoomstufe), in welchem sich die Nutzerinnen und Nutzer befinden. Bis zu einem Kartenmaßstab über 1 : 100.000 werden die Unfälle zusammengefasst und auf in der Regel 5 km langen Straßenabschnitten visualisiert. In diesem Maßstabsbereich werden nur die Unfallereignisse auf Autobahnen und Bundesstraßen dargestellt (Abb. 2). Ab einem Maßstab unter 1 : 100.000 werden die Straßen aller Klassen abgebildet, die Kartenansicht wechselt hier in

eine Detaildarstellung (Abb. 3). Die verschiedenen Unfallhäufigkeiten der Straßenabschnitte werden in einer Legende in unterschiedlichen Farben dargestellt. In der Regel beträgt die Länge der Straßenabschnitte auf den unteren Ebenen 250 Meter. Vereinzelt kann es jedoch auch vorkommen, dass sich an endenden Straßen oder Kreuzungen kleinere Abschnitte ergeben. Durch weiteres Hereinzoomen in die Karte erscheinen ab einem Maßstab von 1 : 50.000 die jeweiligen Unfallorte als einzelne Punkte (Abb. 4). Zugleich wird am oberen Bildrand die Anzahl der Unfälle im aktuellen Kartenausschnitt dargestellt. Durch Anklicken eines Punktes öffnet sich eine verlinkte Tabelle und die Nutzerinnen und Nutzer haben hier die Gelegenheit, sich über die jeweilige Unfallkategorie zu informieren. Diese unterscheidet nach der Schwere der entstandenen körperlichen Beeinträchtigungen (Unfall mit Leichtverletzten, Schwerverletzten oder Getöteten). Weiterhin werden die an dem Unfall Beteiligten angezeigt. Dabei wird differenziert zwischen einem Unfall mit einem PKW, mit einem Fahrrad, mit einer Fußgängerin oder einem Fußgänger, mit einem Kraftrad, mit einem Güterkraftfahrzeug (wird erst ab dem Jahr 2018 gesondert ausgewiesen, im Jahr 2016 und 2017 fällt diese Kategorie noch unter Sonstiges) und sonstigen Beteiligten. In der letzten Kategorie werden alle Unfälle subsumiert, an denen mindestens ein nicht genanntes Verkehrsmittel beteiligt war, wie z. B. ein LKW (nur 2016 und 2017), ein Bus oder eine Straßenbahn.

Abbildung 2: Kartenmaßstab über 1 : 100.000, Unfälle Berichtsjahr 2019

Quelle: Unfallatlas

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Abbildung 3: Kartenmaßstab zwischen 1 : 50.000 und 1 : 100.000, Unfälle Berichtsjahr 2019

Quelle: Unfallatlas

Abbildung 4: Kartenmaßstab zwischen 1 : 4.000 und 1 : 50.000, Unfälle Berichtsjahr 2019

Quelle: Unfallatlas

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Die weiteren Funktionalitäten des Unfallatlas sind sehr vielfältig: So haben Nutzerinnen und Nutzer die Möglichkeit, per Suchanfrage direkt zu der gewünschten Stadt oder Gemeinde zu navigieren. Darüber hinaus gibt es die Option, Unfallorte oder Unfallhäufigkeiten (Straßenabschnitte) differenziert nach den oben genannten Beteiligten am Unfall sowie ausschließlich Unfälle mit Getöteten auszuwählen. Dabei lassen sich die Unfallorte mit den unterschiedlichen Verkehrsteilnehmerinnen und Verkehrsteilnehmern gemeinsam auswählen und werden – zur Unterscheidung der durch rote Punkte markierten Unfallorte mit Personenschaden – als gelbe Punkte kenntlich gemacht. Alternativ können die Straßenabschnitte mit ihren Unfallhäufigkeiten in den einzelnen Kategorien ausgewählt werden. Bezogen auf die Kartenausdehnung ist es möglich, neben der Voreinstellung (Deutschland) auch ein bestimmtes Bundesland anzeigen zu lassen und das gewünschte Berichtsjahr einzustellen (2016 bis 2019). Ab einem Maßstab von 1 : 50.000 kann zusätzlich mithilfe eines Auswahlrahmens ein gewünschtes Gebiet frei gewählt werden. Als Hintergrundkarte dient der von Bund und Ländern gemeinsam entwickelte und durch das Bundesamt für Kartographie und Geodäsie (BKG) bereitgestellte Internet-Kartendienst WebAtlasDE. Er vermittelt auf der Grundlage amtlicher Geobasisdaten eine attraktive, deutschlandweit einheitliche Kartendarstellung in Zoomstufen vom Einzelgebäude bis zur Deutschlandübersicht (BKG). Ab einem sehr großen Maßstab (1 : 4.000) wechselt die Darstellung des Hintergrundes vom WebAtlasDE zu digitalen Orthophotos, um die Unfallpunkte

noch detaillierter im Hinblick auf die Unfallumgebung betrachten zu können (Abb. 5). In Ergänzung hierzu ist als weitere zeitgemäße Funktionalität des Unfallatlas das responsive Design auf Smartphones und Tablets zu nennen. Die Darstellung der einzelnen Informationen weicht zwar teilweise ab, die Grundfunktionalität bleibt jedoch erhalten. Somit kann der Unfallatlas sowohl in der Desktop- als auch in der mobilen Variante sehr intuitiv bedient werden. Der Unfallatlas lässt sich auf Facebook, Twitter oder WhatsApp teilen. Außerdem besteht die Möglichkeit, die Unfalldaten als WMS-Dienst in ein Geoportal einzubinden oder den Unfallatlas bzw. einzelne Kartenausschnitte in eine andere Webseite einzubetten. Um die Unfalldaten selbst auszuwerten, können die Nutzerinnen und Nutzer die Datensätze der Unfallorte entweder im CSV-Format oder als Shapefile für die einzelnen Berichtsjahre herunterladen. Neben den bereits sehr umfassenden Informationen zu den Unfallorten aus der Darstellung im Unfallatlas sind in den Downloaddateien zusätzlich noch Angaben zur Unfallstunde, zum Unfallwochentag, zur Art des Unfalls (10 Kategorien: z. B. Zusammenstoß mit entgegenkommendem Fahrzeug oder Aufprall auf Fahrbahnhindernis), zum Unfalltyp (7 Kategorien: z. B. Abbiegeunfall oder Unfall durch ruhenden Verkehr), zu den Lichtverhältnissen (Tageslicht, Dämmerung oder Dunkelheit) und zum Straßenzustand (trocken, nass/ feucht/schlüpfrig, winterglatt) enthalten (Unfallatlas). Die Nutzerinnen und Nutzer haben hierüber also die Möglichkeit, weitere Angaben mit in die eigene Analyse einfließen

Abbildung 5: Kartenmaßstab unter 1 : 4.000, Unfälle Berichtsjahr 2019

Quelle: Unfallatlas

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zu lassen. Bei der Weiterverarbeitung und Analyse der Daten müssen jedoch die nicht flächendeckende Darstellung für das Bundesgebiet, die Unterschiede in der Verfügbarkeit einzelner Berichtsjahre sowie die ca. 10 Prozent fehlenden Fälle, die durch die automatische Plausibilitätsprüfung entfallen, beachtet werden.

Die dargestellten Inhalte und Potenziale des Atlas zeigen, dass sich eine Vielzahl an Fragen mit den verfügbaren Daten beantworten lässt. Genannt seien z. B. Aspekte wie eine Verdichtung von Unfällen auf bestimmten Strecken, einzelne Unfall-Hotspots, die Beteiligten sowie Folgen für involvierte Personen, für bestimmte Regionen oder spezifische Orte. Die Weiterverarbeitung der zugrundeliegenden Daten kann darüber hinaus Anhaltspunkte liefern, ob es bestimmte Hochphasen von Unfällen mit Personenschäden an einem Wochentag oder auch zu bestimmten Tageszeiten gibt, ob sich Art oder Typ der Unfälle gleicht und ob äußere Umstände häufig ausschlaggebend waren. Als alltägliches Analysepotenzial besteht für Nutzerinnen und Nutzer die Option, sich einen Eindruck zum Unfallrisiko ihrer ganz persönlichen Wegstrecken zu machen und das eigene Verhalten gegebenenfalls anzupassen. So könnten sich beispielweise Eltern mithilfe des Unfallatlas über mögliche Unfallpotenziale auf dem Schulweg ihrer Kinder informieren und entsprechende Anpassungen vornehmen. Auch für Berufspendlerinnen und Berufspendler könnte der Unfallatlas Aufschluss über Risikopotenziale auf ihrem Arbeitsweg geben. Die Analysepotenziale des Unfallatlas verbergen sich demnach nicht nur in den Unfalldaten an sich. Gerade die Verortung der Daten in den kartographischen Informationen bzw. den Orthophotos liefert Erkenntnisse, die für die

Verkehrsplanung wichtig sein können. Denn das Unfallgeschehen kann neben dem Verhalten der Verkehrsbeteiligten, der Fahrzeugsicherheit oder den Witterungsbedingungen auch von der vorliegenden Infrastruktur abhängen. Mit der Identifizierung von Straßen- oder Autobahnabschnitten, deren Unfallgeschehen auffällig ist, können vorhandene Risiken möglicherweise leichter erkannt werden und zu wichtigen Erkenntnissen führen, die politischen Entscheidungsträgerinnen und Entscheidungsträgern die Ableitung entsprechender Maßnahmen ermöglichen. Zwei Beispiele sollen das Potenzial im Zusammenhang mit Orthophotos verdeutlichen: Die in Abbildung 6 dargestellte recht unübersichtliche Kreuzung mit Kreisverkehr und kreuzender Hochstraße weist an einigen Stellen ein erhöhtes Aufkommen von Straßenverkehrsunfällen auf, an der hauptsächlich PKWs beteiligt sind. Entscheidungsträgerinnen und Entscheidungsträger könnten also genauer analysieren, welche Art von Unfällen mit welchen Rahmenbedingungen vorliegen und diese Erkenntnisse zum Anlass nehmen, um über mögliche bauliche Maßnahmen zur Entschärfung der Unfall-Hotspots zu diskutieren. Durch die Visualisierung der Unfallergebnisse im Unfallatlas ist es zudem möglich, Risiken für Fahrradfahrerinnen und Fahrradfahrer aufzudecken. Durch den Nachweis von Unfall-Hotspots mit Beteiligung von Fahrrädern könnten entsprechende ortsgenaue Maßnahmen zur Verringerung des Risikos eingeleitet werden. In dem in Abbildung 7 dargestellten Kreisverkehr steht jeder gelbe Punkt für einen Unfall, an dem ein Fahrrad und mehrheitlich ein PKW beteiligt ist. Die Orthophotos zeigen hier, dass bereits klar abgegrenzte Fahrradwege entstanden sind. Eine Analyse der Daten kann helfen, die Ursache der häufigen Unfälle zu finden. Darüber hinaus könnten Maßnahmen zur Verringerung des Risikos geprüft werden. Fahrradfahrerinnen und Fahrradfahrer hätten mithilfe dieser Information aber auch die Möglichkeit, alternative Routen zu wählen und diesen Kreisverkehr zu meiden.

Abbildung 6: Kreuzung mit Kreisverkehr und Hochstraße, Unfälle Berichtsjahr 2019

Abbildung 7: Kreisverkehr mit einer Verdichtung von Unfällen mit Beteiligung eines Fahrrades, Unfälle Berichtsjahr 2019

Quelle: Unfallatlas

Quelle: Unfallatlas

Wodurch zeichnen sich die Analysepotenziale des Unfallatlas aus?

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Resümee Im Sommer dieses Jahres wurde der Unfallatlas für das Berichtsjahr 2019 aktualisiert. Damit können die Unfallgeschehnisse teilweise für den Zeitraum von vier Jahren analysiert werden. Durch jedes weitere Berichtsjahr steigt die Belastbarkeit der Analysen und Ergebnisse auf Basis der georeferenzierten Daten. Mit der Aktualisierung kommen zusätzlich für 2019 die Daten der Straßenverkehrsunfallstatistik aus NordrheinWestfalen und Thüringen hinzu, sodass die vielschichtigen Analysepotenziale auch für diese Länder erstmalig auswertbar sind und Erkenntnisse gesammelt werden können. Die Erschließung weiterer Flächen macht darüber hinaus mehr vergleichende Analysen für das Bundesgebiet im Jahr 2019 möglich. Der Unfallatlas wird auch zukünftig sukzessive um weitere Jahre ergänzt. Jeweils im Sommer eines Jahres kann die Aktualisierung des Vorjahres erfolgen. Im Sommer 2021 wird der Unfallatlas entsprechend um das Berichtsjahr 2020 erweitert. Dann wird sich zeigen, wie sich der Rückgang der Straßenver-

kehrsunfälle im ersten Quartal durch die Corona-Pandemie in der kleinräumigen Darstellung äußert. Während der Pandemie konnte bereits beobachtet werden, dass viele Menschen auf das Fahrrad umgestiegen sind, um Corona-Ansteckungsräumen im ÖPNV zu entgehen. Wird es dadurch eventuell einen Anstieg der Straßenverkehrsunfälle im Zusammenhang mit Fahrrädern an bestimmten Orten geben? Verstärken sich bestehende Unfall-Hotspots oder sind eher neue entstanden? Die georeferenzierten Daten der Straßenverkehrsunfallstatistik 2020 werden im nächsten Jahr Aufschluss darüber geben.

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Eine Prüfung im Statistischen Bundesamt, ob eine kartographische Darstellung von Unfällen auf Straßen mit dem Straßenverkehrsunfallstatistikgesetz (StVUnfStatG) vereinbar ist, kam zu dem Ergebnis, dass die Unfallstelle nach § 2 Abs. 1 Nr. 1 StVUnfStatG ein Erhebungsmerkmal darstellt, nach dem aufbereitet und veröffentlicht werden darf. § 10 des Bundesstatistikgesetzes ist hierfür nicht einschlägig, da zur Georeferenzierung nicht die Anschrift der Befragten (hier die Polizeidienststellen) verwendet wird.

Literatur Bundesamt für Kartographie und Geodäsie (BKG): WMS WebAtlasDE.light Graustufen, http://gdz.bkg.bund.de/index.php/default/ wms-webatlasde-light-graustufen-wms-webatlasde-light-grau.html, zuletzt abgerufen am 03.06.2020.

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Statistisches Bundesamt (2020): März 2020: So wenige Straßenverkehrsunfälle wie noch nie seit der Wiedervereinigung, Pressemitteilung Nr. 182 vom 25. Mai 2020, https://www.destatis.de/DE/Presse/Pressemitteilungen/2020/05/

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PD20_182_46241.html, zuletzt abgerufen am 03.06.2020. Unfallatlas: Kartenanwendung der Statistischen Ämter des Bundes und der Länder, https://unfallatlas.statistikportal.de/, zuletzt abgerufen am 03.06.2020.


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Inga Faller, Joachim Scheiner

Wo lebt es sich am sichersten? Strukturgleichungsmodell des Verkehrsunfallrisikos in Niedersachsen Die Analysen dieses Beitrags beruhen auf Verkehrsunfalldaten Niedersachsens aus den Jahren 2006–2013. Neben Wohn- und Unfallpostleitzahlgebiet der Verunglückten sind Angaben zur Unfallschwere, Alter, Geschlecht sowie Verkehrsbeteiligungsart vorhanden. Die hier vorgenommenen Untersuchungen basieren räumlich auf den Wohnorten der Unfallopfer, nicht wie sonst üblich den Unfallorten. In einer ersten Untersuchung sind bereits starke Unterschiede in der räumlichen Verteilung der Verkehrsunfallrisiken festgestellt worden. Dieser Beitrag versucht die Frage zu beantworten, welche Faktoren für diese Abweichung verantwortlich sind. Die bisherige Literatur weist auf eine Vielzahl möglicher Faktoren hin, die Verkehrsunfälle beeinflussen. Dieser Beitrag berücksichtigt ein größeres Set an Einflussgrößen als bisherige Untersuchungen und versucht damit das komplexe Zusammenwirken zwischen soziodemografischen Daten, Mobilität, Raumstruktur und Verkehrssicherheit simultan in einem Modell, dem sogenannten Strukturgleichungsmodell, darzustellen. Dabei zeigt sich, dass für die Bevölkerung von Orten mit einem höheren Pendelaufwand, einem stärker ausgebauten Straßennetz sowie einer dispersen Siedlungsstruktur höhere Risiken bestehen.

Dipl.-Stat. Inga Faller wiss. Mitarbeiterin am Fachgebiet Verkehrswesen und Verkehrsplanung an der Fakultät Raumplanung der TU Dortmund : inga.faller@tu-dortmund.de Prof. Dr. Joachim Scheiner außerplanmäßiger Professor des Fachgebiets Verkehrswesen und Verkehrsplanung der Fakultät Raumplanung der TU Dortmund : joachim.scheiner@tu-dortmund.de Schlüsselwörter: Strukturgleichungsmodell – Unfallrisiko – Verkehrssicherheit – Wohnstandort

Einleitung Durch regulative Maßnahmen wie Tempolimits, Gurtpflicht und die Promillegrenze sowie technische Entwicklungen im Automobilsektor (Airbag, ABS, etc.) ist die Zahl der Verkehrsunfalltoten seit 1970 bundesweit trotz der Wiedervereinigung um 84 % zurückgegangen (Statistisches Bundesamt (Destatis) 12.07.2016: 7). Dieser Rückgang setzt sich in den letzten Jahren jedoch nur noch sehr gebremst fort. Jährlich kommen etwa 3.000 bis 3.300 Menschen in Deutschland bei Verkehrsunfällen ums Leben. Die Einflussfaktoren von Verkehrsunfallrisiken können dabei nur teilweise als verstanden gelten. Eine besondere Problematik ergibt sich daraus, dass die von Menschen getroffenen individuellen Standortentscheidungen (Wohnen, Arbeiten…) aufgrund der hiermit verbundenen unterschiedlichen Formen und Ausmaße von Alltagsmobilität auch mit unterschiedlichen Verkehrsunfallrisiken verbunden sind. Verkehrsunfallanalysen werden jedoch üblicherweise räumlich anhand des Unfallortes differenziert, um Charakteristika gefährlicher Stellen im Straßennetz zu identifizieren. Diese Vorgehensweise erlaubt es jedoch nicht, die unterschiedlichen Risiken zu ermitteln, denen Menschen sich mit ihren räumlichen Entscheidungen, z.B. über den gewählten Wohnstandort und die damit verbundene Mobilität, aussetzen. Auch die Aggregierung von Verkehrsunfällen z.B. auf die Gemeindeebene stellt hier keine Lösung dar, weil unter den in einer Gemeinde Verunglückten auch Ortsfremde sind (z. B. Einpendler), während die in einer Gemeinde lebenden Personen auch in anderen Gemeinden verunglücken können (z. B. als Auspendler). Die entsprechenden Kennziffern werden als Unfallbelastungen bezeichnet (Zahl der in einer Gemeinde Verunglückten je 100.000 Einwohner – unabhängig davon, wo die Verunglückten leben). Die hier präsentierten Untersuchungen basieren dagegen räumlich auf den Wohnorten der Unfallopfer, nicht wie sonst üblich den Unfallorten. Dies erlaubt nicht die Identifikation von Unfallschwerpunkten und ihren Charakteristika, stattdessen aber die Ermittlung besonders gefährdeter Bevölkerungsgruppen, die mit unterschiedlichen Ausprägungen von Mobilität (z. B. starke Pkw-Nutzung und lange Wege in suburbanen und ländlichen Räumen) und damit auch unterschiedlichen Risikoexpositionen verbunden sind. Dies ist mit unfallortbezogenen Betrachtungen nicht möglich. Entsprechende Kennziffern (Zahl der Verunglückten Bewohner einer

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Gemeinde je 100.000 Einwohner, unabhängig vom Unfallort) werden als Unfallrisiken bezeichnet. Die gegenüber den sehr wenigen früheren derartigen Studien aus Deutschland (Holz-Rau und Scheiner 2009, 2010, 2013; Scheiner und Holz-Rau 2011) größere Verlässlichkeit einer längeren Zeitreihe erlaubt die Berücksichtigung eines größeren Sets an Einflussgrößen und ihres Zusammenwirkens. Hierfür wurden sozioökonomische, demografische, expositions- und raumstrukturelle Daten beschafft, aufbereitet und mit den Verkehrsunfalldaten verknüpft. Aufbauend auf ersten deskriptiven Untersuchungen der niedersächsischen Unfallrisiken (Faller et al. 2020) wird in diesem Beitrag das komplexe Zusammenwirken einer Vielzahl möglicher Einflussgrößen einschließlich möglicher Abhängigkeiten zwischen ihnen berücksichtigt. Hierfür kommen multivariate Mehrgleichungsmodelle, sogenannte lineare Strukturgleichungsmodelle, zum Einsatz. Als untersuchte Zielvariable dient dabei ein nach Unfallschwere gewichteter Indikator.

Stand der Forschung Zahlreiche Studien zu Unfallbelastungen konzentrieren sich auf die räumliche Differenzierung von Verkehrsunfällen (Meewes 1984; Apel et al. 1988; Becker et al. 1992). Dabei kamen sowohl Apel et al. (1988) als auch Becker et al. (1992) zu dem Ergebnis, dass sich in kompakten, dichten Städten weniger schwere und tödliche Unfälle ereignen. Jüngere Studien weisen auf höhere Unfallbelastungen in der Großstadt hin (Chen et al. 2009; Neumann-Opitz et al. 2012; Klein und Löffler 2001), auch speziell für Kinder (Neumann-Opitz et al. 2012). Allerdings wird dabei nicht nach der Schwere der Personenschäden differenziert, so dass die hohen Belastungen zum Großteil aus der Vielzahl an Unfällen mit Leichtverletzten resultieren. Zu ganz anderen Ergebnissen gelangen Untersuchungen, die zum einen nach der Unfallschwere unterscheiden und zum anderen das Unfallrisiko heranziehen. Dabei wird festgestellt, dass für Bewohner von Großstädten das Risiko schwerer oder tödlicher Verletzungen besonders gering ist (für die USA z.B. Clark 2003; Zwerling et al. 2005). Auch nationale Studien belegen, dass mit der Urbanität geringere Risiken eines schweren Unfalls verbunden sind (Apel et al. 1988; Holz-Rau und Scheiner 2009, 2010, 2013; Scheiner und Holz-Rau 2011; Becker et al. 1992). Der vorliegende Beitrag vertieft frühere deskriptive Auswertungen (Faller et al. 2020), welche die bekannten höheren Risiken von Männern, jungen Erwachsenen und älteren Verkehrsteilnehmern bestätigen. Unter Berücksichtigung der Verkehrsmittel treten für verschiedene Altersgruppen und Geschlechter jedoch unterschiedliche Charakteristika auf. Das Ziel der jetzigen Untersuchung liegt in der Identifikation von Einflussfaktoren, die mögliche Erklärungen für die Unterschiede in den Verkehrsunfallrisiken liefern können. Solche Einflussvariablen werden im Allgemeinen definiert durch Faktoren der Risikoexposition, der räumlichen und zeitlichen Umwelt sowie sozialer und psychologischer Faktoren (Elvik et al. 2009). Zur Risikoexposition tragen unter anderem die Verkehrsmittelnutzung, die im Verkehr verbrachte Zeit, die zurückge-

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legten Distanzen und die Fahrgeschwindigkeiten bei (Petch und Henson 2000; Ewing et al. 2003; Dumbaugh und Rae 2009; Apel et al. 1988; Schüller 2011; Elvik et al. 2019 mit Fokus auf tödliche Unfälle auf Brücken; Lee und Abdel-Aty 2005; Gårder 2004). Zu den Umweltfaktoren zählen das räumliche Umfeld (z.B. Dichte, Flächennutzung), der zeitliche Kontext (z. B. Dunkelheit, Witterung) und der verkehrliche Kontext (z. B. Verkehrsdichte, Geschwindigkeit und Verhalten anderer Verkehrsteilnehmer, Zusammensetzung des Verkehrs, Zustand des Straßennetzes, Straßentyp, Straßendesign). Ein stark ausgebautes Straßennetz sowie hohe Anteile von Hauptverkehrsstraßen am Straßennetz erweisen sich dabei als wesentliche Faktoren für höhere Unfallbelastungen (Apel et al. 1988; Becker et al. 1992). Zudem bringt ein höherer Motorisierungsgrad einen höheren Anteil des motorisierten Individualverkehrs mit sich, wodurch höhere Unfallbelastungen auftreten (Apel et al. 1988). Dahingegen sind bei höheren Radverkehrsanteilen geringere Unfallzahlen zu beobachten (Vandenbulcke et al. 2009; für Fußgänger: Jacobsen 2003; Leden 2002), was die Autoren darauf zurückführen, dass Pkw-Fahrer dann besonders umsichtig fahren. Untersuchungen in Deutschland können keinen nennenswerten „Safety in Numbers“-Effekt nachweisen (Holz-Rau et al. 2020), oder machen sogar eine gegenteilige Beobachtung – steigende Unfallbelastungen mit steigendem Radverkehrsanteil (Becker et al. 1992). Soziale und psychologische Faktoren beinhalten sowohl soziodemographische Merkmale als auch Risikoeinstellungen und Lebensstile. Neben älteren Verkehrsteilnehmern stellen junge Fahrer und insbesondere junge Männer die am stärksten gefährdeten Gruppen im Straßenverkehr dar. Während sich bei älteren Menschen die sensorische, geistige und motorische Leistungsfähigkeit verschlechtert, liegen die Gründe für das erhöhte Risiko bei jungen Erwachsenen in Faktoren wie Discound Nachtfahrten, Mutproben und Selbstüberschätzungen bei gleichzeitiger Unerfahrenheit, Überforderung in komplexen Verkehrssituationen, unzureichender Fahrroutine und mangelnder Fähigkeit zum vorausschauenden Fahren (Gehlert 2011: 238; Schulze 1999; Kroj und Schulze 2017). Die sozioökonomische Lebenslage weist ebenfalls einen Einfluss auf Verkehrsunfälle auf. So fallen die Unfallrisiken bzw. -belastungen in sozial deprivierten Vierteln höher aus als in wohlhabenden (Abdalla et al. 1997; Petch und Henson 2000; Noland und Quddus 2004; Edwards et al. 2006; Hewson 2004; Laflamme und Diderichsen 2000). Mögliche Ursachen hierfür werden in den häufigeren preiswerten, älteren Fahrzeugen mit geringen Sicherheitsstandards vermutet (Noland und Quddus 2004) sowie in einer geringeren Motorisierung ärmerer Haushalte, so dass das zu Fuß gehen oder auch die Nutzung des Fahrrads weiter verbreitet sind (Delmelle et al. 2012). Die wenigen Untersuchungen für Deutschland fokussieren dabei auf Kinder und Jugendliche und stellen fest, dass Kinder aus Familien mit niedrigem Sozialstatus signifikant häufiger Verkehrsunfälle erleiden als Kinder aus Familien mit hohem Sozialstatus (Kahl et al. 2007; Ellsässer et al. 2002). Wie man sieht, werden Verkehrsunfälle von einer Vielzahl möglicher Faktoren beeinflusst. Viele Studien untersuchen nur einzelne Faktoren wie die Geschwindigkeit oder das Verkehrs-


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aufkommen. Dieser Beitrag hingegen nutzt ein größeres Set an Einflussgrößen und versucht das komplexe Zusammenwirken dieser Variablen und ihrer Abhängigkeiten simultan in einem Modell darzustellen.

Datengrundlage Die in diesem Beitrag vorgestellten Analysen basieren auf den unveröffentlichten polizeilich aufgenommenen Verkehrsunfalldaten Niedersachsens. Diese sind vom Niedersächsischen Ministerium für Inneres und Sport/Landespolizeipräsidium für die Jahre 2006–2013 zur Verfügung gestellt worden. Die Daten umfassen die Verunglückten, gegliedert nach Verletzungsschwere, Alter, Geschlecht und Art der Verkehrsbeteiligung. Eine räumliche Differenzierung kann zum einen nach dem Postleitzahlgebiet (PLZ) des Wohnortes und zum anderen auch nach dem PLZ-Gebiet des Unfallortes vorgenommen werden. Nach einer Bereinigung der Daten können noch 291.637 Fälle für die Analyse berücksichtigt werden. Die Untersuchung möglicher Einflussgrößen macht die Nutzung weiterer Quellen zur Beschaffung von sozioökonomischen, demografischen, expositions- und raumstrukturellen Daten unumgänglich. Dafür sind demografische Merkmale den Datenbanken des Statistischen Bundesamtes und des Landesamtes für Statistik Niedersachsen entnommen worden. Da auf der Ebene der PLZ-Gebiete keine expositionsbezogenen Daten zum Verkehrsverhalten existieren, ist stattdessen eine Approximation über zwei andere Merkmale vorgenommen worden: zum einen der Motorisierungsgrad, welcher aus den Fahrzeugzulassungen des Kraftfahrtbundesamtes ermittelt wurde. Zum anderen ist die durchschnittliche Pendeldistanz der in einer Gemeinde wohnenden Erwerbstätigen verwendet worden, die der Dissertation von Dennis Guth aus dem Jahre 2013 entstammen (Guth 2013). Die erforderlichen Strukturdaten für das Land Niedersachsen des Statistischen Bundesamtes und der Landesdatenbank LSN Online liegen in der Regel auf der Gemeindeebene vor. Darunter befinden sich Informationen bezüglich der Fläche und der Besiedlungsdichte, der Bevölkerungszahlen nach Alter und Geschlecht sowie Informationen zu Ein- und Auspendlerzahlen (ohne Pendeldistanzen) und Erwerbstätigen einer Gemeinde. Sozioökonomische Informationen sind für die Gemeinden Niedersachsens nur sehr eingeschränkt vorhanden, weshalb lediglich auf die Arbeitslosenzahlen zurückgegriffen werden konnte. Zur Untersuchung möglicher raumstruktureller Einflussfaktoren werden Informationen über das Straßennetz benötigt, welche aus Open Street Map ermittelt werden. Da sich der Großteil des Verkehrs auf den Hauptverkehrsstraßen abspielt, wird das Hauptverkehrsstraßennetz je PLZ-Gebiet ermittelt. Zudem wurde das Straßennetz nach innerorts/außerorts differenziert. Um diese Informationen den Unfalldaten zuspielen zu können, ist eine weitere Bearbeitung der Unfalldaten notwendig. Auf der einen Seite beinhalten die in Niedersachsen vorhandenen PLZ-Gebiete zum Teil mehrere kleine Gemeinden, so dass diese PLZ-Gebiete zusammengefasst wurden. Auf der anderen Seite bestehen große Gemeinden aus einer Vielzahl

von PLZ-Gebieten, die zu einer Gemeinde zusammengefasst wurden. Somit wird mit insgesamt 680 Gebieten weitergearbeitet (i. d. R. Gemeinden). Neben der Bildung verschiedener Strukturgleichungsmodelle für verschiedene Unfallschweregrade kann alternativ eine gewichtete Berücksichtigung aller Schweregrade in einer Kennzahl vorgenommen werden. Dafür werden die Anzahl der Leichtverletzten mit dem Faktor 5.139 €, die Anzahl der Schwerverletzten mit 123.510 € und die Anzahl der Getöteten mit dem Faktor 1.191.937 € gewichtet und aufsummiert. Die Gewichtung der einzelnen Schweregrade basiert auf den Angaben zu volkswirtschaftlichen Verlusten durch Straßenverkehrsunfälle aus dem Jahr 2015 (Bundesanstalt für Straßenwesen 2019). Der Mittelwert der gewichteten Anzahl an Verunglückten für die Jahre 2006 bis 2013 wird durch die Anzahl der Einwohner dividiert und als zentrale Risikokennziffer der weiteren Analyse verwendet.

Methodik Eine einfache deskriptive Untersuchung der Verkehrsunfalldaten reicht nicht aus, wenn kausale Zusammenhänge zwischen verschiedenen Einflussfaktoren aufgedeckt werden sollen. Daher sollen statistische Modelle genutzt werden, die den zugrundeliegenden Sachverhalt näherungsweise beschreiben. Eine grundlegende Voraussetzung liegt in theoretisch begründeten Vermutungen von Zusammenhängen der untersuchten Tatbestände1. Das bekannteste und vermutlich am häufigsten genutzte Verfahren stellt hier die multiple lineare Regression dar. Allerdings können theoretisch begründete Hypothesen, die miteinander verbunden sind, damit nicht untersucht werden, da Einflussvariablen, die ihrerseits von anderen Einflussvariablen abhängig sind, und Multikollinearität (korrelierende Einflussvariablen) nicht zugelassen sind. Einen möglichen Ausweg zur Untersuchung eines ganzen Hypothesensystems stellt das Strukturgleichungsmodell (SEM) dar. Wie schon bei Regressionen üblich, ist der Ausgangspunkt die Ursache-Wirkungs-Vermutung zwischen unabhängigen und abhängigen Variablen, deren Beziehung mittels Regressionsgleichungen spezifiziert werden. Dabei bedingen die Einflüsse der unabhängigen Variablen eine Veränderung in der abhängigen Variable, wobei diese zusätzlich von Störeinflüssen abhängig sein kann. Da in diesem Beitrag alle Variablen empirisch direkt gemessen werden können (manifeste Variablen) und ein metrisches Niveau aufweisen, kann das mathematische Modell mit Hilfe der Pfadanalyse abgebildet werden. Die Überprüfung der Modellaufstellung erfolgt mittels der Nutzung der Kovarianzen bzw. Korrelationen zwischen den Variabeln (Weiber und Mühlhaus 2014: 26). Die Modellschätzung ist mit Hilfe von IBM AMOS durchgeführt worden unter Verwendung des MaximumLikelihood(ML)-Schätzverfahrens. Eine der wichtigsten Voraussetzungen stellt dabei die Annahme der multivariat normalverteilten manifesten Variablen dar. In der Realität liegt die multivariate Normalverteilung nicht immer vor, was ein Ausweichen auf andere Schätzverfahren nötig macht. Allerdings haben Simulationsstudien gezeigt, dass die ML-Methode bei großer Stichprobe trotz einer Verletzung der Annahme

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multinormalverteilter Daten robuste Schätzer produziert (Reinecke 2005). Die Überprüfung der Modellergebnisse erfolgt im Anschluss an das Aufstellen des endgültigen SEM anhand diverser Gütekriterien, auf die im Rahmen dieses Aufsatzes nicht näher eingegangen wird. Es soll aber zumindest darauf hingewiesen werden, dass von neun überprüften Kriterien acht die empfohlenen Schwellenwerte einhalten. Lediglich der p-Wert des Modells weicht mit einem Wert von 0,858 von der empfohlenen Grenze von >0,9 leicht ab. Alles in allem ermöglicht das Verfahren somit die Modellierung komplexer Beziehungen zwischen soziodemografischen Daten, Mobilität, Raumstruktur und Verkehrssicherheit.

Ergebnisse Ein Modell ist umso informativer, je sparsamer es gestaltet wird. Daher werden bei der Demografie lediglich die beiden am meisten gefährdeten und eventuell auch gefährdenden Altersgruppen der jungen Erwachsenen (Anteil der 18–24-Jährigen an Wohnortbevölkerung) sowie der älteren Menschen (Anteil der über-85-Jährigen an Wohnortbevölkerung) berücksichtigt. Als sozioökonomische Einflüsse werden der Anteil der Arbeitslosen je Einwohner der Wohngemeinde sowie der Anteil der Erwerbstätigen am Wohnort je Einwohner verwendet. Daten zur Verkehrsnachfrage, welche zur Modellierung der Risikoexposition herangezogen werden könnten, liegen auf der Ebene von PLZ-Gebieten bedauerlicherweise nicht vor. Daher wird zum einen auf den Motorisierungsgrad (Kraftfahrzeuge je Einwohner) und zum anderen auf die durchschnittliche Pendeldistanz der Erwerbstätigen zurückgegriffen. Ein weiterer Faktor, der der Risikoexposition zugeordnet werden kann und im Modell berücksichtigt wird, ist die Zahl der Auspendler je Einwohner. Zu den untersuchten Umwelteinflüssen zählt unter anderem die Urbanität, die hier durch die Bevölkerungsdichte (Einwohner je km²) abgebildet wird. Zudem werden die Straßennetzlänge (Straßenkilometer des gesamten Hauptverkehrsstraßennetzes je Einwohner) und der Anteil der Innerortsstraßen (Anteil des Innerortshauptverkehrsstraßennetzes am gesamten Hauptverkehrsstraßennetz) im Modell aufgenommen. Bei der Bildung des Modells werden nicht nur die Einflüsse der untersuchten Variablen auf die Unfallkosten unterstellt, sondern auch Beziehungen zwischen den einzelnen Faktoren vermutet. So wird davon ausgegangen, dass die Urbanität sowohl auf sozio-demographische Variablen wie die Altersverteilung oder den Arbeitslosenanteil als auch auf die Pendlerzahlen, das Straßennetz und die Motorisierung Einfluss nimmt. Andererseits kann gemutmaßt werden, dass sowohl die Altersverteilung als auch der Anteil der Arbeitslosen, die Zahl der Auspendler oder die Verkehrsinfrastruktur exogen zum Motorisierungsgrad sind, d. h. dass der Motorisierungsgrad von diesen Größen abhängt. Gleichzeitig könnte sich die Verteilung der Altersgruppen auch exogen gegenüber den Pendlerzahlen, der Zahl der Arbeitslosen bzw. Erwerbstätigen verhalten. Zudem sind Beziehungen zwischen Arbeitslosen,

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Erwerbstätigen, Auspendlern und der durchschnittlichen Pendeldistanz vorstellbar. Das entwickelte Modell (Abbildung 1) beinhaltet somit insgesamt zehn Einflussvariablen, zwischen denen teilweise starke Zusammenhänge bestehen. So weist beispielsweise der hohe negative Koeffizient von -0,49 darauf hin, dass mit wachsender Bevölkerungsdichte eine stark sinkende Straßennetzlänge je Einwohner zu beobachten ist. Auch zwischen Bevölkerungsdichte und Motorisierungsgrad besteht ein signifikant negativer Zusammenhang, da in urbanen Umfeldern zum einen bessere ÖPNV-Angebote existieren und zum anderen viele Wege kurz sind. Dagegen resultiert ein höherer Motorisierungsgrad aus höheren Anteilen der Innerortsstraßen, höherer Gesamtstraßennetzlänge sowie höheren durchschnittlichen Pendeldistanzen. Daneben sind auch weitere Beziehungen im Modell ablesbar. Nun soll der Fokus allerdings auf den Abhängigkeiten zwischen den Einflussvariablen und dem gewichteten Unfallrisiko liegen. So ist zu beobachten, dass nur wenige der untersuchten Variablen einen nennenswert hohen Effekt auf das gewichtete Unfallrisiko aufweisen. Das abgebildete Modell bildet jedoch nur die Koeffizienten der direkten Effekte ab. In einigen Fällen wird der direkte Effekt zwischen einer Einflussvariablen und dem gewichteten Risiko durch den Einfluss weiterer Variablen – den Mediatorvariablen – beeinflusst (Urban und Mayerl 2018). Der gesamte Einfluss wird schließlich aus der Summe der direkten und aller indirekten Effekte gebildet. So berechnet sich beispielsweise der Gesamteffekt der Straßennetzlänge im Gesamtmodell als 0,39+0,38*0,03+ (-0,21)*(-0,01)*0,07*0,03=0,4031. Tabelle 1 gibt für alle untersuchten Variablen die Koeffizienten der direkten, indirekten und totalen Effekte wider. Dabei werden die direkten Effekte zum Teil verstärkt, zum Teil aber durch die indirekten Effekte reduziert. Während zwischen der Bevölkerungsdichte und dem gewichteten Risiko kein signifikanter direkter Effekt nachgewiesen werden kann, sind der indirekte Effekt und damit der Gesamteffekt stark ausgeprägt.

Tabelle 1: Standardisierte totale, direkte und indirekte Effekte auf das gewichtete Unfallrisiko, mit * gekennzeichnete Werte sind zum Signifikanzniveau α=0,05 signifikant Variablen

Bevölkerungsdichte Alter 18-24

Modell aller Gemeinden Totaler Effekt

Direkter Effekt

Indirekter Effekt

*-0,256

-0,048

*-0,208

0,026

0,065

-0,039

Alter 85+

-0,001

0,022

-0,023

Auspendler

*0,081

*0,108

-0,028

Pendeldistanz

0,055

0,052

0,003

Innerortstraßen

-0,007

-0,009

0,002

Straßenlänge

*0,413

*0,400

0,013

Beschäftigte

-0,047

-0,028

-0,019

Arbeitslose

0,067

0,061

0,006

Motorisierungsgrad

0,029

0,029

0,000


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Abbildung 1: Modell der standardisierten, direkten Effekte zwischen den untersuchten Variablen und dem wohnortbezogenen gewichteten Risiko aller PLZ-Gebiete Niedersachsen je Person und Jahr, gekennzeichnete Koeffizienten sind mit einer Irrtumswahrscheinlichkeit kleiner α = 0,05 signifikant, N = 680, R² = 0,21

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Dies kann darauf zurückgeführt werden, dass der Einfluss der Urbanität über andere untersuchte Einflussfaktoren vermittelt wird, z. B. über die mit hoher Urbanität verbundene geringere Straßenlänge je Einwohner. Unter Berücksichtigung aller Mediatorvariablen kann insgesamt unter den Gesamteffekten beobachtet werden, dass nur eine geringe Anzahl an Variablen einen starken Einfluss auf das gewichtete Unfallrisiko aufweisen. So scheinen steigende Bevölkerungsdichten das Unfallrisiko zu reduzieren, während steigende Auspendlerzahlen und insbesondere eine steigende Verkehrsfläche je Einwohner das Risiko erheblich erhöhen. Dabei repräsentieren diese drei Größen die Urbanität des Umfeldes, und zwar dergestalt, dass Gebiete mit einer hohen Dichte, mit geringeren Auspendlerzahlen je Einwohner und geringerer Verkehrsfläche je Einwohner hohe Urbanität besitzen. Im Wesentlichen bildet dieses Modell also Stadt-LandUnterschiede ab. Um diesen Effekt weitgehend zu eliminieren, ist das gleiche Modell auch speziell für kleinere Gemeinden bis zu 10.000 Einwohnern geschätzt worden. Sehr wünschenswert wäre ein ähnliches Vorgehen für Großstädte; dies würde jedoch ein bundeslandübergreifendes Sample größerer Städte voraussetzen. Doch auch bei Beschränkung auf kleine Gemeinden bleiben die gleichen Effekte von Bedeutung, so dass sich schlussfolgern lässt: hoher Pendelaufwand, ein stark ausgebautes Straßennetz und eine disperse Siedlungsstruktur erhöhen das Risiko eines Unfalls mit Personenschaden.

Zusammenfassung und Ausblick Da verfügbare Unfalldaten in Deutschland die Wohnorte der Beteiligten nicht enthalten, sind wohnortbezogene Unfallrisiken bislang schwer ermittelbar, und es liegen kaum nationale Untersuchungen vor. International existieren, vermutlich aufgrund der besseren Datenlage, einige entsprechende Studien. Die hier verwendeten Daten Niedersachsens beinhalten die Wohnorte (PLZ-Gebiete) der Verunglückten der Jahre 20062013. Damit liegt eine genauere Untersuchung von Unfallrisiken differenziert nach Unfallschwere, Alter, Geschlecht sowie Verkehrsbeteiligungsart vor, als es bislang möglich war. Die Ergebnisse der Analysen zeigen, dass durchaus starke Unterschiede in der räumlichen Verteilung der Verkehrsunfallrisiken existieren. Als wesentliche Indikatoren der höheren Risiken haben sich hierbei ein höherer Pendelaufwand, ein stärker ausgebautes Straßennetz sowie die disperse Siedlungsstruktur herausgestellt.

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Dieser Beitrag konnte ebenso wenig wie vorherige Unfallforschungen alle relevanten Einflussfaktoren des Unfallrisikos aufdecken. Daher bleiben weitere Untersuchungen erforderlich. Zum einen könnten künftige Studien weitere Einflussfaktoren identifizieren (z. B. die Mobilitätskultur von Städten, die sozioökonomische Zusammensetzung der Bevölkerung, psychologische Faktoren wie Risikobereitschaft usw.). Zum anderen wäre es für einige Einflussfaktoren wichtig, den Detailgrad der Messung zu erhöhen. Beispielsweise konnte die Mobilität der örtlichen Bevölkerung hier nur über Pendlerverflechtungen und Motorisierungsgrad abgebildet werden. Bessere Messungen der Risikoexposition wären hier notwendig, einschließlich des einströmenden Verkehrs. Im Rahmen eines DFG-Projekts werden gegenwärtig kleinräumliche Daten für die Region Hannover (Stadtteilebene) generiert, die den Daten zugespielt und in Strukturgleichungsmodelle eingebaut werden sollen. Dies betrifft sowohl Mobilitätsdaten der jeweils ansässigen Bevölkerung („Exposition durch Verkehrsteilnahme“) als auch Daten über den ein-, ausund durchströmenden Verkehr in den Stadtteilen („Exposition durch Verkehrsbelastung“). Detaillierte Betrachtungen nach Geschlecht, Altersgruppen und der Art der Verkehrsbeteiligung sowie kleinräumliche Differenzierungen in Stadtteile benötigen zudem eine Vielzahl an Unfalldaten, so dass ein längerer Zeitraum als die in diesem Projekt veranschlagten acht Untersuchungsjahre zu genaueren Analyseergebnissen führen können. Der Beitrag beruht auf dem von der DFG geförderten Projekt „Räumliche Muster in Verkehrsunfallrisiken: wohnstandortbezogene Analysen“ (SCHE 1692/2-1). Wir danken des Weiteren dem Ministerium für Inneres und Sport und dem Landespolizeipräsidium des Landes Niedersachsen für die Bereitstellung der unveröffentlichten Unfalldaten.

1

Unsere Analyse beruht auf Querschnittsdaten. Damit ist eine wesentliche Voraussetzung für Kausalität, nämlich dass Ursachen ihren Wirkungen zeitlich vorausgehen, nicht erfüllt. Die Kausalitätsannahmen, die wir für unser Modell treffen müssen, beruhen auf Plausibilitätsannahmen, z. B. dass die Pendeldistanzen oder die demografische Zusammensetzung einer Bevölkerung die Verkehrsunfallrisiken bedingen (nicht umgekehrt).


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Jörg Ortlepp

Zu Fuß in der Stadt, nicht immer ein sicheres Vergnügen!

Jedes Jahr sterben über 400 Menschen, die zu Fuß auf deutschen Straßen unterwegs sind und über 30.000 werden bei Unfällen verletzt. Die meisten dieser Unfälle geschehen innerhalb von Ortschaften beim Queren von Straßen. Ursächlich für diese Unfälle sind neben falschem Verhalten der am Verkehr Teilnehmenden auch immer wieder infrastrukturelle Defizite wie fehlende Querungsmöglichkeiten, unzureichende Sichtmöglichkeit, schlechte Erkennbarkeit, komplexe Situationen oder zu hohe Geschwindigkeiten. Zur Verbesserung der Sicherheit des Fußverkehrs sind Maßnahmen erforderlich, die auf die Vermeidung von Unfällen, aber auch auf eine Verringerung der Unfallfolgen abzielen. Ziel muss es sein, eine sichere und komfortable Fußverkehrsinfrastruktur zu schaffen, um damit die Schwächsten im Verkehr zu schützen und die Attraktivität unserer Städte zu verbessern.

Zu Fuß gehen ist die natürlichste Form der Mobilität. So gut wie jeder Weg, den wir zurücklegen, beinhaltet mindestens eine Teilstrecke zu Fuß, und sei es nur von der Haustür bis zum Parkplatz, zur Haltestelle oder zum Fahrrad. Zu Fuß Gehende jeden Alters sind daher überall zu finden, auf jedem Weg und jeder Straße, innerorts, aber auch außerorts. Zu Fuß gehen ist darüber hinaus – ähnlich wie Fahrrad fahren – inzwischen aber auch wieder „in“. Es fördert die Gesundheit und hat Erlebniswert. Die Stadt wird zum zweiten Wohnzimmer. Die Möglichkeiten, sich per Pedes auf komfortablen Wegen durch die Stadt bewegen zu können und sich in attraktiven öffentlichen Räumen aufzuhalten, gelten inzwischen wieder als wichtige Qualitätskriterien für den Lebensraum Stadt.

Viele getötete zu Fuß Gehende in unseren Städten

Jörg Ortlepp Leiter Verkehrsinfrastruktur, Unfallforschung der Versicherer, Gesamtverband der Deutschen Versicherungswirtschaft, Wilhelmstraße 43/43G, 10117 Berlin : j.ortlepp@gdv.de Schlüsselwörter: Fußgänger – zu Fuß Gehende – Unfall

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Wer zu Fuß geht, ist im Straßenverkehr allerdings besonders gefährdet. 2019 wurden nach vorläufigen Zahlen des Statistischen Bundesamtes1 30.219 zu Fuß Gehende bei Unfällen verletzt und 417 getötet. Von den Getöteten waren mehr als die Hälfte (57 Prozent) über 65 Jahre alt. Die Anzahl der getöteten zu Fuß Gehenden ist zwar seit Jahren rückläufig (s. Abbildung 1), allerdings hat sich die Anzahl der dabei getöteten älteren Menschen, aber auch die der Kinder, seit 2011 kaum mehr verringert. Die Verkehrsunfallstatistik kennt jedoch nur einen Teil der Unfälle mit zu Fuß Gehenden. So werden beim Fußverkehr Alleinunfälle, also Stürze ohne Beteiligung anderer, von der Statistik gar nicht erst als Verkehrsunfälle erfasst. Zudem ist zu vermuten, dass die Dunkelziffer insbesondere bei Unfällen, die zu keinen schweren Verletzungen führen, z. B. zwischen Rad- und Fußverkehr, generell recht groß sein dürfte. Obwohl die amtliche Verkehrsunfallstatistik2 keinen vollständigen Überblick über das Gesamtunfallgeschehen des Fußverkehrs liefert, ist sie aufgrund ihrer bundesweit einheitlichen Erfassungsmethodik aber die zuverlässigste und ausführlichste Quelle für detaillierte Analysen des Unfallgeschehens mit zu Fuß Gehenden und liegt den meisten der im Folgenden gemachten Aussagen zu Grunde.


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Getötete zu Fuß Gehende

Abbildung 1: Entwicklung der Anzahl der bei Unfällen getöteten zu Fuß Gehenden seit 2000 Entwicklung seit 2 000, differenziert nach Altersklassen, Deutschland gesamt Getötete zu Fuß Gehende gesamt Getötete zu Fuß Gehende zwischen 15 und 65 Jahren

Getötete zu Fuß Gehende unter 15 Jahren Getötete zu Fuß Gehende ab 65 Jahren

Index [%] 120

100

80

60

54

40

41 34 32

20

0

2 000

2 001

2 002

2 003

2 004

2 005

2 006

2 007

2 008

2 009

2 010

2 011

2 012

2 013

Quelle: Statistisches Bundesamt, Fachserie 8 Reihe 7 Verkehr Verkehrsunfälle, Tab. 5.1.1; Werte für 2019: Statistisches Bundesamt 2020, Fachserie 8 Reihe 7 Verkehr Verkehrsunfälle

2 014

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Dezember 2019

Quelle: Statistisches Bundesamt, Fachserie 8 Reihe 7 Verkehr Verkehrsunfälle, Tab. 5.1.1; Werte für 2019; Statistisches Bundesamt 2020, Fachserie 8 Reihe 7 Verkehr Verkehrsunfälle Dezember 2019

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Kinder und ältere Menschen besonders gefährdet

Viele Unfälle mit Pkw, abseits von Kreuzungen und bei Dunkelheit

Auch, wenn das Risiko, bei einem Unfall auf Landstraßen tödlich verletzt zu werden für zu Fuß Gehende aufgrund der hohen Fahrgeschwindigkeiten etwa achtmal höher ist als auf Stadtstraßen, so ereignen sich die meisten Fußverkehrsunfälle doch innerhalb unserer Städte. Hier wurden in 2019 74 % der getöteten, 94 % der schwer verletzten und 96 % der leicht verletzten zu Fuß Gehenden registriert. Aber nicht alle Altersklassen sind gleichermaßen betroffen. So werden Kinder und Jugendliche unter Bezug auf ihre Verkehrsleistung als zu Fuß Gehende überproportional häufig schwer verletzt. Bei Kindern spielt sicherlich auch Unachtsamkeit, Unerfahrenheit und Fehleinschätzung bei der Unfallentstehung eine wesentliche Rolle. Ältere Menschen hingegen werden bei Fußverkehrsunfällen überproportional häufig getötet. Bei Personen, die mindestens 75 Jahre alt sind, ist das Risiko bei einem Fußverkehrsunfall zu sterben, sechsmal höher als in der Altersklasse bis 65, und schon ab 65 Jahren ist das Risiko doppelt so hoch. Dies ist einerseits durch das allgemein höhere Mortalitätsrisiko im Alter begründbar, aber auch die im Alter nachlassende Fähigkeit, komplexe Situationen richtig einschätzen zu können, und die langsamer werdende Reaktionsgeschwindigkeit tragen zu mehr und schwereren Unfällen bei.

Eine häufig auftretende und für alle Altersklassen komplexe Situation ist das Queren von Hauptverkehrsstraßen. Fußverkehrsunfälle treten daher vor allem dort auf, wo Straßen gequert werden (s. Abbildung 2). Hier zeigen sich zwei immer wieder auftretende Problembereiche. Dies sind einerseits Stellen, an denen ein Querungsbedarf besteht, diesem aber nicht durch eine gesicherte Querungsstelle Rechnung getragen wird. Zum anderen geschieht rund ein Drittel aller Fußverkehrsunfälle an Kreuzungen und Einmündungen. Besonders auffällig ist dabei, dass davon wiederum rund ein Drittel an Stellen geschieht, die mit Lichtzeichenanlagen gesichert sind3. Gerade die Wintermonate sind dabei für den Fußverkehr besonders gefährlich. Wie in Abbildung 3 zu erkennen ist, entfallen rund 35 % der in 2018 getöteten und schwer verletzten zu Fuß Gehenden auf die drei Monate November, Dezember und Januar. Der Grund, warum die Wintermonate so auffällig sind, ist aber weder Schnee noch Eis, sondern das Tageslicht spielt eine wesentliche Rolle. Bei etwa der Hälfte der getöteten zu Fuß Gehenden innerorts wurde angegeben, dass der Unfall bei Dunkelheit oder Dämmerung stattfand, der überwiegende Anteil davon in den verkehrsreichen Morgen- und Abendstunden. Das bedeutet, dass in den Wintermonaten besonders viele Fußverkehrsunfälle registriert werden, weil es während der Hauptverkehrszeiten morgens und abends dunkel ist und zu Fuß Gehende schlecht erkannt werden.

STADTFORSCHUNG UND STATISTIK 2|2020

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Schwerpunkt Mobilität und Verkehr

Abbildung 2: Verunglückte zu Fuß Gehende entlang einer Kreuzung in Berlin, 2008–20174

Quelle: Polizeiliche Unfalldaten Berlin, eigene Auswertung.

Abbildung 3: monatlicher Anteil getöteter und schwerverletzter zu Fuß Gehender in 2018 Monatlicher Anteil an Gesamtzahl der Getöteten in 2018 14,0%

12,5%

12,4% 12,0%

10,0%

10,3%

8,7%

8,0%

7,9%

7,9% 6,9%

7,3%

7,2%

7,0%

6,0%

6,0%

5,8%

4,0%

2,0%

0,0%

JAN

FEB

MRZ

APR

MAI

JUN

JUL

AUG

SEP

OKT

NOV

DEZ

Quelle: Statistisches Bundesamt 2019, Fachserie 8 Reihe 7 Verkehr Verlkehrsunfälle 2018, Tab. 5.5 Quelle: Statistisches Bundesamt 2019, Fachserie 8 Reihe 7 Verkehr Verkehrsunfälle

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2018, Tab. 5.5

STADTFORSCHUNG UND STATISTIK 2|2020


Schwerpunkt Mobilität und Verkehr

Abbildung 4: Beteiligte an Fußverkehrsunfällen in 2018 (innerorts)

Quelle: Statistisches Bundesamt 2019, Fachserie 8 Reihe 7, Verkehrsunfälle 2018

Unabhängig von der Jahreszeit geschehen die meisten der registrierten Fußverkehrsunfälle, wie Abbildung 4 zeigt, bei Kollisionen mit Personenkraftwagen (Pkw). Etwa drei Viertel (73 %) der innerörtlichen Fußverkehrsunfälle mit Personenschaden in 2018 waren Kollisionen mit dieser Fahrzeugkategorie, an zweiter Stelle rangierten mit 14 % Unfälle zwischen zu Fuß Gehenden und Radfahrenden. Werden aber nur die Unfälle mit Getöteten betrachtet, so zeigt sich die besondere Unfallschwere bei Unfällen mit Güterkraftfahrzeugen. Zwar starben bei Fußverkehrsunfällen in 2018 mit 60 % die meisten der zu Fuß Gehenden bei Kollisionen mit Pkw, etwa jeder vierte tödliche Fußverkehrsunfall innerorts ist aber auf eine Kollision mit einem Güterkraftfahrzeug oder Bus zurückzuführen.

Schlechte Infrastruktur und Fehlverhalten Fußverkehrsunfälle haben wie andere Verkehrsunfälle auch eine Vielzahl verschiedener Ursachen. Die Analyse der unterschiedlichen Unfallörtlichkeiten lässt jedoch immer wiederkehrende Gemeinsamkeiten erkennen5. So sind häufig die vorhandenen Verkehrsflächen unzureichend dimensioniert, nicht immer ist die Erkennbarkeit der Verkehrsführung und/oder der Verkehrsregelung einfach und erschwert damit die Begreifbarkeit, und sehr häufig kommt es zu Sichteinschränkungen vor allem im Bereich von Querungsstellen, Einmündungen und Kreuzungen. Dabei geben die Richtlinien für die Anlage von Stadtstraßen6 in Kapitel 6.1.8.1 hierfür klare Vorgaben: „Auf eine frühzeitige Erkennbarkeit der Überquerungsstelle

ist zu achten. Sichtbehinderungen durch Verkehrszeichen, Bepflanzung, Werbeplakate, Telefonzellen, Schaltkästen u.a. sind zu vermeiden. Auch parkende Kraftfahrzeuge sind Sichthindernisse für und auf überquerende zu Fuß Gehende. Das Parken ist daher durch geeignete Maßnahmen in Kreuzungsund Einmündungsbereichen und an anderen Überquerungsanlagen in den freizuhaltenden Sichtfeldern auszuschließen.“ Nimmt man diese Vorgaben ernst, so müsste, wie in Abbildung 5 dargestellt, bei einer zulässigen Höchstgeschwindigkeit von 50 km/h der Seitenraum auf einer Länge von 20 m vor und 15 m nach einer Querungsstelle von ruhendem Verkehr freigehalten werden. In Kreuzungsbereichen führen zudem große Abbiegeradien zu höheren Abbiegegeschwindigkeiten und damit zu hohen Kollisionsgeschwindigkeiten mit schweren Unfallfolgen. Zudem sind viele am Verkehr Teilnehmenden durch die teilweise sehr komplexen Verkehrsabläufe überfordert, zum Beispiel dann, wenn beim Abbiegen mehrere Fahrstreifen gleichzeitig beobachten und zudem auf zu Fuß Gehende und Radfahrende im Seitenraum zu achten ist. Bei Güterfahrzeugen, aber auch bei Pkw kommt erschwerend der bauartbedingte tote Winkel hinzu, der beim Abbiegen immer wieder zu dramatischen Unfällen beiträgt. Aber auch fehlerhaftes Verkehrsverhalten führt zu Unfällen. Hierzu gehört insbesondere das falsche Verhalten von Kraftfahrzeugführenden gegenüber zu Fuß Gehenden beim Abbiegen, an Ampeln und Zebrastreifen. Radfahrende gefährden zu Fuß Gehende durch die regelwidrige Benutzung des Gehwegs oder durch unangepasste Geschwindigkeiten.

STADTFORSCHUNG UND STATISTIK 2|2020

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Abbildung 5: Freizuhaltende Bereiche an Überquerungsstellen ohne Vorrang des Fußverkehrs und ohne vorgezogene Seitenräume, bei einer zulässigen Höchstgeschwindigkeit von 50 km/h

Quelle: nach FGSV RASt 06, Bild 78 und Tabelle 31

Aber auch zu Fuß Gehende selbst weisen Fehlverhalten auf, insbesondere beim unachtsamen Queren von Straßen, dem Queren abseits definierter Querungsstellen und durch Missachtung des Rotlichts. Auch an Haltestellen des öffentlichen Nahverkehrs geschehen häufiger Fußverkehrsunfälle, wenn unvorsichtig die Fahrbahn überquert wird, um den Bus oder die Bahn noch zu erreichen7.

Infrastruktur sicherer machen Nur wer Gefahren erkennt, kann sich entsprechend darauf einstellen. Es ist deshalb sehr wichtig, dass die Verkehrsanlagen verständlich und übersichtlich sind. Sie müssen für alle am Verkehr Teilnehmenden barrierefrei, erkennbar, begreifbar und frei von Sichthindernissen sein. Neben Werbetafeln oder Bäumen können vor allem parkende Fahrzeuge die Sicht auf querenden Fußverkehr versperren. Deshalb muss an definierten Querungsstellen das Parken von Fahrzeugen verboten und dort entsprechend überwacht werden. Überall dort, wo ein maßgeblicher Bedarf besteht, die Straße zu überqueren, sollten sichere Überquerungsmöglichkeiten geschaffen werden. Das können punktuelle Querungsmöglichkeiten sein, wenn der Querungsbedarf punktuell auftritt. Wenn ein linienhafter Querungsbedarf besteht, der sich nicht bündeln lässt, können auch linienhafte Querungshilfen notwendig sein. Eventuell muss auch über ergänzende verkehrsrechtliche Anordnungen (z.B. geringere zulässige Höchstgeschwindigkeiten) nachgedacht werden, um die Querungsmöglichkeiten zu verbessern. Zur punktuellen Sicherung des querenden Fußverkehrs können neben Mittelinseln und Ampeln auch Zebrastreifen eingesetzt werden. Mehrere Studien der Unfallforschung der Versicherer8 belegen: Zebrastreifen können sicher sein, wenn sie richtig geplant und angelegt werden. Dabei kommt es vor allem auf eine gute Erkennbarkeit und gute Sichtbeziehungen an. Als linienhafte Querungshilfen können z.B. bauliche Mittelstreifen oder Mittelinseln in dichter Folge eingesetzt werden. Neben der Sicherung von Querungsstellen auf der Strecke muss auch die die Sicherheit an Kreuzungen und Einmündungen verbessert werden. Vor allem beim Abbiegen von Kraftfahrzeugen können zu Fuß Gehende schnell übersehen

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STADTFORSCHUNG UND STATISTIK 2|2020

werden. Kreuzungen mit Ampeln sollten daher stets eigene Signalphasen für den links abbiegenden Verkehr haben. Insbesondere dann, wenn erforderliche Sichtfelder auf zu Fuß Gehende nicht freigehalten werden können (z.B. bei Häuservorsprüngen). Bei viel Abbiegeverkehr oder bei hohen Abbiegegeschwindigkeiten sowie beim zweistreifigen Abbiegen sollten auch Rechtsabbiegende gesonderte Ampelphasen bekommen. Zudem sollte auf zügig befahrbare Abbiegerführungen (z.B. große Abbiegeradien oder freie Rechtsabbiegeführungen) verzichtet werden. Generell gilt darüber hinaus, dass Gehwege und Querungsstellen adäquat zu beleuchten sind, um die rechtzeitige Erkennbarkeit der zu Fuß gehenden bei Dunkelheit zu ermöglichen. Auch eine Reduzierung der gefahrenen Geschwindigkeiten kann helfen, Verkehrsunfälle zu vermeiden oder zumindest die Verletzungsschwere zu reduzieren. In Bereichen, wo sich viele Personen zu Fuß aufhalten, sollten deshalb ergänzende Maßnahmen zur Verkehrsberuhigung ergriffen werden.

Barrierefreiheit für alle Wie die Statistik zeigt9, tragen vor Allem Ältere das höchste Risiko, bei einem Unfall tödlich zu verunglücken oder schwere Verletzungen zu erleiden. Gerade für ältere Menschen spielt das Thema Barrierefreiheit deshalb bei der Gestaltung der Anlagen für den Fußverkehr eine wichtige Rolle. Insbesondere Ältere sind darauf angewiesen, dass sie möglichst umwegfrei die Straße queren können. Querungsmöglichkeiten sind ohnehin generell so zu gestalten, dass auch mobilitätseingeschränkte Personen (z. B. mit Geh- oder Sehbehinderungen) sicher die Straßenseite wechseln können. Hierzu gehören u.a. der Einbau von taktilen Elementen und Bordsteinabsenkungen und eine kontrastreiche Verkehrsraumgestaltung. Auch in vollständig umgestalteten Bereichen (z.B. Begegnungszonen, Gemeinschaftsstraßen) ist auf eine gesicherte und barrierefreie Führung des Fußverkehrs zu achten. An Ampeln sollten ergänzend akustische Signalgeber installiert und die langsamere Gehgeschwindigkeit älterer Menschen bei der Ampelschaltung berücksichtigt werden.


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Fahrzeugtechnik weiterentwickeln Neben den bereits genannten infrastrukturellen Maßnahmen kann auch die Fahrzeugtechnik einen wesentlichen Beitrag zur Sicherheit des Fußverkehrs leisten. Insbesondere Notbremsassistenten haben hohe positive Effekte für die Sicherheit der zu Fuß Gehenden. Zudem sollten auch passive Schutzmaßnahmen an der Fahrzeugfront ergriffen und Abbiegeassistenten mit Erkennung zu Fuß Gehender weiterentwickelt werden.

Zusammenfassung Der Sicherheit des Fußverkehrs muss zukünftig eine größere Bedeutung zukommen. Insbesondere zur Reduktion der Anzahl der getöteten, aber auch der schwer verletzten zu Fuß Gehenden ist die Kombination einer Vielzahl von Maßnahmen erforderlich. Hier sind vor allem Maßnahmen innerorts gefragt, die auf die Vermeidung von Unfällen, aber auch auf eine Verringerung der Unfallfolgen abzielen. Der Bund kann hier den erforderlichen Rechts- und Förderrahmen schaffen, und die Kommunen können vor Ort durch eine sichere und komfortable Fußverkehrsinfrastruktur die Sicherheit und Attraktivität der Städte verbessern.

1 2 3 4

5

6 7 8 9

Verkehrsunfälle Dezember 2019, Fachserie 8, Reihe 7, Statistisches Bundesamt 2020 Verkehrsunfälle 2018, Fachaserie 8 Reihe 7, Statistisches Bundesamt 2019 Eigene Auswertung der polizeilichen Unfalldaten mehrerer Bundesländer Legende: Jeder Punkt mit einem roten Fähnchen ist ein Unfall mit einem zu Fuß Gehenden. Große Punkte bedeuten ein Unfall mit Schwerverletzten, kleine Punkte ein Unfall mit Leichtverletzten. Blaue Fähnchen bedeuten Alkoholeinfluss, grüne Fähnchen die Beteiligung eines Radfahrenden. Ein weißer Punkt ist ein Unfall beim Queren, ein gelber Punkt ein Unfall beim Abbiegen, ein roter Punkt ein Unfall beim Einbiegen oder Kreuzen, ein oranger Punkt ein Unfall im Längsverkehr, ein schwarzer Punkt ein sonstiger Unfall. Innerörtliche Unfälle mit Fußgängern und Radfahrern, Unfallforschung kompakt, Unfallforschung der Versicherer, Berlin, 10/2013 Sichere Knotenpunkte für schwächere Verkehrsteilnehmer, Unfallforschung kompakt, Unfallforschung der Versicherer, Berlin, 10/2013 Verkehrssicherheit in verkehrsberuhigten Bereichen, Unfallforschung kompakt, Unfallforschung der Versicherer, Berlin, 07/2015 Richtlinien für die Anlage von Stadtstraßen RASt 06, Forschungsgesellschaft für Straßen und Verkehrswesen, Köln, 2006 Verkehrssicherheit an Haltestellen des ÖPNV, Unfallforschung kompakt, Unfallforschung der Versicherer, Berlin, 12/2019 Untersuchungen zur Sicherheit von Zebrastreifen, Unfallforschung kompakt, Unfallforschung der Versicherer, Berlin, 10/2013 Verkehrsunfälle 2018, Fachserie 8 Reihe 7, Statistisches Bundesamt 2019

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Ulrike Teubner, Monika Wreszinski, Silke Joebges

„Aufs Radl – Fertig? – Los!“ Ergebnisse der Raddauerzählstellen in München 2017 und 2018 Mit dem Ziel das Radfahren auf Münchens Straßen sicherer, attraktiver und innovativer zu machen scheut die Landeshauptstadt keine Mühen. Neue Fahrradstraßen entstehen, bestehende Infrastruktur wird saniert und die „Grüne Welle“ für Radfahrerinnen und Radfahrer wird Realität. Für die Planung der Maßnahmen und die Evaluierung umgesetzter Projekte liefern die Daten der Raddauerzählstellen wertvolle Informationen. Hierzu zählen etwas Zeitreihen und Vergleiche zum Radverkehr zu unterschiedlichen Tageszeitpunkten und in Abhängigkeit vom Wetter. Insgesamt stellt die Messung und Bereitstellung der Daten zu den Raddauerzählstellen einen großen Fortschritt und Informationsgewinn dar.

Geschichtlicher Hintergrund Als Karl Friedrich Freiherr von Drais 1817 seine „Draisine“ das erste Mal bestieg, konnte er nicht ahnen, welchen Meilenstein er für die Zukunft gesetzt hatte. 1869 erweiterte Phillip Moritz Fischer das Laufrad durch Pedale und einige Jahre später fügte André Guilmet den Kettenantrieb hinzu. Das Fahrrad war geboren. Der Drahtesel erlebte seit seinen Anfängen immer wieder Rückschläge. Besonders mit der Erfindung des PKWs wurde dem Fahrrad der Nutzen streitig gemacht. Heute erfreut es sich größter Beliebtheit und gehört mit zu den wichtigsten Verkehrsmitteln im Großstadtdschungel Münchens. Kein Wunder, dass durch vielfältige Bemühungen angestrebt wird, das Fahrradfahren in der Landeshauptstadt zunehmend attraktiver zu gestalten. München soll „Radlhauptstadt“ werden. Ein wichtiger Bestandteil zur Umsetzung neuer Projekte sind die statistisch erhobenen Daten der Münchner Radlerinnen und Radler. Seit Sommer 2008 wird an verschiedenen Orten in München die Fahrrad-Nutzung gemessen. Mittlerweile gib es in München sechs Dauermessstellen, welche die vorbeifahrenden Fahrräder erfassen. Die Standorte befinden sich nahe des Zentralen Omnibusbahnhofs München (ZOB) in der Arnulfstraße, am Isarradweg in der Erhardtstraße (beide: Ludwigsvorstadt-Isarvorstadt), am Rudolf-Harbig-Weg im Olympiapark und oberhalb der S-Bahnhaltestelle Hirschgarten im Birketweg (beide: Neuhausen-Nymphenburg). Weitere Messstellen bestehen am Harras in der Margaretenstraße (Sendling), östlich des Innsbrucker Rings an der Bad-Kreuther-Straße bzw. dem Joseph-Hörwick-Weg (Berg am Laim), siehe auch Karte 1.

Ulrike Teubner und Monika Wreszinski Nachwuchskräfte der Landeshauptstadt München. Der Beitrag entstand im Rahmen des studienbegleitenden Praktikums im Statistischen Amt. Dipl. Kffr. Silke Joebges Mitarbeiterin im Statistischen Amt München : silke.joebges@muenchen.de Schlüsselwörter: Radzählstellen – Fahrrad – Fahrrad-Nutzung – Dauermessstellen – Wetter

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Diese vor allem zu Planungszwecken etablierten Dauermessstellen erfassen durch im Boden eingelassene Sensoren alle darüber hinwegrollenden Zweiräder. Die Radfahrerinnen und Radfahrer werden dabei an 24 Stunden am Tag über alle 365 Tage eines Jahres gezählt, jedoch nur wenn sie sich auf dem Radweg befinden.1 Radfahrende, die auf dem Gehweg radeln, werden zwar von den Sensoren erfasst, jedoch fließen sie nicht in die Ermittlung des Zählstandes mit ein.2 An der Zählstelle nahe des Deutschen Museums wird für jedermann sichtbar angezeigt, wie viele Radlerinnen und Radler am Tag und im Lauf des Jahres diese Stelle bereits passiert haben.


Schwerpunkt Mobilität und Verkehr

Karte 1: Standorte der Zählstellen

© Statistisches Amt München

Die Tagesdaten, die in Intervallen von 15 Minuten festgehalten werden, ermöglichen umfangreiche Auswertungen, Zeitreihen und Vergleiche zum Radverkehr zwischen Wochentagen und Wochenenden, Feiertagen, Ferien- und Schulzeiten sowie Tag- und Nachtverkehr. Durch die Hinzunahme von Datenmaterial zum Wetter ist es möglich, den Radverkehr unter den Bedingungen von Niederschlag, Bewölkung und Temperatur auszuwerten. Insgesamt stellt die Messung und Bereitstellung der Daten zu den Raddauerzählstellen einen großen Fortschritt und Informationsgewinn dar. Zuvor waren lediglich spärliche Informationen aus zeitlich begrenzten manuellen Zählungen verfügbar. Die Daten werden auf dem Open-Data-Portal der Stadt für jedermann zur Verfügung gestellt. Momentan stehen Daten ab Januar 2017 zum Download bereit. In diesem Beitrag werden die Daten der sechs Dauermessstellen der Jahre 2017 und 2018 betrachtet. Es zeigt sich: Die Münchnerinnen und Münchner lieben ihr Radl und sie lieben es damit zu fahren. Ob warm oder kalt, ob strahlende Sonne oder schüttender Regen – es wirdgeradelt. Die Messstellen registrierten im Jahr 2018 ein Plus an gezählten Zweirädern von 10,8 % gegenüber dem Vorjahr. Waren es 2017 noch insgesamt 3.705.264 Radfahrende, so passierten 2018 stolze 4.104.533 Fahrräder die Zählstellen. Die Rekordmarke von mehr als 1 Mio. Radfahrerinnen und Radfahrern

an allen Zählstellen wurde im Jahr 2017 am 18. Mai erreicht. 2018 fiel der Rekord bereits am 5. Mai – und damit zwei Wochen früher. Im Vergleich der einzelnen Messstellen zwischen den Jahren 2017 und 2018 fällt auf, dass an fast allen Orten ein höheres Aufkommen an Radfahrenden feststellbar ist – einzige Ausnahme ist die Zählstelle am Hirschgarten. Dort belaufen sich die Messungen von 432.450 Rädern für 2018 auf dem Vorjahresniveau (432.567). Pro Tag passieren also im Schnitt 1.185 Zweiräder diese Messstelle. Die absolut am stärksten frequentierte Messstelle an der Erhardtstraße mit 1,297 Mio. gezählten Rädern 2017 und 1,463 Mio. im Jahr 2018 konnte einen Zuwachs von 12,7 % verbuchen. Durchschnittlich 4.008 Räder querten täglich die Messstelle am beliebten Isar-Radweg. Den stärksten relativen Zuwachs verzeichnete die Messstelle an der Bad-Kreuther-Straße in Berg-am-Laim mit einem Plus von 18,4 %. Die Zählstelle, in Sendling, am Harras, knackte im vergangenen Jahr die Millionenmarke mit 1.004.013 ermittelten Radfahrenden – pro Tag etwa 2.751 – und wurde 119.796 mal häufiger überquert als 2017 (+ 13,5 %), siehe Tabelle 1, Seite 24. Durchaus interessant erweisen sich ebenfalls die Gegenüberstellungen von Arbeitstagen zu Ferien und Wochentagen zu Wochenenden. Sowohl in der Ferienzeit als auch an den Wochenenden oder Feiertagen sind vergleichsweise weniger

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Radler unterwegs als sonst. Während montags bis freitags durchschnittlich 1.977 Radfahrende je Tag die Messstellen queren, werden an den Wochenenden rund 700 Messungen weniger gezählt. Auf dem Isar-Radweg passieren unter der Woche täglich 4.090 Räder die Messstelle nahe des Deutschen Museums, an Wochenenden sind hier gut 1.000 Räder weniger unterwegs. Auch am Harras registriert die Messstelle in der Margaretenstraße an Wochenenden 1.000 Radfahrende weniger, während zwischen Montag und Freitag durchschnittlich 2 896 Überquerungen gezählt werden. Tabelle 2 sowie Grafik 1 zeigen überdies, dass das Fahrrad an den Feiertagen meist stehen bleibt. Teilweise halbieren sich die Messwerte sogar, wie beispielsweise in der Arnulfstraße. An Feiertagen werden hier durchschnittlich 537 Räder gezählt, während es an sonstigen Tagen 1.197 Räder sind. Im Olympiapark fällt der Unterschied zwischen Feiertagen und anderen Tagen hingegen nicht so stark aus (Feiertag: 1.248 Fahrräder, kein Feiertag: 1.752 Fahrräder). Ein Großteil der Münchner/innen nutzt das Fahrrad als schnelles und günstiges Verkehrsmittel für den Weg zur Arbeit oder Schule. Die Wochenenden oder Ferien bieten zudem reichlich Gelegenheit um wegzufahren oder zur alternativen Freizeitgestaltung.

Weiter lässt sich eine gewisse Synchronität im Ablauf einer normalen Arbeits- bzw. Schulwoche erkennen. Grafik 2, zeigt das mittlere Radverkehrsaufkommen im zeitlichen Verlauf sowie getrennt nach Richtungen. Von Montag bis Freitag liegen die Spitzenwerte in den Hauptverkehrszeiten zwischen 6 Uhr und 9 Uhr am Morgen sowie zwischen 16 Uhr und 19 Uhr am Abend liegen. Morgens radelt die Mehrheit in die Innenstadt, am Nachmittag bzw. gegen Abend hin geht es Richtung stadtauswärts. Lediglich die Radlzählstelle im Olympiapark wird im Tagesverlauf in Nord-Süd-Richtung annähernd genauso häufig gequert wie in nördlicher Richtung. An den Wochenenden konzentriert sich der Radverkehr eher auf den Nachmittag bis frühen Abend. Die meisten Radlerinnen und Radler sind dabei zwischen 14 und 16 Uhr unterwegs. Unterschiede bezüglich der Richtungen bestehen am Wochenende nicht, siehe Grafik 3, Seite 26. Über das Jahr gesehen fahren die meisten Radler dienstags (Durchschnitt 2.111) und mittwochs (Durchschnitt 2.113). An Freitagen (Durchschnitt 1.866) treten nochmals weniger in die Pedale als an Donnerstagen (Durchschnitt 2.028). Dieses Muster gilt für alle Radzählstellen, siehe Grafik 4, Seite 26.

Tabelle 1: Radverkehrsaufkommen an den sechs Dauerzählstellen 2017 und 2018 Zählstellen

Radverkehrsaufkommen insgesamt 2017

Arnulfstraße

2018

Mittleres Radverkehrsaufkommen pro Tag

Veränderung in %

2017

2018

405 266

447 982

10,5

1 110

1 227

Erhardtstraße

1 297 847

1 463 094

12,7

3 556

4 008

Hirschgarten

432 567

432 450

0,0

1 185

1 185

81 824

96 890

18,4

224

265

884 217

1 004 013

13,5

2 423

2 751

Bad-Kreuther-Straße Margaretenstraße Olympiapark Zählstellen ingesamt

603 543

660 104

9,4

1 654

1 809

3 705 264

4 104 533

10,8

1 692

1 874

© Statistisches Amt München

Tabelle 2: Mittleres Radverkehrsaufkommen pro Tag an Dauerzählstellen 2017 und 2018 Zählstelle

Tagesdurchschnitt … allgemein

Montags an Samstagen bis Freitags und Sonntagen

an Feiertagen

zu Schulzeiten

in der Ferienzeit

Arnulfstraße

1 169

1 359

694

537

1 174

1 156

Erhardtstraße

3 782

4 090

3 016

2 466

3 830

3 646

Hirschgarten

1 185

1 409

628

549

1 206

1 126

245

281

156

135

250

230

Bad-Kreuther-Straße Margaretenstraße

2 587

2 896

1 816

1 394

2 651

2 404

Olympiapark

1 731

1 830

1 485

1 248

1 724

1 752

Zählstellen insgesamt

1 783

1 977

1 299

1 055

1 806

1 719

© Statistisches Amt München

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Grafik 1: Durchschnittliche Anzahl der Radfahrenden täglich, an Feiertagen, in der Schulzeit und zu Ferienzeiten, an Arbeitstagen und am Wochenende (2017 und2018)

© Statistisches Amt München

Grafik 2: Morgens ins Stadtzentrum, abends wieder zurück – Durchschnittliche Anzahl der Radfahrenden im Tagesverlauf1) stadtein− und stadtauswärts

1) Durchschnittliches Radverkehrsaufkommen Montag bis Freitag ohne Feiertage 2017/2018.

© Statistisches Amt München

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Grafik 3: An Wochenenden und Feiertagen wird nach dem Mittagessen auf’s Rad gestiegen – Durchschnittliche Anzahl der Radfahrenden im Tagesverlauf1) stadtein- und stadtauswärts

1) Durchschnittliches Radverkehrsaufkommen an Samstagen und Sonntagen sowie Feiertagen 2017 und 2018.

© Statistisches Amt München

Grafik 4: Dienstag und Mittwoch ist das Radverkehrsaufkommen am größten – Durchschnittliche Anzahl der Radfahrenden nach Wochentagen1)

1) Durchschnittliches Radverkehrsaufkommen ohne Feiertage 2017/2018.

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Das höchste Aufkommen an Zweirädern an einem einzelnen Wochentag war im Jahr 2017 am Mittwoch, 5. Juli zu verzeichnen. Hier drängten sich 25.291 Radlerinnen und Radler an den Messstellen vorbei. Stärkster Tag des Jahres 2018 war Dienstag, der 24. Juli 2018 mit 24.755 gezählten Zweirädern. Das geringste Radaufkommen wurde sowohl 2017 als auch im Vorjahr an einem Sonntag festgestellt. Lediglich 496 Fahrräder passierten am 8. Januar 2017 die Messstellen, am 18. Februar 2018 waren es 1.085. Entscheidende Rückschlüsse lassen sich zudem aus dem Vergleich der Jahreszeiten und Monate ziehen. Im Sommer tummeln sich die meisten Radlerinnen und Radler auf Münchens Straßen. Wurden in den Sommermonaten Juni bis August 2017 insgesamt 1.423.388 Zweiräder an den Messstellen gezählt, waren es im Vergleichszeitraum 2018 bereits 1.480.522. Im Tagesdurchschnitt ist das eine Steigerung von 2.579 auf 2.682 Radfahrende. Dagegen scheint es nur die Hartgesottenen in Winters Kälte auf das Radl zu ziehen. In den Monaten Dezember 2017 bis Februar 2018 stiegen täglich rund 818 Personen aufs Rad. Das Gesamtaufkommen in den Wintermonaten belief sich auf 441.494 erfasste Zweiräder an allen sechs Zählstellen. An der am stärksten frequentierten Zählstelle wurden folgende Werte gemessen: In der Wintersaison 2017/2018 radelten täglich im Schnitt 1.583 Personen an der Messstelle in der Erhardtstraße vorbei. In der Sommersaison 2018 waren es etwa 3,5mal so viele (5.674 Radfahrende). In den Übergangsjahreszeiten Frühling und Herbst scheinen sich die meisten Radfahrenden trotz stärkerer Niederschläge und niedrigerer Temperaturen eher weniger abschrecken zu lassen. Im Frühjahr 2018 wurden die Zählstellen 1,104 Mio. Mal passiert, was täglich rund 2 001 Zweirädern entspricht. Im Herbst 2018 wurden mit 1,065 Mio. leicht niedrigere Werte erzielt. Der Tagesdurchschnittswert aller Zählstellen beträgt hier 1952. Den Isarradweg in der Erhardtstraße nutzten im Frühling täglich rund 4.406 Radfahrerinnen und Radfahrer, imHerbst waren es 4.202.

Beim Vergleich der monatlichen Werte der Jahre 2017 und 2018 sind mitunter deutliche Unterschiede auszumachen, siehe Tabelle 3. Die Zählstellen registrierten im Januar 2017 gerade mal 60.649 Radfahrerinnen und Radfahrer. Im Jahr 2018 waren es hingegen dreimal so viele (188.481). Der schwächste Monat im Jahr 2018 war der Februar mit 111.205 Radfahrenden. Ein Anstieg der Werte lässt sich zwar schon im März registrieren, der Sprung über die Marke von 400.000 Radlern im Monat erfolgte 2017 im Mai, im vergangenen Jahr bereits im April (454.250).

Grafik 5: Im Juli passieren täglich mehr als 18.000 Zweiräder die Zählstellen, im Januar sind es lediglich 3.900 – Durchschnittliches Radverkehrsaufkommen je Monat

© Statistisches Amt München

Tabelle 3: Das Radverkehrsaufkommen an den Dauerzählstellen nach Monaten 2017 und 2018 Monat

Radverkehrsaufkommen insgesamt 2017

Durchschnittliches Aufkommen pro Tag

2018

Veränderung in %

2017

2018

Januar

60 649

188 481

210,8

1 956

6 080

Februar

168 418

111 205

-34,0

6 015

3 972

März

293 578

186 050

-36,6

9 470

6 002

April

268 525

454 250

69,2

8 951

15 142

Mai

442 738

464 037

4,8

14 282

14 969

Juni

486 075

489 510

0,7

16 202

16 317

Juli

502 302

568 889

13,3

16 203

18 351

August

435 011

422 123

-3,0

14 033

13 617

September

324 626

406 125

25,1

10 821

13 538

Oktober

345 244

382 946

10,9

11 137

12 353

November

236 290

276 691

17,1

7 876

9 223

Dezember

141 808

154 226

8,8

4 574

4 975

© Statistisches Amt München

STADTFORSCHUNG UND STATISTIK 2|2020

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Schwerpunkt Mobilität und Verkehr

Von da an nehmen die Werte monatlich zu, bis sie jeweils im Juli ihren Zenit mit 502.302 Zweirädern in 2017 und 568.889 Zweirädern in 2018 erreicht haben. Ab der Jahresmitte sind die Radler-Zahlen wieder rückläufig. Grafik 5, Seite 27, zeigt die mittleren Werte je Monat des Jahres 2018. So launisch und abwechslungsreich und oft nur schwer vorhersehbar wie das Wetter, so unterschiedlich fallen die Messergebnisse des Radverkehrs bei Sonne, Wind und Regen aus. Während die Sonne morgens strahlend am Himmel steht, kann es am Nachmittag regnen. Die Niederschlagsmenge am Tag kann sich in einem kurzen Wolkenbruch ergießen oder kommt als Dauerregen daher. Erkennbar ist jedoch, dass die steigenden Temperaturen die Radfahrerinnen und Radfahrer an die frische Luft locken. Grafik 6, Seite 28, zeigt das gesamte Radverkehrsaufkommen an allen Zählstellen in Abhängigkeit von der Tageshöchsttemperatur und nach Jahreszeiten. Derpositive Gesamtzusammenhang ist deutlich erkennbar, auch wenn die einzelnen Tagesergebnisse streuen. Von Frost und Kälte lassen sich die Münchner Radelnden nicht abhalten. Selbst bei Temperaturen unter dem Gefrierpunkt schwingen sich durchschnittlich 2.646 Radfahrende in den Sattel, siehe

Grafik 7, Seite 28. Im Temperaturbereich von 10 bis unter 15 Grad passieren durchschnittlich 7.629 Zweiräder die Messstellen, im Intervall von 15 bis unter 20 Grad sind es dagegen schon 11.380 Radler. Zu heiß zum radeln gibt’s nicht. Auch bei Temperaturen jenseits der 30 Grad Marke wurden im Schnitt 19.195 Zweiräder an den Zählstellen erfasst. An niederschlagsfreien Tagen sind durchschnittlich 12.551 Radfahrerinnen und Radfahrer auf Münchens Straßen unterwegs. Bei Regenwetter passieren im Schnitt weniger Zweiräder die Messstellen. Aber auch hohe Niederschlagsmengen halten die Münchnerinnen und Münchner nicht vom radeln ab (siehe Grafik 8). Selbst als am12.6.2018 mehr als 61 Liter Regen pro Quadratmeter auf die Stadt niederprasselten zählten die sechs Messstellen insgesamt 11.805 Zweiräder. Zu den bereits genannten Faktoren, gibt es natürlich noch eine Vielzahl weiterer Umstände, die sich auf den Fahrradverkehr auswirken. Beispielsweise genannt seien Baustellen, Instandsetzungen von Radwegen, vorübergehende Straßensperrungen oder Umleitungen, Veranstaltungen, Beeinträch-

Grafik 6: Warme Temperaturen locken mehr Radlerinnen und Radler – Gesamtaufkommen aller Zählstellen 2017/2018 nach Temperatur und Jahreszeit

© Statistisches Amt München

Grafik 7: Tageshöchsttemperaturen von über 30 Grad schrecken die Radlerinnen und Radler nicht

Grafik 8: Münchner Radlerinnen und Radler sind auch bei Regen unterwegs

© Statistisches Amt München

© Statistisches Amt München

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STADTFORSCHUNG UND STATISTIK 2|2020


Schwerpunkt Mobilität und Verkehr

tigungen im öffentlichen Personennahverkehr, gesetzliche Regelungen oder die zunehmende Zahl an E-Bikes, Pedelecs und Leihrädern. Das Radverkehrsaufkommen nimmt zu; Fahrradfahren wird immer beliebter. Aktuell bewegt sich Einiges, um das Radfahren auf Münchens Straßen sicherer, attraktiver und innovativer zu machen. Basierend auf dem „Grundsatzbeschluss zur Förderung des Radverkehrs“ aus dem Jahr 2009 stehen eine Vielzahl Infrastrukturmaßnahmen an: beispielsweise neue Fahrradstraßen, Ausbau und Sanierungen von Radwegen und -stellplätzen, die „Grüne Welle“ für Radfahrerinnen und Radfahrer, Radschnellverbindungen ins Münchner Umland

sowie der Altstadt-Radlring. Doch genau zu diesem Zweck wurden die Dauerzählstellen etabliert. Für die Planung der Maßnahmen, aber auch zur Evaluierung umgesetzter Projekte liefern die Daten der Raddauerzählstellen wertvolle Informationen. Damit es auch bei steigendem Verkehrsaufkommen für möglichst viele Münchnerinnen und Münchner heißt: „Auf’s Radl – Fertig? – Los!“

1 2

Pressemitteilung 7/4/2017 RadlHauptstadt München https://radlhauptstadt.muenchen.de/infrastruktur/radverkehrsdaten

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Schwerpunkt Mobilität und Verkehr

Sebastian Baur

Erschließung von Crowd Data und Verknüpfung mit Befragungsdaten im Bereich Verkehr

Dieser Beitrag illustriert, wie durch die Verknüpfung von alternativen mit konventionellen Daten, wertvolle Erkenntnisse für die strategische Steuerung in Städten gewonnen werden können. Hierfür werden zuerst die Stärken und Limitierungen von OpenStreetMap-Daten als alternative Datenquelle, insbesondere in Bezug auf Radwege, diskutiert. Anschließend wird auf die konkrete Erschließung und Berechnung der Radwegenetze über OpenStreetMap eingegangen. Diese Daten werden mit Befragungsdaten verknüpft und mittels logistischer Regression analysiert. Im Mittelpunkt steht dabei die Forschungsfrage welche Faktoren die Wahl des bevorzugten Verkehrsmittels von Bürgerinnen und Bürgern, im konkreten Fall das Fahrrad, beeinflussen.

Einleitung Viele Städte wollen den Radverkehr attraktiver gestalten und fördern. Dabei stellt sich die Frage, welche Gegebenheiten Bürgerinnen und Bürger dazu bewegen, das Fahrrad als Verkehrsmittel stärker in Betracht zu ziehen. Hierbei spielen sicherlich viele Faktoren eine Rolle, wie etwa die Existenz von Fahrradverleihsystemen, die städtische Topographie, die qualitative Beschaffenheit der Radwege oder die geographische Abdeckung/Reichweite des Radwegenetzes. Der Einfluss von letzterem steht im Mittelpunkt der Analysen dieses Beitrags. Dabei stellt der Prozess einer validen Datenerhebung des Radwegenetzes in Hinblick auf einen interstädtischen Vergleich eine besondere Herausforderung dar. Als vielversprechende Lösung bietet sich hier die Verwendung von Crowd-Data an. Die KOSIS-Gemeinschaft Urban Audit hat bereits 2017 die Verwendung von alternativen Datenquellen in Form von OpenStreetMap zur Berechnung der Länge städtischer Radwegenetze prüfen lassen (Schmidt 2017). Das Fazit der Untersuchung war dabei durchweg positiv. Zusätzlich werden im Rahmen der Analyse dieses Beitrags die Ergebnisse der koordinierten Befragung zur Lebensqualität herangezogen, die von der AG Umfragen des VDSt parallel zur EU-Erhebung des Perception Surveys durchgeführt wird. Durch die Verknüpfung beider Datenquellen lässt sich das Verkehrsverhalten von Bürgerinnen und Bürgern untersuchen.

OpenStreetMap als alternative Datenquelle

Sebastian Baur Mitarbeiter im Sachgebiet Statistik und Stadtforschung der Stadt Mannheim : sebastian.baur@mannheim.de Schlüsselwörter: Befragung – Crowd-Data – Lebensqualität – OpenStreetMap – Radwegenetz – Urban Audit – Verkehr

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STADTFORSCHUNG UND STATISTIK 2|2020

Seit 2018 wird die Länge der Radwegenetze deutscher Städte für das europäische City Statistics-Projekt in Mannheim standardisiert über OpenStreetMap erhoben. Dadurch können viele Probleme einer direkten Abfrage der Radwegedaten bei Städten, wie etwa in Bezug auf die einheitliche Verfügbarkeit und Aktualität der Daten sowie unterschiedliche Definitionen von Radwegenetzen, gelöst werden. OpenStreetMap bietet den Vorteil einer einheitlichen Selektion mittels des verwendeten Systems von Attributen (tags), die über alle Städte hinweg die Berechnung und einbezogenen Wege nachvollziehbar machen (Schmidt 2017). Somit ist eine valide Vergleichbarkeit der Daten gewährleistet, da die Definition eines Radwegenetzes auf jede Stadt in gleicher Weise angewendet wird. Hinzu kommt die umfassende Verfügbarkeit der OpenStreetMapDaten, die jederzeit ergänzt und auf den neuesten Stand ge-


Schwerpunkt Mobilität und Verkehr

bracht werden. Es gibt empirische Befunde, dass alle Straßen, zumindest für Deutschland, in OpenStreetMap eingezeichnet sind (vgl. Neis et al. 2012). Zusätzlich ist dabei auch deren Typisierung weitestgehend verfügbar. Dies ist besonders für städtestatistische Fragestellungen, wie etwa im Bereich Verkehr oder für verschiedene Erreichbarkeitsanalysen, vielversprechend. Neben den umfassenden Vorteilen von OpenStreetMapDaten, müssen auch bestimmte Limitierungen betrachtet werden. Beispielsweise bestehen regionale Divergenzen bezüglich der Datendichte (Zielstra & Zipf 2010). Besonders im städtischen Raum besteht neben der höheren Verfügbarkeit an Daten auch eine höhere Datenqualität als im ländlichen Raum, was in Bezug auf einen interstädtischen Vergleich allerdings eher unproblematisch ist (Haklay 2010). Zuletzt ergibt sich auch eine potentielle Problematik durch das FreeTagging-System von OpenStreetMap. Hierbei gibt es wenige Limitierungen, sodass theoretisch einem Objekt unendlich viele Attribute zugewiesen werden können. Einerseits verbessert das die potentielle Genauigkeit der Metadaten, kann andererseits aber auch zu einer Verkomplizierung in der Datenabfrage führen. Zwar gibt es informelle Standards bezüglich der Vergabe von Attributen, dennoch bestehen häufig mehrere Möglichkeiten, ein Objekt zu beschreiben. Dies führt zu potenziellen Unschärfen bzw. zur Nichtberücksichtigung von relevanten Objekten. Im Grunde sind das jedoch weitestgehend Limitierungen, die sich auf die generelle Datenqualität von Crowdsourcing beziehen, was weniger relevant in Hinblick auf die Vergleichbarkeit der OpenStreetMap-Daten zwischen den Städten ist.

Berechnung der Radwegenetzlänge Die Erschließung der Radwegedaten erfolgt über die Overpass API. Hierüber werden die Daten aus OpenStreetMap mittels benutzerdefinierter Abfragen bereitgestellt. Im Grunde fungiert diese Overpass API als Datenbank über das Internet: Der Anwender sendet eine Anfrage an die API und erhält den Datensatz, der der Anfrage entspricht, aus der OpenStreetMapHauptdatenbank zurück. Eine Möglichkeit der Datenabfrage, die kostenlos jedem Benutzer zur Verfügung steht, bietet Overpass Turbo (http:// overpass-turbo.eu). Mithilfe dieser Webanwendung lassen sich schnell und unkompliziert Abfragen über die Overpass API durchführen. Dabei werden die angefragten Daten anhand einer interaktiven Karte visualisiert (vgl. Abbildung 1). Im Anschluss kann mit der Kalkulation der Länge der Radwegenetze begonnen werden. Zuerst müssen dazu die OpenStreetMap-Daten über Overpass Turbo im GeoJSONFormat exportiert werden.Diese Daten können dann in QGIS geladen und bearbeitet werden. Natürlich können hierfür auch proprietäre Programme wie ESRI ArcGIS herangezogen werden. Nachdem die Daten eingelesen sind, erfolgt das Zuschneiden gemäß des Untersuchungsgebiets. Geht es dabei um die Berechnung gesamtstädtischer Radwegenetze, werden die entsprechenden Shapes der Kreis- bzw. Gemeindegrenzen benötigt. Anschließend sind nun die als einzelne Objekte vorliegenden Radwege über die Funktion Dissolve zu einer Multigeometrie zusammenzuführen. In einem letzten Schritt kann nun die Gesamtlänge des Radwegenetzes – im Fall von QGIS mithilfe des Feldrechners und der Funktion „$length“ – berechnet werden.

Abbildung 1: Abfrage des Mannheimer Radwegenetzes über Overpass Turbo

STADTFORSCHUNG UND STATISTIK 2|2020

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Schwerpunkt Mobilität und Verkehr

All diese Schritte der Datenerschließung werden im Rahmen des europäischen City Statistics-Projekt in Mannheim automatisiert unter Verwendung eines Python-Skripts durchgeführt (Link 2019). Dafür sind folgende Pakete für Python notwendig: Pandas, Overpy, Fiona, Geopandas und Earthpy. Das Skript benötigt dabei ca. 1 ½ Stunden für das Auslesen sowie die Berechnung der Radwegenetze für 127 deutsche Städte. Am Ende dieses Prozesses stehen die Daten in Form einer aufbereiteten CSV-Datei zur Verfügung. Natürlich kann solch eine Automatisierung auch mithilfe anderer Programmiersprachen, wie etwa R, eingerichtet werden.

Verknüpfung der OpenStreetMap-Daten mit Befragungsdaten Um eine aussagekräftige Vergleichbarkeit der geographischen Abdeckung des Radwegenetzes zwischen Städten zu ermöglichen, werden in diesem Beitrag die Radwege in das Verhältnis zur amtlichen Einwohnerzahl gesetzt (vgl. Baur 2019). In einem nächsten Schritt werden diese mit den Ergebnissen der koordinierten Befragung zur Lebensqualität verknüpft, an der sich 15.716 Bürgerinnen und Bürger aus 24 deutschen Städten beteiligt haben. Aus dieser Umfrage geht hervor, welches Verkehrsmittel am häufigsten benutzt wird. Darüber hinaus beinhaltet die Befragung weitere wichtige Faktoren, welche mit dem Verkehrsverhalten der Bürgerinnen und Bürger in Zusammenhang stehen könnten, wodurch mögliche interstädtische Unterschiede kontrolliert werden können. Als mögliche Erklärungsfaktoren für die Nennung des Fahrrades als häufigstes Verkehrsmittel an einem normalen Tag werden folgende Variablen herangezogen: • Radwegenetz in Kilometern je 1.000 Einwohner • Berufliche Situation • Geschlecht • Alter • Staatsangehörigkeit • Luftqualität • Lärmpegel • Zustand von Straßen • Sicherheit in der Stadt • Sicherheit in der Wohngegend Eine genauere Beschreibung der Variablen können dem Anhang entnommen werden (vgl. Tabelle 3). Als Analyse-Methode wird eine logistische Regression verwendet. Dieses Modell eignet sich, wenn – wie in diesem Fall (1 = das Fahrrad wurde als häufigstes Verkehrsmittel genannt, 0 = ein anderes Verkehrsmittel wurde als häufigstes Verkehrsmittel genannt) – der theoretisch postulierte Einfluss von Faktoren auf eine dichotome abhängige Variable analysiert werden soll. Die Daten bieten sich generell auch für eine Mehrebenenanalyse an. Aufgrund der Beschaffenheit der unabhängigen Variable des Radwegenetzes sowie einem niedrigen Intra-class-correlation (ICC)-Wert von 0,077 ist dies aber nicht sinnvoll.

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STADTFORSCHUNG UND STATISTIK 2|2020

Ergebnisse Die Länge des Radwegenetzes wurde für alle 127 Urban Audit Städte erhoben. Daten aus dem Perception Survey standen zum Zeitpunkt der Analyse nur für die 24 deutschen Städte, die sich der EU-Befragung angeschlossen hatten (sogenannte koordinierte Bürgerbefragung), zur Verfügung. Für einen ersten deskriptiven Überblick ist in Tabelle 1 die Länge des Radwegenetzes (absolut und im Verhältnis zur Einwohnerzahl) sowie der Anteil der Bürgerinnen und Bürger, die angegeben haben das Fahrrad als primäres Verkehrsmittel zu verwenden (Fahrradfahrer), in den Städten abgetragen. Hierbei lassen sich große Unterschiede zwischen den Städten erkennen. Den höchsten Wert weist Freiburg mit einem Anteil von 44,4 Prozent auf, den niedrigsten Zwickau (11,4 %). Eine hohe Varianz gibt es wenig überraschend auch in Hinblick auf die Länge des Radwegenetzes. Betrachtet man die absoluten Zahlen, hat Köln das längste Radwegenetz mit 792 Kilometern und liegt damit deutlich über dem Durchschnitt der 24 Städte von 235 Kilometern. Mit 51 Kilometern weist Zwickau den niedrigsten Wert auf. Bei Betrachtung des Radwegenetzes in Relation zur Einwohnerzahl weist dagegen Ingolstadt den

Tabelle 1: Radwegenetz und Fahrradfahreranteil in 24 deutschen Städten Stadt Stuttgart Saarbrücken Dresden Fürth

Radweg (km)

Radweg (km/1.000 Einw.)

Fahrradfahrer

204

0,32

14,4 %

60

0,33

14,2 %

271

0,49

22,0 %

68

0,54

22,4 %

Koblenz

62

0,54

19,1 %

Zwickau

51

0,57

11,4 %

Kassel

123

0,61

17,8 %

Frankfurt am Main

459

0,61

23,2 %

81

0,64

20,4 %

Würzburg Nürnberg

365

0,71

25,8 %

Köln

792

0,73

27,5 %

Düsseldorf

472

0,76

22,3 %

Aachen

201

0,82

22,7 %

Karlsruhe

293

0,94

40,6 %

Freiburg

217

0,94

44,4 %

Recklinghausen

108

0,95

22,4 %

Augsburg

292

1,00

33,9 %

Konstanz Mannheim

85

1,01

46,8 %

315

1,02

26,8 %

Darmstadt

171

1,08

38,0 %

Osnabrück

201

1,22

40,2 %

Braunschweig

318

1,28

36,8 %

Wolfsburg

189

1,53

27,3 %

Ingolstadt

238

1,76

40,1 %

Gesamt-Ø

235

0,85

27,5 %


Schwerpunkt Mobilität und Verkehr

höchsten Wert mit 1,76 Kilometern Radwegenetz je 1.000 Einwohnern auf und Stuttgart den niedrigsten Wert mit 0,32 Kilometern je 1.000 Einwohner. Analysiert man diese Werte auf der Makro-Ebene, lässt sich ein klarer Zusammenhang erkennen: Je größer das Radwegenetz in Relation zu den Einwohnern, desto größer der Anteil an Bürgerinnen und Bürgern die das Fahrrad als häufigstes Verkehrsmittel nennen. Dies sind selbstverständlich nur deskriptive Zusammenhänge, im nächsten Schritt soll die Analyse zeigen, ob ein positiver Zusammenhang auch unter Kontrolle verschiedener Merkmale auf der Individualebene bestehen bleibt. In Tabelle 2 sind die Ergebnisse der logistischen Regression unter Berücksichtigung aller Variablen zu sehen. Abgetragen sind die so genannten Log-Odds (logarithmierte Chancenverhältnisse); positive Werte geben eine höhere Wahrscheinlichkeit, negative Werte eine geringere Wahrscheinlichkeit für das Auftreten der betrachteten Merkmalsausprägung der abhängigen Variable – hier des Fahrrades als am häufigsten genutztes Verkehrsmittel – an. Zur leichteren Interpretation sind zusätzlich die signifikanten Effekte als Veränderung in Prozent angegeben.1 Wie das finale Modell deutlich macht, bestätigt sich der positive Zusammenhang zwischen dem Radwegenetz und dem Fahrrad als präferiertem Verkehrsmittel unter Kontrolle anderer Merkmale. Verlängert man das Radwegenetz je 1000 Einwohner um einen Kilometer, erhöht sich das Verhältnis der Odds, dass das Fahrrad als häufigstes Verkehrsmittel gewählt wird, um 357,7 Prozent. Die berufliche Situation weist zwei signifikante Ausprägungen auf: Im Vergleich zu Erwerbstätigen wählen Schüler*innen/ Studierende mit einer höheren Wahrscheinlichkeit das Fahrrad als Verkehrsmittel, während arbeitsunfähige Personen weniger wahrscheinlich Fahrrad fahren. Das Geschlecht hat dagegen keinen signifikanten Einfluss. Bezüglich des Alters gibt es sowohl einen signifikanten linearen als auch quadratischen Effekt: Mit zunehmenden Alter steigt die Wahrscheinlichkeit des Fahrrads als häufigste Verkehrsmittelwahl zunächst, ab einem gewissen Alter sinkt die Wahrscheinlichkeit dann wieder. Zusätzlich kann ein signifikanter Interaktionseffekt zwischen der Länge des Radwegenetzes in Kilometern pro 1.000 Einwohnern und dem Alter beobachtet werden, und zwar erneut linear und quadratisch: Das Ausmaß des positiven Effekts des Radwegenetzes auf die Wahrscheinlichkeit Fahrrad zu fahren sinkt mit steigendem Alter und gewinnt ab einem gewissen Punkt wieder an Bedeutung. Dies spricht für eine höhere Relevanz der Länge des Radwegenetzes auf die Wahl des Verkehrsmittels für sehr junge und alte Menschen. Personen mit einer Staatsangehörigkeit zusätzlich zur deutschen wählen signifikant weniger wahrscheinlich das Fahrrad als häufigstes Verkehrsmittel als Deutsche ohne weitere Staatsangehörigkeit. Der Effekt ist für Personen ohne deutsche Staatsangehörigkeit noch größer, aufgrund der geringen Fallzahl jedoch nicht signifikant. Je höher der wahrgenommene Lärmpegel, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit der Verkehrsmittelwahl Fahrrad. Gleiches gilt für die Luftqualität. Dieser auf den ersten Blick überraschende Befund könnte folgende Erklärungen haben:

Tabelle 2: Logistische Regression zur Analyse des bevorzugten Verkehrsmittels Häufigstes Verkehrsmittel: Fahrrad

Log-Odds (Std. Fehler)

Radwegenetz

1.521 (.455)***

Berufliche Situation (Referenz = Erwerbstätig) • Arbeitslos • Ruhestand/Rente • Arbeitsunfähig aus gesundheitlichen Gründen • Schüler*in/Student*in • Hausfrau/Hausmann • Freiwilligendienst • Anderes Frauen

∆% 357.7 %

.153 (.120) - .121 (.072) - .535 (.229)* .525 (.113)*** - .159 (.115) .930 (.607) .176 (.145)

- 41.4 % 69.0 %

.049 (.040)

Alter

.107 (.018)***

11.3 %

- .001 (.000)***

- 0.1 %

Luftqualität (Referenz = Sehr zufrieden) • Eher zufrieden • Eher unzufrieden • Überhaupt nicht zufrieden

.177 (.056)** .375 (.066)*** .389 (.100)***

19.4 % 45.5 % 47.6 %

Lärmpegel (Referenz = Sehr zufrieden) • Eher zufrieden • Eher unzufrieden • Überhaupt nicht zufrieden

.047 (.055) .168 (.066)* .263 (.097)**

18.3 % 30.1 %

Alter²

Zustand von Straßen (Referenz = Sehr zufrieden) • Eher zufrieden • Eher unzufrieden • Überhaupt nicht zufrieden

- .039 (.145) - .214 (.163) - .321 (.246)

Sicherheit in Stadt (Referenz = Stimme sehr zu) • Stimme eher zu • Stimme eher nicht zu • Stimme überhaupt nicht zu

- .110 (.061) - .378 (.074)*** - .625 (.102)***

- 31.5 % - 46.5 %

Sicherheit in Wohngegend (Referenz = Stimme sehr zu) • Stimme eher zu • Stimme eher nicht zu • Stimme überhaupt nicht zu

- .070 (.054) - .267 (.076)*** - .550 (.126)***

- 23.4 % - 42.3 %

Staatsangehörigkeit (Referenz = Deutsch) • Deutsch und andere Staatsangehörigkeit • Nur andere Staatsangehörigkeit

- .392 (.060)*** - .427 (.473)

Radwegenetz X Alter

- .039 (.018)*

- 32.4 % - 3.8 %

Radwegenetz X Alter²

.001 (.000)**

0.1 %

Radwegenetz X Zustand Straßen (Referenz = Sehr zufrieden) • Eher zufrieden • Eher unzufrieden • Überhaupt nicht zufrieden

.087 (.150) .339 (.170)* .448 (.261)

40.4 %

Konstante * p < .05 ** p < .01; *** p < .001

- 3.886 (.453)***

N = 14497

STADTFORSCHUNG UND STATISTIK 2|2020

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Schwerpunkt Mobilität und Verkehr

Zum einen könnte eher Fahrrad gefahren werden, je höher Luftverschmutzung und Lärmpegel sind, zum anderen könnten Fahrradfahrer die Luft- und Lärmsituation negativer beurteilen als andere Verkehrsteilnehmer. Betrachtet man sich die Korrelation auf Makro-Ebene klärt sich der Zusammenhang. Es gibt eine positive Korrelation zwischen dem Anteil der Fahrradfahrer und der Bewertung der Luftqualität und des Lärmpegels, die zwar nicht signifikant ist, aber in der Tendenz gegen die erste oben genannte Erklärung spricht: In Städten in denen Bürger zu einem höheren Anteil das Fahrrad als Hauptverkehrsmittel präferieren, wird die Luftqualität und der Lärmpegel positiver bewertet. Somit trifft eher die letztere Erklärung auf Mikro-Ebene zu, dass Fahrradfahrer die Luft- und Lärmsituation kritischer beurteilen. Der Zustand der Straßen hat keinen direkten Einfluss, jedoch gibt es einen Interaktionseffekt mit dem Radwegenetz: Je schlechter der Zustand von Straßen, desto stärker ist der positive Effekt des Radwegenetzes auf die Wahrscheinlichkeit das Fahrrad zu präferieren. Das Empfinden von Sicherheit sowohl in der Stadt als auch in der eigenen Wohngegend steht in signifikanter Wechselwirkung mit der Präferenz, das Fahrrad als primäres Verkehrsmittel zu verwenden. Personen, die der Aussage „Ich fühle mich sicher, wenn ich nachts alleine durch meine Stadt“ bzw. „Ich fühle mich sicher, wenn ich nachts alleine durch meine Wohngegend gehe”„eher nicht“ bzw. „überhaupt nicht“ zustimmen, präferieren signifikant seltener das Fahrrad als Verkehrsmittel.

Ausblick Der Beitrag hat einerseits gezeigt, welches Nutzungspotential in Crowd-Data als alternative Datenquelle steckt. Insbesondere der barrierefreie kostenlose Zugang, das breite Spektrum an Informationen sowie die globale Abdeckung können für eine Vielzahl von städtestatistischen Fragestellungen von großer Bedeutung sein. So kann durch die Nutzung von OpenStreetMap-Daten für die europäische Datensammlung ein Merkmal in höherer Datenqualität und Vollständigkeit geliefert werden. Andererseits illustriert dieser Beitrag, durch die sinnvolle Verknüpfung und Analyse von Crowd-Data und Befragungsdaten, dass Big Data nicht als verbesserter Nachfolger konventioneller Instrumente verstanden werden sollte. Sowohl neue Methoden im Bereich Big Data, als auch herkömmliche Methoden, wie zum Beispiel die Befragung, dienen der systematischen Erfassung und Verarbeitung von Informationen. Dabei unterscheiden sich beide Ansätze in Bezug auf Stärken, Limitierungen und Anwendungsfelder und man sollte das Potential von beiden Welten voll ausschöpfen.

1

Es ist zu beachten, dass sich die Effekte lediglich auf das Verhältnis von Odds bzw. Wahrscheinlichkeitsverhältnissen beziehen. Somit lassen sich Effektrichtungen sehr gut interpretieren, jedoch können keine exakten Rückschlüsse auf absolute Wahrscheinlichkeiten in Gruppen oder Wahrscheinlichkeitsverhältnisse zwischen Gruppen getroffen werden (vgl. bspw. https://www.statworx.com/blog/stolperfalle-logistische-regressionskoeffizienten-und-odds-ratios/).

Literatur Baur, Sebastian (2019): Ausgewählte deutsche Städte: Verknüpfung von Crowd Data und Befragungsdaten im Bereich Verkehr. In: KOSIS-Gemeinschaft Urban Audit (Hrsg.): Lebensqualität: Erschließung neuer Datenquellen. Mannheim, S. 27–33. (im Internet: www. staedtestatistik.de/fileadmin/media/Kosis/ Urban_Audit/PDF/Broschueren/UA_Broschuere_2019.pdf ) Haklay, Mordechai (2010): How good is volunteered geographical information? A comparative study of OpenStreetMap and Ordnance Survey Datasets. In: Environment and Planning B: Planning and Design, 37/4, S. 682–703. Link, Tobias (2019): Urban Audit: Nutzung von Crowd Data für die Berechnung der Länge

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des Radwegenetzes in deutschen Städten. In: KOSIS-Gemeinschaft Urban Audit (Hrsg.): Lebensqualität: Erschließung neuer Datenquellen. Mannheim, S. 23–26. (im Internet: www.staedtestatistik.de/fileadmin/media/ Kosis/Urban_Audit/PDF/Broschueren/UA_ Broschuere_2019.pdf ) Neis, Pascal; Zielstra, Dennis; Zipf, Alexander (2012): The Street Network Evolution of Crowdsourced Maps. OpenStreetMap in Germany 2007-2011. In: Future Internet, 4/1, S. 1–21. Schmidt, Sebastian (2017): Messung der Gesamtlänge des Radwegenetzes in Urban Audit-Städten auf Basis von OpenStreetMapDaten. In: KOSIS-Gemeinschaft Urban Audit

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(Hrsg.): Lebensqualität in Stadt und Umland. Mannheim, S. 34–56. (im Internet: www.staedtestatistik.de/fileadmin/media/Kosis/Urban_Audit/PDF/Broschueren/UA_Broschuere_2017_Web.pdf ) Schmidt, Sebastian (2018): Open Source-Daten als Chance – Messung der Radwegenetzlänge auf- Basis von OpenStreetMap-Daten. In: Stadtforschung und Statistik, 2/2018, S. 74–78. Zielstra, Dennis; Zipf, Alexander (2010): Quantitative Studies on the Data Quality of OpenStreetMap in Germany. In: Sixth International Conference on Geographic Information Science, Zürich, Schweiz, S. 1–8.


Schwerpunkt Mobilität und Verkehr

Anhang Tabelle 3: Ausgewählte Erhebungsmerkmale aus der koordinierten Befragung zur Lebensqualität Variable

Fragestellung

Ausprägungen

Häufigstes Verkehrsmittel

Welche Art(en) von Verkehrsmittel(n) benutzen Sie an einem normalen Tag am häufigsten?

1. 2. 3. 4. 5. 6. 7.

Auto Motorrad Zug Schiff oder Boot Städtische öffentliche Verkehrsmittel Fahrrad Ich gehe zu Fuß

Berufliche Situation

Welche der folgenden Aussagen beschreibt Ihre derzeitige berufliche Situation am besten?

1. 2. 3. 4.

erwerbstätig arbeitslos im Ruhestand/ in Rente aufgrund anhaltender gesundheitlicher Probleme nicht in der Lage zu arbeiten Schüler/in, Student/in Hausfrau/ Hausmann Freiwilligendienst Anderes

5. 6. 8. 9. Geschlecht

Nennen Sie mir bitte Ihr Geschlecht?

Alter

In welchem Jahr sind Sie geboren?

Staatsangehörigkeit

Welche Staatsangehörigkeit haben Sie?

1. männlich 2. weiblich 1. Ausschließlich Deutsch 2. Deutsch und andere Staatsangehörigkeit 3. Nur andere Staatsangehörigkeit

Einmal ganz allgemein gesprochen, sagen Sie mir bitte, ob Sie mit den folgenden Bereichen in [Stadt] sehr zufrieden, eher zufrieden, eher unzufrieden oder überhaupt nicht zufrieden sind … Luftqualität Lärmpegel Zustand von Straßen

… Der Luftqualität … Dem Lärmpegel … Zustand von Straßen

Nun werde ich Ihnen einige Aussagen vorlesen. Bitte sagen Sie mir jeweils, ob Sie der Aussage sehr zustimmen, eher zustimmen, eher nicht zustimmen oder überhaupt nicht zustimmen …

Sicherheit in der Stadt

… Ich fühle mich sicher, wenn ich nachts alleine durch meine Stadt gehe. … Ich fühle mich sicher, wenn ich nachts alleine durch meine Wohngegend gehe.

Sicherheit in der Wohngegend

1. 2. 3. 4.

sehr zufrieden eher zufrieden eher unzufrieden überhaupt nicht zufrieden

1. 2. 3. 4.

stimme sehr zu stimme eher zu stimme eher nicht zu stimme überhaupt nicht zu

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Schwerpunkt Mobilität und Verkehr

Fabian Schütt

Nutzungsanalyse des Bike-Sharing-Angebots in Stuttgart Werkstattbericht zu Möglichkeiten der Nutzbarmachung frei verfügbarer Stationsdaten Leihfahrräder prägen heutzutage in vielen Städten den öffentlichen (Verkehrs-) Raum mit – auch in Stuttgart. Bike-Sharing Systeme wie „RegioRadStuttgart“ leisten einen Beitrag zur Reduktion des motorisierten Individualverkehrs und zur Entlastung des öffentlichen Personennahverkehrs. In Stuttgart wird das Angebot an Leihfahrrädern und Rückgabestationen stetig ausgebaut und optimiert. Für eine zielgerichtete Weiterentwicklung ist es wichtig die Nutzung dahingehend möglichst detailliert zu evaluieren. Dank einer frei verfügbaren Schnittstelle (API) des Anbieters können die benötigten Daten abgerufen und analysiert werden. Im vorliegenden Werkstattbericht werden Einblicke in die hierfür angewandte Methodik und Auswertungsmöglichkeiten gegeben sowie erste Ergebnisse der Nutzungsanalyse vorgestellt.

Fabian Schütt M. Sc. Geographie, Sachgebietsleiter für Geographische Informationen beim Statistischen Amt der Landeshauptstadt Stuttgart. : fabian.schuett@stuttgart.de Schlüsselwörter: Bike-Sharing – Nutzungsanalyse – API – Open Data – RegioRadStuttgart

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STADTFORSCHUNG UND STATISTIK 2|2020

Motivation Das Thema Mobilität beschäftigt nach wie vor die Stuttgarter Bürgerinnen und Bürger (Schöb 2020). Interessenskonflikte ergeben sich in Stuttgart insbesondere durch topographische Gegebenheiten zuhauf. Öffentlicher (Verkehrs-)Raum steht nicht unbegrenzt zur Verfügung und muss daher zwischen allen Verkehrsmitteln aufgeteilt werden. Dieser modal split wurde in den vergangenen Jahrzehnten meist deutlich vom motorisierten Individualverkehr dominiert, es sind allerdings zumindest lokale Verschiebungen zugunsten des ÖPNV und des Radverkehrs erkennbar. So nutzte 2019 bereits etwa jede/r vierte Stuttgarter/-in zumindest auf Teilstrecken das Fahrrad oder Pedelec auf dem Weg zur Arbeit, 2005 waren es noch unter 10 % (Gieck 2019). So viele Fahrradfahrende wie im Mai 2020 wurden auf der König-Karls-Brücke in Stuttgart seit Beginn der Zählung noch nie ermittelt1. Die aktuelle CoronaPandemie hat die Vorteile der Fortbewegung an der frischen Luft sicherlich weiter betont. Neben Leih-PKW sind seit 2011 auch Leihfahrräder in Stuttgart verfügbar. Die Zahl der zur Verfügung stehenden Räder und der Abgabestationen hat sich seitdem deutlich erhöht. Waren es vor neun Jahren zum Start des Angebots noch ca. 400 Räder an 65 Stationen, standen Ende 2019 bereits über 1.000 Räder an 75 Stationen in Stuttgart zur Verfügung. Die Entleihe ist während der ersten halbe Stunde für Besitzer einer polygoCard2 kostenlos, alle anderen bezahlen im Basis-Tarif 1 € je halbe Stunde. Etwa jedes fünfte Rad hat aktuell eine Motorunterstützung, ist also ein Pedelec. Deren Entleihe kostet pro Minute 10 Cent (polygoCard-Tarif ) bzw. 12 Cent im BasisTarif (Stand: Juni 2020). 2020 wird die Anzahl der Stationen voraussichtlich weiter auf insgesamt 110 erhöht. Auch in umliegenden Gemeinden bietet RegioRadStuttgart immer mehr Stationen und Leihräder an. Der vorliegende Werkstattbericht soll das Nutzungsverhalten von Kunden des Stuttgarter Leihradsystems RegioRadStuttgart näher beleuchten und dabei Analysemöglichkeiten aufzeigen, die sich aus der Aufbereitung und Kombination frei verfügbarer Daten ergeben. RegioRadStuttgart wird wie auch die Marke Call a Bike von der DB Connect GmbH betrieben.


Schwerpunkt Mobilität und Verkehr

Datenquelle und Methodik Flinkster API Als Datenquelle für die Ermittlung der vorhandenen Fahrräder an den Verleihstationen wird die Schnittstelle Flinkster API3 der DB Connect GmbH genutzt. Diese kann nach einmaliger Registrierung kostenfrei über das Open Data Portal der Deutschen Bahn abgefragt werden. Via Request-URLs können die Abfragen räumlich und inhaltlich individualisiert werden. Antworten werden lesbar als JSON geliefert. Eine detaillierte Schnittstellenspezifikation steht zum Download bereit4. Die Erreichbarkeit der API war über den Abfragezeitraum von sechs Monaten mit wenigen Ausnahmen zuverlässig gewährleistet. Es wurden für dieses Projekt alle fünf Minuten5 sämtliche Stuttgarter Stationsdaten abgefragt. Über ein eigenes Python-Skript werden die einheitlich formatierten JSON-Antworten der Schnittstelle automatisiert nach den vordefinierten Informationen durchsucht und diese in CSV-Dateien abgelegt. Für die vorliegende Analyse sind folgende Informationen relevant: Der Datums- und Zeitstempel, die Stations-ID sowie die IDs der zur Verfügung stehenden Fahrräder („F“) oder Pedelecs („P“). Abbildung 1 zeigt einen Ausschnitt aus einer entsprechenden CSV-Datei. Zu lesen ist der Ausschnitt wie folgt: Am 02.02.2020 um 10:01:13 Uhr standen an der Station mit der ID 70001 drei Fahrräder und ein Pedelec (Zeile 4) zur Ausleihe bereit.

Abbildung 1: Datenstruktur der extrahierten Stationsdaten

Datenaufbereitung und Bereinigung Aus den strukturiert abgelegten Rohdaten der einzelnen Stationen werden in einem weiteren Python-Skript die Bewegungen der einzelnen Räder nachvollzogen, d.h. die Dateien werden nach identischen Rad-IDs gescannt und bei Treffern sowohl deren zeitlich frühestes Auftauchen als auch das zeitlich nächste registrierte Auftauchen in den Daten ermittelt. Abbildung 2 zeigt einen Ausschnitt aus einem solchen Datensatz. So wurde beispielweise das Fahrrad mit der ID 20901 am 08.10.2019 zwischen 17:29:27 Uhr und 17:47:43 Uhr entliehen (Zeile 2). Abgeholt wurde es an Station 70305 und zurückgegeben an Station 70004.

Die so aggregierten Rohdaten bedürfen noch einer Filterung um die nicht durch Muskelkraft zurückgelegten Wegstrecken. Gemeint sind Abholungen und Ablieferungen durch Transportfahrzeuge des Betreibers. Diese sind für die Wartung der Räder und teilweise auch für deren gleichmäßige Verteilung auf alle Stationen notwendig. Um aus den Daten auf diese Fahrten rückschließen zu können, wurden Annahmen zur deren Identifikation getroffen. Nicht weiterverarbeitet werden zeitgleiche Fahrten von vier Rädern mit identischen Abhol- und Rückgabestationen sowie von sechs Rädern mit identischen Abhol- oder Rückgabestationen. Außerdem werden alle Entleihen, die länger als 12 Stunden dauern, ignoriert. Etwa 15 % aller Fahrten im Untersuchungszeitraum werden durch die genannten Annahmen aussortiert. Teilweise konnten die so identifizierten Fahrten durch Beobachtungen vor Ort als tatsächliche Transportertätigkeiten identifiziert werden. Diese Annahmen müssen dennoch durch weitere Beobachtungen weiter validiert und die Parameter gegebenenfalls entsprechend angepasst werden.

Ergebnisse Die hier vorgestellten ersten Ergebnisse der Nutzungsanalyse beziehen sich alle auf den sechsmonatigen Untersuchungszeitraum Oktober 2019 bis März 2020. Berücksichtigt wurden nur abgeschlossene Fahrten, die sowohl an einer Station in Stuttgart beginnen als auch enden. 84,2 % der Fahrten wurden mit Fahrrädern zurückgelegt, 15,8 % mit Pedelecs. Dies entspricht nicht ganz dem Anteil der zur Verfügung stehenden Pedelecs von etwa 20 % aller Räder. Zeitliche Verteilung der Nutzung Insgesamt wurden nach der Bereinigung knapp 42.000 Fahrten gezählt, dies entspricht im Durchschnitt etwa 1.600 Fahrten pro Woche bzw. rund 230 Fahrten pro Tag. 78,2 % aller Fahrten fanden unter der Woche statt, der Rest am Wochenende. Die Fahrten verteilen sich anteilig über die einzelnen Wochentage wie in Abbildung 3 dargestellt. Der Tag mit der stärksten Nutzung ist der Donnerstag (17,0 % aller Fahrten), am seltensten wird das Angebot sonntags in Anspruch genommen (9,3 % aller Fahrten). An einem durchschnittlichen Werktag werden 248 Fahrten durchgeführt, an einem durchschnittlichen Tag des Wochenendes, also samstags oder sonntags, sind es mit 173 Fahrten deutlich weniger. Die Schnittstellendaten lassen es auch zu grob die Entleihdauern zu ermitteln (letzte Spalte in Abbildung 2). Aus Abbildung 4 ist ersichtlich, dass gut dreiviertel aller Fahrten maximal 20 Minuten dauern. 40 % der Fahrten enden sogar bereits nach weniger als 10 Minuten. Mehr als eine Stunde

Abbildung 2: Datenstruktur der aufbereiteten Bewegungsdaten

STADTFORSCHUNG UND STATISTIK 2|2020

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5,0 0,0

Schwerpunkt Mobilität und Verkehr

Abbildung 3: Verteilung der Fahrten über die Wochentage

über 50 Höhenmeter

über 10 Höhenmeter

zwischen 10 und -10 Höhenmeter

Wegstrecken Pedelec

0,7

4,7

4,6

4,9

Wegstrecken Fahrrad

2,7

17,6

34,9

24,9

Anteil Pedelec

27,7

26,6

13,1

19,8

Abbildung 4: Entleihdauern über 60 min 9%

18

30 - 60 min 6%

16 Anteil Fahrten [%]

14 12

20 - 30 min 9%

unter 10 min 40%

10 8 6 4 2 0

10 - 20 min 36%

45,0 Abbildung 5: Nutzungshäufigkeit der Stationen und Topographie Stuttgarts 40,0 35,0 30,0 25,0 20,0 15,0 10,0 5,0 0,0 über 50 Höhenmeter

über 10 Höhenmeter

zwischen 10 und -10 Höhenmeter

Wegstrecken Pedelec

0,7

4,7

4,6

4,9

Wegstrecken Fahrrad

2,7

17,6

34,9

24,9

4,1

Anteil Pedelec

27,7

26,6

13,1

19,8

21,3

über 60 min 9% 30 - 60 min 6%

20 - 30 min 9%

unter 10 min 40%

38

unter -10 Höhenmeter unter -50 Höhenmeter

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10 - 20 min 36%

0,9

unter -10 Hö


Schwerpunkt Mobilität und Verkehr

am Stück werden die Räder nur bei 9 % aller Fahrten genutzt. Hierbei ist zu berücksichtigen, dass sich durch die beschriebene Kappung bei Fahrdauern von über 12 Stunden die ermittelten Anteile leicht verschieben können. Auch das technisch bedingt leicht schwankende API-Abfrageintervall von +/- 5 Minuten kann für leichte Verschiebungen innerhalb der definierten Zeitklassen sorgen. Insgesamt sind die Auswirkungen aber als gering einzuschätzen.

Anteil Fahrten [%]

Räumliche Verteilung der Nutzung Die über 200 km² Fläche der Landeshauptstadt Stuttgart erstrecken sich über eine Höhendifferenz von fast 350 m, weshalb auch räumliche Nutzungsmuster der mit dem Leihrad getätigten Fahrten berücksichtigt werden müssen. Abbildung 5 illustriert die Verteilung und Nutzungsintensität der Ende 2019 vorhandenen 75 RegioRadStuttgartStationen auf das Stadtgebiet. Im Hintergrund liegt ein geschummertes Oberflächenmodell Stuttgarts. Wenig überraschend ist die häufige Nutzung der im Talkessel liegenden Stationen in den Stadtbezirken Mitte, West und Süd. Diese liegen größtenteils zentral nahe des Hauptbahnhofs oder der Haupteinkaufsstraße (Königsstraße), außerdem sind zwischen 18 diesen meist nur geringe Höhenunterschiede zu überbrücken. 16 Dies gilt auch für die Stationen im Neckartal, insbesondere 14 in Bad Cannstatt. Die Stationen in der Ebene zeichnen sich 12 durch einen vergleichsweise geringen Anteil an geliehenen 10 Pedelecs aus. 8

Die 6Stationen mit der höchsten Summe an Abholungen und Rückgaben sind 4 - Marienplatz/Zahnradbahn mit 5.599 Vorgängen (Stadtbe2 zirk: Süd, Höhe: 265 m ü. NN), 0

-

Königstraße/Arnulf-Klett-Platz mit 4.995 Vorgängen (Mitte, 243 m ü. NN) und Lautenschlagerstraße/Zeppelin Carré mit 4.225 Vorgängen (Mitte, 244 m ü. NN).

Am seltensten wurden die Stationen - Freibad Möhringen/Hechinger Str. mit 5 Vorgängen (Möhringen, 412 m ü. NN), - Neugereut/Marktplatz mit 30 Vorgängen (Mühlhausen, 286 m ü. NN) und - Europaplatz/Fasanenhof mit 37 Vorgängen (Möhringen, 416 m ü. NN) genutzt. In Abbildung 6 ist der Anteil der Fahrten nach Höhendifferenz von Abhol- zu Rückgabestation sowie der jeweilige Anteil von Pedelecs illustriert. Fahrten (motorisiert und nicht motorisiert) in der Ebene machen insgesamt einen Anteil von knapp 40 % aus. Bezieht man Höhendifferenzen von + bzw. - 10 Höhenmeter mit ein, steigt der Anteil sogar auf über 75 %. Die PedelecNutzung ist bei einigen Stationen der äußeren Stadtbezirke, außerhalb des Talkessels teilweise deutlich höher als im Talkessel. So weisen einige höher gelegene Stationen in den südlich gelegenen Stadtbezirken Vaihingen (Stationshöhe: 438 bzw. 442 m ü. NN), Möhringen (416 m ü. NN) und Plieningen (362 m ü. NN) hohe bis sehr hohe Pedelec-Nutzungsanteile auf. Bei Bergauffahrten liegt der Anteil von Pedelecs insgesamt bei über 50 %. In der Ebene werden hingegen nur rund 13 % der Fahrten mit Motorunterstützung bestritten, Bergab immerhin auch gut 40 %. Letzteres könnte darauf zurückzuführen sein, dass an höher gelegenen Stationen gelegentlich ausschließlich Pedelecs zur Verfügung stehen, da diese dort auch

Abbildung 6: Fahrten nach Höhendifferenz von Abhol- zu Rückgabestation und jeweiliger Anteil von Pedelecs. 45,0 40,0 35,0 30,0 25,0 20,0 15,0 10,0 5,0 0,0 über 50 Höhenmeter

über 10 Höhenmeter

zwischen 10 und -10 Höhenmeter

unter -10 Höhenmeter unter -50 Höhenmeter

Wegstrecken Pedelec

0,7

4,7

4,6

4,9

Wegstrecken Fahrrad

2,7

17,6

34,9

24,9

4,1

Anteil Pedelec

27,7

26,6

13,1

19,8

21,3

über 60 min 9%

0,9

STADTFORSCHUNG UND STATISTIK 2|2020 30 - 60 min 6%

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Schwerpunkt Mobilität und Verkehr

verstärkt abgeliefert werden (Bergfahrten). Dieser Aspekt ist künftig näher zu beleuchten. Insgesamt ist diese Betrachtung natürlich vereinfachend, da nicht allein die Höhendifferenz von Abhol- zu Rückgabestation das Höhenprofil der Gesamtfahrt prägt. Dennoch spielt ein hoch gelegenes Fahrziel bei der Überlegung, ob für die geplante Strecke ein Rad geliehen werden soll, sicherlich eine Rolle. Geht man davon aus, dass Leihradnutzer den direkten Weg zwischen Abhol- und Rückgebestation wählen, können auch die zurückgelegten Wege innerhalb Stuttgarts visualisiert werden (Abbildung 7). Auch wenn dem eine vereinfachende Annahme zugrunde liegt, schafft diese Darstellung zusammen mit Abbildung 5 einen guten Überblick über Nutzungsschwerpunkte im Stadtgebiet.

Abbildung 7 zeigt die Wegebeziehungen zwischen den Stationen. Dabei sind im Untersuchungszeitraum häufig genutzte Routen rot und selten genutzte blau dargestellt. Diese Strecken werden mit Hilfe des OpenRouteService des Heidelberg Institute for Geoinformation Technology (HeiGIT) ermittelt, indem zwischen allen vorhandenen Stationen ein Fahrrad-Routing (ORS-Profil: cycling-regular) durchgeführt wird. Im nächsten Schritt werden diese Strecken um die Information ergänzt, wie häufig zwischen den Stationen Fahrten ermittelt wurden. Die Verschneidung und Aufsummierung der so attribuierten Linien-Shapes mit einen Hexagon-Grid (Höhe und Breite je 100 m) ist die Grundlage der Kartendarstellung. Es wird also für jedes Hexagon dargestellt, wie häufig dieses im Untersuchungszeitraum von einem RegioRad passiert wurde.

Abbildung 7: Räumliche Verteilung der zurückgelegten Wege zwischen den Stationen (vereinfacht)

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STADTFORSCHUNG UND STATISTIK 2|2020


Schwerpunkt Mobilität und Verkehr

Deutlich wird das verhältnismäßig hohe Leihrad-Aufkommen in der Innenstadt vor allem im Bereich zwischen dem Hauptbahnhof und dem Marienplatz. Aber auch in Richtung Bahnhof Bad Cannstatt und dem Mercedes Benz Werk in Untertürkheim ist eine starke Nutzung zu erkennen. Deutlich weniger häufig, aber dennoch nennenswert sind neben Fahrten zwischen den inneren und den äußeren Stadtbezirken auch solche von der Innenstadt über die Ränder des Talkessels hinweg (und umgekehrt). Zusammenschau der Ergebnisse Betrachtet man sowohl die ermittelten zeitlichen als auch die räumlichen Nutzungsmuster liegt die vorsichtige Vermutung nahe, dass das Stuttgarter Leihradangebot im Untersuchungszeitraum stark von Berufspendlern in Anspruch genommen wurde, also z. B. vom ÖPNV-Halt zur Arbeitsstätte und zurück. Dies wird deutlich am Beispiel der Nutzung zwischen den Stationen am Hauptbahnhof, dem Bahnhof Bad Cannstatt und dem Mercedes Benz Werk (Abbildung 7). Um hier bessere Aussagen treffen zu können sollte künftig die zeitliche Verteilung der Fahrten über den Tag (Hauptverkehrszeit/Nebenverkehrszeit) noch mitberücksichtigt werden, was mit der von der API bereitgestellten Daten ebenfalls möglich ist. Außerdem sollten die Standorte weiterer wichtiger Arbeitgeber mitberücksichtigt werden. Die größtenteils kurzen Entleihdauern (Abbildung 4) stehen der Pendlerhypothese nicht entgegen. Im Gegenteil: Da die Stationen nahe des Hauptbahnhofs zu den am häufigsten genutzten gehören liegt nahe, dass das Leihrad häufig für die letzten Meter bis zur Arbeitsstelle genutzt wird. Ohne Befragungen der Nutzer bleiben dies aber (datengestützte) Vermutungen. Was im vorliegenden Werkstattbericht bereits zweifelsfrei gezeigt werden konnte ist eine stärkere Nutzung unter der Woche sowie mehr Entleih- bzw. Rückgabevorgänge an Stationen die zentrumsnäher und auf niedrigerem Gelände gelegen sind.

Fazit und Ausblick Open Data bieten, wie gezeigt, auch im Mobilitätsbereich ein riesiges Potenzial. Dieses wurde am vorliegenden Beispiel anhand von Daten der Flinkster API in Bezug auf die Nutzung von Leihrädern in Stuttgart in Auszügen dargestellt. Eine Herausforderung stellt weiterhin die Validierung solcher Daten dar. Für Stuttgart können die Analyseergebnisse künftig gegebenenfalls mit statistischen Daten des Betreibers abgeglichen werden. Auch ohne eine solche Kontrollmöglichkeit, ist die grundlegende Aussagekraft solcher räumlichen Analysen für Auftraggeber von Sharing-Angeboten (z. B. Kommunen) interessant, um das bestehende Angebot zu evaluieren und gegebenenfalls auszubauen. In diesem Kontext wird in Stuttgart derzeit eine Umfrage unter Fahrradfahrenden durchgeführt. Die Ergebnisse werden im Rahmen der Kampagne Stuttgart steigt um unter anderem ebenfalls dazu genutzt, das Angebot besser auf die Nutzer zuzuschneiden. Perspektivisch können zudem weitere Daten der Stadtverwaltung (z. B. Verkehrszählungen) mit den RegioRad-Nutzungsdaten abgeglichen werden. Zur detaillierteren Identifikation von begünstigenden und hemmenden Faktoren für die Leihradnutzung ist es zudem denkbar externe Daten wie beispielsweise Wetterdaten (Niederschläge, Lufttemperatur) oder auch Veränderungen in der Tarifstruktur des Angebots mit einzubeziehen. Auch die Berücksichtigung der bestehenden Radinfrastruktur (Radweg vorhanden? Sicherheitsgefühl?) kann zur besseren Erklärung des Nutzungsverhaltens beitragen. Hierzu kann die Städtestatistik unter anderem durch die Durchführung von Befragungen einen wichtigen Beitrag leisten.

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5

https://www.stuttgart.de/fahrradzaehlstellen Mit der kostenlosen polygoCard können kontaktlos verschiedene Mobilitäts- und Infrastrukturangebote in und um Stuttgart genutzt werden. https://api.deutschebahn.com/flinkster-api-ng/v1 https://developer.deutschebahn.com/store/site/themes/responsive/templates/api/documentation/download.jag?tenant=carbon. super&resourceUrl=/registry/resource/_system/governance/apimgt/ applicationdata/provider/DBOpenData/Flinkster_API_NG/v1/documentation/files/Schnittstellenspezifikation_FlinksterApiNG.pdf Die Abfragen können technisch bedingt auch wenige Sekunden länger oder kürzer laufen.

Literatur Gieck, Jochen (2019): Öffentliche Verkehrsmittel weiter auf der Überholspur – Ergebnisse der Bürgerumfrage 2019. In: Landeshauptstadt Stuttgart (Hrsg.): Statistik und Informationsmanagement. Heft 11/2019. S. 336 f.

Schöb, Anke (2020): Die Ergebnisse der Stuttgarter Bürgerumfrage 2019 im Überblick. In: Landeshauptstadt Stuttgart (Hrsg.): Statistik und Informationsmanagement. Heft 01/2020. S. 8 ff.

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Schwerpunkt Mobilität und Verkehr

Franziska Fritz

Weiterentwicklung und mögliche Anwendungsbereiche von Erreichbarkeitsanalysen am Beispiel der Landeshauptstadt Düsseldorf Die Analyse der Erreichbarkeit bestimmter Orte bzw. Einrichtungen beschreibt eine wichtige Grundlage für die Kommunalplanung. Im vorliegenden Beitrag werden die Vorteile und neuen Möglichkeiten aufgezeigt, die sich in diesem Zusammenhang durch die Nutzung freier Software und offen zugänglicher Daten ergeben. Die Anwendung von OpenStreetMap-Daten sowie der Erweiterung „ORS-Tools“ im Geoinformationssystem QGIS ermöglicht eine sehr realistische Abbildung der fußläufigen Erreichbarkeit bestimmter Punkte. Im Vergleich zum bisher etablierten Ansatz der Bestimmung von Erreichbarkeiten auf Basis von Luftliniendistanzen kann so die tatsächliche Fußwegentfernung berechnet werden. Dies wird anhand der Erreichbarkeit von ÖPNV-Haltestellen für die Stadt Düsseldorf gezeigt.

Franziska Fritz M. Sc. – Wissenschaftliche Mitarbeiterin bei der Landeshauptstadt Düsseldorf – Amt für Statistik und Wahlen, Abteilung Statistik und Stadtforschung : franziska.fritz@duesseldorf.de Schlüsselwörter: Erreichbarkeitsanalyse – Isodistanzen – Open Source – QGIS – OpenStreetMap – Düsseldorf

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STADTFORSCHUNG UND STATISTIK 2|2020

Einführung Erreichbarkeitsanalysen liefern wichtige Erkenntnisse für die Stadt- und Verkehrsentwicklung, beispielsweise in der Standort- oder Infrastrukturplanung. Vor allem in der Nahverkehrsplanung bildet die Erreichbarkeit von Haltestellen des öffentlichen Personennahverkehres (ÖPNV) eine wesentliche Komponente zur Beurteilung der Erschließungsqualität des ÖPNV (vgl. z. B. Landeshauptstadt Düsseldorf – Amt für Verkehrsmanagement 2017). Die Zugänglichkeit bzw. Erreichbarkeit von Haltestellen ist ein wesentlicher Faktor nachhaltiger Stadtentwicklung. Insbesondere in einer wachsenden Großstadt wie Düsseldorf mit einer hohen Bevölkerungs- und Arbeitsplatzzahl und einem hohen Aufkommen an Pendler*innen ist die Erschließungsqualität des ÖPNV von großer Bedeutung, da das Verkehrsaufkommen stetig zunimmt. Die daraus resultierende Verkehrsbelastung stellt ein großes Problem in der Landeshauptstadt dar. Die Ergebnisse der Bürger*innenbefragungen der letzten Jahre verdeutlichen dies. So werden die Verkehrssituation und der hohe Anteil des motorisierten Individualverkehres („zu viel Straßenverkehr“) als eines der größten Probleme in Düsseldorf erachtet (Landeshauptstadt Düsseldorf – Amt für Statistik und Wahlen 2017). Der Pkw ist das am häufigsten genutzte Verkehrsmittel der Düsseldorfer*innen zur Bewältigung des Arbeitsweges und persönlicher Erledigungen (ebd.). Die sich durch das wachsende Verkehrsaufkommen ergebenden Folgen einer hohen Lärmbelastung und steigenden Luftverschmutzung lassen sich durch eine Reduzierung des motorisierten Individualverkehres mindern. Hierzu ist eine gute Erschließungs- und Bedienungsqualität des ÖPNVAngebotes unerlässlich. Erschließung beschreibt dabei „die räumliche Verfügbarkeit des ÖPNV über eine Zugangsstelle (z. B. eine Haltestelle im Busverkehr oder einen Bahnhof im Schienenverkehr). Maßgeblich für die Qualität ist die fußläufige Entfernung zur Haltestelle. Mit zunehmender Entfernung zur nächsten Haltestelle wird die Nutzung des dort verkehrenden ÖPNV-Angebotes immer unattraktiver. Neben dem rein körperlichen Aufwand für den Weg zur/von der Haltestelle spielt der Zeitaufwand eine wichtige Rolle. Mit wachsender Fußweglänge steigt die Gesamtreisedauer für eine Fahrt mit dem ÖPNV überproportional an und wird damit nicht mehr konkurrenzfähig.“ (Barwisch et al. 2017). Nur durch attraktive, insbesondere schnelle Alternativen zur Pkw-Nutzung lassen sich demnach mehr Personen zum Umstieg auf den ÖPNV


Schwerpunkt Mobilität und Verkehr

bewegen. Ein entscheidender Faktor ist dabei die fußläufige Distanz zur nächstgelegenen Haltestelle, da der körperliche und zeitliche Aufwand bei zunehmender fußläufiger Entfernung steigen. Vor diesem Hintergrund ist eine differenzierte und möglichst genaue Analyse der Haltestellenerreichbarkeit zentral, um den Versorgungsgrad der Bevölkerung mit dem Angebot des ÖPNV beurteilen und geeignete Maßnahmen zur Attraktivitätssteigerung ableiten zu können. Bisher sind in der kommunalen Nahverkehrsplanung Luftliniendistanzen der etablierte Ansatz zur Bestimmung der Erreichbarkeit von Haltestellen (vgl. z. B. Barwisch et al. 2017; Eidam et al. 2017; Landeshauptstadt Düsseldorf – Amt für Verkehrsmanagement 2017). Die Einzugsbereiche von Haltestellen beschreiben danach kreisförmige Flächen, deren Radius als „zumutbare Fußwegentfernung“ (Landeshauptstadt Düsseldorf – Amt für Verkehrsmanagement 2017) verstanden wird. Diese Interpretation birgt jedoch das Problem, dass der kürzeste entlang des realen Straßen- und Wegenetzes zurückzulegende Fußweg zumeist (erheblich) länger ist als der durch die Luftliniendistanz beschriebene. Zwar wird in einigen dieser auf Luftliniendistanzen basierenden Analysen auch ein Umwegefaktor einbezogen, jedoch lässt auch dessen Hinzunahme keine direkten, sondern nur verallgemeinernde Aussagen über die zur nächsten Haltestelle zurückzulegende Distanz zu. Das vorliegende Papier leistet einen Beitrag zur Behebung dieser Ungenauigkeiten und Weiterentwicklung von (kommunalen) Erreichbarkeitsanalysen am Beispiel der Erreichbarkeit von ÖPNV-Haltestellen für das Düsseldorfer Stadtgebiet. Durch Nutzung der Erweiterung „ORS Tools“ im frei verfügbaren Geografischen Informationssystem QGIS kann nun der tatsächlich zurückzulegende Fußweg zu den ÖPNV-Haltestellen berechnet werden. Ähnlich zum Ansatz von Schütt (2018), der die Dauer des zurückzulegenden Fußweges zur nächsten Haltestelle für die Stadt Stuttgart analysiert, wird im vorliegenden Beitrag die Strecke des realen Fußweges berechnet. Im Fokus der Analyse steht dabei der Vergleich zwischen der mittels Luftliniendistanzen sowie der anhand von Fußwegedistanzen bestimmten Erreichbarkeitswerte für die Stadt Düsseldorf. Dazu werden vorrangig frei verfügbare, sogenannte Open Source-Daten aus OpenStreetMap herangezogen. Die Nutzung und Anwendung dieser offenen Daten und freien Software nimmt in jüngster Zeit in der Kommunalplanung immer mehr zu – einen Einblick in die Vorteile dieses Zuganges soll das vorliegende Papier geben1. In Abschnitt 2 dieses Beitrages werden die genutzten Datengrundlagen näher erläutert. Anschließend werden in Abschnitt 3 die in der vorliegenden Analyse angewandten methodischen Ansätze dargelegt. So wird u. a. beschrieben, wie die Einzugsbereiche von ÖPNV-Haltestellen anhand des realen Fußweges sowie auf Basis der Luftlinienentfernung errechnet werden. In Abschnitt 4 werden dann die Ergebnisse am Beispiel der Landeshauptstadt Düsseldorf präsentiert. Die ermittelten Versorgungsgrade der Düsseldorfer Bevölkerung werden für die beiden methodischen Ansätze verglichen. Dabei werden Unterschiede herausgestellt und die Vorteile der ermittelten fußläufigen Erreichbarkeit aufgezeigt. Zudem wird kurz eine Anwendungsmöglichkeit der Erreichbarkeitswerte in Kombination mit Pkw-Halterdaten präsentiert. In diesem

Zuge werden mögliche Zusammenhänge des ÖPNV-Versorgungsgrades mit der Pkw-Dichte identifiziert. Der Beitrag endet mit einem kurzen Fazit sowie einem Ausblick auf weitere zukünftige Anwendungsbereiche der hier vorgestellten Daten und Methodik.

Daten Die Analyse nutzt geocodierte Daten aus OpenStreetMap (OpenStreetMap-Mitwirkende 2020). OpenStreetMap ist ein internationales Projekt, das durch eine aktive Gemeinschaft regelmäßig aktualisiert und erweitert wird und Geodaten frei zur Verfügung stellt. Gegenüber anderen, beispielsweise kommerziellen Datenquellen bietet die OpenStreetMapDatenbank den Vorteil, dass sie aktuelle und sehr detaillierte Geoinformationen frei zugänglich macht. Insbesondere für urbane Gebiete und Großstädte im europäischen Raum ist eine hohe Daten- und Informationsdichte gegeben (Neis et al. 2013; Plennert 2016). Im vorliegenden Beitrag werden geocodierte Daten zu den ÖPNV-Haltestellen mittels der jeweiligen „tags2“ aus der OpenStreetMap-Datenbank extrahiert. Der Vorteil dieser Datenpunkte ist, dass sie die exakten Standorte der Eingänge und Zustiegspunkte der Haltestellen wiedergeben und somit eine differenzierte Erfassung der Haltepunkte ermöglichen. Andere regionale oder kommunale Datenquellen hingegen bieten zumeist nur eine Ortsangabe je Haltestelle, die eher als Näherungswert des Haltestellenstandortes betrachtet werden kann. Mittels der detaillierten Geoinformationen aus OpenStreetMap ist es dagegen möglich, eine sehr genaue Analyse der Erreichbarkeit von und Fußwegedistanz zu Haltestellen vorzunehmen, da letztlich die jeweiligen Standorte aller Zugangs- und Zustiegspunkte der einzelnen Haltestellen einbezogen werden. Ein weiterer Vorteil der OpenStreetMapDatenbank ist, dass die daraus bezogenen Daten grenzübergreifend verfügbar sind. Somit können auch geocodierte Haltestellendaten für die das Düsseldorfer Stadtgebiet umgebenden Kommunen einbezogen werden. In der Folge kommt es zu keinen Verzerrungen in der Analyse der Erreichbarkeit und Zugänglichkeit des ÖPNV am Stadtrand bzw. der Stadtgrenze, wie es oftmals in Analysen der Nahverkehrsplanung aufgrund des Mangels an Daten der Fall ist.3 In einem weiteren Schritt wird mittels der „tags“ in OpenStreetMap die Art der Verkehrsmittel, die die jeweiligen Haltestellen bedienen, ermittelt. Basierend darauf werden Haltestellen identifiziert, die (auch) vom schienengebundenen ÖPNV angefahren werden, um in der vorgenommenen Analyse zwischen diesen und allen öffentlichen Verkehrsmitteln differenzieren zu können. In der Analyse werden nur Haltestellen betrachtet, die von regelmäßig verkehrenden öffentlichen Verkehrsmitteln bedient werden. Daher sind die Daten um Haltepunkte, die nur temporär bzw. zeitlich eingeschränkt (z. B. im Rahmen bestimmter Veranstaltungen) angefahren werden, bereinigt. Datengrundlage für die Ermittlung der Fußwegedistanzen bildet das Straßen- und Wegenetz, das ebenfalls aus der OpenStreetMap-Datenbank bezogen wird. Gegenüber kommerziellen oder anderen öffentlichen Datenquellen bieten die

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Schwerpunkt Mobilität und Verkehr

OpenStreetMap-Daten zumeist umfassendere Informationen zur Verkehrsinfrastruktur, insbesondere zu den vielfältigen Fußwegeverbindungen (vgl. auch Neis et al. 2012). Zur Analyse der Erreichbarkeit und des Versorgungsgrades werden weiterhin geocodierte Daten zu Wohnort und Alter der Einwohner*innen am Hauptwohnsitz aus dem Statistikabzug des Einwohnermelderegisters der Landeshauptstadt Düsseldorf herangezogenen. Stichtag dieses Abzuges ist der 31. Dezember 2019. Zudem werden Adressdaten zu den Pkw-Halter*innen aus dem Kfz-Zulassungsverfahren der Landeshauptstadt Düsseldorf genutzt. Dabei werden nur Angaben zu den privat angemeldeten Pkw von Halter*innen mit Wohnsitz in der Landeshauptstadt Düsseldorf zum Stichtag 31. Dezember 2019 betrachtet.

Methodik Die räumlichen Analysen im vorliegenden Beitrag werden mit dem frei verfügbaren Geoinformationssystem QGIS durchgeführt. Den Schwerpunkt der Analyse bildet der Vergleich zwischen der mittels der Luftliniendistanz und der anhand des tatsächlich zurückzulegenden Fußweges ermittelten Erreichbarkeit von ÖPNV-Haltestellen. Der tatsächlich zurückzulegende Fußweg zu den ÖPNVHaltestellen wird mit Hilfe der Erweiterung „ORS Tools“ in QGIS bestimmt. Diese Anwendung greift auf den frei verfügbaren Routen-Service „Openrouteservice“ des Heidelberg Institute for Geoinformation Technology (HeiGIT) zu. Mittels der Erweiterung werden Flächen bzw. Polygone um die einzelnen Haltestellenpunkte berechnet, innerhalb derer die jeweilige Haltestelle in einer bestimmten Fußwegedistanz erreicht werden kann. Die Grenzlinien dieser Bereiche, die sogenannten Isodistanzen, markieren „Linien gleicher Entfernung“. Die durch diese Isodistanzen beschriebenen Flächen geben an, wie weit der über das Straßen- und Wegenetz zurückzulegende Weg zur nächsten Haltestelle ist. Dabei ist anzumerken, dass alleinig Wege(-verbindungen) betrachtet werden, die in OpenStreetMap als für Fußgänger*innen geeignet bzw. begehbar eingestuft sind. Die Erreichbarkeit der ÖPNV-Haltestellen basierend auf Luftliniendistanzen wird durch sogenannte „Buffer“ ermittelt. Dies sind kreisförmige Pufferzonen um die jeweiligen Haltestellenpunkte, deren Radius die Luftliniendistanz zu den Haltestellen beschreibt. Die Isodistanzen und Buffer werden für jede ÖPNV-Haltestelle im Düsseldorfer Stadtgebiet sowie für alle Haltestellen innerhalb einer 1 Kilometer-Pufferzone um das Düsseldorfer Stadtgebiet bestimmt. Die Isodistanz- und Pufferzonen werden dabei für verschiedene Distanzen (150 Meter, 300 Meter, 600 Meter, 1.000 Meter) berechnet4. Folglich kann für jeden Punkt im Düsseldorfer Stadtgebiet angegeben werden, in welcher Fußwege- und Luftliniendistanzzone er sich zur nächstgelegenen ÖPNV-Haltestelle befindet. Die gleichen Berechnungen werden ein weiteres Mal für alle Haltestellen, die (auch) vom schienengebundenen ÖPNV bedient werden, durchgeführt; Haltepunkte, die alleinig von Bussen angefahren werden, werden hier folglich nicht betrach-

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tet. In der Analyse kann somit zwischen der Art der Haltestellen differenziert werden und der schienengebundene ÖPNV, der vorrangig Direktverbindungen in andere Stadtteile und Städte bietet, gesondert betrachtet werden. Zur Beurteilung des Versorgungsgrades der Düsseldorfer Bevölkerung mit dem Angebot des ÖPNV werden in einem nächsten Schritt die mittels der Isodistanzen und Buffer gebildeten Haltestelleneinzugsbereiche für die verschiedenen Distanzen mit den geocodierten Adressdaten der Einwohner*innen verschnitten. Dadurch ist es möglich, den Anteil der Einwohner*innen zu berechnen, die innerhalb einer bestimmten Distanzzone um die nächstgelegene Haltestelle leben. Abschließend werden als weitere Anwendungsmöglichkeit potentielle Zusammenhänge zwischen der fußläufigen Erreichbarkeit der ÖPNV-Haltestellen und dem Pkw-Eigentum in den Düsseldorfer Stadtteilen betrachtet. Hierzu werden Korrelationskoeffizienten für die jeweiligen Anteile an Einwohner*innen im Alter von 18 Jahren und älter mit einer bestimmten Fußwegedistanz zur nächstgelegenen Haltestelle sowie der Personenwagendichte in den Stadtteilen berechnet. Die Personenwagendichte gibt dabei die Anzahl der privaten Personenkraftwagen je 1.000 Einwohner*innen im Alter von 18 Jahren und älter an. Die Einwohner*innen im Alter von mindestens 18 Jahren fungieren als Proxy-Variable zur Messung der potentiellen Pkw-Halter*innen in einem Stadtteil5.

Ergebnisse Fußwege- versus Luftliniendistanz In den Karten 1 bis 4 wird für das gesamte Düsseldorfer Stadtgebiet die Erreichbarkeit von ÖPNV-Haltestellen abgebildet. Die Karten 1 und 2 zeigen dabei flächendeckend die fußläufige Erreichbarkeit aller ÖPNV-Haltestellen (Karte 1) sowie der ÖPNV-Haltestellen, ohne jene, die alleinig von Bussen angefahren werden (Karte 2). Die Karten 3 und 4 stellen jeweils die Luftliniendistanz zu den Haltestellen für das gesamte Stadtgebiet differenziert nach den Haltepunkten aller regelmäßig verkehrenden öffentlichen Verkehrsmittel sowie des schienengebundenen ÖPNV dar. Der Vergleich der kartografischen Darstellungen zeigt die deutlich detailliertere Erfassung und Abbildung der Erreichbarkeit mittels der tatsächlich zurückzulegenden Fußwegedistanz auf. So werden mangelnde Wegeverbindungen und Barrierewirkungen, beispielsweise durch die Fläche des Düsseldorfer Flughafens im Stadtteil Lohausen (052), bei den Isodistanzzonen zur fußläufigen Erreichbarkeit deutlich; die Pufferzonen der Luftliniendistanz vernachlässigen dies. In den Tabellen 1 und 2 sind ergänzend die Anteile der Einwohner*innen in den jeweiligen Isodistanz- und Pufferzonen für die 50 Stadtteile Düsseldorfs aufgeführt. Daraus wird ersichtlich, welcher Anteil an Einwohner*innen in den Stadtteilen eine ÖPNV-Haltestelle in welcher (Fußwege- oder Luftlinien-)Distanz erreichen kann. Die Ergebnisse in den Tabellen verdeutlichen nochmals die Missachtung räumlicher Zäsuren, wie nicht überquerbarer Bahngleise, Autobahnen oder Wasserflächen, in der Ermittlung der Erreichbarkeit basierend auf Luftliniendistanzen. So weichen die Anteile bzw.


Schwerpunkt Mobilität und Verkehr

Karte 1: Fußläufige Erreichbarkeit von ÖPNV-Haltestellen (inklusive Bushaltestellen) in den Düsseldorfer Stadtteilen 2019 in Metern

Quelle: Landeshauptstadt Düsseldorf - Amt für Statistik und Wahlen; Daten- und Kartengrundlagen: Landeshauptstadt Düsseldorf – Amt für Statistik und Wahlen; Stadtplanungsamt; OpenStreetMap-Mitwirkende 2020; openrouteservice.org

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Schwerpunkt Mobilität und Verkehr

Karte 2: Fußläufige Erreichbarkeit von ÖPNV-Haltestellen (exklusive Bushaltestellen) in den Düsseldorfer Stadtteilen 2019 in Metern

Quellen: Landeshauptstadt Düsseldorf - Amt für Statistik und Wahlen; Daten- und Kartengrundlagen: Landeshauptstadt Düsseldorf – Amt für Statistik und Wahlen; Stadtplanungsamt; OpenStreetMap-Mitwirkende 2020; openrouteservice.org

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STADTFORSCHUNG UND STATISTIK 2|2020


Schwerpunkt Mobilität und Verkehr

Karte 3: Luftliniendistanz zu ÖPNV-Haltestellen (inklusive Bushaltestellen) in den Düsseldorfer Stadtteilen 2019 in Metern

Quellen: Landeshauptstadt Düsseldorf - Amt für Statistik und Wahlen; Daten- und Kartengrundlagen: Landeshauptstadt Düsseldorf - Amt für Statistik und Wahlen; Stadtplanungsamt; OpenStreetMap-Mitwirkende 2020

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Schwerpunkt Mobilität und Verkehr

Karte 4: Luftliniendistanz zu ÖPNV-Haltestellen (exklusive Bushaltestellen) in den Düsseldorfer Stadtteilen 2019 in Metern

Quellen: Landeshauptstadt Düsseldorf - Amt für Statistik und Wahlen; Daten- und Kartengrundlagen: Landeshauptstadt Düsseldorf - Amt für Statistik und Wahlen; Stadtplanungsamt; OpenStreetMap-Mitwirkende 2020

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Schwerpunkt Mobilität und Verkehr

Tabelle 1: Erreichbarkeit von ÖPNV-Haltestellen (inklusive Bushaltestellen) für die Düsseldorfer Einwohner*innen 2019 nach Stadtteilen in Prozent

Quellen: Landeshauptstadt Düsseldorf – Amt für Statistik und Wahlen, Statistikabzug aus dem Einwohnermelderegister; OpenStreetMap-Mitwirkende 2020; openrouteservice.org

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Schwerpunkt Mobilität und Verkehr

Tabelle 2: Erreichbarkeit von ÖPNV-Haltestellen (exklusive Bushaltestellen) für die Düsseldorfer Einwohner*innen 2019 nach Stadtteilen in Prozent

Quellen: Landeshauptstadt Düsseldorf – Amt für Statistik und Wahlen, Statistikabzug aus dem Einwohnermelderegister; OpenStreetMap-Mitwirkende 2020; openrouteservice.org

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Schwerpunkt Mobilität und Verkehr

Versorgungsgrade in den Stadtteilen teils erheblich voneinander ab. Insbesondere in den dicht besiedelten Gebieten in der Innenstadt, wie der Altstadt (011), der Carlstadt (012), Pempelfort (014) oder der Friedrichstadt (031), zeigen sich große Unterschiede hinsichtlich des gemessenen Versorgungsgrades der Einwohner*innen mit dem ÖPNV-Angebot. Beispielsweise können 52,9 Prozent der Einwohner*innen der Friedrichstadt eine Haltestelle des schienengebundenen Nahverkehres innerhalb eines Fußweges von 150 Metern erreichen (vgl. Tabelle 2). Dagegen kann bei Messung der Erreichbarkeit mittels der Luftliniendistanz ein deutlich höherer Anteil von 71,4 Prozent die nächste Haltestelle innerhalb von 150 Metern erreichen. Fußläufige Erreichbarkeit von ÖPNV-Haltestellen Im Allgemeinen ist, orientiert an den Empfehlungen des VDV sowie der FGSV (vgl. Abschnitt 3), die fußläufige Erreichbarkeit von ÖPNV-Haltestellen für die Düsseldorfer Einwohner*innen als sehr gut zu beurteilen. So können gut 85 Prozent der Düsseldorfer*innen eine ÖPNV-Haltestelle innerhalb von 300 Metern Fußweg erreichen; bei Fokussierung auf die Haltestellen des schienengebundenen Nahverkehres ist es knapp die Hälfte (48,7 %) aller Einwohner*innen. Nahezu alle (99,6 %) Einwohner*innen Düsseldorfs leben in einer fußläufigen Entfernung von maximal 600 Metern zur nächsten ÖPNV-Haltestelle; eine Haltestelle des schienengebundenen ÖPNV können in dieser Distanz knapp drei Viertel (74,3 %) der Einwohner*innen erreichen. Auch in Stadtteilen mit einer eher geringen Bevölkerungsdichte, wie Angermund (055), Kalkum (056) oder Himmelgeist (092), können fast alle Einwohner*innen zumindest eine Bushaltestelle innerhalb von einem Kilometer erreichen. ÖPNV-Versorgungsgrad und Pkw-Eigentum In der Tabelle 3 sind die Korrelationskoeffizienten für die jeweiligen Anteile an Einwohner*innen im Alter von 18 Jahren und älter differenziert nach ihrer Fußwegedistanz zur nächstgelegenen Haltestelle sowie der Personenwagendichte in den

Stadtteilen dargestellt. Anhand dieser Werte können Erkenntnisse darüber gewonnen werden, ob ein Zusammenhang zwischen dem ÖPNV-Versorgungsgrad der Bevölkerung und dem Pkw-Eigentum besteht. Die Ergebnisse zeigen, dass insbesondere bei der Erreichbarkeit von Haltestellen des schienengebundenen ÖPNV, die vorrangig überörtliche Verbindungen in andere Stadtteile und Städte bieten, hohe Korrelationskoeffizienten bzw. Zusammenhänge mit der Personenwagendichte vorliegen. Die Werte verdeutlichen, dass bei einer „guten“ Versorgung mit bzw. Erreichbarkeit von Haltestellen (bis 300 m Fußweg) die Personenwagendichte in den Stadtteilen geringer ist, als wenn die nächste Haltestelle beispielsweise über einen Kilometer entfernt ist – hier werden (stark) positive Zusammenhänge deutlich. Folglich kann vermutet werden, dass eine gute ÖPNV-Erschließungsqualität zu einer niedrigeren Pkw-Eigentumsquote beiträgt. Es ist jedoch anzuführen, dass zur umfassenden Beurteilung des Zusammenhanges zwischen der Personenwagendichte und der Erreichbarkeit von ÖPNV-Haltestellen weitere Einflussfaktoren betrachtet und diese z. B. in einer multiplen Regressionsanalyse untersucht werden müssten. So wären u. a. die örtliche Stellplatzverfügbarkeit oder das (Car-)SharingAngebot als unabhängige Variablen in eine tiefergehende Analyse einzubeziehen. Zudem ist davon auszugehen, dass in den insbesondere auch von Familien mit einem eher höheren Einkommen bewohnten Stadtteilen am Stadtrand der Anteil der Pkw-Halter*innen allgemein höher ist, als in den vor allem auch von Student*innen bewohnten innerstädtischen bzw. innenstadtnahen Stadtteilen, da Student*innen oftmals über ein studentisches ÖPNV-Ticket verfügen und/oder nicht die nötigen finanziellen Mittel zur Finanzierung eines Pkw aufweisen. Es ist anzunehmen, dass diese und weitere beeinflussende Faktoren die ermittelten Werte der Korrelationskoeffizienten zwischen der Personenwagendichte und der ÖPNV-Versorgung relativieren.

Tabelle 3: Zusammenhang zwischen der Erreichbarkeit von ÖPNV-Haltestellen und der Personenwagendichte in den Düsseldorfer Stadtteilen 2019

Quellen: Landeshauptstadt Düsseldorf – Amt für Statistik und Wahlen, Statistikabzüge aus dem Einwohnermelderegister sowie dem Kfz-Zulassungsverfahren; OpenStreetMap-Mitwirkende 2020; openrouteservice.org

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Schwerpunkt Mobilität und Verkehr

Zusammenfassung und Ausblick Die im vorliegenden Beitrag angestellte Analyse zeigt die Vorteile und neuen Möglichkeiten auf, die sich durch die Nutzung freier Software und offen zugänglicher Daten für die Kommunalplanung ergeben. Die Anwendung des Openrouteservice und der OpenStreetMap-Daten ermöglicht eine differenzierte und sehr realistische Abbildung der Erreichbarkeit bestimmter Orte, wie im hier vorliegenden Beitrag anhand der Erreichbarkeit von ÖPNV-Haltestellen gezeigt. Tatsächliche räumliche Eigenheiten und lokale Besonderheiten, wie Barrieren durch Bahngleise oder Fließgewässer, können mittels der hier angewandten Methodik in die Entfernungsberechnung einbezogen werden. Die Ergebnisse zeigen die teils deutlichen Diskrepanzen zwischen den basierend auf Luftliniendistanzen sowie auf realen Fußwegen berechneten Versorgungsgraden der Düsseldorfer Bevölkerung auf. Gegenüber der Bestimmung der Erreichbarkeit auf Grundlage von Luftliniendistanzen, die extrem anfällig für Verzerrungen ist, bildet die entlang des Straßen- und Wegenetzes berechnete Fußwegedistanz die tatsächliche Situation deutlich genauer ab. Es ist jedoch anzuführen, dass in der vorliegenden Analyse bei den zu Vergleichszwecken ermittelten Einzugsbereichen der ÖPNV-Haltestellen basierend auf Luftliniendistanzen kein Umwegefaktor eingerechnet wurde. Um die Luftliniendistanzen den realen Fußwegedistanzen weiter anzunähern (wie es häufig in der Nahverkehrsplanung praktiziert wird), könnte die Verwendung dieses Faktors die sich aus den Tabellen 1 und 2 ergebenden Diskrepanzen zwischen den Berechnungsansätzen zur Erreichbarkeit noch (leicht) verringern. Zudem ist anzumerken, dass sich die Empfehlungen und Richtwerte des VDV und der FGSV zu den Haltestelleneinzugsbereichen auf Luftliniendistanzen beziehen. Da jedoch der kürzeste entlang des Straßen- und Wegenetzes zurückzulegende Fußweg i. d. R. deutlich länger ist als die Luftlinienentfernung, müssten gegebenenfalls die Distanzempfehlungen zu Haltestelleneinzugsbereichen den hier aufgezeigten neuen Möglichkeiten zur Berechnung realer Fußwegedistanzen angepasst werden. Die Kombination der frei zugänglichen und sehr detaillierten OpenStreetMap-Daten mit Kommunaldaten bietet vielfältige Anwendungs- und Auswertungsmöglichkeiten. Einige wurden im Rahmen der vorliegenden Analyse durch die Hinzunahme von Registerdaten zu den Einwohner*innen und Pkw-Halter*innen kurz aufgezeigt. In weiteren Analysen könnte die Einbindung von Fahrplandaten die Ergebnisse zur Erschließungsqualität um die der Bedienungsqualität bzw. -häufigkeit von Haltestellen erweitern. Überdies könnten in weiterführenden Untersuchungen die gewonnenen Erkenntnisse mittels der hier genutzten QGIS-Erweiterung weiter ausdifferenziert werden. So könnte beispielsweise, ähnlich dem Ansatz von Schütt (2018), anstatt der Fußwegedistanz, die Fußwegedauer zur nächsten Haltestelle berechnet werden, da letztlich vor allem die benötigte Zeit zur nächsten Haltestelle wesentliches Kriterium für die Attraktivität des ÖPNV darstellt (vgl. auch Abschnitt 1). Weiterhin bietet die „ORSTools“-Erweiterung die Möglichkeit, zwischen verschiedenen Verkehrsmitteln (Pkw, Fahrrad, eBike, zu Fuß, Rollstuhl, …) zu unterscheiden, sodass aus dem Straßen- und Wegenetz

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STADTFORSCHUNG UND STATISTIK 2|2020

nur die Straßen und Wege selektiert und in die Analyse einbezogen werden, die auch durch das jeweilige Verkehrsmittel befahren bzw. genutzt werden können. So würden bei Erreichbarkeitsanalysen für Rollstuhlfahrer*innen u. a. Wege mit Treppen aus der Analyse ausgeschlossen und nur barrierefreie Wege betrachtet. Auch könnten die Möglichkeiten zur Berechnung von tatsächlichen Fußwegen zu differenzierteren Erkenntnissen in anderen Bereichen der Kommunalplanung, z. B. der Schulbezirksplanung oder der Identifizierung neuer Nahversorgungsstandorte, beitragen.

1

2 3

4

5

Es ist anzuführen, dass in diesem Beitrag mögliche Anwendungsbereiche nur kurz vorgestellt werden. Mit dem Papier wird keine umfassende Analyse verfolgt. Stattdessen werden einige Anwendungsund Untersuchungsmöglichkeiten, die sich durch die Nutzung von offenen Daten und frei verfügbarer Software ergeben, präsentiert. Den Daten in OpenStreetMap sind Attribute zugewiesen, mittels derer sich die Eigenschaften der einzelnen Elemente bestimmen lassen. Zur Überprüfung der Qualität und Genauigkeit der Daten in OpenStreetMap wurden diese mit den kommunalen Geodaten zu den ÖPNV-Haltestellen im Düsseldorfer Stadtgebiet abgeglichen. Der Vergleich verdeutlicht die lückenlose Abbildung des kommunalen ÖPNV-Netzes durch die OpenStreetMap-Daten. Aufgrund der Verortung aller Zugangs- und Zustiegspunkte je Haltestelle sowie der Verfügbarkeit grenzübergreifender Daten bieten die OpenStreetMapDaten jedoch einen umfassenderen Informationsgrad zur Analyse der Erreichbarkeit im hier vorliegenden Beitrag. Die gewählten Distanzen orientieren sich u. a. an den Empfehlungen des Verbandes deutscher Verkehrsunternehmen (VDV 2019) und dem Regelwerk der Forschungsgesellschaft für Straßen- und Verkehrswesen e. V. (FGSV 2010), die Richtwerte für Haltestelleneinzugsbereiche beinhalten. Die Distanz von 150 Metern wird ergänzend hinzugezogen, um die unmittelbare Erreichbarkeit der Haltestellen zu bestimmen, da Düsseldorf als Großstadt bereits allgemein einen eher höheren Erschließungsstandard, vor allem im Innenstadtbereich, aufweist. Grundsätzlich sind die gewählten Distanzen eher exemplarisch zu betrachten, da sich der vorliegende Beitrag vorrangig auf den Vergleich der methodischen Ansätze fokussiert. Im konkreten Fall der Anwendung, beispielsweise in der Nahverkehrsplanung, sind die gewählten Distanzen gegebenenfalls anzupassen und weiter auszudifferenzieren. Zur Abgrenzung der potentiellen Pkw-Halter*innen wäre es denkbar, neben der unteren auch eine obere Altersbegrenzung anzuwenden, da sich Hochbetagte aufgrund von Unsicherheit etc. vermutlich häufiger bewusst gegen die Nutzung bzw. Haltung eines Pkw entscheiden als jüngere Personen. Da derzeit jedoch nur geringe Erkenntnisse zum Pkw-Nutzungsverhalten hochbetagter Personen vorliegen (vgl. auch Arend und Finze 2019), wird im vorliegenden Beitrag auf eine Bestimmung und Anwendung dieser oberen Altersbeschränkung verzichtet und bewusst nur die untere Altersgrenze von mindestens 18 Jahren (also das Alter ab dem die Erlangung der Fahrerlaubnis zum unbegleiteten Fahren möglich ist) angewandt.


Schwerpunkt Mobilität und Verkehr

Literatur Arend, Stefan; Finze, Imke (2019): Hochbetagte Autofahrerinnen und Autofahrer in Senioreneinrichtungen. Lebensqualität, Autonomie und belastende Herausforderungen. In: Zeitschrift für Verkehrssicherheit 65 (3): 194–198 Barwisch, Timo; Büsch, Frank; Witzel, Anja (2017): Nahverkehrsplan für die Stadt Mönchengladbach. Abrufbar unter: https://www. moenchengladbach.de/fileadmin/user_upload/FB61/61.40/Nahverkehrsplan_der_ Stadt_M%C3%B6nchengladbach.pdf. Zuletzt zugegriffen am 08.06.2020 Eidam, Herbert; Stein, Dirk M.; ThiemannLinden, Jörg; Willems, Kirsten (2017): Stadtentwicklung Köln – 3. Nahverkehrsplan. Abrufbar unter: https://www.stadt-koeln.de/ mediaasset/content/pdf66/dritter-nahverkehrsplan-12-2017.pdf. Zuletzt zugegriffen am 08.06.2020 FGSV (Forschungsgesellschaft für Straßen- und Verkehrswesen e. V.) (2010): Empfehlungen für Planung und Betrieb des öffentlichen Personennahverkehrs: Forschungsprojekt des

Forschungsprogramms Stadtverkehr (FoPS) FA-Nr. 70.837/2009 im Auftrag des Bundesministeriums für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung. Köln: FGSV-Verlag GmbH Landeshauptstadt Düsseldorf – Amt für Statistik und Wahlen (2017): Allgemeine Befragung der Bürgerinnen und Bürger 2017 – Gesamtergebnisse. Düsseldorf. Abrufbar unter: https:// www.duesseldorf.de/fileadmin/Amt12/statistik/stadtforschung/download/Buergerbefragung2017_Gesamtergebnisse.pdf. Zuletzt zugegriffen am 08.06.2020 Landeshauptstadt Düsseldorf – Amt für Verkehrsmanagement (2017): Nahverkehrsplan 2017 der Landeshauptstadt Düsseldorf. Abrufbar unter: https://www.duesseldorf.de/fileadmin/Amt66/verkehrsmanagement/pdf/ NVP_Endfassung_2017.pdf. Zuletzt zugegriffen am 08.06.2020 Neis, Pascal; Zielstra, Dennis; Zipf, Alexander (2012): The Street Network Evolution of Crowdsourced Maps: OpenStreetMap in Germany 2007-2011. In: Future Internet 4: 1–21

Neis, Pascal; Zielstra, Dennis; Zipf, Alexander (2013): Comparison of Volunteered Geographic Information Data Contributions and Community Development for Selected World Regions. In: Future Internet 5: 282–300 OpenStreetMap-Mitwirkende (2020): OpenStreetMap. Abrufbar unter: https://www. openstreetmap.org/. Zuletzt zugegriffen am 03.06.2020 Plennert, Matthias (2016): Anwendungsreif? Nutzung und Potenzial von digitalen Geodaten für Stadtforschung und Raumbeobachtung am Fallbeispiel OpenStreetMap. In: Stadtforschung und Statistik 29 (1): 27–34 Schütt, Fabian (2018): Erreichbarkeitsanalyse von Haltestellen des öffentlichen Personennahverkehrs in Stuttgart. In: Statistik und Informationsmanagement, Monatsheft 12: 328–332 VDV (Verband deutscher Verkehrsunternehmen) (2019): Verkehrserschließung, Verkehrsangebot und Netzqualität im ÖPNV. VDV-Schrift 4 Ausgabe 1/2019. Köln

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Schwerpunkt Mobilität und Verkehr

Christian Holz-Rau, Karsten Zimmermann, Robert Follmer

Der Modal Split als Verwirrspiel1

In vielen Städten ist die Reduzierung des motorisierten Individualverkehrs (MIV) erklärtes Ziel der Verkehrspolitik. Als Erfolgsmaßstab dient häufig der Modal Split, in der Regel ausgedrückt als Anteile der Verkehrsmittel an den zurückgelegten Wegen (relativer Modal Split). Dabei wird oft vor allem die Entwicklung des MIV-Anteils betrachtet. In einigen deutschen Städten ist der MIV-Anteil in den letzten Jahrzehnten gesunken. Die hier präsentierten Daten aus Verkehrserhebungen in Großstädten (vertieft betrachtet Münster und Hannover) zeigen aber, dass der relative Modal Split des Bewohnerverkehrs zu deutlichen Fehleinschätzungen der tatsächlichen Verkehrsentwicklung verleiten kann.

Prof. Dr. Ing. Christian Holz-Rau Technische Universität Dortmund, Verkehrswesen und Verkehrsplanung, August-Schmidt-Straße 10, 44227 Dortmund : christian.holz-rau@tu-dortmund.de Prof. Dr. Karsten Zimmermann Technische Universität Dortmund, european planning cultures, August-Schmidt-Straße 6, 44227 Dortmund : karsten.zimmermann@tu-dortmund.de Robert Follmer Institut für angewandte Sozialwissenschaft GmbH, Bereich Mobilitäts- und Regionalforschung, Friedrich-Wilhelm-Str. 18, 53113 Bonn : r.follmer@infas.de Schlüsselwörter: Modal Split – Verkehr – Klimaschutz – Verkehrswende – Verkehrsplanung – Befragungsmethoden

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STADTFORSCHUNG UND STATISTIK 2|2020

Einleitung Als in den 1970er Jahren Haushaltsbefragungen in die Verkehrsforschung und Verkehrsplanung Einzug hielten, lenkten sie das Augenmerk auch auf den bis dahin kaum beachteten Fuß- und Radverkehr (z. B. Brög 1985). Als einfach nachzuvollziehende Kenngröße etablierte sich der vollständige Modal Split, der neben dem motorisierten Individualverkehr (MIV), damals noch als Individualverkehr (IV) bezeichnet, und dem Öffentlichen Verkehr (ÖV) nun auch den Fuß- und Radverkehr berücksichtigte. Der Modal Split ergibt sich aus den in Haushaltsbefragungen erhobenen Wegen der Wohnbevölkerung. Der relative Modal Split, der in den meisten Fällen verwendet wird, gibt den prozentualen Anteil der Wege mit dem MIV, ÖV, Rad und zu Fuß an allen Wegen der Wohnbevölkerung an, bisweilen auch die jeweiligen Anteile an den zurückgelegten Distanzen (distanzbezogener Modal Split). Selten werden statt der prozentualen Anteile des relativen Modal Splits auch die absoluten Wegehäufigkeiten oder Distanzen nach Verkehrsmitteln angegeben. Bei den Verkehrsmittelanalysen ist die zusätzliche Differenzierung nach MIV-Fahrer und MIV-Mitfahrer weit verbreitet. Weitere Unterscheidungen, z. B. zwischen eigenem Pkw und Car Sharing-Fahrzeugen, zwischen Fahrrädern und Pedelecs oder Bus und U-Bahn erfolgen nur in Sonderauswertungen und spielen, auch aufgrund sehr geringer Fallzahlen und Anteile, in der Diskussion kaum eine Rolle. Die Beschreibung von Verkehrsstrukturen durch den relativen Modal Split dient in vielen Städten als Zielgröße und damit als Erfolgsindikator kommunaler Verkehrspolitiken (als Beispiele die Verkehrsentwicklungspläne aus Bremen [SUBV 2014: 27 ff.], der Region Hannover [2011: 1 ff.], Dortmund [2004 und 2017]). Dieser Beitrag untersucht die Frage, ob sich der Modal Split als Kenngröße zur Beschreibung kommunaler Verkehrsstrukturen, zum Vergleich von Städten, zur Beurteilung der Verkehrsentwicklung sowie als Zielgröße der Verkehrspolitik eignet oder ob der so leicht erfassbar scheinende relative Modal Split in der Mobilitätsforschung und/oder der politischen Diskussion falsch verwendet und interpretiert wird. Der Beitrag nutzt vorliegende kommunale Berichte und führt mit diesen teils weiterführende Berechnungen durch. Für die Darstellung der Region Hannover wurden die Originaldaten ausgewertet. Kapitel 2 verweist beispielhaft auf aktuelle Städtevergleiche und Untersuchungen zur Verkehrsentwicklung in Großstädten. Kapitel 3 vergleicht anhand der Beispiele Münster


Schwerpunkt Mobilität und Verkehr

und Hannover den Modal Split mit weiteren verfügbaren und abgeleiteten Kenngrößen. Kapitel 4 gibt einige methodische Hinweise auf dem Weg zu zuverlässigen Befragungsergebnissen zu zuverlässigen Befragungsergebnissen und schließt als Zusammenfassung und Fazit.

der nmIV nach Fußgängern und Radfahrern unterschieden (im Weiteren Modal Split [4]), bei fünf Kategorien zusätzlich nach MIV-Fahrer und Mitfahrer (im Weiteren Modal Split [5]). Dabei ist die Differenzierung zwischen Fahrern und Mitfahrern von großer Bedeutung bei der Beurteilung von Veränderungen der Verkehrsmittelnutzung (s. Kap. 2.2, 3.1 und 3.2).

Die Verwendung des Modal Splits in der kommunalen Verkehrsplanung

Der Modal Split als Beschreibung der Verkehrsstruktur und Verkehrsentwicklung Der strategische Zugang einer integrierten Verkehrsplanung ist äußerst komplex und muss in der verkehrspolitischen Diskussion notwendigerweise eine deutliche Verdichtung erfahren. Diese Verdichtung fokussiert, ausgehend von den meist komplexen Analysen in den Berichten zu den Verkehrserhebungen,2 häufig auf (nur) eine, vermeintlich leicht verständliche, Beschreibungsgröße der Verkehrsstruktur - den Modal Split. So vergleicht sich die Stadt Frankfurt am Main in ihrer Mobilitätsstrategie (2015: 8) anhand des aufkommensbezogenen Modal Splits (4) den Bewohnerverkehr mit neun weiteren Städten des Systems repräsentativer Verkehrsbefragungen. Auch ein aktueller Städtevergleich auf Basis der MiD 2017 verwendet den Modal Split (5) als einen zentralen Indikator (AGORA Verkehrswende 2020: 13 und 26 ff.). Die Stadt Dortmund stützt die Strategieformulierung des Masterplans Mobilität 2030 auf einen internationalen Städtevergleich des Modal Splits (3). Anhand von Beispielen sollen hier Probleme diskutiert werden, die aus der Fokussierung der verkehrspolitischen Diskussion auf den Modal Split resultieren. Tabelle 1 zeigt zunächst die deutlichen Unterschiede im Modal Split (5) des Bewohnerverkehrs anhand von vier im Weiteren näher betrachteten Städten: • Dortmund als Stadt des motorisierten Verkehrs mit hohen MIV und ÖPNV-Anteilen bei einem niedrigen Radverkehrsanteil, • Hannover mit einem deutlich geringeren MIV-Anteil bei gleichzeitig hohen Anteilen des Fuß-, Rad- und öffentlichen Verkehrs, • Potsdam bei gleichem MIV-Anteil wie Hannover mit besonders hohen Anteilen des Fuß- und öffentlichen Verkehrs sowie • Münster mit den insgesamt geringsten Anteilen im Fußverkehr, ÖV und MIV bei mit Abstand höchstem Radverkehrsanteil.

Auf der administrativen Ebene der Gemeinden in Deutschland wird die strategische Verkehrsplanung in Verkehrsentwicklungsplänen, Stadtteil-Verkehrsplänen, sektoralen Verkehrskonzepten und Nahverkehrsplänen konkretisiert (Beckmann 2001, S.10f.). Spätestens seit den 1980er Jahren verbindet sich mit dem Begriff einer integrierten Verkehrsplanung die Hoffnung, durch eine abgestimmte Planung räumlicher Strukturen und der Verkehrsangebote, Einfluss auf die Verkehrsmittelnutzung und die zurückgelegten Distanzen nehmen zu können. In der kommunalen Verkehrsplanung formulieren vor allem Großstädte diese Strategien (als Beispiele Bremen [SUBV 2014: 24], Hannover [Region Hannover 2011: 8], Dortmund [Stadt Dortmund 2004: 26 f. und Stadt Dortmund 2017: 6, 9], München [2006: 55], Stadt Frankfurt am Main 2015: 19). Als empirische Grundlage dienen Haushaltsbefragungen zum Verkehrsverhalten wie die bundesweite Erhebung Mobilität in Deutschland (MiD) mit regionalen Aufstockungen, das System repräsentativer Verkehrsbefragungen (SrV) und weitere Haushaltsbefragungen im kommunalen oder regionalen Auftrag. Diese bieten, wie das SrV, Städten und Regionen „die Möglichkeit, ihre verkehrliche Entwicklung sowohl in Bezug auf eigene Zielsetzungen als auch im Städtevergleich einzuschätzen.“ (Gerike o. J.: 2) Wie wird der Modal Split bestimmt und dargestellt? Die Grundlage des Modal Splits bilden Befragungen zum Verkehrsverhalten, meist als Erhebung aller Wege oder deren Distanzen einschließlich der genutzten Verkehrsmittel an einem Stichtag (z. B. MiD und SrV). Bezogen auf die Anzahl der Wege spricht man von einem aufkommensbezogenen Modal Split, bezogen auf die dabei zurückgelegten Distanzen von einem aufwands- oder distanzbezogenen Modal Split (Kap. 3.2). Bei städtischen Verkehrsplanungen erfolgt die Erhebung in vielen Fällen nur in der Kernstadt. Daraus leitet sich ein bewohnerbezogener Modal Split ab. In der Minderheit sind bisher regionale Erhebungen, in denen zusätzlich zur Kernstadt auch die umliegenden Gemeinden sowie die Einpendlerströme in die Kernstadt einbezogen werden. Mit der MiD 2008 stehen für zehn bzw. mit der MiD 2017 zukünftig für 30 Regionen regionale Aufstockungen zur Verfügung (zu MiD 2008: infas, DLR 2010:16; zu MiD 2017: Veröffentlichungen in Vorbereitung). Die Bedeutung dieser regionalen Betrachtung wird am Beispiel der Regionen Münster und Hannover behandelt, die beide über eine breitere Datengrundlage als üblich verfügen (Kap. 3.2). Weitere Unterschiede gibt es zudem in der Anzahl der differenzierten Verkehrsmittel. Der Modal Split mit drei Kategorien differenziert den nicht-motorisierten Individualverkehr (nmIV), den MIV und den ÖV (im Weiteren als Modal Split (3) abgekürzt). Bei vier Kategorien, der wohl häufigsten Variante, wird

Auch wenn die durchgeführten Erhebungen methodische Unterschiede aufweisen und nicht unter identischen Rahmenbedingungen durchgeführt wurden (z. B. schriftliche und telefonische Befragungen, unterschiedliche Zeiträume der Befragungen, damit verbunden unterschiedliche Witterung …), erscheinen diese Profile der Verkehrsmittelnutzung plausibel. Im Zeitvergleich zeigen alle Städte im Bewohnerverkehr in den letzten Befragungswellen einen (leicht) abnehmenden Anteil des MIV gesamt, dem jeweils unterschiedliche Anteilszunahmen gegenüberstehen: eine leichte Zunahme des ÖVAnteils in allen Städten, eine Zunahme des Radverkehrsanteils in Münster und Hannover (beide Städte weisen einen Rückgang im Fußverkehrsanteil auf ). Dabei resultiert der sinkende MIV-Anteil in Hannover (von 41 auf 38 %) aus dem Rückgang

STADTFORSCHUNG UND STATISTIK 2|2020

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Schwerpunkt Mobilität und Verkehr

Tabelle 1: Relativer Modal Split des Bewohnerverkehrs ausgewählter Städte im Zeitvergleich Dortmund

Potsdam

Münster

Hannover

relativer Modal-Split

2005

2013

2008

2013

1982

1990

1994

2001*

2007

2013

2002

2011

zu Fuß Rad ÖPNV/SPNV

19,6 % 9,9 % 19,4 %

26,5 % 6,4 % 20,1 %

27 % 18 % 17 %

29 % 14 % 21 %

25,0 % 29,2 % 6,6 %

21,2 % 33,9 % 6,6 %

21,5 % 31,7 % 9,5 %

13,4 % 35,2 % 10,9 %

15,7 % 37,6 % 10,4 %

21,7 % 39,1 % 10,2 %

29 % 13 % 17 %

24 % 19 % 19 %

Umweltverbund

48,9 %

53,0 %

62 %

65 %

60,8 %

61,7 %

62,7 %

59,5 %

63,7 %

71,0 %

59 %

62 %

MIV Fahrer MIV Mitfahrer

38,6 % 11,1 %

35,3 % 11,0 %

nicht ausgewiesen

28,3 % 9,0 %

38,4 % 2,1 %

29,6 % 6,7 %

23,9 % 5,1 %

27 % 14 %

28 % 10 %

MIV gesamt

38 %

35 %

39,2 %

38,3 %

37,3 %

40,5 %

36,3 %

29,0 %

41 %

38 %

100 %

100 %

100 %

100 %

100 %

100 %

100 %

100 %

100 %

100 %

49,7 %

46,3 %

Sonstige

1,1 %

1,0 %

gesamt

100 %

100 %

nicht ausgewiesen

* Die Stadt Münster betrachtet die Verkehrserhebung 2001 methodisch bedingt als Ausreißer Angaben zu Dortmund: Angaben zu Potsdam: Angaben zu Münster: Angaben zu Hannover:

omnitrend (2014: 51) Zusammenstellung durch die Stadt Potsdam (Detlef Pfefferkorn) Stadt Münster (2014: 14) infas-Auswertungen auf Basis der regionalen Aufstockung in der MiD 2002 sowie der methodengleichen Erhebung MiR 2011

des Mitfahreranteils (von 14 auf 10 %) bei sogar geringfügig gestiegenem Anteil des MIV-F. Dies unterstreicht, wie wichtig die Unterscheidung der MIV-Nutzung in die Kategorien Fahrer und Mitfahrer ist und dass der Modal Split (4) gegenüber dem Modal Split (5) wesentliche Entwicklungen verdecken kann. Einen Rückgang verzeichnen die Radverkehrsanteile in Dortmund und Potsdam.3 Auch hier ist der Modal Split von hohem verkehrspolitischen Stellenwert. Die Ratsvorlage der Stadt Dortmund (2014: 6) bezieht sich auf den Modal Split (4), wenn sie schlussfolgert: „Die Haushaltsbefragung hat gezeigt, dass die Anstrengungen der Stadt Dortmund zur Förderung einer umweltfreundlichen Mobilität weiter Wirkung zeigen. Die Auto-Orientierung geht zurück und die klimafreundlichen Verkehrsmittel legen weiter zu.“ Die Stadt Potsdam formuliert zu einem von 38 % (2008) auf 35% (2013) gesunkenen MIV-Anteil im Modal Split (4) „Trotz steigender Motorisierung geringere Nutzung des Pkw“. (Stadt Potsdam 2013: Folie 3). Deutlich wird die Orientierung am Modal Split auch im Bericht der Stadt Münster zur Haushaltsbefragung 2013, der als einzige Zeitreihe die Entwicklung des Modal Splits (4) darstellt (Stadt Münster 2014:14). Der Modal Split als Zielgröße der Verkehrspolitik Ausgehend von entsprechenden Analysen dient der aufkommensbezogene Modal Split gleichzeitig als Zielwert der Verlagerungsstrategie. So formulierte die Stadt Dortmund im Masterplan Mobilität 2004 das Handlungsziel „Veränderung des Modal Split zu Gunsten des Umweltverbundes“ (Stadt Dortmund 2004: 26). Besonders betont die Stadt das Ziel, den Radverkehrsanteil von 6 auf 12 % zu verdoppeln, und erwartet damit verbunden eine Reduzierung des Fußverkehrs- und des MIV-Anteils von jeweils etwa 3 % bei weitgehender Konstanz des ÖPNV-Anteils (Dortmund 2004: 55). In den Zielformulierungen des neuen Masterplans wird eine Reduzierung des MIV-Anteils von 47 % auf ein Drittel angestrebt (Dortmund

56

STADTFORSCHUNG UND STATISTIK 2|2020

2017: 13). Im VEP pro Klima der Region Hannover wird ebenfalls ein enger Zusammenhang zwischen Veränderungen des Modal Splits und dem Aufkommen des MIV hergestellt: „Bei einer konsequenten Umsetzung der vorgeschlagenen Maßnahmen findet eine Veränderung des Modal Splits in der Region zugunsten des Umweltverbundes statt. … Das bedeutet: deutlich weniger Autoverkehr und mehr Radverkehr und ÖPNV“ (Region Hannover 2011: 7). Für das Umweltmonitoring des RVR wird der Modal Split (4), also ohne Differenzierung von MIV-Fahrern und Mitfahrern, sogar als einziger Indikator für den Verkehrsbereich vorgeschlagen (2017: 64 f.). Die Städte München und Dortmund vergleichen anhand des Modal Splits die unterschiedlichen Szenarien ihrer Verkehrsentwicklungspläne (Landeshauptstadt München 2006: 25 neben dem aufkommensbezogenen Modal Split [4] auch der aufwandsbezogenen Modal Split [4] für Stadt und Umland sowie die Absolutwerte, Stadt Dortmund 2004: 50ff. anhand des aufkommensbezogenen Modal Split [4]). Als Antwort auf die erste Untersuchungsfrage zeigen die Beispiele, dass der Modal Split in den Kommunen eine zentrale Rolle bei der Beschreibung städtischer Verkehrsstrukturen spielt: zum Städtevergleich der Verkehrsstrukturen, zur Analyse von Veränderungen im Zeitverlauf sowie zur Zielformulierung und Erfolgskontrolle strategischer Planungen. Ergänzend werden in den Berichten zu den Befragungen teilweise deutlich differenziertere Analysen vorgenommen und auf Problemfelder der Erhebungen hingewiesen. In der verkehrspolitischen Debatte finden diese Aspekte aber kaum einen Niederschlag. Daher ist die Frage nach der Eignung des Modal Splits bzw. nach möglichen Fehlinterpretationen des Modal Splits von hoher Relevanz für die verkehrsplanerische und verkehrspolitische Debatte. Insbesondere prüfen die folgenden Kapitel, ob steigende oder sinkende Anteilswerte im MIV stringent mit steigenden oder sinkenden MIV-Belastungen verbunden sind.


Schwerpunkt Mobilität und Verkehr

Modal Split: Missverständnisse und Fehlinterpretationen

verändert haben muss. Veränderungen der Verkehrsmittelnutzung können auch aus Methodeneffekten resultieren. Die beiden Befragungen aus Hannover sind dagegen methodengleich durchgeführt und ergeben 2002 und 2011 fast die gleichen Wegehäufigkeiten pro Person und Tag. Die Rückrechnung des Modal Splits auf die Wegehäufigkeiten nach Verkehrsmitteln, also auf die eigentlichen Ausgangswerte der Erhebung (Tabelle 2), führt zu folgenden veränderten Einschätzungen der Entwicklungen des Bewohnerverkehrs. • In Dortmund liegt die Wegehäufigkeit in der Befragung 2013 geringfügig höher als 2005. Entsprechend nimmt die Wegehäufigkeit mit dem MIV als Fahrer etwas schwächer ab als der MIV-Fahrer-Anteil. In Münster bleibt, abgesehen von dem Ausreißer 2001, im Zeitraum 1982 bis 2007 die MIV-Fahrtenhäufigkeit weitgehend konstant, obwohl der MIV-Anteil von Befragung zu Befragung leicht gesunken ist. Der Wert für 2013 weist auf eine erhebliche Abnahme des MIV-F, aber auch eine überraschend starke Abnahme der Wegehäufigkeit insgesamt hin (möglicherweise ein hier nicht einzugrenzender Methodeneffekt). • In Potsdam hat der MIV-Anteil zwar abgenommen (Tab. 1), die Fahrtenhäufigkeit im MIV aber zugenommen (Tab. 2). Die Stadt Hannover weist in der Wegehäufigkeit eine leichte Abnahme des MIV auf, die aus der Abnahme der absoluten Fahrtenhäufigkeit als Mitfahrer bei geringfügiger Zunahme der Fahrten als Fahrer resultiert (Tab. 1 und 2). Es kommt also zu einem leicht zunehmenden Fahrzeugeinsatz bei sinkender Fahrzeugauslastung und nicht zu einer Abnahme der Fahrzeugbewegungen, wie der sinkenden MIV-Anteil im Modal Split (4) vermuten lässt. Die Erfolgsbilanzen sinkender MIV-Anteile im Bewohnerverkehr lösen sich also bei der Betrachtung der absoluten Wegehäufigkeiten weitgehend auf.

Verkehrsmittelanteile und absolute Wegehäufigkeiten Im Folgenden werden die in den Berichten angegebenen Modal Split-Werte und Wegehäufigkeiten gesamt für die Städte Dortmund, Potsdam, Münster zu einer Rückrechnung auf absolute Wegehäufigkeiten nach Verkehrsmitteln genutzt. Für Hannover werden sie direkt aus den Primäranalysen ergänzt. Die Kernfrage dabei ist: Führen die Unterschiede der absoluten Wegehäufigkeiten zwischen den Städten und zwischen den Erhebungszeiträumen zu den gleichen Interpretationen wie die Verkehrsmittelanteile des Modal Splits (4) oder (5), insbesondere zur gleichen Einschätzung hinsichtlich der MIVNutzung? In den Ausgangsdaten zur Berechnung des Modal Splits hat die Anzahl der berichteten Wege in den meisten Städten zugenommen (Ausreißer Münster 2013 sowie der Zeitvergleich Hannover). Für die Städte, in denen die späteren Erhebungen höhere Wegehäufigkeiten ausweisen, dürfte dies vor allem auf einen Methodenwechsel von den (überwiegend) schriftlichpostalischen zu (überwiegend) telefonischen Befragungen zurückzuführen sein. In den Telefoninterviews werden gekoppelte und kurze Wege besser erhoben, somit die Wegehäufigkeit insbesondere bei Fußwegen, aber infolgedessen auch insgesamt erhöht. Entsprechend sinkt der MIV-Anteil am relativen Modal Split in der Befragung, ohne dass dies mit einem Rückgang der Pkw-Fahrten verbunden sein muss. Man kann es auch so formulieren: Eine bessere Verkehrserhebung ist zwar eine zuverlässigere Basis für Verkehrsanalysen. Aber bessere Verkehrserhebungen können zu Veränderungen des Modal Splits führen, ohne dass sich die tatsächliche Verkehrsmittelnutzung

Tabelle 2: Wegehäufigkeiten nach Verkehrsmitteln aus kommunalen Verkehrserhebungen Wegehäufigkeit pro Person und Tag

*

Dortmund

Potsdam

Münster

Hannover

2005

2013

2008

2013

1982

1990

1994

2001*

2007

2013

2002

2011

zu Fuß Rad ÖPNV

0,55 0,28 0,55

0,77 0,18 0,58

0,81 0,54 0,51

1,02 0,49 0,74

0,87 1,01 0,23

0,77 1,22 0,24

0,76 1,12 0,34

0,51 1,34 0,42

0,60 1,43 0,40

0,74 1,34 0,35

1,03 0,46 0,60

0,83 0,66 0,66

Umweltverbund

1,38

1,53

1,86

2,24

2,11

2,23

2,21

2,27

2,42

2,43

2,09

2,15

MIV Fahrer MIV Mitfahrer

1,09 0,31

1,02 0,32

1,00 0,32

1,46 0,08

1,12 0,25

0,82 0,17

0,96 0,50

0,97 0,35

MIV gesamt

1,41

1,34

1,14

1,23

1,36

1,38

1,32

1,54

1,38

0,99

1,45

1,31

gesamt

2,83

2,89

3,01

3,47

3,47

3,61

3,53

3,81

3,80

3,42

3,54

3,46

nicht ausgewiesen

nicht ausgewiesen

Summen jeweils aus den ungerundeten Zwischenwerten berechnet. Daher können die Werte in den Zeilen Umweltverbund, MIV gesamt und gesamt von den Summen der Einzelwerte abweichen. Die Stadt Münster betrachtet die Verkehrserhebung 2001 methodisch bedingt als Ausreißer

ÖPNV MIV

öffentlicher Personennahverkehr motorisierter Individualverkehr

Angaben zu Dortmund: Angaben zu Potsdam: Angaben zu Münster: Angaben zu Hannover:

sonstige Verkehrsmittel nur in Zeile gesamt enthalten, omnitrend (2014: 28) Zusammenstellung durch die Stadt Potsdam (Detlef Pfefferkorn) Stadt Münster (2008: 5, 12 und 2014: 5, 14) infas-Auswertungen auf Basis der regionalen Aufstockung in der MiD 2002 sowie der methodengleichen Erhebung MiR 2011

STADTFORSCHUNG UND STATISTIK 2|2020

57


Schwerpunkt Mobilität und Verkehr

Ergänzend sei auf Veränderungen hingewiesen, die im meist verwendeten aufkommensbezogenen Modal Split der Kernstadtbevölkerung nicht abgebildet werden können oder sogar zu einem sinkenden MIV-F-Anteil führen, obwohl sie insgesamt maßgeblich zu einer Zunahme der Belastungen durch den MIV beitragen: • Trotz der Reurbanisierungstrends seit der Jahrtausendwende haben sich auf lange Frist die Bevölkerungsverteilungen in den Agglomerationen deutlich zu Gunsten des Umlandes verschoben (Guth/Siedentop/Holz-Rau 2012: 492). Das kann sich durchaus wieder verschärfen, wenn die Baulandreserven der Kernstädte erschöpft sind. Dabei lebt insbesondere die ins Umland gewanderte ehemalige Kernstadtbevölkerung sehr kernstadt- und MIV-orientiert (Geier/Holz-Rau/Kraft-Neuhäusser 2001). • Die Randwanderung der Wohnbevölkerung lässt vor allem diejenigen in den Kernstädten zurück, die weniger MIVaffin sind, seltener Auto fahren wollen oder gar nicht Auto fahren können. Im Modal Split der Wohnbevölkerung der Kernstädte nimmt, bei zunehmender MIV-Nutzung in der gesamten Region, der MIV-Anteil ab (zu Prozessen der Selbstselektion siehe Mokhtarian/van Herick 2016; Lin/ Wang/Guan 2017; Humphreys/Ahern 2017). Dies trägt zu einer abnehmenden MIV-Nutzung der Kernstadtbevölkerung bei, ist aber mit einer zunehmenden MIV-Belastung auch in der Kernstadt verbunden. Derartige Effekte lassen sich nur erkennen, wenn neben dem Bewohnerverkehr der Kernstädte auch die regionalen Verflechtungen betrachtet werden. Dies wird in Kapiteln 3.2 ausführlicher dargestellt. Ergänzend sei betont, dass sich in den hier betrachteten aggregierten Ergebnissen Veränderungen der Verkehrsnachfrage als Folge von Verhaltensänderungen im engeren Sinn nicht von Effekten weiterer Strukturveränderungen trennen lassen. So führt z. B. eine absolute Zunahme der Erwerbstätigkeit, wie sie kennzeichnend gerade für die letzten Jahre ist, zu einer Zunahme des Berufsverkehrs, der höhere Entfernungen je Weg aufweist und selten zu Fuß unternommen wird. Eine zunehmende Anzahl Erwerbstätiger führt in den hochgerechneten Daten unter anderem zu einer Zunahme der ÖPNV-Nutzung, die nicht im Sinne einer Verkehrsverlagerung zu interpretieren ist. Eine Untersuchung dieser Effekte erfordert eine sozial differenzierte Analyse, die außerhalb der Fragestellung dieses Beitrags liegt. Verkehrsaufkommen in Kernstadt und Umland Die meisten Haushaltsbefragungen zum Verkehrsverhalten beschränken sich auf die Kernstädte größerer Verflechtungsräume, in denen Umland-Stadt-Verflechtungen eine wesentliche Rolle spielen. Im Gegensatz dazu gibt es für die Regionen Münster und Hannover eine regionale Datengrundlage. • Die Stadt Münster hat die Haushaltsbefragung im Stadtgebiet in den Jahren 1982, 1990 und 2007 durch eine Pendlererhebung ergänzt, so dass sich die Verkehrsentwicklung in der Stadt einschließlich der Pendlerverkehre beschreiben lässt. Zusätzlich stehen Ergebnisse von Kordonzählungen für die Jahre 2001, 2007 und 2015 zur Verfügung (Kapitel 3.2.1).

58

STADTFORSCHUNG UND STATISTIK 2|2020

Die Haushaltsbefragungen der Region Hannover umfassen für die Jahre 2002 und 2011 neben der Stadt (bisher betrachtet) auch das Umland (Analysen in Kapitel 3.2.2).

Auf dieser Basis lassen sich weitere Fehleinschätzungen identifizieren, die sich aus dem Modal Split ergeben. Verkehrsaufkommen in Münster – Bewohner und Einpendler Die Zusammenführung der Haushaltsbefragung und der Pendlerdaten erfolgt in den Dokumentationen der Stadt Münster auf Basis des Verkehrs der Stadtbevölkerung und der Einpendler, also nicht wie im letzten Schritt als Wege pro Person und Tag. In der Angabe des Verkehrsaufkommens der Wohnbevölkerung schlagen sich daher gleichzeitig Unterschiede im Verkehrsverhalten zwischen den Jahren sowie die Bevölkerungsentwicklung der Stadt und des Umlandes nieder (Tab. 3). Allerdings beschränkt sich diese komplexere Zeitreihe auf nur drei inzwischen länger zurückliegende Erhebungen (Stadt Münster 2009). Danach zeigt sich von 1982 bis 2007 eine moderate Zunahme des Verkehrsaufkommens der Münsteraner (+ 14 % bzw. 109.300 Wege pro Tag), die sich auf die Verkehrsmittel des Umweltverbundes konzentriert. Gleichwohl ist auch das Verkehrsaufkommen im MIV gestiegen (+ 6 % bzw. um 21.500 Wege pro Tag). Deutlich stärker ist die Anzahl der Wege der Einpendler gestiegen (+ 84 % bzw. + 169.800 Wege pro Tag, davon 147.700 Fahrten pro Tag mit dem MIV). Damit haben in der Stadt Münster von 1982 bis 2007 die Fahrten mit dem MIV um ein Drittel bzw. um 169.200 Wege pro Tag zugenommen und damit stärker als die Wege im Umweltverbund. Auch die (zeitlich nicht übereinstimmenden) Kordonerhebungen am Stadtrand von Münster zeigen steigende Kfz-Verkehrsmengen (Tab. 4). Dabei entspricht die durchschnittliche jährliche Zunahme in den Kordonzählungen 2001 und 2007 mit 1,8 %/a (Tab. 4) weitgehend dem längeren Zeitintervall von 1990 bis 2007 aus der Pendlerbefragung (1,9 %/a). Für den Zeitraum 2007 bis 2015 aus den Kordonzählungen ergibt sich eine etwas geringere Zunahme von ca. 0,6 %/a (Tab. 4). Besonders starke Steigerungen von 2001 bis 2015 zeigen sich auf den Bundesstraßen B51 (3,2%/a) und B54 (2,5 %/a), die als Zubringer zur Autobahn A1 Richtung Bremen bzw. Köln dienen. Dies kann auf eine überdurchschnittliche Zunahme der Pendelströme über längere Distanzen hinweisen, die mit besonders hohen klimarelevanten Emissionen verbunden sind. Anhand der Absolutzahlen aus Tabelle 3 hat der MIV in Münster von 1982 bis 2007 zugenommen, obwohl für diesen Zeitraum bei Ausblenden der Umland-Stadt-Verflechtungen der Eindruck sinkender MIV-Nutzung entstehen würde. In den Berichten wird auf diese Diskrepanz zwischen der Veränderung des Modal Splits und der Realität auf der Straße explizit hingewiesen. So formuliert die Stadt Münster bezogen auf das Jahr 2007: Es ist „gelungen, trotz hoher Mobilität und wachsender Strukturen im Stadtgebiet, bei der Münsteraner Bevölkerung eine kontinuierliche Verbesserung des Verkehrsverhaltens zu erreichen“, konstatiert aber als Folge der Stadtrandwanderung, dass auf dem „Straßennetz deutlich mehr Kfz-Verkehre abgewickelt werden als noch vor 25 Jahren.“ (2009: 26)


Schwerpunkt Mobilität und Verkehr

Tabelle 3: Wegehäufigkeiten in Münster – Stadtbevölkerung und Einpendler Veränderung 1982 bis 2007

Verkehrsaufkommen (Wege/Tag)

1982

1990

2007

relativ

absolut

165.998 400.097 110.665

- 29 % + 47 % + 80%

- 67.316 + 127.586 + 49.070

Verkehr der Wohnbevölkerung (Datengrundlage Haushaltsbefragung) zu Fuß Rad ÖPNV

233.314 272.511 61.595

208.285 333.060 64.843

Umweltverbund

567.420

606.188

676.760

+ 19 %

+ 109.340

MIV

365.836

376.289

387.328

+6%

+ 21.492

Summe

933.256

982.477

1.064.087

+ 14 %

+ 130.831

-

-

Hin- u. Rückwege der Einpendler nach Münster (Pendlerbefragung, Verkehrszählungen) zu Fuß Rad ÖPNV

nicht erhoben 2.870 46.090

Umweltverbund

nicht erhoben 1.743 59.522

nicht erhoben nicht erhoben 71.035

+ 54 %

+ 24.945

48.960

61.265

71.035

+ 45 %

+ 22.075

MIV

152.649

218.059

300.361

+ 97 %

+ 147.712

Summe

201.609

279.324

371.395

+ 84 %

+ 169.786

Bewohner- und Einpendlerverkehr (Summe der Befragungen)* zu Fuß Rad ÖPNV

233.314 275.381 107.685

208.285 334.803 124.365

165.998 400.097 181.700

- 29 % + 45 % + 69 %

- 67.316 + 124.716 + 74.015

Umweltverbund

616.380

667.453

747.795

+ 21 %

+ 131.415

MIV Summe *

518.485

594.348

687.689

+ 33 %

+ 169.204

1.134.865

1.261.801

1.435.482

+ 26 %

+ 300.617

Nicht erhobene Pendleraufkommen zu Fuß oder mit dem Rad werden nicht berücksichtigt.

ÖPNV MIV

öffentlicher Personennahverkehr motorisierter Individualverkehr

Eigene Darstellung, teilweise eigene Berechnungen nach Stadt Münster 2009: 26 ff.

Anhand der Kordonzählungen zeigt sich in der Gegenüberstellung der Jahre in der letzten Periode eine abgeschwächte Zunahme des Kfz-Verkehrs an der Stadtgrenze (Tab. 4). Ergänzend führt die Stadt Münster kontinuierliche Verkehrszählungen im städtischen Netz durch, nach denen insbesondere in der inneren Stadt die Kfz-Mengen abnehmen (telefonische Auskunft Stadt Münster). Wenn dagegen, wie in vielen Städten üblich, nur Haushaltsbefragungen der Wohnbevölkerung zur Verfügung stehen, kann es sogar zu Fehleinschätzungen der Entwicklungsrichtung kommen. Trotz

Tabelle 4: Verkehrsbelastung am Stadtrand von Münster (DTVw) – Ergebnisse von Kordonzählungen 2001 Kfz/24h DTVw jährliche Veränderung

2007

252.995

2015

281.568

+ 1,8 %/a

296.124

+ 0,6 %/a

DTVw: Durchschnittliche tägliche Verkehrsstärke werktags Summe von 27 Zählstellen am Stadtrand von Münster (eigene Darstellung und Berechnung nach BBW 2015: Anhang 3)

steigender MIV-Belastung durch die Pendler wird der Erfolg städtischer Verlagerungsbemühungen konstatiert.

Verkehrsentwicklung in der Region Hannover – Stadt und Umland In der Region Hannover liegen im Gegensatz zu den anderen hier betrachteten Städten Haushaltsbefragungen für die Kernstadt und den übrigen Landkreis (das Umland) vor, die eine erweiterte Verkehrsbilanz ermöglichen Im Modal Split (Tab. 5 oben) zeigen sich erwartungsgemäß höhere MIV-Anteile im Umland gegenüber der Kernstadt. Im Zeitvergleich nimmt in der Kernstadt der Anteil der Verkehrsmittel des Umweltverbundes leicht zu, bei gleichzeitig deutlicher Verschiebung zu Gunsten des Rad- und öffentlichen Verkehrs zu Lasten des Fußverkehrs. Im Umland zeigt sich bei nahezu konstantem, aber geringerem Anteil des Umweltverbundes eine Verschiebung vom Fußverkehr auf den ÖPNV. In Stadt und Umland verliert also vor allem der Fußverkehr an Bedeutung. Aber auch die MIV-Nutzung verändert sich: Der Anteil der MIV-Mitfahrten sinkt in beiden Teilräumen, in der Stadt bei konstanter Anzahl der Fahrten MIV-F vor allem zugunsten des Umweltverbundes, im Umland zugunsten des

STADTFORSCHUNG UND STATISTIK 2|2020

59


Schwerpunkt Mobilität und Verkehr

Tabelle 5: Relativer Modal Split (5) und absolute Wegehäufigkeiten – Bevölkerung der Stadt Hannover und des Umlandes Relativer Modal Split (5)

Stadt Hannover

Umland Hannover

gesamt

2002

2011

2002

2011

2002

2011

zu Fuß Rad ÖPNV

29 % 13 % 17 %

24 % 19 % 19 %

21 % 11 % 9%

17 % 11 % 12 %

24 % 12 % 13 %

20 % 14 % 15 %

Umweltverbund

59 %

62 %

41 %

40 %

49 %

49 %

MIV Fahrer MIV Mitfahrer

27 % 14 %

28 % 10 %

43 % 16 %

47 % 13 %

36 % 15 %

39 % 12 %

MIV gesamt

41 %

38 %

59 %

60 %

51 %

51 %

100 %

100 %

100 %

100 %

100 %

100 %

0,83 0,66 0,66

0,70 0,37 0,30

0,56 0,36 0,40

0,83 0,41 0,45

0,67 0,47 0,51

gesamt

Verkehrsaufkommen (Wege pro Person und Tag) zu Fuß Rad ÖPNV

1,03 0,46 0,60

Umweltverbund

2,09

2,15

1,36

1,32

1,69

1,65

MIV Fahrer MIV Mitfahrer

0,96 0,50

0,97 0,35

1,43 0,53

1,55 0,43

1,24 0,52

1,31 0,40

MIV gesamt

1,45

1,31

1,96

1,98

1,75

1,72

gesamt

3,54

3,46

3,32

3,30

3,44

3,37

Summen jeweils aus den ungerundeten Zwischenwerten berechnet. Daher können die Werte in den Zeilen Umweltverbund, MIV gesamt und gesamt von den Summen der Einzelwerte abweichen. ÖPNV MIV

öffentlicher Personennahverkehr motorisierter Individualverkehr

infas-Auswertungen auf Basis der regionalen Aufstockung in der MiD 2002 sowie der methodengleichen Erhebung MiR 2011

Tabelle 6: Wegelänge und Verkehrsaufwand – Bevölkerung der Stadt Hannover und des Umlandes Stadt Hannover

Wegelänge (km/Weg)

Umland Hannover

gesamt

2002

2011

2002

2011

2002

2011

1,2 3,1 7,6

1,3 4,3 11,5

1,3 3,0 16,1

1,5 3,2 15,3

1,2 3,1 11,0

1,4 3,8 13,2

zu Fuß Rad ÖPNV/SPNV Umweltverbund

3,5

5,3

5,0

6,1

4,3

5,7

MIV Fahrer MIV Mitfahrer

9,3 9,3

7,8 9,4

11,0 10,1

12,2 11,3

10,4 9,8

10,7 10,6

MIV gesamt

9,3

8,2

10,8

12,0

10,2

10,7

Summe

5,9

6,4

8,4

9,7

7,3

8,2

zu Fuß Rad ÖPNV/SPNV

1,3 1,4 4,5

1,1 2,9 7,5

0,9 1,1 4,8

0,8 1,1 6,1

1,0 1,3 4,9

0,9 1,8 6,7

Umweltverbund

7,2

11,5

6,8

8,0

7,2

9,4

MIV Fahrer MIV Mitfahrer

8,9 4,6

7,6 3,2

15,7 5,4

19,0 4,8

12,9 5,0

14,0 4,3

MIV gesamt

13,5

10,8

21,1

23,8

18,0

18,3

Summe

20,7

22,3

27,9

31,9

25,1

27,7

Verkehrsaufwand (km/Person und Tag)

Summen jeweils aus den ungerundeten Zwischenwerten berechnet. Daher können die Werte in den Zeilen Umweltverbund, MIV gesamt und gesamt von den Summen der Einzelwerte abweichen. ÖPNV MIV

öffentlicher Personennahverkehr motorisierter Individualverkehr

infas-Auswertungen auf Basis der regionalen Aufstockung in der MiD 2002 sowie der methodengleichen Erhebung MiR 2011

60

STADTFORSCHUNG UND STATISTIK 2|2020


Schwerpunkt Mobilität und Verkehr

MIV-F. In Stadt und Umland blieben diese Veränderungen innerhalb der MIV-Nutzung in einem Modal Split (4) verborgen. Aufgrund der zeitlich konstanten Wegehäufigkeiten im Zeitverlauf in der Region Hannover entsprechen die Entwicklungen der Wegehäufigkeiten nach Verkehrsmitteln den Veränderungen des Modal Splits. Dass dies nicht in allen Zeitvergleichen zu erwarten ist, zeigten die Daten aus Tab. 2. Bezogen auf die Verkehrsbelastungen und ihre Folgen (NO2, CO2 …) sind die bisher nicht betrachteten zurückgelegten Distanzen nochmals relevanter als die absoluten Wegehäufigkeiten. Dies betrifft insbesondere die Fahrzeugkilometer, die im Personenverkehr den mit dem MIV als Fahrer zurückgelegten Distanzen entsprechen. Auch diese lassen sich aus den Erhebungen im Landkreis Hannover für die Stadt und das Umland ableiten (Tab. 6). Danach hat der Verkehrsaufwand von 2002 bis 2011 in der Stadt um 1,5 km/Person und Tag zugenommen, im übrigen Landkreis um 3,9 km/Person und Tag und im Gesamtraum um 2,6 km/Person und Tag. Der Verkehrsaufwand im MIV als Fahrer steigt im gleichen Zeitraum von 12,9 auf 14,0 MIV-F-km/Person und Tag. Dabei steht eine Abnahme seitens der Kernstadtbevölkerung um 1,3 MIV-F-km/ Person und Tag einer Zunahme um 3,3 MIV-F-km/Person und Tag seitens der Umlandbevölkerung gegenüber.

Schlussfolgerungen Eine vor dem Hintergrund hoher innerstädtischer Schadstoffimmissionen und hoher klimawirksamer Emissionen erfolgreiche Verkehrsplanung und -politik, so die verbreitete Einschätzung in verkehrspolitischen Diskussionen, drückt sich in sinkenden MIV-Anteilen im relativen Modal Split aus. Diese Diskussion besitzt aus städtischer Perspektive wegen hoher Immissionswerte (NO2 und Feinstaub) sowie aus globaler Perspektive wegen der klimawirksamen Emissionen hohe Aktualität. Der relative Modal Split wird dabei in der Regel aus dem Verkehrsaufkommen, den nach Verkehrsmitteln differenzierten Wegen der Wohnbevölkerung einer Stadt abgeleitet. Am Beispiel ausgewählter deutscher Großstädte, vertieft anhand der Regionen Münster und Hannover, wurde gezeigt, dass sich insbesondere der relative Modal Split (4) der Kernstadtbevölkerung weder als Kenngröße der Verkehrsmittelnutzung für Städtevergleiche noch für die Beschreibung zeitlicher Entwicklungen eignet. • Die Verwendung des relativen Modal Splits (4), also ohne Unterscheidung zwischen MIV-Fahrten und Mitfahrten, verdeckt Verschiebungen zwischen der MIV-Nutzung als Fahrer und Mitfahrer und sollte generell unterbleiben. • Die Verwendung des relativen Modal Splits kann insbesondere im Zeitvergleich in die Irre leiten, wenn es zu deutlichen Veränderungen der Erhebungsmethode (oder auch des Antwortverhaltens) kommt. Etwas mehr Sicherheit bringt hier die Verwendung absoluter Wegehäufigkeiten anstelle der Anteilswerte. • Hinsichtlich des Fußverkehrs ist bei Vergleichen auf Grundlage unterschiedlicher Befragungen die Operationalisierung der Fußwege zu beachten, z. B. Fußwege ab einer bestimmten Länge, alle Fußwege oder Etappen. Außer-

dem spielt gerade hier die Qualität der Erhebung eine wesentliche Rolle. In der Kernstadt- und Umlandbevölkerung kann es zu deutlich gegenläufigen Veränderungen der Verkehrsmittelnutzung kommen, die in Befragungen allein der Kernstadtbevölkerung verborgen bleiben. Daher sollten Verkehrsanalysen für Kernstädte die Umlandbevölkerung einbeziehen. Gegenüber den Wegehäufigkeiten nach Verkehrsmitteln spielen aus verkehrsplanerischer Sicht die dabei zurückgelegten Distanzen eine größere Rolle, da sich aus diesen die Verkehrsbelastungen vor Ort und die Folgebelastungen ergeben. Daher sollten Analysen der zurückgelegten Distanzen im Vordergrund stehen.

Daraus ergeben sich einige Empfehlungen, die hier in zwei Teilkapiteln dargestellt werden. Kap. 4.1 befasst sich mit Empfehlungen zu den Erhebungen selbst, Kapitel 4.2 behandelt nochmals die Kenngrößen zur Beschreibung der Verkehrsstrukturen und Verkehrsentwicklung. Die Verkehrsmittelnutzung zuverlässiger messen Die bisherigen Überlegungen zeigen, dass die Verkehrsmittelnutzung differenzierter als bisher mit dem Modal Split üblich, abgebildet werden sollte. Dies stellt erweiterte Anforderungen an Konzeption und Inhalte der Messungen bzw. Erhebungen der Verkehrsmittelnutzung. Die wichtigsten Aspekte soll hier kurz eingegangen werden: • Um den einpendelnden Verkehr in die Kernstadt, aber auch die dispersen Verflechtungen im Umland abzubilden, müssen die Befragungen die Bevölkerung einer kompletten Verkehrsregion einschließen. Regionale Erhebungen können sich dabei, wie kommunale Erhebungen, in der Regel auf Stichproben aus den Einwohnermelderegistern stützen. Diese führen zu einer höheren Beteiligung und besseren Abdeckung als einfache Telefonstichproben. • Die zurückgelegten Wege sollten mit einer geografisch verortbaren Angabe zum Start- und Zielpunkt erhoben werden. Mit diesen Informationen kann ein zurückgelegter Weg in seiner Gesamtdistanz bestimmt, gegebenenfalls aber auch in Abschnitte innerhalb und außerhalb der Kernstadt unterteilt und den Gebieten zugewiesen werden. Die Einbeziehung der Umlandbevölkerung (z. B. in Vertiefungen der MiD 2017 (infas et al. 2018)) führt zu einer umfassenderen Abbildung der Verkehrsverflechtungen, der Verkehrsmittelnutzung und des verkehrsmitteldifferenzierten Verkehrsaufwands, aus der die Belastungen durch den MIV deutlicher hervorgehen, aber auch die Bedeutung des ÖV. Mit der regionalen Ausdehnung der Erhebungen ergeben sich durch die längeren Wege vom Umland in die Kernstadt und innerhalb des Umlandes höhere und gleichzeitig realistischere.4 • Damit noch nicht gelöst ist die Integration des Güterverkehrs. Auch hier bieten die regionalen Aufstockungen der MiD Ansatzpunkte und integrieren einen Teil solcher Wege in die Betrachtung des Aufkommens und des Verkehrsaufwands. Diese beschränkt sich aber auf die durch die Bewohner einer Region durchgeführten Fahrten. Soll auch der von

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Schwerpunkt Mobilität und Verkehr

weiter außerhalb einströmende Güterverkehr einbezogen werden, muss auf weitere Quellen wie etwa Zählungen zurückgegriffen werden. Dies gilt sinngemäß auch für den Personenverkehr mit Quellen außerhalb der Region. Wird der Verkehrsaufwand nach Verkehrsmitteln betrachtet, muss der Erhebung der Distanzen besonderes Augenmerk geschenkt werden. Dies kann verknüpft mit der Erfassung von Start- und Zielpunkten erfolgen oder aber durch Schätzungen der Wegedistanzen durch die Befragten, die im Rahmen der Aufbereitung zu plausibilisieren sind. Die Angaben der Distanzen sind besonders sensibel für Ausreißer und erfordern bei Erhebung und Datenaufbereitung besondere Sorgfalt.

Zu diesen inhaltlich-methodischen Gesichtspunkten kommen rein methodische Hinweise. Auch die Abbildung der Verkehrsmittelnutzung durch Absolutwerte ist wertlos, wenn sie auf Befragungskonzepte zurückgeht, die falsche oder verzerrte Werte liefern. Bereits die Zeitreihen in Kapitel 3 belegen, wie wichtig Zuverlässigkeit und Vergleichbarkeit sind. Beim Verständnis unterstützen weitere bewährte, aber auch neuere Datenquellen (siehe Kap. 5). Insbesondere bei Zeitvergleichen und Entwicklungsbetrachtungen stellt sich das Problem zurückgehender Kooperationsraten bei Bürgerbefragungen. Diesem kann nur durch eine sorgfältige Gestaltung der Erhebungsunterlagen und den kombinierten Einsatz verschiedener Methoden – etwa schriftlich, telefonisch und online in einem intergierten Ansatz – begegnet werden. Als Qualitätsmaßstab entscheidender als die oft allein herangezogene Beteiligungsrate sind eine möglichst geringe Selektivität der Befragung und zuverlässige Antworten. Beides wird in Mobilitätsbefragungen zunehmend durch eine Art der sozialen Erwünschtheit erschwert, die durch den wachsenden Fokus auf eine umweltgerechte Alltagsmobilität entsteht. Durch regionale Vertiefungen bundesweiter Erhebungen besteht die Möglichkeit von elaborierten Verfahren zu profitieren, die in alleinstehenden regionalen Ad-hoc-Erhebungen ökonomisch oft nicht leistbar sind. Kenngrößen zur Beschreibung der Verkehrsnachfrage und ihrer Veränderungen Die hier erfolgte Rückrechnung des Modal Splits auf absolute Wegehäufigkeiten und die Betrachtung der zurückgelegten Distanzen nach Verkehrsmitteln führt zu differenzierteren und teilweise abweichenden Einschätzungen der Verkehrsmittelnutzung im Städtevergleich und in der zeitlichen Entwicklung. Dies gilt im Grundsatz für jede Differenzierung des Modal Splits, für den fünfwertigen Modal Split (zu Fuß, Radverkehr, Öffentlicher Verkehr, MIV-Fahrer und Mitfahrer) ebenso wie für die noch schwächeren vier- und dreiwertigen Modal Splits (zu Fuß, Radverkehr, Öffentlicher Verkehr, MIV gesamt oder nicht motorisierter Individualverkehr, Öffentlicher Verkehr, MIV gesamt). Noch problematischer kann die Fokussierung auf ein einzelnes Verkehrsmittel sein, z. B. ein Ziel wie im alten Masterplan Mobilität der Stadt Dortmund (2004), den Radverkehrsanteil zu verdoppeln. Denn eine Verdopplung des Radverkehrsanteils muss nicht zwingend zur eigentlich angestrebten Verringerung des MIV führen, sondern kann auch zu Lasten des Fußverkehrs oder des ÖV führen. Ergänzend sollten

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die Erhebungen zukünftig Fahrräder und Pedelecs, Carsharing und andere Mobilitätsdienste differenzieren, um in den Analysen für neue Entwicklungen offen zu sein. Darüber hinaus zeigt die Datenzusammenstellung, wie wichtig es ist, die Erhebungen und Analysen regional auszudehnen. Denn die Verkehrsentwicklungen in Stadt und Umland können deutlich voneinander abweichen. Außerdem gewinnen die regionalen Verflechtungen für die Verkehrsbelastungen in den Kernstädten weiter an Bedeutung. Eine zutreffende Beschreibung der Verkehrsentwicklung (auch der Kernstädte allein) erfordert daher die Einbeziehung der regionalen Verflechtungen und setzt regionale Befragungen für komplette Verkehrsräume voraus, wie im Rahmen der MiD 2017 und der aktuellen SrV-Erhebungen realisiert. Zu einem besseren Verständnis der Verkehrsentwicklung könnte ein Frageblock zu Umzügen beitragen, wie dieser 1998 in einer Befragung in der Region Berlin durchgeführt wurde. Dieser zeigte, wie deutlich sich das Verkehrsverhalten, vor allem die Kernstadtorientierung, von Alteingesessenen und Zugezogenen unterscheidet (Geier/Holz-Rau/Krafft-Neuhäuser 2001). Entsprechend ist der Modal Split für die Formulierung strategischer Ziele der Verkehrsplanung sowie für die Erfolgskontrolle weitgehend ungeeignet. Diese sollten sich vorrangig auf absolute Aufkommens- und Aufwandsziele sowie deren Veränderungen stützen. Beispielsweise könnte die Zielformulierung für die Reduzierung des MIV wie folgt lauten: „Die durchschnittliche Fahrtenhäufigkeit mit dem MIV als Fahrer soll in der Region in den nächsten zehn Jahren von 1,5 auf 1,2 Fahrten pro Person und Tag sinken, in der Kernstadt von derzeit 1,0 auf 0,7 und im Umland von derzeit 2,0 auf 1,5 Fahrten pro Person und Tag. Die täglichen Distanzen mit dem MIV als Fahrer sollen gleichzeitig von 20 auf 16 km/Person und Tag abnehmen, in der Kernstadt von 13 auf 10, im Umland von 25 auf 20 km/Person und Tag. Es erfolgt eine Kontrolle durch regionale Verkehrsbefragungen (in fünf und) in zehn Jahren“. Derartige Ziele könnten für das städtische Netz anhand von Belastungszahlen nochmals konkretisiert werden: „Die durchschnittlichen täglichen Verkehrsstärken des Kfz-Verkehrs auf den städtischen Hauptverkehrsstraßen sollen, ohne Verdrängung in das nachgeordnete Netz, innerhalb von zehn Jahren um 25 % gesenkt werden, um 15 % an den Stadtgrenzen, um 30 % am Rande der inneren Stadt.“ Mit Zählungen lassen sich die Entwicklungsrichtung sowie der Grad der Zielerreichung kontinuierlich kontrollieren. Durch verkehrsabhängige Steuerungen der Netze, Big Data und Smart City werden entsprechende Daten immer leichter zugänglich. Die Zählungen sollten auch den Radverkehr einbeziehen, da hier das aktuelle Bemühen vieler Städte ansetzt und der Radverkehr in Verkehrsbefragungen mit kürzeren Erhebungszeiträumen, insbesondere durch Witterungseffekte relativ unzuverlässig erfasst wird. Gleichzeitig erfassen Verkehrszählungen auch den Güterverkehr, dessen Zunahme in den Städten zu einem immer größeren Problem wird. Trotz einer Kontrolle der Entwicklungen über Verkehrszählungen bleiben Haushaltsbefragungen in einem zeitlichen Abstand von fünf bis zehn Jahren zum Verständnis des Verkehrsverhaltens und der Verkehrsentwicklung, für sozial und räumlich differenzierte Analysen sowie als Basis von Verkehrsprognosen unverzichtbar. Dabei sollten die Verkehrsmittelnutzung und ihre Entwicklung aber nicht nur komplex erhoben


Schwerpunkt Mobilität und Verkehr

und analysiert werden, sondern, trotz aller Schwierigkeiten, auch komplex kommuniziert und nicht auf den Modal Split reduziert werden. In der fachlichen Perspektive sind diese Ergebnisse nicht vollständig neu. In manchen kommunalen Verkehrsanalysen finden sich auch die hier vorgeschlagenen absoluten Indikatoren des Aufkommens, der Wegehäufigkeiten und Distanzen nach Verkehrsmitteln (z. B. Münster 2009 und 2013, Landeshauptstadt München 2006, NYC Department of Transportation 2016). Sie werden aber in der weiteren Diskussion in der Regel durch den relativen Modal Split (meist des Bewohnerverkehrs) abgelöst. Hier sollten die Expertinnen und Experten in den Verwaltungen, beratenden Büros und Erhebungsinstituten die Bedeutung komplexerer Indikatoren betonen, auf komplexere Formulierungen von Zielen, Entwicklungen und Wirkungen drängen und sich der dominierenden Verwendung des vereinfachenden und teilweise irreleitenden relativen Modal Splits entgegenstellen.

Danksagung Für die Unterstützung bei der Datensammlung und weitere Anregungen danken wir Frau Tanja Göbler (Region Hannover), Patrick Hönninger (Stadt Duisburg), Andreas Meißner (Stadt Dortmund), Detlef Pfefferkorn (Stadt Potsdam) und Ralf Renkhoff (Stadt Münster). Außerdem danken wir Dr. Johannes Eggs (infas) für die Analysen des Datenbestandes der Region Hannover. 1

2 3 4

Der Beitrag stellt eine gekürzte Fassung des gleichnamigen Aufsatzes in der Zeitschrift Straßenverkehrstechnik 62(8), S. 539–550. Wir danken der Forschungsgesellschaft für Straßen- und Verkehrswesen e. V. sowie dem Kirschbaum Verlag GmbH für ihre Zustimmung zur Zweitveröffentlichung. Beispielhaft zur MiD 2008 (infas, DLR 2010), zum SrV Ahrens et al. 2015 oder für die Region Hannover GGR 2013. Dabei weisen die Ansprechpartner der Stadt Dortmund (Meißner) und der Stadt Potsdam (Pfefferkorn) als Erklärung sinkender Radverkehrsanteile auf schlechtere Witterungsbedingungen in der Erhebung 2013 hin. Für Hamburg liegt eine erste Veröffentlichung vor, die regionale Bezüge umfasst. Diese betrachten aber anders als hier nicht den Verkehr von Stadt und Region insgesamt, sondern betrachten den Verkehr in Stadt Hamburg einschließlich der Wege der Umlandbevölkerung (infas et al. 2020).

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Schwerpunkt Mobilität und Verkehr

Uwe Dreizler

Vom Fahrzeugregister zur Kfz-Statistik

Die Auswertung der Fahrzeugregister der Kraftfahrzeug-Zulassungsbehörden ist in der deutschen Städtestatistik weniger verbreitet als z. B. die Auswertung der Einwohnerregister. Dies liegt zum einen daran, dass die Einwohnerregister gemeindebezogen verfügbar sind und die Kraftfahrzeugregister von den Zulassungsstellen geführt werden, die in der Regel nur von kreisfreien Städten bzw. von den Landratsämtern verwaltet werden. Zum anderen erfordert die Aufbereitung der Daten eine stetige Anpassung von Schlüsselwerten, wie Schadstoff-Codierungen oder Herstellerund Typschlüssel für die Zuordnung zu den Fahrzeugsegmenten. Dieser Bericht soll kommunalen Statistikstellen die Systematik für die Aufbereitung und Auswertung von Kfz-Daten anhand einiger Beispiele aus dem Stuttgarter Fahrzeugregister näherbringen, verschiedene Blickwinkel auf diesen Datenbestand eröffnen und auch das Interesse für eigene Auswertungen wecken.

Die Einzeldaten des Stuttgarter Fahrzeugregisters werden im Statistischen Amt der Landeshauptstadt Stuttgart seit 1992 halbjährig gespeichert. Seit 2016 werden aufgrund der zunehmenden Nachfrage nach aktuellen Veränderungen im Kfz-Bestand, die Registerdaten monatlich aufbereitet und veröffentlicht. Die Übergabe der Einzeldaten an die, gemäß Landesstatistikgesetz abgeschottete kommunalen Statistikstelle, ist durch Satzung geregelt. Der Verfahrensbetreuer, das regionale Rechenzentrum, exportiert aus dem Stuttgarter Fahrzeugregister die für die Auswertungen relevanten Bestandsdaten der Kfz-Zulassungen als csv-Datei. Der Abzug umfasst alle angemeldeten Fahrzeuge, denen ein Kennzeichen zugeteilt wurde. Nicht mit einbezogen sind Fahrzeuge der Bundeswehr sowie Fahrzeuge, die mit rotem, beziehungsweise mit Kurzzeit- und Ausfuhrkennzeichen ausgestattet sind. Fahrzeuge, die lediglich über ein Versicherungskennzeichen verfügen, z. B. Leichtkraftfahrzeuge, sind ebenfalls nicht enthalten. Im Zuge der Datenaufbereitung werden die manuell erfassten Halteradressen plausibilisiert und dem räumlichen Gliederungssystem der Landeshauptstadt Stuttgart zugeordnet. Namen der Halter oder Kennzeichen der Fahrzeuge werden nicht gespeichert.

Die Systematik zur Auswertung des Kfz-Bestandes

Uwe Dreizler Dipl.-Verwaltungswirt (FH) und Dipl. Geograf, Leiter der Abteilung Bevölkerung und Wahlen im Statistischen Amt der Landeshauptstadt Stuttgart : uwe.dreizler@stuttgart.de Schlüsselwörter: Verkehr – Verkehrsstatistik – KfZ-Statistik – KfZ-Register – Fahrzeugregister

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STADTFORSCHUNG UND STATISTIK 2|2020

Die grundlegende Systematik für die statistische Auswertung des Kfz-Bestandes wird durch das Kraftfahrt-Bundesamt (KBA) festgelegt. Auf dessen Internetseite sind folgende fünf Verzeichnisse publiziert, die auch für die Auswertungen in der Kommunalstatistik herangezogen werden. Damit ist die Vergleichbarkeit der Auswertungen gewährleistet. • Verzeichnis zur Systematisierung von Kraftfahrzeugen und ihren Anhängern (SV 1) • Verzeichnis der Kraftstoffverbrauchs- und Emissions-Typprüfwerte von Kraftfahrzeugen (SV 2) • Verzeichnis der Hersteller von Kraftfahrzeugen und -anhängern (SV 3) • Verzeichnis der Hersteller und Typen (SV 4) • Verzeichnis für die Zuordnung der Fahrzeughalter nach Systematik der Wirtschaftszweige (SV 5)


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Zu diesen Verzeichnissen finden sich auf den Seiten des Kraftfahrt-Bundesamtes monatlich aktualisierte Schlüsseltabellen, insbesondere die Zuordnung der Neuzulassungen von Personenkraftwagen zu Segmenten und Modellreihen sowie eine Vielzahl von statistischen Auswertungen, die eine sehr gute Orientierung, etwa für die Klassenbildung von Hubraum oder Motorleistung geben.

Die Art des Halters wird vom KBA und der amtlichen Statistik ausschließlich über das Merkmal „Wirtschaftszweig“ bestimmt. Bei gewerblichen Anmeldungen wird dieser von der Zulassungsstelle erfasst. Als Halter kann bei den gewerblichen Anmeldungen entweder eine juristische oder eine natürliche Person angegeben werden. Natürliche Personen werden insbesondere von Kleingewerbetreibenden eingetragen, die selbst auch Fahrzeughalter sind. Der Verband der Automobilindustrie (VdA) zählt Fahrzeuge, bei denen als Halter eine natürliche Person benannt ist, unabhängig von der Erfassung eines Wirtschaftszweiges zu den privaten Fahrzeugen. In Stuttgart unterscheiden sich daher die Zahl der gewerblichen Pkw in der amtlichen Statistik von den Zahlen des VdA um etwa 10 Prozent. Von Jahresende 2008 bis Ende 2019 wuchs der Stuttgarter Pkw-Bestand jährlich um etwa 3000 Fahrzeuge, insgesamt um 31 258 Pkw. Welche Faktoren führten zu der seit 2009 stetigen Vergrößerung des Pkw-Bestandes? Den wichtigsten Anteil hat dabei der Zuwachs der Stuttgarter Bevölkerung. Hatte Stuttgart im Jahre 2008 noch rund 561 500 Einwohner, waren es Ende 2019 über 614 000. Der Zunahme der Einwohner um 9,4 Prozent steht eine Zunahme der Pkw um 11,5 Prozent gegenüber, das heißt, der Pkw-Bestand ist stärker gewachsen als der Einwohnerbestand. Dies ist auch an der Anzahl der Pkw je 1000 Einwohner ablesbar. 2008 kamen 483 Pkw auf 1000 Einwohner, Ende 2019 waren es 493 Pkw je 1000 Einwohner. Wichtig für diese Entwicklung sind vor allem die gewerblich zugelassenen Pkw. Während die Anzahl der privaten Pkw seit 2008 um 9,2 Prozent und damit sogar leicht unter dem Einwohnerbestand anstieg, haben die gewerblich angemeldeten Pkw um 18,9 Prozent zugenommen. Dass sich die privaten Pkw und der Einwohnerbestand vergleichbar entwickelten, ist auch an der Anzahl der privat angemeldeten Pkw je 1000

Kraftfahrzeuge nach Art des Fahrzeugs Der motorisierte Kraftfahrzeugbestand wird grundlegend in folgende sechs globale Fahrzeugarten differenziert: Pkw, Busse, Krafträder, Lkw, Zugmaschinen, Arbeitsmaschinen und sonstige Kfz. Die ebenfalls im Register enthaltenen Anhänger bilden eine eigene Fahrzeugart, die neben den Kraftfahrzeugen ausgewiesen wird. Die globale Fahrzeugart wird über zwei in den Registerdaten enthaltene Merkmale, die Fahrzeugart und die Aufbauart, ermittelt. Der Schlüssel für die Fahrzeugart, z. B. M1 für Pkw, M2 für Busse oder 09 für Krafträder bildet das primäre Kriterium für die Zuweisung. Die Aufbauart wird benötigt, um zwischen Lkw, Arbeitsmaschinen und sonstigen Kfz unterscheiden zu können. Pkw-Bestand nach Art des Halters Mehr als 82 Prozent der motorisierten Kraftfahrzeuge in Deutschland sind Pkw. Daher verdient diese Fahrzeugart eine besondere Betrachtung. Eine Differenzierung des Pkw-Bestandes nach gewerblich und privat angemeldeten Fahrzeugen ist hilfreich, um die Ursachen für die Zunahme des Fahrzeugbestandes besser interpretieren zu können.

Tabelle1: Kraftfahrzeuge und Anhänger in Stuttgart seit 1970 Davon

Lastkraftwagen

sonstige Kraftfahrzeuge2

Kraftfahrzeuge je 1 000 Einwohner

13 403

2 959

299

davon mit Jahr (31.12.) 1970

Kraftfahrzeuge insgesamt1 188 859

Krafträder 1 259

Personenkraftwagen 170 821

privater Zulassung

gewerblicher Zulassung -

-

Kraftomnibusse 417

Anhänger 6 645

1980

243 749

5 151

220 469

-

-

552

13 251

4 326

405

10 205

1990

298 756

10 273

269 060

-

-

772

12 428

6 223

499

12 210

2000

342 441

18 509

301 530

237 354

64 176

737

15 062

6 603

621

15 824

2010

310 516

20 204

272 684

209 170

63 514

662

12 572

4 394

549

15 667

2015

336 235

23 079

292 720

219 274

73 446

673

15 227

4 536

558

17 085

2016

342 407

23 854

297 555

222 452

75 103

386

16 025

4 587

562

17 471

2017

346 934

24 169

300 836

223 649

77 187

400

16 822

4 707

567

17 842

2018

349 219

24 696

301 586

225 202

76 384

669

17 444

4 824

568

18 197

2019

351 220

25 133

302 721

224 244

78 477

565

17 742

5 059

571

18 408

1 2

ab 2007 nur noch angemeldete Fahrzeuge, ohne vorübergehende Stilllegungen/Außerbetriebsetzungen Zugmaschinen, selbstfahrende Arbeitsmaschinen und übrige Kraftfahrzeuge Quelle: Kraftfahrt-Bundesamt (bis 1991), Landeshauptstadt Stuttgart, Statistisches Amt

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Schwerpunkt Mobilität und Verkehr

Tabelle 2: Die Entwicklung des Pkw-Bestands seit 2008 in Stuttgart nach Art der Halter Davon mit privater Zulassung

gewerblicher Zulassung

Pkw je 1 000 Einwohner

Private Pkw je 1 000 Einwohner

Pkw insgesamt

Anzahl

%

Anzahl

%

31.12.2008

271 463

205 439

75,7

66 024

24,3

483

366

31.12.2009

270 014

206 992

76,7

63 022

23,3

481

369

31.12.2010

272 684

209 170

76,7

63 514

23,3

482

370

31.12.2011

278 807

212 291

76,1

66 516

23,9

487

370

31.12.2012

283 075

214 330

75,7

68 745

24,3

489

370

31.12.2013

285 548

215 588

75,5

69 960

24,5

487

368

31.12.2014

288 527

217 007

75,2

71 520

24,8

487

366

31.12.2015

292 720

219 274

74,9

73 446

25,1

486

364

31.12.2016

297 555

222 452

74,8

75 103

25,2

488

365

31.12.2017

300 836

223 649

74,3

77 187

25,7

492

366

31.12.2018

301 586

225 202

74,7

76 384

25,3

491

367

31.12.2019

302 721

224 244

74,1

78 477

25,9

493

365

Stichtag

Quelle: Landeshauptstadt Stuttgart, Statistisches Amt

Einwohner ablesbar. Diese liegt während des betrachteten Zeitraums fast konstant bei durchschnittlich 366 Pkw je 1000 Einwohner (vgl. Tabelle 2). Letztmalig war der Fahrzeugbestand im Vergleich zum Vorjahr während der Finanz- und Wirtschaftskrise 2008 und 2009 gesunken. Die Halter gewerblich angemeldeter Fahrzeuge reagieren, aufgrund der kürzeren Fahrzeuglaufzeiten, schneller auf die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen als die privaten Halter. Die Anzahl der gewerblich zugelassenen Pkw ging im Jahr 2009 von rund 66 000 Fahrzeugen auf 63 000 Fahrzeuge zurück. Die wegfallenden Geschäftswagen wurden zumindest zum Teil durch private Pkw-Zulassungen kompensiert. Trotz der stagnierenden wirtschaftlichen Entwicklung und gleichbleibender Einwohnerzahl stieg im Jahr 2009 die Anzahl der privat zugelassenen Pkw um 1500 Fahrzeuge. Seit Ende 2010 steigen im Stuttgarter Pkw-Bestand die Anzahl und der Anteil der gewerblich zugelassenen Pkw wieder weitgehend kontinuierlich an. Waren 2010 noch 63 514 und somit 23,3 Prozent der Pkw gewerblich zugelassen, liegt der Anteil heute bei 25,9 Prozent (78 477 Fahrzeuge).

Tabelle 3: Neuzulassungen im Pkw-Bestand in Stuttgart seit 2008

Neuzulassungen Die aktuelle Entwicklung des Kfz-Bestandes lässt sich sehr gut an den Neuzulassungen ablesen. Während sich der KfzBestand relativ träge verändert, erkennt man Trends bei der Betrachtung der Neuzulassungen oft sehr gut. Gezählt werden bei den Neuzulassungen Fahrzeuge, die im jeweiligen Jahr zugelassen wurden und zum Zulassungszeitpunkt jünger als ein Jahr waren. Enthalten sind somit die Erstzulassungen, die Tages- und Kurzzeitzulassungen und die Jahreswagen. Im Unterschied zur Geschäftsstatistik der Zulassungsstelle zählen in den Auswertungen nur die Fahrzeuge, die sich tatsächlich im Stuttgarter Fahrzeugbestand wiederfinden und nicht Fahrzeuge, die zum Beispiel nach einer Kurzzeitzulassung in einem anderen Landkreis angemeldet werden. Im Rahmen des Konjunkturpakets II führte die Bundesregierung im Januar 2009 eine Umweltprämie ein, besser

1

66

STADTFORSCHUNG UND STATISTIK 2|2020

Davon mit privater Zulassung

gewerblicher Zulassung

Neuzulassungen1 insgesamt

Anzahl

%

Anzahl

%

31.12.2008

39 372

14 660

37,2

24 712

62,8

31.12.2009

38 483

19 384

50,4

19 099

49,6

31.12.2010

35 408

14 014

39,6

21 394

60,4

31.12.2011

40 602

14 909

36,7

25 693

63,3

31.12.2012

40 058

14 379

35,9

25 679

64,1

31.12.2013

40 061

14 113

35,2

25 948

64,8

31.12.2014

42 738

14 137

33,1

28 601

66,9

31.12.2015

45 558

15 000

32,9

30 558

67,1

31.12.2016

47 285

15 923

33,7

31 362

66,3

31.12.2017

48 178

16 568

34,4

31 610

65,6

31.12.2018

48 367

17 664

36,5

30 703

63,5

31.12.2019

48 178

16 568

34,4

31 610

65,6

Stichtag

Pkw im Stuttgarter Fahrzeugbestand, die im jeweiligen Jahr in Stuttgart mit einem Kennzeichen zugelassen wurden und zum Zulassungszeitpunkt maximal ein Jahr alt waren (fabrikneue Fahrzeuge, Tages- und Kurzzeitzulassungen und Jahreswagen). Fahrzeuge, die bereits im Ausland eine Straßenzulassung hatten, sind nicht miteinbezogen. Quelle: Landeshauptstadt Stuttgart, Statistisches Amt

unter dem Begriff „Abwrackprämie“ bekannt, welche die Verschrottung von Altautos, neun Jahre oder älter, bei Kauf eines Jahres- oder Neuwagens mit mindestens Euro 4, mit 2500,- Euro förderte. Bis zum Auslaufen des Förderprogramms im September 2009 wurden, auch in Stuttgart, eine große Anzahl von alten Pkw durch neue Fahrzeuge ersetzt. Die Prämie führte dazu, dass 2009 die Neuzulassungen von privaten


Schwerpunkt Mobilität und Verkehr

Pkw – entgegen der allgemeinen Entwicklung des Stuttgarter Fahrzeugbestandes – um 4700 Fahrzeuge zunahmen. Einmalig im Betrachtungszeitraum gab es 2009 mit 19 384 (50,4 %) mehr private als gewerbliche Pkw-Neuzulassungen. Dass es sich dabei zu einem Teil um vorgezogene Fahrzeugkäufe handelte, ist daran abzulesen, dass 2010 die privaten Neuzulassungen mit 14 014 Pkw den niedrigsten Wert in der Zeitreihe aufweisen. Von den Pkw-Neuzulassungen seit 2010 entfallen durchschnittlich 64,8 Prozent auf gewerbliche Halter, aktuell sind es 65,6 Prozent (vgl. Tabelle 3). Seit 2014 nehmen in Stuttgart die jährlichen Neuzulassungen und auch ihr Anteil am gesamten Pkw-Bestand deutlich zu. Zählten 2014 noch 14,8 Prozent (42 738 Pkw) zu der Gruppe der Neuzulassungen, waren es 2015 bereits 15,6 Prozent (45 558 Pkw) und seit 2018 dann 16,0 Prozent. Personenkraftwagen nach Art des Antriebs Eine der aktuell wichtigsten Auswertungen des Pkw-Bestandes ist die Betrachtung nach Art des Antriebs. Im Fahrzeugregister sind etwa 40 unterschiedliche Antriebsarten über Schlüsselwerte abgebildet. Die Antriebsarten Benzin und Diesel dominieren bis heute bei den Personenkraftwagen. Mitte 2019 fuhren noch 96,6 Prozent der Stuttgarter Pkw mit einer der beiden Antriebsarten. In der zweiten Jahreshälfte stieg der Anteil der Hybrid-, Plugin-Hybrid- und Elektrofahrzeuge im Fahrzeugbestand von 2,1 auf 3,6 Prozent. Mit 95,7 Prozent dominieren auch Ende 2019 weiter die beiden traditionellen Antriebsarten. Personenkraftwagen mit alternativen Antriebsarten Mit insgesamt 3,6 Prozent nehmen die, zu Benzin und Diesel alternativen Antriebsarten bei Personenkraftwagen auch

Ende 2019 noch einen relativ geringen Anteil ein. Rund 13 000 Pkw zählen zu dieser Gruppe. Trotz der geringen Anzahl von Personenkraftwagen lassen sich in der Zeitreihe interessante Entwicklungen ablesen. Bis Ende 2013 lag der Fokus bei den, zu Benzin und Diesel alternativen Antriebsarten noch klar auf Flüssig- und Erdgas. Von 2003 bis 2008 nahmen der Flüssig- und Erdgas-PkwBestand von unter 100 Fahrzeugen auf über 1000 Pkw zu, die jährlichen Zuwachsraten gegenüber dem Vorjahr lagen bei durchschnittlich 65 Prozent. Bis Ende 2012 gingen die Zuwachsraten bei den beiden Antriebsarten auf etwa 20 Prozent zurück, der Bestand wuchs damit noch weiter auf etwa 2000 Fahrzeuge. Seit 2013 stagniert der Pkw-Bestand bei den flüssig- und erdgasbetriebenen Fahrzeugen auf diesem Niveau und verlor, im Gegensatz zu den anderen alternativen Antriebsformen, an Bedeutung. Seit 2013 bis heute nehmen Hybrid, extern aufladbare Plug-In-Hybridfahrzeuge und Elektrofahrzeuge jährlich um 25 bis 30 Prozent gegenüber dem Vorjahr zu und haben mit dieser Entwicklung bereits 2014 die flüssig- und erdgasbetriebenen Pkw in der Gesamtzahl hinter sich gelassen. Betrachtet man die Verteilung in den letzten beiden Jahren, scheint es so, dass der reine Hybridantrieb, ohne die Möglichkeit einer externen Aufladung der Batterien, deutlich stärker an Fahrt gewinnt als die übrigen Antriebsarten. Mittlerweile liegt sein Anteil bei den Pkw mit alternativen Antriebsformen bei 42,9 Prozent. Wenn man Benziner und Diesel-Pkw in die Betrachtung miteinbezieht, liegt der Anteil des Hybridantriebs mit 5580 Fahrzeugen bei 1,8 Prozent des Fahrzeugbestandes. Einen guten Eindruck über den aktuellen Trend bei den Pkw Antriebsarten zeigt sich auch bei der Betrachtung während des zwölf-Monate-Zeitraums.

Abbildung 1: Anteil der Antriebsarten bei Personenkraftwagen in Stuttgart seit 1992

Quelle: Landeshauptstadt Stuttgart, Statistisches Amt

STADTFORSCHUNG UND STATISTIK 2|2020

67


Schwerpunkt Mobilität und Verkehr

Tabelle 4: Personenkraftwagen in Stuttgart nach Antriebsarten, ohne Benziner und Diesel seit 2008

Stichtag

Pkw ohne Benziner Hybrid und Diesel insgesamt Anzahl

Davon Erdgas Flüssiggas Sonstige1 (einschl. bivalent) (einschl. bivalent)

Plug-in-Hybrid Elektro %

Anzahl

%

Anzahl

%

Anzahl

%

Anzahl

%

Anzahl

%

31.12.2008

1 237

195

15,8

-

-

22

1,8

661

53,4

359

29,0

-

-

31.12.2009

1 675

380

22,7

-

-

29

1,7

898

53,6

358

21,4

10

0,6

31.12.2010

2 002

396

19,8

-

-

72

3,6

1 134

56,6

377

18,8

23

1,1

31.12.2011

2 415

442

18,3

-

-

147

6,1

1 381

57,2

398

16,5

47

1,9

31.12.2012

3 171

714

22,5

4

0,1

431

13,6

1 571

49,5

390

12,3

61

1,9

31.12.2013

3 886

870

22,4

91

2,3

894

23,0

1 570

40,4

399

10,3

62

1,6

31.12.2014

4 316

998

23,1

145

3,4

1 056

24,5

1 595

37,0

455

10,5

67

1,6

31.12.2015

4 046

1 023

25,3

345

8,5

604

14,9

1 564

38,7

438

10,8

72

1,8

31.12.2016

4 565

1 215

26,6

573

12,6

794

17,4

1 496

32,8

418

9,2

69

1,5

30.06.2017

5 160

1 407

27,3

805

15,6

990

19,2

1 461

28,3

434

8,4

63

1,2

31.12.2017

5 904

1 594

27,0

1 162

19,7

1 173

19,9

1 470

24,9

447

7,6

58

1,0

30.06.2018

6 996

2 046

29,2

1 520

21,7

1 407

20,1

1 454

20,8

500

7,1

69

1,0

31.12.2018

8 458

3 082

36,4

1 748

20,7

1 560

18,4

1 449

17,1

550

6,5

69

0,8

31.12.2019

12 999

5 580

42,9

2 531

19,5

2 652

20,4

1 559

12,0

617

4,7

60

0,5

1

Brennstoffzelle, Benzin/Ethanol (Kraftstoffgemisch wie z. B. E85) oder Wasserstoff Quelle. Landeshauptstadt Stuttgart, Statistisches Amt

Abbildung 2 und 3: Die Entwicklung ausgewählter Pkw-Antriebsarten in den letzten 12 Monaten, Stand 31.12.2019

68

STADTFORSCHUNG UND STATISTIK 2|2020


Schwerpunkt Mobilität und Verkehr

Tabelle 5: Bestand an Personenkraftwagen nach Schadstoffklassen Ende Dezember 2019 in Stuttgart Darunter Pkw mit Antriebsart Diesel Anteil in % an den …

Pkw nach Schadstoffklasse

Pkw insgesamt

Anzahl

Pkw insgesamt

Diesel-Pkw

Euro 4 oder schlechter ohne Zuordnung1 Euro 1 Euro 2 Euro 3 Euro 4

93 318 686 3 360 16 023 14 921 58 328

10 396 114 52 1 215 3 453 5 562

3,4 0,0 0,0 0,4 1,1 1,8

12,7 0,1 0,1 1,5 4,2 6,8

Euro 5

60 166

20 329

6,7

24,8

141 357 88 562 50 562 2 233

50 949 34 316 14 836 1 797

16,8 11,3 4,9 0,6

62,1 41,9 18,1 2,2

2 668

0

0,0

0,0

Euro 6 Euro 6a bis Euro 6c Euro 6d temp Euro 6d Elektro oder Brennstoffzelle Oldtimer Pkw insgesamt

5 212

305

0,1

0,4

302 721

81 979

27,1

100,0

1 Pkw ohne Schadstoffklassifizierung oder mit unbekannter Zuordnung.

Bestand der Pkw in Stuttgart nach Schafstoffklassen Aufgrund der in einigen Städten verhängten Fahrverbote, ist die Betrachtung der Schadstoffklassen bei den Pkw, insbesondere bei den Pkw mit der Antriebsart Diesel, eine nachgefragte Auswertung aus dem Fahrzeugregister. Pkw Neuzulassungen nach technischen Merkmalen Die technischen Fahrzeugdaten sind direkt auszuwertende Merkmale der Registerdaten. In der Regel werden sie gruppiert oder als Durchschnittswerte dargestellt. Eine Entwicklung der Werte zeigt, dass die Pkw in den letzten zehn Jahren bei ähnlichem Hubraum stetig eine höhere Motorleistung aufweisen

und dabei schneller, schwerer und CO2-ärmer werden. Der Rückgang des Diesels führt seit 2017 wieder zu einem Anstieg der CO2-Emission, der durch den Anteil der Elektro- und Hybridfahrzeuge noch nicht kompensiert werden kann. Neuzulassungen von Personenkraftwagen nach Herstellern und technischen Merkmalen Für die folgenden Diagramme wurden die Stuttgarter PkwNeuzulassungen von 2019 nach Fahrzeugmarken ausgewertet. Dargestellt ist das arithmetische Mittel je Merkmal und Fahrzeugmarke sowie der Durchschnittswert der deutschen Neuwagenzulassungen von 2018 (Quelle: Kraftfahrt-Bundesamt).

Tabelle 6: Neuzulassungen von Personenkraftwagen in Deutschland nach technischen Merkmalen seit 2009

Jahr

Höchstgeschwindigkeit in km/h

Motorleistung in kW

Hubraum in cm³

CO2-Emission in g/km

Fahrgeräusch in dB

Leermasse in kg

2009

186

87

1 670

154

-

1 297

2010

192

96

1 763

152

-

1 446

2011

194

99

1 767

147

-

1 472

2012

194

101

1 755

142

72

1 479

2013

195

101

1 732

136

72

1 475

2014

196

103

1 724

133

72

1 477

2015

198

106

1 721

129

71

1 486

2016

199

109

1 722

127

71

1 497

2017

200

111

1 708

128

71

1 505

2018

200

113

1 679

130

70

1 515

Quelle: Kraftfahrt-Bundesamt

STADTFORSCHUNG UND STATISTIK 2|2020

69


Schwerpunkt Mobilität und Verkehr

Abbildungen 4 und 5: Neuzulassungen von Personenkraftwagen in Stuttgart, ohne Utilities und Wohnmobile, Januar bis Juni 2019

Neuzulassungen in Deutschland 2018: Ø 200 km/h

Höchstgeschwindigkeit in km/h

Neuzulassungen in Deutschland 2018: Ø 113 kW

Motorleistung in kW

Mercedes VW Porsche BMW Audi Smart Škoda Ford Opel Seat Toyota Renault Mini Volvo Dacia Mitsubishi Mazda Fiat Citroën Peugeot Hyundai Kia Nissan Jaguar Jeep

Mercedes VW Porsche BMW Audi Smart Škoda Ford Opel Seat Toyota Renault Mini Volvo Dacia Mitsubishi Mazda Fiat Citroën Peugeot Hyundai Kia Nissan Jaguar Jeep 50

100

150

200

250

50

300

100

150

200

250

300

Abbildungen 6 und 7: Neuzulassungen von Personenkraftwagen in Stuttgart, ohne Utilities und Wohnmobile, Januar bis Juni 2019 Neuzulassungen in Deutschland 2018: Ø 1679 cm³

Hubraum in cm³ Mercedes VW Porsche BMW Audi Smart Škoda Ford Opel Seat Toyota Renault Mini Volvo Dacia Mitsubishi Mazda Fiat Citroën Peugeot Hyundai Kia Nissan Jaguar Jeep

Mercedes VW Porsche BMW Audi Smart Škoda Ford Opel Seat Toyota Renault Mini Volvo Dacia Mitsubishi Mazda Fiat Citroën Peugeot Hyundai Kia Nissan Jaguar Jeep 500

70

Neuzulassungen in Deutschland 2018: Ø 130 g/km

CO2-Emission in g /km

1 000

1 500

2 000

2 500

3 000

STADTFORSCHUNG UND STATISTIK 2|2020

50

100

150

200

250


Schwerpunkt Mobilität und Verkehr

Abbildungen 8 und 9: Neuzulassungen von Personenkraftwagen in Stuttgart, ohne Utilities und Wohnmobile, Januar bis Juni 2019

Neuzulassungen in Deutschland 2018: Ø 70 dB

Fahrgeräusch in dB

Neuzulassungen in Deutschland 2018: Ø 1516 kg

Leermasse in kg

Mercedes VW Porsche BMW Audi Smart Škoda Ford Opel Seat Toyota Renault Mini Volvo Dacia Mitsubishi Mazda Fiat Citroën Peugeot Hyundai Kia Nissan Jaguar Jeep

Mercedes VW Porsche BMW Audi Smart Škoda Ford Opel Seat Toyota Renault Mini Volvo Dacia Mitsubishi Mazda Fiat Citroën Peugeot Hyundai Kia Nissan Jaguar Jeep 62

64

66

68

70

72

74

Personenkraftwagen nach Fahrzeugsegmenten Das Kraftfahrt-Bundesamt gliedert die Personenkraftwagen zur besseren statistischen Vergleichbarkeit in sogenannte Fahrzeugsegmente. Die Zuordnung zu Fahrzeugsegmenten ist relativ aufwändig, da für jeden Typschlüssel, bzw. die Modellreihe eine Segmentzuordnung erfolgen muss. Neue Typschlüssel werden durch das KBA monatlich Fahrzeugsegmenten zugeordnet. Eine Gesamtübersicht aller Typschlüssel

500

1 000

1 500

2 000

2 500

kann kostenpflichtig beim Kraftfahrt-Bundesamt erworben werden, ist dann jedoch weiter fortzuführen. SUVs und Geländewagen erfreuen sich, trotz Umweltdiskussionen, auch in Stuttgart zunehmender Beliebtheit. Der Anteil dieser Fahrzeuge stieg im Fahrzeugbestand in den letzten beiden Jahren um 3,1 Prozentpunkte (9578 Pkw) auf 13,3 Prozent (37 589 Pkw), bei den Neuzulassungen stieg der Anteil sogar um 6,4 Prozentpunkte (4609 Pkw).

Abbildung 10 und 11: Personenkraftwagen und Neuzulassungen in Stuttgart nach Fahrzeugsegmenten Fahrzeugstand: 31. Dezember 2019

Fahrzeugstand: 31. Dezember 2017 Mini s

Mini s

Kleinwagen

Kleinwagen

Kompaktklasse

Kompaktklasse

Mittelklasse

Mittelklasse

Obere Mittelklasse

Obere Mittelklasse

Oberklasse

Oberklasse

SUVs und Geländewagen

SUVs und Geländewagen

Sportwagen

Sportwagen

Vans

Vans

Utilities und Wohnmobile

Utilities und Wohnmobile

Sonstige / unbekannt

Sonstige / unbekannt

0,0%

5,0%

10,0%

Neuz ulassungen

15,0% Pkw-Bestand

20,0%

25,0%

30,0%

0,0%

5,0%

Neuzulassungen

10,0%

15,0%

20,0%

25,0%

30,0%

Pkw-Bestand

Quelle: Statistisches Amt der Landeshauptstadt Stuttgart

STADTFORSCHUNG UND STATISTIK 2|2020

71


Schwerpunkt Mobilität und Verkehr

Hoch- und Tiefburgen von Pkw-Marken Die Auswertung von Fahrzeugmarken nach Raumstrukturen zeigt, dass die Präferenz für eine Fahrzeugmarke auch ein Indikator für bestimmte Lebensformen oder auch ein Hilfsmerkmal für das Einkommen sein kann. So ist in den Stuttgarter Stadtteilen mit einem niedrigen Durchschnittsalter und einem hohen Anteil an Singlehaushalten der Anteil von MINIs höher. Personenkraftwagen und Fahrzeugalter Das Datum der Erstzulassung der Fahrzeuge ist ebenfalls in den Registerdaten gespeichert. Die Auswertung zeigt, dass die Stuttgarter Pkw im arithmetischen Mittel, trotz Umweltprämien und Fahrverboten immer älter werden. Seit 2008 stieg das Durchschnittsalter der Pkw von 7,4 auf 8,4 Jahre.

Die Unterscheidung von privaten und gewerblichen Zulassungen zeigt, dass die privaten Pkw hierfür ausschlaggebend sind. Das Durchschnittsalter der gewerblichen Pkw liegt relativ konstant bei 3,1 Jahren, während das Durchschnittsalter der privaten Pkw von 8,7 Jahren im Jahre 2008 auf 10,1 Jahre Ende 2019 anstieg. Die Ursache hierfür liegt insbesondere an der Zunahme der Pkw mit Oldtimerzulassung, die primär von privaten Haltern angemeldet werden. Entsprechend der Definition in § 2 Nr. 22 der Fahrzeug-Zulassungsverordnung sind Oldtimer Fahrzeuge, die vor mindestens 30 Jahren erstmals in Verkehr gekommen sind, weitestgehend dem Originalzustand entsprechen, in einem guten Erhaltungszustand sind und zur Pflege des kraftfahrzeugtechnischen Kulturgutes dienen.

Karte 1: Hoch- und Tiefburgen der Marke MINI nach Stadtteilen 2019 in Stuttgart

72

STADTFORSCHUNG UND STATISTIK 2|2020


Schwerpunkt Mobilität und Verkehr

Die Zahl der als Oldtimer zugelassenen Pkw stieg in Stuttgart, seit dem Jahre 2008 von knapp 2000 Fahrzeugen (0,7 %) bis heute auf 5212 Fahrzeuge (1,7 % des Fahrzeugbestandes). Diese starke Zunahme hat sicher mehrere Ursachen. Zum einen erreichen heute immer mehr Fahrzeuge aufgrund der technischen Voraussetzungen – zum Beispiel Rostschutz – das notwendige Fahrzeugalter, zum anderen erfreuen sich Oldtimer zunehmender Beliebtheit, sind teilweise auch als Wertanlage gesucht und bekommen Ausnahmegenehmigungen, was zum Beispiel die Einfahrt in Umweltzonen anbelangt. Neben den Pkw mit eingetragenem Oldtimerstatus, nimmt auch die Anzahl der Youngtimer, das heißt der Pkw, ohne Oldtimerstatus im Alter von mindestens 20 Jahren, beständig zu. Deren Zahl hat sich in den letzten zehn Jahren auf 18 625

Pkw mehr als verdreifacht. Auch bei diesen Fahrzeugen ist anzunehmen, dass die meisten eine geringe jährliche Laufleistung haben. Insgesamt sind heute 7,9 Prozent aller Fahrzeuge als Young- oder Oldtimer zugelassen. Wenn man die Fahrzeuge über 20 Jahre außer Acht lässt, hat sich das Durchschnittsalter der privaten Pkw seit 2008 von 8,3 auf 8,0 Jahre reduziert. Personenkraftwagen nach Alter der Halter Auch das Alter der Halter ist für die privat zugelassenen Pkw in den Registerdaten erfasst. Die Anzahl der privaten Personenkraftwagen ist seit 10 Jahren mit durchschnittlich 367 Pkw je 1000 Einwohner relativ konstant. Die Entwicklung in Altersgruppen betrachtet, zeigt

Tabelle 7: Altersentwicklung des Pkw-Bestands in Stuttgart seit 2008 Durchschnittsalter in Jahren

Youngtimer

private Zulassungen

gewerbliche Zulassungen

Oldtimer

Stichtag

Pkw

Pkw insgesamt

Anzahl

%

Anzahl

%

31.12.2008

271 463

7,4

8,7

3,1

5 326

2,0

1 984

0,7

31.12.2009

270 014

7,4

8,6

3,3

6 129

2,3

2 244

0,8

31.12.2010

272 684

7,5

8,8

3,3

7 234

2,7

2 470

0,9

31.12.2011

278 807

7,6

9,0

3,2

8 599

3,1

2 708

1,0

31.12.2012

283 075

7,7

9,2

3,1

9 529

3,4

2 947

1,0

31.12.2013

285 548

7,9

9,4

3,2

10 147

3,6

3 217

1,1

31.12.2014

288 527

8,0

9,6

3,1

11 156

3,9

3 492

1,2

31.12.2015

292 720

8,1

9,8

3,1

12 416

4,2

3 745

1,3

31.12.2016

297 555

8,2

9,9

3,1

13 876

4,7

4 085

1,4

31.12.2017

300 836

8,3

10,1

3,1

15 438

5,1

4 368

1,5

31.12.2018

301 586

8,4

10,2

3,2

17 224

5,7

4 806

1,6

31.12.2019

302 721

8,3

10,1

3,1

18 625

6,2

5 212

1,7

Quelle. Statistisches Amt der Landeshauptstadt Stuttgart

Tabelle 8: Private Personenkraftwagen je 1000 Einwohner in Stuttgart nach Altersgruppen seit 2008

Stichtag 31.12.2008

Private Personenkraftwagen je 1000 Einwohner

Darunter private Pkw je 1000 Einwohner der Altersgruppe 18 bis 29 Jahre

30 bis 39 Jahre

40 bis 49 Jahre

50 bis 59 Jahre

60 bis 80 Jahre

366

141

431

561

604

522

31.12.2009

369

138

430

557

618

531

31.12.2010

370

133

421

559

628

536

31.12.2011

370

133

418

555

633

543

31.12.2012

370

133

415

544

642

547

31.12.2013

368

133

402

538

640

551

31.12.2014

366

130

397

531

637

553

31.12.2015

364

130

391

527

637

557

31.12.2016

365

131

391

524

640

565

31.12.2017

366

131

391

518

637

573

31.12.2018

367

132

387

515

638

577

31.12.2019

365

131

379

510

627

581

Quelle. Statistisches Amt der Landeshauptstadt Stuttgart

STADTFORSCHUNG UND STATISTIK 2|2020

73


Schwerpunkt Mobilität und Verkehr

jedoch Unterschiede, die einen Rückgang der privaten Pkw in den nächsten 20 Jahren erwarten lässt. Bei den Fahrzeughaltern in den Altersgruppen unter 50 Jahren nimmt, während der letzten zehn Jahre die Anzahl der privaten Pkw je 1000 Einwohner durchgängig ab. In der Gruppe der 40- bis unter 50-Jährigen reduzierte sich die Anzahl gegenüber des Wertes von Ende 2008 von 561 auf 510, in der Gruppe der 30- bis unter 40-Jährigen von 431 auf 379 und in der Gruppe der unter 30-Jährigen von 141 auf 131 private Pkw je 1000 Einwohner. Dem entgegen steht die Zunahme der privaten Pkw in der Gruppe der 50- bis unter 60-Jährigen von 604 auf 627 Pkw je 1000 Einwohner und bei den über 60-Jährigen von 522 auf 581 Pkw je 1000 Einwohner. Ausschlaggebend für die künftige Entwicklung ist die Anzahl der Pkw der Altersgruppen bis 50 Jahre. Der Trend zu weniger individuellen Fahrzeugen wird in zehn Jahren voraussichtlich auch bei der Gruppe der 50- bis unter 60-Jährigen und weitere zehn Jahre später bei der Gruppe der über 60-Jährigen ankommen und zu einem allgemeinen Rückgang der heute gültigen Anzahl der privaten Personenkraftwagen führen.

Vom Fahrzeugregister zur Kfz-Statistik Die voranstehenden Auswertungen aus Stuttgart zeigen einen Querschnitt der kommunalen Kfz-Statistik. Lohnt sich der Aufwand für kommunale Statistikstellen eigene Kfz-Registerauswertungen vorzunehmen und wo liegen die Unterscheide zu den vom KBA bereitgestellten Tabellen? Das Statistische Amt der Landeshauptstadt Stuttgart wertet das Fahrzeugregister monatlich aus, da vor allem aktuelle Entwicklungen nachgefragt werden. Beispielsweise wie viele Kfz-Halter in der Gemeinde sind von einem geplanten Fahrverbot in einer Umweltzone betroffen, wie ist die Prognose, bis wann ein

74

STADTFORSCHUNG UND STATISTIK 2|2020

Schwellenwert erreicht wird oder wie dynamisch entwickelt sich der Bestand von Fahrzeugen mit elektrisch aufladbaren Energiespeichern. Dies ist z. B. für die Bedarfsplanung von Elektroladestellen oder für Netzbetreiber in Bezug auf sich ändernde Anforderung an das Leitungsnetz interessant. Das KBA veröffentlicht gemeindebezogene Kfz-Statistiken zum 1. Januar eines Jahres in der Regel im Herbst. Auch wenn eine gute Auswahl von Standardauswertungen kostenfrei bereitgestellt wird, fehlen interessante Merkmalskombinationen wie Pkw nach Halterart, Antriebsart und Schadstoffklasse auf Gemeindeebene. Sonderauswertungen durch das KBA sind möglich, jedoch gebührenpflichtig, so dass eine Betrachtung des Registers in kurzen Zeiträumen auf diesem Weg nicht wirtschaftlich ist. Der Einstieg in die Registerauswertung ist für Statistikstellen relativ einfach und schnell zu finden, da die Merkmale und Codierungen bundesweit einheitlich festgelegt sind. Vom KBA sind Verzeichnisse, methodische Erläuterungen und Fahrzeugstatistiken sehr umfangreich verfügbar. Aufwändiger sind untergemeindliche Statistiken sowie Auswertungen nach Modellreihen und Segmenten. Für die untergemeindliche Statistik müssen die – zumindest in Stuttgart – manuell erfassten Adressen der Halter plausibilisiert und der kleinräumigen Gliederung, d.h. den Baublockseiten zugewiesen werden. Da im Kfz-Register relativ viel Bewegung ist, in Stuttgart werden jeden Monat 5000 bis 6000 Fahrzeuge angemeldet, ist der Aufwand hierfür relativ hoch. Ähnlich verhält es sich bei den Fahrzeugsegmenten. Dieses Merkmal ist nicht direkt in den Registerdaten gespeichert, neue Fahrzeugtypen müssen erfasst und Modellreihen und Segmenten zugeordnet werden. Die zeitaufwändigeren raum- und segmentbezogenen Statistiken werden daher in Stuttgart nur halbjährig erstellt, während die direkt abrufbaren, technischen und halterbezogenen Merkmale monatlich ausgewertet und veröffentlicht werden. Bei Fragen zur Aufbereitungs- oder Auswertungsmethodik gibt die Statistikstelle gerne Auskunft.


Stadtforschung

Jan Dohnke

Neue Muster des Darmstädter Pendelverkehrs

Darmstadt ist in den letzten Jahren stark gewachsen, was ein immer größeres Aufkommen sowohl von Ein- als auch von Auspendlern nach sich zieht. Die Entwicklung der Pendelzahlen auf Gemeindeebene zwischen 2016 und 2019 zeigt, dass bundesweit beobachtbare räumliche Trends auch in Darmstadt auftreten. Die Anzahl von Pendlern mit überregionalen Herkunfts- oder Zielorten nimmt zu, das Umland verliert relativ an Bedeutung, die Verflechtungen mit anderen Oberzentren in den Regionen Rhein-Main und Rhein-Neckar werden stärker. Die räumliche Grundstruktur des Darmstädter Pendelgeschehens, nach dem v.a. aus dem Umland und dem engeren Nahbereich eingependelt und v.a. Richtung Frankfurt/Main und andere Oberzentren ausgependelt wird, wird dadurch jedoch (noch) nicht nachhaltig verändert.

Dr. Jan Dohnke Dipl.-Geograph, seit 2019 Leiter der Abteilung Statistik und Stadtforschung im Amt für Wirtschaft und Stadtentwicklung der Stadt Darmstadt. Themenschwerpunkte: Monitoring sozialer Stadtentwicklung - Wohnungsmarktbeobachtung - StadtUmland-Beziehungen Schlüsselwörter: Pendelbeziehungen – Darmstadt – Rhein-Main-Region – Stadt-Umland-Beziehungen – Oberzentren

Mehr Berufspendler durch dynamisches Wachstum Wie viele Großstädte ist Darmstadt in den letzten Jahren sehr dynamisch gewachsen. Das gilt auch für den Berufsverkehr. Das kontinuierliche Wachstum an Arbeitsplätzen zieht Arbeitskräfte an, gleichzeitig leben immer mehr Menschen in Darmstadt, die in anderen Städten und Gemeinden arbeiten. Die daraus entstehenden Folgeprobleme, insbesondere die Überlastung der Verkehrsinfrastruktur zu Stoßzeiten und immer stärkere Umweltbelastungen durch Schadstoffe und Lärm, prägen die aktuelle Debatte. So hat die Zahl der in Darmstadt arbeitenden sozialversicherungspflichtig Beschäftigten (SvB) zwischen den Jahren 2009 und 2019 um über 18.600 auf etwa 105.000 Personen zugenommen (+ 31 %). Im selben Zeitraum stieg die Anzahl der in Darmstadt wohnenden sozialversicherungspflichtig Beschäftigten um über 15.200 auf fast 64.000 Personen an (+ 22 %) (Abb. 1, Tab. 1). Damit geht auch ein deutlicher Anstieg der Pendlerzahlen einher: Insgesamt pendelten 2019 über 100.000 sozialversicherungspflichtig Beschäftigte über die Stadtgrenze Darmstadts zur Arbeit, der größte Teil davon täglich. Hinzu kommen u.a. Selbständige, Beamtinnen und Beamte, geringfügig Beschäftigte und Auszubildende1, sowie Studierende, Schülerinnen und Schüler, Einkaufende oder Tagestouristen (siehe Infokasten „Beobachtung von Pendlerströmen“). Die Zahl der Einpendler überwiegt dabei deutlich, Darmstadt hat im Jahr 2019 einen entsprechend hohen Einpendlerüberschuss von + 41.482 Personen (SvB). Wie entwickeln sich diese Pendelströme in der Fläche? Studien zum Verkehrsbild Deutschland zeigen anhand der Entwicklung bis 2013, dass sich in Oberzentren das Verhältnis zwischen Binnenpendlern, Umland und anderen Oberzentren neu ordnet (Pütz 2015). Einem Bedeutungsgewinn der Städte als Wohn- und Arbeitsorte steht der relative Bedeutungsverlust des jeweiligen Umlands als Wohnort von Einpendlern gegenüber. Gleichzeitig nimmt die Bedeutung anderer Oberzentren als Wohnort von Einpendlern und Arbeitsort von Auspendlern in Form einer „Vernetzung der Zentren“ (ebd., S. 8) zu. Inwiefern diese Entwicklung für die letzten Jahre anhand der Pendelverflechtungen Darmstadts nachvollzogen werden kann, wird nachfolgend beschrieben.

STADTFORSCHUNG UND STATISTIK 2|2020

75


Stadtforschung

Abbildung 1: Entwicklung der Beschäftigung (SvB) und der Ein- und Auspendlerzahlen in Darmstadt 2009–2019 (Stichtag: jeweils 30. Juni)

Quelle: Bundesagentur für Arbeit

Entwicklung der Ein- und Auspendlerquoten Etwa 32.700 Personen, die in Darmstadt sozialversicherungspflichtig arbeiten, leben auch dort. Das bedeutet im Umkehrschluss, dass über 70.000 sozialversicherungspflichtig Beschäftigte, die in Darmstadt arbeiten, zur Arbeit einpendeln. Das entspricht einer Einpendlerquote von 68,9 %. Diese ist im letzten Jahrzehnt um 0,7 Prozentpunkte (Pp) zurückgegangen. Von den sozialversicherungspflichtig Beschäftigten, die in Darmstadt arbeiten, wohnen also anteilig immer mehr in Darmstadt. Im regionalen Vergleich hat Darmstadt zusammen mit Ludwigshafen und Offenbach die höchste Einpendlerquote (Abb. 2). Etwas mehr als die Hälfte der in Darmstadt wohnenden Arbeitnehmer (SvB) arbeitet auch in der Wissenschaftsstadt, 48,8 % pendeln zur Arbeit in andere Städte und Gemeinden aus. Die Auspendlerquote ist im letzten Jahrzehnt um 3,1 Pp angestiegen. Von den sozialversicherungspflichtig Beschäftigten, die in Darmstadt wohnen, arbeiten anteilig immer mehr außerhalb. Im regionalen Vergleich hat Darmstadt eine etwas überdurchschnittlich hohe Auspendlerquote. Am niedrigsten ist die Auspendlerquote in Frankfurt mit nur 32,0 %. Die Mehrheit der in Frankfurt wohnenden sozialversicherungspflichtig

Beschäftigten arbeitet auch dort. Das benachbarte Offenbach hat hingegen mit 72,5 % eine sehr hohe Auspendlerquote. Viele der hier wohnenden Beschäftigten arbeiten im benachbarten Frankfurt (vgl. Stein 2018). Immer mehr Menschen haben ihren Arbeits- und Wohnort in Darmstadt (ein Anstieg von etwa 26.400 SvB im Jahr 2009

Statistische Beobachtung von Pendlerströmen Als Berufspendler gelten alle Erwerbstätigen, deren Arbeitsort sich vom Wohnort unterscheidet. Unter den verschiedenen Gruppen von Erwerbstätigen werden allerdings nicht alle gleichermaßen erfasst. Studien zu Pendelrelationen konzentrieren sich daher meist auf die sozialversicherungspflichtig Beschäftigten, da diese als größte Gruppe von Berufstätigen jährlich mit Stichtag 30. Juni im Rahmen der Beschäftigungsstatistik umfassend durch die Bundesagentur für Arbeit erfasst werden. Wesentliche Merkmale der Beschäftigungsstatistik sind u.a. der Arbeits- und Wohnort auf Gemeindeebene, das Alter oder der Berufsabschluss. Durch die Begrenzung auf die Gemeindeebene sind Auswertungen der Wege von Binnenpendlern, also sozialversicherungspflichtig Beschäftigten mit derselben Gemeinde als Wohn- und Arbeitsort, i. d. R. nicht möglich.

Tabelle 1: Entwicklung der Zahl der Ein- und AuspendlerInnen (SvB) in Darmstadt 2009-2019; Stichtag: jeweils 30. Juni Sozialversicherungspflichtig Beschäftigte … am Arbeitsort DA

Jahr

davon Einpendler

Einpendlerquote (in %)

… am Wohnort DA

davon Auspendler

Auspendlerquote (in %)

2009

86.670

60.290

69,6

48.590

22.210

45,7

2011

88.781

61.708

69,5

50.019

22.946

45,9

2013

92.710

64.188

69,2

52.628

24.167

45,9

2015

95.572

66.098

69,2

55.789

26.343

47,2

2017

101.012

69.744

69,0

60.564

29.340

48,4

2019 Entwicklung 2009–2019

105.338

72.603

68,9

63.820

31.121

48,8

+ 18.668

+ 12.313

- 0,7 Pp

+ 15.230

+ 8.911

+ 3,1 Pp

Quelle: Bundesagentur für Arbeit

76

STADTFORSCHUNG UND STATISTIK 2|2020


Stadtforschung

Abbildung 2: Einpendler- und Auspendlerquoten von Großstädten im regionalen Vergleich; Stichtag: jeweils 30. Juni

Quelle: Bundesagentur für Arbeit

auf etwa 32.700 SvB im Jahr 2019). Allerdings nimmt die Anzahl der Ein- wie auch der Auspendler noch stärker zu. Gründe hierfür liegen u.a. darin, dass sich das wachsende Jobangebot in der Region auf eine große Zahl verkehrstechnisch eng miteinander verknüpfter Groß- und Mittelstädte verteilt. Das erlaubt es vielen Arbeitnehmern, eine Arbeit an einem anderen Ort aufzunehmen und gleichzeitig am bisherigen Wohnstandort zu verbleiben. Weitere erklärende Faktoren sind zudem die immer größere Anspannung in den Wohnungsmärkten der Oberzentren, die einem Wohnortwechsel entgegenstehen, sowie Suburbanisierungseffekte, die sich insbesondere bei Eintritt in die Familiengründungs- und -konsolidierungsphase bemerkbar machen (vgl. Göddecke-Stellmann u. a. 2018 und Milbert 2017).

Relativer Bedeutungsverlust des Umlands bei Einpendlern Darmstadt hat sich zu einem Magnet für Einpendler entwickelt und entfaltet dabei eine überregionale Reichweite (Abb. 3, Tab. 2). Etwa ein Drittel der in Darmstadt sozialversicherungspflichtig Beschäftigten wohnt in der Wissenschaftsstadt selbst. Weitere 50.000 Personen pendeln aus dem engeren Nahbereich ein, bestehend aus den südhessischen Landkreisen Darmstadt-Dieburg, Bergstraße, Groß-Gerau, Offenbach und Odenwaldkreis. Der räumliche Schwerpunkt liegt in dem Darmstadt umgebenden Landkreis Darmstadt-Dieburg. Das Pendelgeschehen zeigt, dass Darmstadt eine funktionale Einheit mit seinen Umlandgemeinden2 bildet. Insgesamt wohnen über 60.000 Personen, die in Darmstadt sozialversicherungspflichtig beschäftigt sind, in Darmstadt oder seinem Umland. Das verdeutlicht die hohe Bedeutung der Kernstadt und ihres Umlands als Wohnstandort für die in Darmstadt arbeitende Bevölkerung. Die Bedeutung Darmstadts als Arbeitsort nimmt mit der Entfernung ab, was auf Gemeindeebene am abnehmenden

Anteil der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten mit Arbeitsort Darmstadt gut erkennbar ist (Abb. 3). Neben der zunehmenden (Pendel-)Distanz wirkt sich auch die Anziehungskraft des regional dominanten Arbeitsplatzzentrums Frankfurt aus (vgl. Stein 2018), was zu deutlichen räumlichen Unterschieden führt: So arbeiten nur 2,6 % der im Landkreis Offenbach wohnenden Arbeitnehmer in Darmstadt. Das ist deutlich weniger als in allen anderen Landkreisen, die an Darmstadt bzw. an den Landkreis Darmstadt-Dieburg angrenzen. Innerhalb des Landkreises Offenbach besteht zudem ein starkes Süd-Nord-Gefälle. Umgekehrt stellt sich die Situation im Odenwaldkreis dar: Trotz der vergleichsweise großen Pendeldistanz ist die Wissenschaftsstadt die nächstgelegene Großstadt und somit als Arbeitsort von größerer Bedeutung als in den anderen südhessischen Landkreisen. Der Darmstädter Arbeitsmarkt entfaltet seine Wirkung aber über diesen engeren Nahbereich hinaus. Über 14.000 Personen pendeln aus dem weiteren Nahbereich ein. Als weiterer Nahbereich gelten diejenigen kreisfreien Städte und Landkreise, bei denen aufgrund der zurückzulegenden Entfernung von bis zu 70 km noch von Tagespendlern auszugehen ist.3 Davon kommen 5.500 Personen aus Regionen in angrenzenden Bundesländern, wobei Nordbaden und Rheinhessen hervorstechen. Neben der vergleichsweise kurzen Distanz (z. B. nach Mainz) wirkt sich in dem Zusammenhang die gut ausgebaute Verkehrsinfrastruktur entlang der hessischen und badischen Bergstraße positiv aus. Mehr als die Hälfte der Einpendler aus dem weiteren Nahbereich wohnt in den Oberzentren der Region, die alle im weiteren Nahbereich liegen4. Vor allem Frankfurt am Main ist hier als bevölkerungsreichster Ursprungsort von Arbeitnehmern dominant. Aus dem übrigen Bundesgebiet kommen weitere 8.128 sozialversicherungspflichtig Beschäftigte nach Darmstadt eingependelt. Bei diesen Personen ist überwiegend davon auszugehen, dass es sich aufgrund der großen Distanz nicht um Tagespendler, sondern um Fernpendler handelt5, die vor allem an den Wochenenden an ihre Wohnorte fahren und/

STADTFORSCHUNG UND STATISTIK 2|2020

77


Stadtforschung

Abbildung 3: Einpendler (SvB) nach Darmstadt (Gemeinden mit mind. 100 Personen und Landkreise mit mind. 200 Personen), Stand 30.06.2019 (Darmstadt: Gesamtzahl der Einpendler)

78

STADTFORSCHUNG UND STATISTIK 2|2020


Stadtforschung

Tabelle 2: Entwicklung der Einpendlerzahlen von sozialversicherungspflichtig Beschäftigten mit Arbeitsort Darmstadt 2016–2019, regional untergliedert (Stichtag: jeweils 30. Juni) Wohnort

SvB am Arbeitsort Darmstadt (2019)

Anteil

SvB am Arbeitsort Darmstadt (2016)

Anteil

Entwicklung absolut

In %

Darmstadt, Wissenschaftsstadt

32.699

31,0 %

30.516

31,0 %

+ 2.183

+ 7,2 %

engerer Nahbereich

50.154

47,6 %

47.912

48,6 %

+ 2.242

+ 4,7 %

… darunter Umland

27.815

26,4 %

26.573

27,0 %

+ 1.242

+ 4,7 %

weiterer Nahbereich

14.244

13,5 %

13.040

13,2 %

+ 1.204

+ 9,2 %

7.714

7,3 %

6.959

7,1 %

+ 755

+ 10,8 %

… darunter Oberzentren übriges Bundesgebiet

8.128

7,7 %

6.965

7,1 %

+ 1.163

+ 16,7 %

…darunter Großstädte (>300.000 EW)

1.885

1,8 %

1.632

1,7 %

+ 253

+ 15,5 %

105.338

100 %

98.551

100 %

+ 6.787

+ 6,9 %

Insgesamt (inkl. Einpendler aus dem Ausland)

Quelle: Bundesagentur für Arbeit

oder verstärkt von zuhause aus arbeiten. Etwa ein Viertel dieser Personen kommt aus Großstädten mit über 300.000 Einwohnern.6 Die Zahl der Einpendler ist in den letzten Jahren überall angestiegen, jedoch in unterschiedlichem Ausmaß. Im engeren Nahbereich ist der Zuwachs an Einpendlern absolut am größten, im weiteren Nahbereich bzw. dem übrigen Bundesgebiet beträgt er jeweils etwa die Hälfte davon. Die Zuwachsraten sind jedoch im weiteren Nahbereich bzw. dem übrigen Bundesgebiet deutlich höher als im engeren Nahbereich. Für eine wachsende Vernetzung der Oberzentren untereinander spricht ebenfalls die vergleichsweise hohe Zuwachsrate von 10,8 %. Insgesamt ist eine Schwerpunktverlagerung hin zu Fernpendlern und größeren Pendeldistanzen erkennbar, der mit einem relativen Bedeutungsverlust des Umlands und des engeren Nahbereichs einhergeht. Diese verlieren als Wohnort von Einpendlern an Bedeutung gegenüber der Stadt Darmstadt sowie weiter entfernten Wohnstandorten. Pendelten im Jahr 2016 noch 48,6 % der in Darmstadt sozialversicherungspflichtig Beschäftigten aus dem engeren Nahbereich ein, so waren es im Jahr 2019 nur noch 47,6 %. Im Gegenzug stiegen die Anteilswerte des weiteren Nahbereichs und des übrigen Bundesgebiets.. Das passt zum aktuellen bundesweiten Trend hin zu immer längeren Pendeldistanzen (vgl. Dauth/ Haller 2018). Allerdings verdeutlichen die absoluten Zuwachszahlen sowie die weiterhin wesentlich höheren Anteilswerte von Darmstadt und seinem Umland, dass diese weiterhin für absehbare Zeit der wichtigste Wohnstandort für in Darmstadt arbeitende sozialversicherungspflichtig Beschäftigte bleiben werden.

Frankfurt und das Frankfurter Umland mit großer Anziehungskraft für Darmstadts Auspendler Nicht nur die Anzahl der Einpendler ist in den vergangenen Jahren in Darmstadt kontinuierlich gestiegen. Auch die Zahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten, die in Darm-

stadt wohnen und zur Arbeit die Wissenschaftsstadt verlassen, hat deutlich zugenommen. Wichtigstes Pendelziel der Darmstädter Beschäftigten ist mit fast 8.000 Auspendlern die Stadt Frankfurt/Main (Abb. 4 und Tab. 3). Jeder achte in Darmstadt wohnende Beschäftigte arbeitet in der Metropole. Neben Frankfurt sind der Landkreis Darmstadt-Dieburg und die Landkreise Groß-Gerau und Offenbach weitere wichtige Ziele von Auspendlern. Insgesamt arbeiten 13.001 Darmstädter als sozialversicherungspflichtig Beschäftigte im engeren Nahbereich, davon fast die Hälfte im Darmstädter Umland. Die Bedeutung des Darmstädter Umlands als Arbeitsort für Darmstädterinnen und Darmstädter überwiegt somit nicht seine Bedeutung als Wohnort für in Darmstadt sozialversicherungspflichtig beschäftigte Arbeitnehmer. Aber dennoch besitzt es auch eine große Bedeutung als Pendelziel. Der weitere Nahbereich ist als Pendelziel von genauso großer Bedeutung wie der engere Nahbereich. Neben Frankfurt/ Main liegen hier auch die anderen Oberzentren in der Region als wichtige Pendelziele. Diese ziehen als regionale Arbeitsplatzzentren vergleichsweise viele Beschäftigte aus Darmstadt an. Ebenso stellen die Umlandgemeinden der Stadt Frankfurt/ Main, insbesondere am Südrand des Taunus sowie im Landkreis Offenbach (im engeren Nahbereich) weitere wichtige Beschäftigungszentren dar. Hier konzentrieren sich zahlreiche Unternehmen für hochqualifizierte Dienstleistungen und aus der Logistikbranche aufgrund der direkten Nähe zum Dienstleistungszentrum Frankfurt, dem internationalen Flughafen und/oder der sehr guten Verkehrsinfrastruktur. Insofern sind es nicht nur die Oberzenten der Region, die wichtige Arbeitsorte im Sinne einer „Vernetzung der Zentren“ darstellen, sondern im Fall von Frankfurt auch sein engeres Umland. Die Bedeutung des übrigen Bundesgebietes als Arbeitsort ist hingegen vergleichsweise gering. Die Entwicklung der letzten Jahre verdeutlicht – analog zur Entwicklung bei den nach Darmstadt Einpendelnden – dass immer mehr Arbeitsorte von Darmstädterinnen und Darmstädtern in größerer Entfernung zu Darmstadt liegen. Zwar liegt der größte absolute Zuwachs weiterhin bei den

STADTFORSCHUNG UND STATISTIK 2|2020

79


Stadtforschung

Abbildung 4: Auspendler (SvB) aus Darmstadt (Gemeinden mit mind. 100 Personen und Landkreise mit mind. 200 Personen), Stand 30.06.2019 (Darmstadt: Anzahl der Personen mit Arbeits- und Wohnort Darmstadt)

80

STADTFORSCHUNG UND STATISTIK 2|2020


Stadtforschung

Arbeitnehmern, die in Darmstadt wohnen und arbeiten. Der Zuwachs im weiteren Nahbereich ist jedoch ebenfalls stark ausgeprägt, wobei der größte Teil dieses Zuwachses auf Frankfurt und die anderen Oberzentren der Region entfällt. Die Zuwachsraten zeigen auch hier einen Trend zum Fernpendeln, die Zahl der Auspendler mit einem Arbeitsort im übrigen Bundesgebiet hat seit 2016 um + 17,2 %, mit einem Arbeitsort in einer größeren Großstadt sogar noch stärker zugenommen. Auch der Zuwachs an Auspendlern mit einem Arbeitsort im weiteren Nahbereich bzw. einem regionalen Oberzentrum ist vergleichsweise stark ausgeprägt. Die Zuwachsraten in der Wissenschaftsstadt selbst und im engeren Nahbereich bzw. dem Darmstädter Umland sind im Vergleich deutlich niedriger. Entsprechend dieser Entwicklung stagnieren bzw. sinken die Bedeutung des Umlands, des engeren Nahbereichs sowie Darmstadts selbst als Arbeitsort für die Darmstädterinnen und Darmstädter. Die Bedeutung der regionalen Oberzentren und des übrigen Bundesgebiets nehmen hingegen weiter zu.

Aus dem Umland in die Stadt, aus der Stadt in andere Städte – das räumliche Muster des Darmstädter Pendelaufkommens Werden die Angaben zu Ein- und Auspendlern miteinander verknüpft, ergibt sich ein Gesamtbild der Pendelströme, die von Darmstadt ausgehen oder die Wissenschaftsstadt zum Ziel haben (Abb. 5 und Tab. 4). Insgesamt beträgt das Pendelaufkommen 103.647 Pendelbeziehungen. Es ist davon auszugehen, dass der überwiegende Teil davon mit dem Auto zurückgelegt wird (vgl. Pütz/Schönfelder 2018). Der Schwerpunkt des Pendelgeschehens liegt im engeren Nahbereich, über 60 % aller Pendelbeziehungen haben ihren Start- oder Zielort hier. Fast ein Drittel aller Pendelbeziehungen beziehen sich auf das Darmstädter Umland. Diese Pendelbeziehungen sind dabei mehrheitlich auf Darmstadt ausgerichtet, die Einpendler überwiegen deutlich. Auffällig ist, dass das Verhältnis zwischen Einpendlern und Auspendlern bei den Pendelbeziehungen mit dem Umland etwas ausgeglichener ist als mit dem engeren Nahbereich insgesamt. Das unterstreicht die enge funktionale Verflechtung Darmstadts mit seinem Umland, das nicht nur Wohnstandort für die in

Tabelle 3: Entwicklung der Auspendlerzahlen von sozialversicherungspflichtig Beschäftigten mit Wohnort Darmstadt 2016–2019, regional untergliedert (Stichtag: jeweils 30. Juni) Arbeitsort

SvB mit Wohnort Darmstadt (2019)

Anteil

SvB mit Wohnort Darmstadt (2016)

Anteil

Entwicklung absolut

In %

Darmstadt, Wissenschaftsstadt

32.699

51,2 %

30.516

52,2 %

+ 2.183

+ 7,2 %

engerer Nahbereich

13.001

20,4 %

12.011

20,6 %

+ 990

+ 8,2 %

… darunter Umland

6.095

9,6 %

5.636

9,6 %

+ 459

+ 8,1 %

weiterer Nahbereich

13.547

21,2 %

11.981

20,5 %

+ 1.566

+ 13,1 %

… darunter Oberzentren

10.658

16,7 %

9.423

16,1 %

+ 1.235

+ 13,1 %

übriges Bundesgebiet

4.573

7,2 %

3.901

6,7 %

+ 672

+ 17,2 %

…darunter Großstädte (>300.000 EW)

1.863

2,9 %

1.499

2,6 %

+ 364

+ 24,3 %

63.820

100 %

58.409

100 %

+ 5.411

+ 9,3 %

Insgesamt

Quelle: Bundesagentur für Arbeit

Tabelle 4: Entwicklung des Pendelaufkommens der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten mit Arbeits- oder Wohnort Darmstadt 2016–2019, regional untergliedert (Stichtag: jeweils 30. Juni)

Ziel- oder Quellgebiet

Pendelvolumen 2019

Anteil

Verhältnis Einpendler – Auspendler

Pendelvolumen 2016

Anteil

Entwicklung absolut

In %

Engerer Nahbereich

63.155

60,9 %

3,86

59.923

62,5 %

+ 3.232

+ 5,4 %

… darunter Umland

33.910

32,7 %

3,41

32.209

33,6 %

+ 1.701

+ 5,3 %

weiterer Nahbereich

27.791

26,8 %

1,05

25.021

26,1 %

+ 2.770 + 11,1 %

… darunter Oberzentren

18.372

17,7 %

0,72

16.382

17,1 %

+ 1.990 + 12,1 %

übriges Bundesgebiet

12.701

12,3 %

1,78

10.866

11,3 %

+ 1.835 + 16,9 %

… darunter Großstädte (>300.000 EW) Insgesamt

3.748

3,6 %

1,01

3.131

3,3 %

103.647

100 %

2,33

95.810

100 %

+ 617 + 19,7 % + 7.837

+ 8,2 %

Quelle: Bundesagentur für Arbeit

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Stadtforschung

Abbildung 5: Pendelvolumen von und nach Darmstadt (SvB) (Gemeinden mit mind. 200 Personen und Landkreise mit mind. 500 Personen Pendelaufkommen), Stand 30.06.2019 (Darmstadt: Anzahl des Pendelvolumens insgesamt)

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Stadtforschung

Darmstadt arbeitende Bevölkerung ist. Das Arbeitsplatzzentrum Darmstadt entfaltet seine Wirkung als Arbeitsort erkennbar über die eigenen Stadtgrenzen hinaus. Knapp 28.000 Pendelbeziehungen verbinden Darmstadt mit dem weiteren Nahbereich, davon über die Hälfte mit den dort liegenden Oberzentren. Die Pendelverflechtung mit Frankfurt am Main ist die wichtigste einzelne Verflechtung Darmstadts. Die Ausrichtung der Pendelbeziehungen ist dabei stark räumlich differenziert: Die Verflechtung mit der Metropole Frankfurt sowie den nördlich und südlich angrenzenden Gemeinden wie Eschborn, Bad Homburg v.d. Höhe, Langen oder Neu-Isenburg ist entweder durch einen Auspendlerüberschuss oder ein weitgehend ausgeglichenes Verhältnis zwischen Einpendlern und Auspendlern gekennzeichnet. Das liegt an der großen Anziehungskraft des Arbeitsmarktes in Frankfurt und der Konzentration zahlreicher Unternehmen im Frankfurter Umland. Mit den anderen kreisfreien Städten besteht hingegen entweder ein weitgehend ausgeglichenes Verhältnis oder sogar ein Einpendlerüberschuss (z. B. mit Mainz oder Heidelberg). Es ist anzunehmen, dass die guten Rahmenbedingungen für Hochqualifizierte in der Wissenschaftsstadt eine hohe Anziehungskraft für Arbeitnehmer aus anderen, verkehrstechnisch gut angebundenen Großstädten in der Region entfalten. Im Gegenzug bieten auch die Arbeitsmärkte dieser Großstädte viele berufliche Möglichkeiten für Darmstädter Arbeitnehmer, die auch ohne einen Wohnortwechsel genutzt werden können. Mit den Landkreisen aus dem übrigen weiteren Nahbereich besteht ein starker Einpendlerüberschuss. Das Pendelvolumen mit dem übrigen Bundesgebiet umfasst 12,3 % aller Pendelbeziehungen. Hier zeigt sich bei der Ausrichtung ein ähnliches Bild wie im weiteren Nahbereich. Mit den Großstädten über 300.000 Einwohnern besteht ein weitgehend ausgeglichenes Verhältnis von Einpendlern zu Auspendlern, mit den Gemeinden abseits dieser Großstädte besteht ein Einpendlerüberschuss. Der Zeitraum zwischen 2016 und 2019 ist von einem starken Zuwachs von über 7.800 Pendelbeziehungen bzw. 8,2 % geprägt. Das verdeutlicht einerseits die starke Dynamik auf dem Darmstädter Arbeitsmarkt und in der Region, zeigt aber andererseits auch die damit einhergehende Problematik: Denn wenn diese Wachstumsrate bestehen bliebe, würde das Pendelaufkommen von und nach Darmstadt bis zum Jahr 2032 um ca. 50 % zunehmen und sich bis zum Jahr 2043 verdoppeln. Das entspräche über 100.000 Pendelbeziehungen mehr innerhalb von 24 Jahren. Die Entwicklung des Pendelaufkommens verdeutlicht, dass das Umland trotz eines starken absoluten Wachstums relativ an Bedeutung verliert. Der Anteil am gesamten Pendelaufkommen sinkt. Der Blick auf die Entwicklung im gesamten engeren Nahbereich zeigt jedoch, dass die die Stadt Darmstadt umgebenden fünf südhessischen Landkreise mit einem Anteil am gesamten Pendelaufkommen von 60,9 % das Pendelgeschehen weiterhin dominieren. Das Pendelaufkommen mit dem weiteren Nahbereich bzw. den Oberzentren nimmt teils absolut, aber vor allem relativ deutlich stärker zu. Der Zuwachs der Pendelbeziehungen mit den regionalen Oberzentren ist größer als derjenige zwischen Darmstadt und seinem Umland. Am stärksten ist die Wachs-

tumsrate des Pendelaufkommens mit dem übrigen Bundesgebiet, wenn auch von einem vergleichsweisen niedrigen Niveau ausgehend. Auch hier zeigt sich der Trend zu größeren Pendeldistanzen.

Zusammenfassung und Fazit Die Analyse der jüngsten Pendlerzahlen belegt den starken Anstieg des Pendelaufkommens der letzten Jahre, der täglich im Berufsverkehr erlebbar ist. Die räumlichen Schwerpunkte des Pendelaufkommens liegen zum einen im Darmstädter Umland, zum anderen entlang der Verkehrsachsen zwischen Darmstadt und den anderen kreisfreien Großstädten in den Regionen Rhein-Main und Rhein-Neckar, wobei die Metropole Frankfurt am Main als wichtigste, einzelne Pendelverflechtung besonders hervorsticht. Die Zahlen zeigen, dass das Darmstädter Umland relativ an Bedeutung beim Pendelgeschehen verliert, aber aufgrund des absoluten Pendelaufkommens und seiner funktionalen Verflechtung mit der Stadt Darmstadt weiterhin von großer Relevanz ist. Der engere Nahbereich insgesamt wird weiterhin den Schwerpunkt der Pendelbeziehungen der Wissenschaftsstadt ausmachen, da hier die große Mehrheit der einpendelnden in Darmstadt sozialversicherungspflichtig Beschäftigten ihren Wohnort hat. Ein Bedeutungsverlust des Umlands für das Pendelgeschehen ist somit nur eingeschränkt und aufgrund der fortschreitenden Zunahme des Pendelaufkommens auch nur relativ, also im Verhältnis zu weiter entfernteren Regionen festzustellen. Auf der regionalen Ebene ist eine zunehmende Vernetzung der Oberzentren zu beobachten. Diese wird ergänzt durch den starken Anstieg des Pendelaufkommens mit Großstädten über 300.000 Einwohner im übrigen Bundesgebiet. Die Pendelbeziehungen zwischen Darmstadt und anderen Großstädten, regional wie überregional, werden somit immer bedeutsamer. Auch wenn die Zahl der Pendler zwischen den Oberzentren zunimmt wirkt sich jedoch einschränkend aus, dass diese Entwicklung sehr stark durch die Pendelbeziehung zwischen Darmstadt und dem regional dominanten Arbeitsplatzzentrum Frankfurt/Main geprägt ist. Zwar ist auch mit den anderen Oberzentren in der Region und den Großstädten im übrigen Bundesgebiet ein deutlicher Anstieg des Pendelaufkommens zu beobachten. Wird die wichtige Pendelbeziehung zwischen Darmstadt und Frankfurt/Main jedoch nicht berücksichtigt, so wirkt das absolute Ausmaß der zunehmenden Vernetzung der Zentren noch vergleichsweise gering. Weiterhin ist ein deutlicher Trend hin zu größeren Pendeldistanzen wie in anderen deutschen Großstädten zu beobachten: Die Zahl der Fernpendler sowie der Pendler mit Wohn- oder Arbeitsort im weiteren Nahbereich wächst anteilig am stärksten. Allerdings ist es anzunehmen, dass viele Fernpendler diese größeren Pendeldistanzen i. d. R. nur am Wochenende zurücklegen. In ihrer Arbeitswoche ist es hingegen wahrscheinlich, dass sie als Binnenpendler, Einpendler aus dem Umland bzw. einem anderen Ort der Region zum Pendelaufkommen beitragen. Der Blick auf die spezifische Darmstädter Situation zeigt somit, dass sich bundesweite Trends im Pendelgeschehen auch

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Stadtforschung

in Darmstadt beobachten lassen. Die Grundstruktur des Darmstädter Pendelgeschehens wird dadurch jedoch nicht bzw. noch nicht nachhaltig verändert. 60 % des Pendelgeschehens haben ihren Start- oder Zielort im engeren Nahbereich oder dem Darmstädter Umland, bei einer starken Ausrichtung auf Darmstadt. Dieses Bild wird ergänzt durch ein weitgehend ausgeglichenes oder durch einen Auspendlerschuss gekennzeichnete Pendelbeziehungen mit den anderen Oberzentren in der Region, insbesondere Frankfurt/Main und dessen direktem Umland, sowie den Großstädten im übrigen Bundesgebiet. Für eine zukünftige, umweltfreundlichere Entwicklung bleibt somit maßgeblich, ob eine möglichst zeitnahe Anpassung der Verkehrsinfrastruktur zwischen Darmstadt und seinem Umland aber auch entlang der zentralen Verkehrsachsen in die kreisfreien Großstädte in der Region gelingt, unter besonderer Berücksichtigung von Frankfurt/Main. Inwiefern sich die aktuelle Pandemie, der damit einhergehende Trend zum Homeoffice und der zu erwartende Einbruch der Wirtschaft zukünftig auswirken, bleibt offen. Doch zumindest gilt weiterhin, dass die funktionale Mischung von Wohnen und Arbeiten das beste Mittel bleibt, um einem steigenden Verkehrsaufkommen entgegenzuwirken.

1

2

3

4 5

6

In den vergangenen Jahren lag die Zahl der in Darmstadt statistisch erfassten Erwerbstätigen etwa ein Drittel über der Zahl der in Darmstadt arbeitenden sozialversicherungspflichtig Beschäftigten (vgl. Wissenschaftsstadt Darmstadt 2020). Als Umlandgemeinden gelten die Gemeinden, deren wirtschaftliche Ausrichtung auf das Oberzentrum Darmstadt durch einen Anteil von mind. 20 % Auspendlern nach Darmstadt an allen in der Gemeinde wohnenden SvB ausgedrückt wird. Verbleibender Landkreise sowie kreisfreie Städte des Regierungsbezirks Darmstadt (Hessen); Rhein-Neckar-Kreis, Mannheim und Heidelberg (Baden-Württemberg); Mainz, Ludwigshafen, Worms, LK Mainz-Bingen und LK Alzey-Worms (Rheinland-Pfalz); Aschaffenburg (Stadt), LK Aschaffenburg, LK Miltenberg (Bayern) Frankfurt/Main, Offenbach/Main, Wiesbaden, Mainz, Ludwigshafen, Aschaffenburg, Mannheim, Heidelberg Es gibt keine einheitliche Definition von Fernpendlern. Ein mögliches Kriterium ist die Häufigkeit des Pendelns (wöchentlich), ein weiteres ist die zurückzulegende Pendeldistanz (vgl. u. a. Dettmer/Emmel 2018) Berlin, Hamburg, München, Köln, Stuttgart, Düsseldorf, Leipzig, Dortmund, Essen, Bremen, Dresden, Hannover, Nürnberg, Duisburg, Bochum, Wuppertal, Bielefeld, Bonn, Münster, Karlsruhe

Literatur Dauth, Wolfgang; Haller, Peter (2018): Berufliches Pendeln zwischen Wohn- und Arbeitsort. Klarer Trend zu längeren Pendeldistanzen. IAB-Kurzbericht 10/2018, Nürnberg. Dettmer, Bianka; Emmel, Wolfgang (2018): Pendlerrechnung Hessen – Methodenbericht. In: StaWi – Staat und Wirtschaft in Hessen, 73/2, S. 29–36.

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Göddecke-Stellmann, Jürgen; Lauerbach, Teresa; Milbert, Antonia (2018): Zuwanderung in die Städte. BBSR-Analysen KOMPAKT 09/2018, Bonn. Milbert, Antonia (2017): Wie viel (Re-)Urbanisierung durchzieht das Land? BBSR-Analysen KOMPAKT 07/2017, Bonn. Pütz, Thomas (2015): Verkehrsbild Deutschland. Pendlerströme. Quo navigant? BBSR-Analysen KOMPAKT 15/2015, Bonn.

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Pütz, Thomas, Schönfelder, Stefan (2018): Verkehrsbild Deutschland. Angebotsqualitäten und Erreichbarkeiten im öffentlichen Verkehr. BBSR-Analysen KOMPAKT 08/2018, Bonn. Stein, Christian (2018): neue Datenquellen zur beruflichen Mobilität. Das Beispiel Frankfurt am Main. In: Stadtforschung und Statistik 1/2020, S. 61–73. Wissenschaftsstadt Darmstadt (2020): Datenreport 2019. Darmstadt.


Stadtforschung

Ingo Heidbrink

Zur statistischen Erfassung von Wohnungs- und Obdachlosigkeit in den USA Die „Point-in-Time“-Zählung am Beispiel von Portland, Oregon In den USA existiert seit dem Jahr 2003 mit der „Point-in-Time“Zählung eine regelmäßige statistische Erfassung von Personen, die Wohnungs- und Obdachlosigkeit erfahren. Im Rahmen dieser Stichtagserhebung werden in einer festgelegten Nacht im Januar Personen, die „auf der Straße“ ohne Obdach leben, sowie wohnungslose Personen in Unterkünften nach einer US-weit einheitlichen Methode gezählt. Der vorliegende Beitrag stellt die Methode am Beispiel von Portland/Gresham/Multnomah County im Bundesstaat Oregon vor und erläutert Möglichkeiten und Schwächen.

Dipl.-Geograph Ingo Heidbrink wissenschaftlicher Mitarbeiter im Amt für Statistik und Wahlen, Abt. Statistik und Stadtforschung, der Landeshauptstadt Düsseldorf : ingo.heidbrink@duesseldorf.de Schlüsselwörter: Obdachlosigkeit – Wohnungslosigkeit – Obdachlosenzählung – USA – Portland – Point in Time

Einleitung Wohnungslosigkeit ist in den USA ein gesamtgesellschaftliches Problem, das im Kontext der Krise des Wohnungsmarktes und unzureichender sozialstaatlicher Instrumente betrachtet werden muss (NLCHP 2017). Das U.S. Department of Housing and Urban Development veröffentlicht regelmäßig Zahlen zum Ausmaß von „homelessness“1. Im Jahr 2019 ergab die offizielle Zählung, dass in einer einzigen Nacht im Januar ca. 568.000 Menschen in den USA als wohnungs- oder obdachlos galten (HUD 2020). Auch wenn diese Zahl auf den ersten Blick hoch erscheinen mag, wird vielfach angemerkt, dass die Erfassungsmethode Beschränkungen aufweist, die zu einer Untererfassung des Problems führen. Nicht erst seit der großen Rezession des Jahres 2008 und der sich daran anschließenden sozialen Verwerfungen ist Obdachlosigkeit in vielen amerikanischen Großstädten zu einem sehr sichtbaren Bestandteil des öffentlichen Lebens geworden. Besonders deutlich wird dies in den Metropolen der Bundesstaaten der Westküste, wie Los Angeles, San Francisco, Seattle und Portland. Dort leben Obdachlose in großer Zahl in Zelten, provisorischen Behausungen, auf den Gehwegen, Plätzen oder an Rändern von vielbefahrenen Highways. In einigen amerikanischen Städten haben sich ganze Stadtviertel zu Zeltstädten von Obdachlosen entwickelt (z. B. Los Angeles, Skid Row). Die Soziologin Jutta Allmendinger, die auch in Deutschland zum Thema Wohnungsarmut forscht, nennt die US-amerikanischen Zustände ein „Höllenvorbild“ für Deutschland und empfiehlt das Thema im Rahmen der Armutsforschung stärker in den Blick zu nehmen (Interview in Die Zeit vom 28.11.2019). Hierzu bedarf es einer verlässlichen Datengrundlage über das Ausmaß von Wohnungs- und Obdachlosigkeit, wie von der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe seit Jahren gefordert wird (BAGW 2020). In Deutschland existiert eine regelmäßige Berichterstattung zum Thema Wohnungsnot bislang ausschließlich auf Landesebene von Nordrhein-Westfalen (MAGS 2018). Diese erfasst jedoch nur untergebrachte wohnungslose Personen und solche, die den Fachberatungsstellen als wohnungslos bekannt sind. Obdachlose, die ohne jede Unterkunft „auf der Straße“ leben und keine Beratungsstellen aufsuchen, werden nicht erfasst. Obdachlosenzählungen, die diese Lücke schließen könnten, wurden in Deutschland bislang nur von den Städten Berlin, Hamburg und München in Eigenregie durchgeführt2. Mit dem zum 1. April 2020 in Kraft getretenen

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Stadtforschung

Gesetz zur Einführung einer Wohnungslosenberichterstattung (WoBerichtsG 2020) wurde ein erster Schritt zur Verbesserung der bundesweiten Datenlage zum Thema Wohnungslosigkeit gemacht. In den USA wird bereits seit dem Jahr 2003 regelmäßig das Ausmaß von Wohnungs- und Obdachlosigkeit in einer kombinierten Zählung, der sogenannten „Point-in-Time“-Zählung, erfasst und darüber berichtet. Diese US-weite Erhebung bezieht sich sowohl auf Personen, die ohne jede Unterkunft obdachlos „auf der Straße“ leben, als auch auf wohnungslose Personen, die temporär in Notunterkünften und Übergangswohnheimen unterkommen. Der vorliegende Beitrag3 gibt einen kurzen Einblick in die Methode der Zählung am Beispiel von Portland/ Gresham/Multnomah County4 im US-Bundesstaat Oregon. Er stellt die Möglichkeiten und den Nutzen dieser Erhebung dar, blickt aber auch kritisch auf die methodischen Schwierigkeiten. Anhand ausgewählter Ergebnisse des Jahres 2019 werden beispielhaft Aussagen zu Ausmaß und Entwicklung von Wohnungs- und Obdachlosigkeit in Portland dargestellt und vor dem Hintergrund der methodischen Fragen diskutiert.

Die Zählmethode In den USA ist das U.S. Department of Housing and Urban Development (HUD) die für Wohnungs- und Obdachlosigkeit zuständige Behörde, die die Richtlinien der Zählung vorgibt und die gesammelten Ergebnisse auf nationaler Ebene in einem jährlich erscheinenden Bericht an den Kongress veröffentlicht. Die Datenerhebung selbst, die „Point-in-Time“Zählung (PIT-Zählung), erfolgt auf der räumlichen Ebene der Continuum of Care (CoC). Dies sind lokale Planungseinheiten, die für die Koordinierung der Obdachlosendienste in einem Gebiet, das den Abgrenzungen einer Stadt, eines County oder einer Metropolregion entsprechen kann, zuständig sind. Die CoCs sind verantwortlich für die Durchführung der Zählungen und berichten an das HUD, das die lokalen Maßnahmen mit Bundeszuschüssen unterstützt. Um sicher zu gehen, dass die US-weiten Zählungen vergleichbare Ergebnisse hervorbringen, wird die Zählmethode weitestgehend vorgegeben. Das Datum der Zählung soll möglichst immer innerhalb der letzten zehn Tage im Januar liegen. Als Stichtagszählung handelt es sich somit um eine reine Momentaufnahme (HUD 2015). Die Zählung besteht aus zwei Teilen: Die Straßenzählung (unsheltered count) soll all jene Personen erfassen, die ungeschützt an einem öffentlichen Ort übernachten, der in der Regel nicht als reguläre Schlafgelegenheit für Menschen konzipiert wurde (HUD 2019). Sie wird in den USA seit dem Jahr 2003 im mindestens zweijährigen Turnus durchgeführt, wobei einige CoCs darüber hinaus jährlich zählen. Ergänzt werden die Angaben aus der Straßenzählung durch die Erfassung der wohnungslosen Personen in Unterkünften (sheltered count). Dabei wird unterschieden zwischen Notunterkünften5 und Übergangswohnheimen6. Beide Zählungen finden in derselben Nacht statt. Viele CoCs erheben im Rahmen der Zählung freiwillig demografische Zusatzmerkmale, wie zum Beispiel das Alter, die ethnische Zugehörigkeit oder die Haushaltsstruktur. Bei der Durchführung der Zählung sind die CoCs auf die Unterstützung von Organisationen, die in der Wohnungs- und

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Obdachlosenarbeit vor Ort tätig sind sowie auf zahlreiche ehrenamtliche Helfer angewiesen. Die ermittelten Daten werden nach Angaben des HUD von Politik, Planungsbehörden und gemeinnützigen Organisationen genutzt, um die Vergabe von Fördermitteln zu steuern, Pläne und Strategien auszurichten und um die Angebotsstruktur zu koordinieren (HUD 2019). Die an der „Point-in-Time“-Methode geübte Kritik bezieht sich auf eine Reihe unterschiedlichster Aspekte und Beschränkungen. Vielfach wird kritisiert, dass die zugrunde gelegte Definition zu eng sei und verschiedene Personengruppen ausschließt. Dies betrifft zum Beispiel Personen und Familien, die ohne feste Wohnadresse bei Freunden, Verwandten und Bekannten unterkommen und im Amerikanischen informell als „doubled-up“ bezeichnet werden. Eine Untersuchung der Portland State University kommt mit Blick auf die Region Portland zu dem Ergebnis, dass unter Beachtung der „doubled-up“-Wohnungslosen ca. 2 % der Gesamtbevölkerung als wohnungs- oder obdachlos gelten (PSU 2019a). Darüber hinaus bleiben jene Personen unberücksichtigt, die am Tag der Zählung in Krankenhäusern und Gefängnissen untergebracht waren. Da unter diesen „unsichtbaren“ Wohnungs- oder Obdachlosen ein hoher Anteil Angehöriger der „People of color“7 ist, wird das Ausmaß der Betroffenheit dieser Bevölkerungsgruppe durch die Ergebnisse der PIT-Zählung unterschätzt (NLCHP 2017). In einigen Bundesstaaten werden zudem verschärfte Obdachlosengesetze, eine zunehmende Kriminalisierung von und Gewalt gegen Obdachlose als Gründe dafür benannt, dass diese Menschen verborgene Orte aufsuchen, an denen sie in der Nacht der Zählung nicht angetroffen werden. Des Weiteren wird kritisiert, dass es sich bei der Zählung um eine Stichtagserhebung handelt, die keine Aussage zur Zahl der Wohnungs- und Obdachlosen im Verlaufe eines Jahres ermöglicht (ECONorthwest 2018). Ein weiterer Kritikpunkt bezieht sich auf den vorgegebenen Zeitpunkt der Zählung im Winter, einer Jahreszeit, in der es am wahrscheinlichsten ist, das Obdachlose Schutz an den unterschiedlichsten Orten suchen und daher weder auf der Straße noch in Unterkünften angetroffen werden. Diese Aspekte der Untererfassung können zudem durch die Anzahl der freiwilligen Straßenzähler und auch durch die vorherrschenden Wetterbedingungen beeinflusst werden (NLCHP 2017).

Das Beispiel Portland Die Stadt Portland liegt im Nordwesten der USA im Bundesstaat Oregon an der Grenze zu Washington. Sie ist mit über 648.000 Einwohnern die größte Stadt und das wirtschaftliche Zentrum des Bundesstaates. Portland ist zudem Hauptstadt des Verwaltungsbezirks Multnomah County mit ca. 813.000 Einwohnern. Die weit über die städtischen und über die County-Grenzen hinausgehende Metropolregion PortlandVancouver-Hillsboro hat knapp 2,5 Millionen Einwohner und ist derzeit auf Rang 25 der größten Metropolregionen der USA (U.S. Census Bureau 2018). Die Einwohnerzahl der Stadt Portland nahm zwischen 2010 und 2018 um knapp 65.000 Personen zu (+ 11,1 %). Der Verwaltungsbezirk Multnomah County verzeichnete im selben


Stadtforschung

Abbildung 1: Portland in Oregon/USA

Portland OREGON

Quelle: Portland State University, Institute of Portland Metropolitan Studies

Zeitraum ein Wachstum von 76.500 Personen (+ 10,4 %). In der Metropolregion Portland-Vancouver-Hillsboro wuchs die Bevölkerungszahl im Betrachtungszeitraum um 11,7 % auf knapp 2.492.000 im Jahr 2018 (Abb. 2). Nicht nur demographisch, auch wirtschaftlich betrachtet hat Portland ein Jahrzehnt des Wachstums hinter sich. Die Wirtschaft wächst insbesondere in den wissensintensiven Branchen. Portland ist Teil des sogenannten „Silicon Forest“, einer Region in der sich zahlreiche Hightech-Unternehmen befinden, wie der Halbleiterhersteller Intel, der mit ca. 20.000 Arbeitnehmern am Standort Hillsboro der größte Arbeitgeber der Metropolregion ist. Die Beschäftigtenzahlen in der Region sind seit 2010 um 24,4 % gestiegen. Die Arbeitslosenquote liegt seit dem Jahr 2017 durchgehend auf dem niedrigsten Stand bei 3,9 %8 (Potiowsky 2019). Der wirtschaftliche Boom

hat die Region Portland insbesondere für jüngere, gut ausgebildete Fachkräfte in der Altersklasse 25 bis 39 Jahre attraktiv gemacht. In den Jahren nach der großen Rezession hatte die Metropolregion die sechst höchste Nettomigrationsrate9 dieser Bevölkerungsgruppe im Vergleich der 50 größten U.S. Metropolregionen (Jurjevich et al 2017). Das durchschnittliche Haushaltseinkommen stieg zwischen 2011 und 2016 um rund 9 % (U.S. Census Bureau, ACS Estimates). Portland’s Attraktivität erklärt sich auch aus der Tatsache, dass die Stadt innerhalb der USA als ausgesprochen liberal und progressiv sowie nachhaltigkeitsorientiert in der Stadt- und Verkehrsplanung gilt. Allerdings ist mit dem wirtschaftlichen Erfolg und der Attraktivität der Stadt ein zunehmender Mangel an bezahlbarem Wohnraum verbunden. Ebenso wie Seattle und San Francisco erlebt Portland ein „housing trilemma“ (Chanay et al 2018): Eine starke Wirtschaft und eine hohe Lebensqualität gehen zu Lasten der Erschwinglichkeit von Wohnraum. Portlands wirtschaftlicher Erfolg kommt nicht allen Bevölkerungsgruppen gleichermaßen zugute, sondern verschärft die Situation für Haushalte mit geringen Einkommen. Zwischen 2011 und 2016 verzeichneten nur die höheren Einkommensklassen Zunahmen ihrer Einkünfte, während die unteren Einkommen in diesem Zeitraum stagnierten oder sogar abnahmen. Gleichzeitig stiegen die durchschnittlichen Angebotsmieten zwischen 2011 und 2019 um 48% (Portland Housing Bureau, CoStar Data). Diese Entwicklungen haben dazu geführt, dass insbesondere Haushalte mit geringen Einkommen von einer seit Jahren steigenden Mietkostenbelastung betroffen sind. In Portland fand die PIT-Zählung des Jahres 2019 in der Nacht des 23. Januar statt. Die Organisation und Durchführung der Zählung und die Auswertung und Veröffentlichung der Daten erfolgten in Zusammenarbeit zwischen der Portland State

Abbildung 2: Bevölkerungsentwicklung Stadt Portland, Multnomah County und Metropolregion Portland-Vancouver-Hillsboro, 2010, 2015 und 2018

Quelle: U.S. Census Bureau, Portland State University, Population Research Center

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Abbildungen 3 und 4: Straßenszenen in Portland Downtown, August 2019

Fotos: Heidbrink, 2019

University (PSU), dem Joint Office of Homeless Services (JOHS) in Multnomah County und dem Portland Housing Bureau. Für die Straßenzählung wurden zunächst auf der Grundlage von bereits vorliegenden Erkenntnissen über die Standorte von Obdachlosenlagern10 und dem Wissen von Experten der Hilfsorganisationen jene Gebiete bestimmt, an denen mit hoher Wahrscheinlichkeit obdachlose Personen anzutreffen sind. Das so definierte Untersuchungsgebiet wurde in 13 Zonen unterteilt. Jede Zone wurde einer vor Ort tätigen, gemeinnützigen Hilfsorganisation zugeteilt, die die Koordination der Interviewer in diesem Gebiet übernahm. Mehr als 270 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von insgesamt 88 Organisationen sowie Ehrenamtliche haben Obdachlose in jener Nacht an ihren Übernachtungsorten aufgesucht, gezählt und befragt. Die Befragung fand anhand eines Fragebogens mit 14 Fragen statt (PSU 2019b). Die Zahl der wohnungslosen Personen, die sich in der Nacht der Zählung in Notunterkünften und Übergangsunterkünften aufhielten, wurde von den Einrichtungen bereitgestellt oder einer kommunalen Datenbank11 entnommen. Die zusammengeführten Daten und die statistischen Auswertungen wurden wie in den vorherigen Jahren in Form eines Analyseberichtes veröffentlicht und zudem erstmals im Jahr 2019 online als Dashboard im Internet veröffentlicht (http://ahomeforeveryone.net/point-in-time-dashboard; abgerufen am 07.06.2020). Die PIT-Zählung ergab, dass insgesamt 4.015 Personen in Portland entsprechend der HUD-Definition als obdach- bzw. wohnungslos galten. Davon lebten 2.037 (50,7 %) Personen ungeschützt „auf der Straße“. Weitere 1.459 (36,3 %) wohnungslose Personen lebten in Notschlafstellen und 519 (12,9 %) Personen in Übergangswohnheimen. Gegenüber dem Jahr 2017 nahm die Gesamtzahl der als wohnungs- bzw. obdachlos identifi-

Abbildung 5: Wohnungs- und obdachlose Personen in Portland nach Lebenssituation, gemäß HUD-Definition, 2009 bis 2019

6.000 5.000

4.655 4.145

4.000 3.000 2.000 1.000 0

4.441 3.801

4.177 757

1.928

1.572

1.009

974

872

1.591

1.718

1.895

1.887

1.668

2009

2011

2013

2015

2017

1.690

864

Ungeschützt

in Notunterkünften

4.015 519

1.042 1.752

1.459

2.037

2019

in Übergangswohnheimen

Quelle: Portland State University, Point-in-Time Count 2019, eigene Darstellung

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zierten Personen um 162 Personen geringfügig ab (- 4,0 %). Verglichen mit den Ergebnissen der Vorjahre zeigt sich, dass nur im Jahr 2015 eine geringere Gesamtzahl ermittelt wurde (3.801). Betrachtet man nur die Entwicklung der gezählten Straßenobdachlosen zeigt sich ein Anstieg zwischen 2017 und 2019 von 1.668 auf 2.037 (+ 22,1 %). In der Zeitreihe seit 2009 ist dies der höchste absolute und auch relative Wert dieser Teilgruppe. Mit einem Anteil von 50,7 % lebten in der Nacht der Zählung somit mehr als die Hälfte der von Wohnungs- und Obdachlosigkeit betroffenen Personen in Portland „auf der Straße“. Die Zahl der Personen in Übergangswohnheimen sank seit 2011 kontinuierlich von knapp 2.000 auf 519. Die Zahl der Personen in Notschlafstellen verdoppelte sich 2017 gegenüber 2015 auf 1.752 (+ 880) und ging im Jahr 2019 auf 1.459 Personen wieder zurück (Abb. 5). Verschiedenste Einflussfaktoren sollten bei der Interpretation der zeitlichen Verläufe berücksichtigt werden. So wird davon ausgegangen, dass der Rückgang der Gesamtzahl der Wohnungs- und Obdachlosen im Jahr 2019 größtenteils auf die Maßnahmen der in der Wohnungs- und Obdachlosenhilfe tätigen Einrichtungen zurückzuführen ist (PSU 2019b). Unter der Bezeichnung „A Home for Everyone“ (AHFE) arbeitet in Portland/Gresham/Multnomah County ein Zusammenschluss von Behörden, gemeinnützigen Trägern und Wirtschaftsvertretern daran, Wohnungs- und Obdachlosigkeit zu reduzieren. AHFE’s Ansatz umfasst Präventionsprojekte (homelessness prevention), Projekte die Obdachlose beim Übergang in permanenten Wohnraum unterstützen (permanent housing placement) und die Unterhaltung von Notunterkünften. Zwischen 2015 und 2019 stieg die Zahl der durch AHFE unterstützten Personen in „housing placement“-Projekten von 4.700 auf knapp 9.000 (+ 91 %) und die Zahl derer in „homeless

prevention“-Projekten von 1.680 auf knapp 3.500 (+ 108 %). Trotz dieser Maßnahmen hat sich die Zahl der Wohnungs- und Obdachlosen im selben Zeitraum nur geringfügig verändert (Abb. 6). Das Forschungsinstitut ECONorthwest geht davon aus, dass ohne die erfolgten AHFE-Maßnahmen die Zahl der wohnungs- und obdachlosen Personen deutlich höher läge (ECONorthwest 2018). Weitere methodisch bedingte Einflüsse auf die in Abbildung 5 dargestellten Veränderungen sind: Die höhere Zahl von freiwilligen Helfern und Interviewern im Jahr 2019, wodurch vermutlich mehr Straßenobdachlose erfasst werden konnten als im Jahr 2017. Zudem war der Winter 2019 vergleichsweise mild, während 2017 ein besonders kalter Winter in der Region war, was dazu geführt haben könnte, dass 2017 mehr Obdachlose in Notunterkünften oder „unsichtbar“ bei Verwandten und Bekannten unterkamen. Demgegenüber geht der Rückgang von Personen in Übergangswohnheimen auf einen vom HUD initiierten Strategiewechsel zurück, wonach ein Teil der bestehenden Plätze in staatlich geförderten Übergangswohnheimen in kostengünstigeren dauerhaften Wohnraum (permanent housing) umgewandelt wurde (PSU 2019b). Die an die PIT-Zählungen gekoppelten Befragungen ermöglichen über die Gesamtzahlen hinaus weiterführende Aussagen zu soziodemografischen Merkmalen sowie zur Lebenssituation. Merkmale die im Rahmen der Befragung in Portland erhoben werden sind unter anderem: Geschlecht, Alter, ethnische Zugehörigkeit, Dauer der Obdachlosigkeit, Dauer des Aufenthalts vor Ort, gesundheitliche Einschränkungen, Veteranenstatus und die Frage, ob die Person in der Nacht der Zählung alleine war oder in Begleitung.12 Da die Befragung eine freiwillige Beteiligung voraussetzt, ist unter Berücksichtigung der oftmals schwierigen persönlichen Umstände der Befragten mit einem vergleichsweise

Abbildung 6: Wohnungs- und obdachlose Personen gemäß HUD-Definition sowie Personen die im Rahmen von AHFE-Projekten Unterstützung erhielten, Portland, 2013 bis 2019 10000

8000 Wohnungs- und obdachlose Personen n ach HUD-Defin ition 6000 Person en in "housing placemen t"Projekten

4000

Person en in "homeless preven tion "Projekten

2000

0

2013

2015

2017

2019

Anmerkung: Zur besseren Vergleichbarkeit wurde den PIT-Daten mit Stichtag 23.1.2019 ein Datenbankabzug der im Rahmen von AHFEProjekten unterstützten Personen zum 31.1.2019 gegenübergestellt. Quelle: Portland State University, Point-in-Time Count 2019, eigene Darstellung

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hohen Anteil von Verweigerungen zu rechnen. 2019 wurden im Rahmen der Straßenzählung von den insgesamt 2.037 gezählten Obdachlosen 707 komplett verweigerte Befragungen (34,7 %) erfasst. Darüber hinaus enthalten die ausgefüllten Fragebögen häufig Lücken, da nicht jede Frage beantwortet wurde. Generell wird angemerkt, dass die Qualität der Befragungsergebnisse stark von der Befragungssituation, dem gesundheitlichen Zustand der Befragten und der jeweiligen Frage abhängt. Während die Antworten zu den Fragen nach dem Alter, Geschlecht, ethnischer Zugehörigkeit und Veteranenstatus vergleichsweise zuverlässige Ergebnisse liefern, sind die Selbsteinschätzungen der Befragten zur Dauer der Obdachlosigkeit und zur gesundheitlichen Situation oftmals weniger zuverlässig. Eine weitere Einschränkung betrifft den Vergleich von Befragungsergebnissen zwischen den Jahren. Im Jahr 2019 wurden in Portland, mit Blick auf die Planung und den Einsatz der freiwilligen Helfer, die bislang größten Anstrengungen unternommen valide Ergebnisse zu erhalten. So wurden für die Straßenzählung des Jahres 2019 in etwa doppelt so viele und besser geschulte Interviewerinnen und Interviewer eingesetzt als 2017. Dennoch liefern die Befragungen wichtige Zusatzerkenntnisse auf die Fragen, welche Bevölkerungsgruppen überproportional häufig von Wohnungs- und Obdachlosigkeit betroffen sind und welches die auffälligsten Problemlagen sind. ECONorthwest identifiziert als die zwei wichtigsten lokalen Trends von Obdachlosigkeit in der Region Portland: 1. Angehörige der „People of color“ sind häufiger von Wohnungs- oder Obdachlosigkeit betroffen als Angehörige der weißen Mehrheitsgesellschaft. Von allen Wohnungs- oder Obdachlosen in Portland gehören 38,1 % zur Gruppe der „People of color“, wohingegen diese nur 29,5 % der Gesamtbevölkerung stellen. Die weiße Bevölkerung hingegen macht 70,5 % der Gesamtbevölkerung aus, gegenüber einem Anteil von 58,4 % in der Gruppe aller Wohnungsund Obdachlosen.13 Jedoch ist davon auszugehen, dass das Ausmaß der Überrepräsentanz der „People of color“ in der Wohnungs- bzw. Obdachlosigkeit größer ist als die PIT-Ergebnisse aussagen. Denn die Zählung schließt die „doubled-up“-Bevölkerung aus und wohnungslose „People of color“ leben überproportional häufig ohne feste Wohnadresse bei Verwandten oder Freunden und sind somit für die Statistik unsichtbar (PSU 2019b). 2. Der Anteil der Personen die das HUD als „chronically homeless“ definiert, ist im Jahr 2019 in Portland auf 44,1 % angestiegen. Somit sind, unter Berücksichtigung der Schwierigkeiten bei der Erfassung dieser Daten, 1.769 Personen in Portland ermittelt worden, die seit mindestens einem Jahr obdach- bzw. wohnungslos sind und mindestens eine oder mehrere gesundheitliche Einschränkungen haben. Von diesen Personen lebte der überwiegende Teil (66,5 %) „auf der Straße“. Unter diesen ungeschützt lebenden „chronisch Obdachlosen“ ist der Anteil an psychischen Erkrankungen (41,2 %) und Drogenabhängigkeit (45,6 %) am höchsten. Diese besonders gefährdeten Personen benötigen spezielle Hilfen, die über eine reine Versorgung mit Wohnraum hinausgehen.

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Fazit Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass die PIT-Zählung trotz methodischer Schwächen als hilfreiches Instrument angesehen wird, um statistische Grundlageninformationen zur Anzahl wohnungs- und obdachloser Personen in den USA zu erheben. So werden besondere Problemlagen und Bedürfnisse von betroffenen Bevölkerungsgruppen erkannt, aus denen sich zielgerichtete Hilfsmaßnahmen ableiten lassen. Zudem wird von Experten betont, dass die PIT-Daten einen wichtigen Beitrag zur gesellschaftlichen Debatte zum Thema leisten. Hervorzuhebenden ist die einheitliche Methode, ein regelmäßiger Turnus, die zeitgleiche Erfassung von Straßenobdachlosigkeit und wohnungslosen Personen in Unterkünften, und die von vielen CoCs genutzte Option im Rahmen der Erhebung weitere Aspekte abzufragen. Allerdings wurde aufgezeigt, dass die zugrunde gelegte Definition eine Reihe von Personengruppen ausschließt, woraus eine Untererfassung resultiert. Es ist wichtig auf diese Einschränkung hinzuweisen und zu betonen, dass die gezählten Wohnungs- und Obdachlosen nur den sichtbaren Teil eines größeren Problems abbilden, das in den USA in engem Zusammenhang mit der „affordable housing crisis“ gesehen wird. Die Daten der PIT-Zählung geben weder Auskunft über die Gründe für Wohnungs- und Obdachlosigkeit noch über die Effektivität der Strategien und Maßnahmen zur Bekämpfung des Problems. Beide Aspekte sollten bei der Interpretation der PIT-Ergebnisse berücksichtigt werden. Hinzu kommt, dass zeitliche Vergleiche aufgrund methodisch bedingter Einflüsse schwierig sind und ohne Hintergrundwissen zu Fehlinterpretationen führen können. Insgesamt ist der Eindruck entstanden, dass die Planungsbehörden und handelnden Akteure in den Städten und Countys, die Möglichkeit haben, die Qualität der PIT-Ergebnisse zu beeinflussen – je nachdem welche Bedeutung sie der Zählung beimessen, wie viele Ressourcen sie bereitstellen und wie das Thema in der Öffentlichkeit kommuniziert wird. Im liberalen Portland hat das Thema einen großen gesellschaftlichen Stellenwert. Die Zahl der unterstützenden Organisationen und freiwilligen Helfer ist größer als anderswo. Die mit der Zählung beauftragten Einrichtungen, das JOHS und die PSU, sind bemüht das Erhebungsverfahren im Rahmen der Vorgaben zu verbessern und die Ergebnisse vor dem Hintergrund der methodischen Schwierigkeiten transparent zu erklären. Eine Reihe weiterer universitärer Einrichtungen unterstützt die Arbeit mit angewandter wissenschaftlicher Forschung. Welche Erkenntnisse lassen sich aus den beschriebenen Erfahrungen für deutsche Städte ableiten? Auch wenn sich das Ausmaß der sichtbaren Obdachlosigkeit in den USA erheblich von den Zuständen in deutschen Städten unterscheidet, so sind Wohnungslosigkeit und Wohnungsnot auch in Deutschland zunehmend wichtige Themen. Eine verlässliche Datengrundlage gilt als Voraussetzung für die Entwicklung zielgenauer Handlungsprogramme. Das kürzlich verabschiedete Bundesgesetz zur Einführung einer Wohnungslosenberichterstattung sowie einer Statistik untergebrachter wohnungsloser Personen wird von Fachleuten als wichtiger Schritt begrüßt um erstmals zum 31.01.2022 bundesweit Daten zum Umfang und zur regionalen Verteilung von Wohnungslosigkeit


Stadtforschung

in Deutschland zu erheben (BAGW 2020). Es wird erwartet, dass diese Informationen auf der kommunalen Ebene eine große Wirkung auf die Arbeit von Verwaltungen und freien Trägern haben werden und auch zu einer Verbesserung der Information der Öffentlichkeit führen. Darüber hinaus sollen die zu erfassenden Datenbestände der wissenschaftlichen Grundlagen- und Begleitforschung dienen. Kritisch beurteilt die Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe vor allem die in dem Gesetzentwurf zugrunde gelegte Definition von Wohnungslosigkeit. Diese wird als zu eingeschränkt beurteilt da folgende Personengruppen nicht berücksichtigt werden: Erstens „Personen, die wohnungslos bei Freunden und Bekannten kurzfristig Unterschlupf finden“, zweitens „Personen, die kurzfristig in der Familie verbleiben“ und drittens „Personen ohne jede Unterkunft auf der Straße, aber mit Kontakt zu Beratungsstellen“ (BAGW 2020). Nach Schätzungen der BAGW umfassen diese drei Gruppen über 70% der wohnungslosen Personen in Deutschland. In allen drei Gruppen sind wohnungslose EU-Bürgerinnen und Bürger überrepräsentiert, wodurch es zu einer Untererfassung dieser Bevölkerungsgruppe kommt. Auch die Gruppe der anerkannten wohnungslosen Geflüchteten sollte nach Ansicht der BAGW mit erhoben werden. Mit Blick auf Obdachlose, die ohne jede Unterkunft auf der Straße leben und keinen Kontakt zu Hilfesystemen haben, sowie wohnungslose Personen die temporär in regulärem Wohnraum wohnen, ermöglicht der Gesetzentwurf im Rahmen der sogenannten „Ergänzenden Berichterstattung“ jedoch die Durchführung von Sondererhebungen. Darüber hinaus schlägt die BAGW vor, ggf. in einem zweiten Schritt, auch die Zahl der unmittelbar von Wohnungslosigkeit bedrohten Personen zu erfassen (BAGW 2020). Wie am Beispiel der PIT-Zählung für Portland gezeigt wurde, sind methodische Aspekte und der Umfang der Erhebung bestimmend für die Qualität der Ergebnisse. Es ist zu befürchten, dass die dem deutschen Gesetzentwurf zugrunde liegende Definition zu einer Untererfassung der von Wohnungs- und Obdachlosigkeit betroffenen Personen in Deutschland führen wird.

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Der im Rahmen der US-weiten „Point-in-Time“-Berichterstattung verwendete Begriff „homelessness“ bezieht sich sowohl auf Personen die obdachlos, ohne jede Unterkunft auf der Straße leben (Obdachlosigkeit) als auch auf Personen die ohne eigene Wohnung temporär in Unterkünften leben (Wohnungslosigkeit). Für einen Überblick über Beispiele zur Zählung von Straßenobdachlosigkeit, siehe Busch-Geertsema 2019. Der Beitrag ist zwischen August und September 2019 am Population Research Center der Portland State University entstanden. Der Autor bedankt sich bei Charles Rynerson (Population Research Center), ohne den der Aufenthalt nicht möglich gewesen wäre, sowie bei Prof. Jason Jurjevic (University of Arizona). Im Folgenden wird der Einfachheit halber die geografische Bezeichnung „Portland“ gewählt, obwohl sich die hier dargestellten Ergebnisse auf das über die Stadtgrenzen von Portland hinausgehende Gebiet von Portland/Gresham/Multnomah County beziehen. Notunterkünfte (emergency shelter) bieten Obdachlosen Unterkunft für i. d. R. eine Nacht. Übergangswohnheime (transitional housing) bieten Wohnungslosen und ihren Familien eine vorläufige Unterkunft und Unterstützung für bis zu 24 Monate, mit dem Ziel der Vermittlung in dauerhaften Wohnraum. „Person of color (Plural: people of color) ist ein Begriff aus dem anglo-amerikanischen Raum für Menschen, die gegenüber der amerikanischen Mehrheitsgesellschaft als nicht-weiß gelten und wegen ethnischer Zuschreibungen („Sichtbarkeit“) alltäglichen, institutionellen und anderen Formen des Rassismus ausgesetzt sind.“ (https:// de.wikipedia.org/wiki/Person_of_color. Abgerufen am 14.06.2020). Wert für August 2019 „Net Migration Index“ Wichtige Partner von Behörden wie Strafverfolgungsbehörden, Parkverwaltungen und öffentlichen Versorgungsunternehmen teilten ihr Wissen über die Standorte von Obdachlosenlagern. Homeless Management Information System (HMIS). Zum kompletten Fragebogen siehe PSU 2019b, Appendix A. Dabei sind bestimmte ethnische Gruppen, wie die Angehörigen der „Black/African American“ und der „American Indian/Alaska Native“ am stärksten von Wohnungs- und Obdachlosigkeit betroffen (PSU 2019b).

Literatur BAGW, Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe (2020): Stellungnahmen zur Einführung einer Wohnungslosenberichterstattung vom 09.01.2020. Berlin. Busch-Geertsema, Volker (2019): Ansätze zur Zählung von „Obdachlosen auf der Straße“ in Deutschland, Europa und anderen Ländern der Welt – ein Überblick. In: Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe. Wohnungslos 2/19. Berlin. Chanay, Jessica; Desai, Nishant; Luo, Yuxuan; Purvee, Davaadorj (2018): “An Analysis of Homelessness and Affordable Housing in Multnomah County, 2018”. Portland. ECONorthwest (2018): Homelessness in the Portland region. A review of trends, causes, and the outlook ahead. Portland.

HUD, U.S. Department of Housing and Urban Development (2015): Point-in-Time Count Methodology Guide. HUD, U.S. Department of Housing and Urban Development (2020): The 2019 Annual Homeless Assessment Report (AHAR) to Congress. Jurjevich, Jason R.; Schrock, Greg; Kang, Jihye (2017): „Destination Portland: Post-Great Recession Migration Trends in the Rose City Region“. Portland. MAGS, Ministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziales des Landes Nordrhein-Westfalen (2018): Integrierte Wohnungsnotfall-Berichterstattung 2018 in Nordrhein-Westfalen. NLCHP, National Law Center on Homelessness and Poverty (2017): Don’t count on it. How the HUD Point in time count underestimates the homelessness crisis in America.

Potiowsky, Thomas and Portland State University, Northwest Economic Research Center (2019): „Portland MSA Economic & Population Outlook (October 2019)“. Portland. Portland Housing Bureau (2018): State of Housing in Portland 2018. PSU, Portland State University, Homelessness Research & Action Collaborative, Northwest Economic Research Center (2019a): Governance, Costs, and Revenue Raising to Address and Prevent Homelessness in the Portland TriCounty Region. PSU, Portland State University, Regional Research Institute (2019b): 2019 Point-in-Time. Count of Homelessness in Portland/Gresham/ Multnomah County, Oregon.

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Laura Wette, Bernd Kramer

WEBWiKo – digitale Werkzeuge zur Unterstützung der kooperativen Regionalentwicklung

Das BMBF-geförderte und federführend durch den Kommunalverbund Niedersachsen/Bremen geleitete Projekt WEBWiKo hat als Ziel, zusammen mit den Kommunen eine regionale demografische Datenbasis und darauf aufbauende Bevölkerungsprognosen zu erstellen. Die Ergebnisse sollen sowohl in leicht vermittelbarer Form für sporadische Nutzende demografischer Daten, als auch komplexer für Datenexperten präsentiert werden. Dadurch wird die Region als Ganzes gestärkt und ihre Kompetenz in der Verarbeitung demografischer Daten erhöht. Im vorliegenden Beitrag wird gezeigt, wie regionale Zusammenarbeit von Beginn an zu einem Tool führen kann, von dem sowohl die Region als auch die einzelnen Kommunen profitieren.

Einleitung und Ausgangslage Die interkommunale Kooperation wird in eng verflochtenen Regionen wie dem stadtregionalen Verflechtungsraum des Oberzentrums Bremen (sog. Region Bremen) immer wichtiger. Die knapper werdenden Ressourcen „bezahlbarer Wohnraum“ und „freies Bauland“ sorgen neben anderen Entwicklungen in der Region dafür, dass die Menschen sich verstärkt regional und weniger kommunal orientieren (Abb. 1). Demografische Prozesse wie Wanderungsbewegungen machen demnach an administrativen Grenzen nicht Halt, sondern sind auch von den kommunalen Entwicklungen und politischen Entscheidungen der Nachbargemeinden abhängig. Schrumpfen und Wachsen finden so kleinräumig bis regional nah beieinander statt, was die Kommunen vor planerische Herausforderungen stellt. Ein Beispiel: Wachsender Wohnraumbedarf in einem Quartier steht zunehmendem Leerstand im anderen gegenüber, bedingt dadurch wird auch die Beplanung der sozialen Infrastrukturen wie Schulen und Kitas komplexer. Abbildung 1: Die zeitliche Entwicklung des Wanderungssaldos pro 1000 Einwohner in der Region Bremen.

Laura Wette M. Sc. Geografie. Seit 2017 Projektmitarbeiterin beim Kommunalverbund Niedersachsen/Bremen e. V. im Forschungsprojekt „Werkzeuge und Methoden zur Erstellung kleinräumiger Bevölkerungsprognosen und Wirkungsszenarien in der interkommunalen Kooperation“. : wette@kommunalverbund.de Dipl.-Inform. Bernd Kramer Geschäftsführender Gesellschafter des WEBWiKo-Projektpartners regio gmbh, Themenschwerpunkte: Datengewinnung, Datenschutz, zentrale Dateninfrastruktur, Vermarktung der Werkzeuge, Übertragung in andere Regionen. : kramer@regio-gmbh.de Schlüsselwörter: Regionale Kooperation – Demografie – Digitalisierung – Kleinräumige Bevölkerungsprognosen – Datenanalysewerkzeuge

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Quelle: Landesamt für Statistik Niedersachsen, Statistisches Landesamt Bremen

Dadurch steigt in den Kommunen der Bedarf an kleinräumig verfügbaren, regelmäßig aktualisierten, demografischen Daten auf der einen Seite, auf der anderen aber auch die Notwendigkeit interkommunaler Kooperation und einer gemeinsamen Bearbeitung dieser Herausforderung aufgrund der Zunahme von Wanderungsbeziehungen in der Region Bremen.


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Der Kommunalverbund Niedersachsen/Bremen hat diese Kooperation institutionalisiert und zuletzt 2015 mit dem Grundsatzbeschluss zur kooperativen Regionalentwicklung eine politisch beschlossene Handlungsgrundlage geschaffen. Darauf aufbauend werden themenbezogen Projekte durchgeführt, die den Zusammenhalt der Region und die regionale Entwicklung stärken. Die Region Bremen ist in sich sehr heterogen: Städtische und ländliche Bereiche und auch Wachstum und Schrumpfung liegen dicht beieinander. Zwei Bundesländer, drei Ämter für regionale Landesentwicklung, fünf Landkreise, sieben Träger der Regionalplanung und insgesamt 28 Landkreise, Städte und Gemeinden machen die interkommunale Zusammenarbeit komplex. Unterschiedlich vorhandene personelle Kapazitäten, aber auch Wissensstände sowie die Vielzahl an Partnern, mit denen kooperiert wird, stellen für den regionalen Austausch von Daten und die Bearbeitung von Analysen zur Lösung von regionalen, demografischen Herausforderungen eine große Aufgabe dar. Eine regionale Koordination empfiehlt sich daher. Aus diesem Grund hat der Kommunalverbund zusammen mit vier Forschungs- und sechs Praxispartnern (Abb. 2 und 3) das vom Bundesministerium für Bildung und Forschung geförderte Projekt WEBWiKo („Werkzeuge und Methoden zur Erstellung kleinräumiger Bevölkerungsprognosen und Wirkungsszenarien in der interkommunalen Kooperation“) initiiert, das den Kommunen mittels digitalisierter Prozesse Werkzeuge an die Hand geben möchte, um die gegenwärtig anstehenden demografischen Aufgabenstellungen gemeinsam in regionaler Kooperation zu bewältigen.

Das Projekt WEBWiKo In der Laufzeit von April 2017 bis Januar 2020 wurden im Projekt Werkzeuge und Methoden entwickelt, die den Verwaltungsmitarbeitenden in den Kommunen die demografischen Daten in angemessener und leicht zugänglicher Weise zur Ver-

Abbildung 2: Die WEBWiKo-Praxispartner in der Region Bremen.

fügung stellen. Die Werkzeuge werden zunächst exemplarisch in den sechs Praxiskommunen eingesetzt, perspektivisches Ziel ist jedoch die Nutzung in der gesamten Region Bremen. Der WEBWiKo-Werkzeugkasten untergliedert sich in drei Säulen, die in Abbildung 4 dargestellt sind und im Folgenden ausführlicher beschrieben werden.

Abbildung 4: Der WEBWiKo-Werkzeugkasten

Grafik: © regio gmbh

Säule 1: Datengewinnung und gemeinsame Dateninfrastruktur Für den Aufbau einer gemeinsamen, regionalen und kleinräumigen Dateninfrastruktur wird auf die Daten aus den Einwohnermeldeämtern (EMA) zurückgegriffen, die die einzige Möglichkeit sind, kleinräumiger als die Gemeindeebene zu werden. Bei der oben geschilderten, heterogenen Struktur der Region Bremen war eine wichtige Anforderung, dass die Gewinnung der Daten ohne den Einsatz einer abgeschotteten Statistikstelle auskommen soll. Vorangegangene Aktivitäten des Kommunalverbunds zur Gewinnung demografischer Daten hatten noch die Statistikstelle der Stadt Bremen genutzt. Der organisatorische und personelle Aufwand zur Aufbereitung der Daten war jedoch für ein kontinuierliches, regionales Demografie-Monitoring nicht darstellbar, sodass im WEBWiKoProjekt neue Wege gefunden werden sollten. Der Forschungspartner regio gmbh hat mit Unterstützung des Statistischen Landesamtes Bremen ein Verfahren (EMA-Da-

Abbildung 3: Die WEBWiKo-Forschungspartner.

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ten-Aggregation) entwickelt, mit dem die Umsetzung dieser Anforderung trotz der Nutzung sensibler Bevölkerungsdaten ermöglicht werden kann. Das grundlegende Konzept ist, dass die personenbezogenen Einzeldaten in den Einwohnermeldeämtern verbleiben und nur aggregierte und anonymisierte Daten in die gemeinsame Dateninfrastruktur übernommen werden. Dadurch verliert man zwar etwas an Flexibilität in den Datenauswertungen gegenüber einer abgeschotteten Statistikstelle, in der die Einzeldaten vorliegen dürfen. In der Zusammenarbeit mit den Praxispartnern im WEBWiKo-Projekt haben sich allerdings keine Fragestellungen ergeben, die sich nicht mit den erzeugten Bevölkerungsdaten beantworten ließen. Die EMA-Daten-Aggregation ist eine Webanwendung, die lokal im Einwohnermeldeamt im Internet-Browser ausgeführt wird. In einem ersten Schritt werden die aus dem Einwohnermeldewesen exportierten Bestands- und Bewegungsdaten in die Anwendung eingelesen und im lokalen Speicher vorgehalten. Als nächstes werden die eingelesenen Einzeldaten in einem ersten Anonymisierungsschritt nach ihren Bevölkerungsmerkmalen aggregiert. Die enthaltenen Adressen (Wohnadresse bei den Bestandsdaten, Geburten und Sterbefällen, Quell- und Zieladresse bei den Zu-, Fort- und Umzügen) werden georeferenziert und auf die festgelegten räumlichen Einheiten (Stadt- oder Ortsteile und Rasterzellen, siehe unten) aggregiert. Aus dem Geburtsdatum wird ein Altersjahr und aus den verschiedenen Staatsbürgerschaften der Status deutsch/ nicht-deutsch. Darüber hinaus wird das Merkmal Geschlecht aus den Einzeldaten übernommen. Bereits jetzt sind in vielen Fällen – insbesondere in dichter besiedelten Gebieten – keine Rückschlüsse mehr auf Einzelpersonen möglich. Für eine vollständige Anonymisierung werden in einem zweiten Schritt die verbliebenen Einzelfälle (Personenzahlen unter 3) mittels einer vereinfachten Anwendung des SAFE-Verfahren eliminiert und nicht in der regionalen Dateninfrastruktur gespeichert. Im Rahmen des Projektes wurden für das Verfahren Stellungnahmen von den Datenschutzbehörden der Länder Niedersachsen und Bremen eingeholt. Von diesen wurde das Verfahren als datenschutzkonform eingeschätzt unter der Voraussetzung, dass eine vollständige Anonymisierung erreicht wird. Die letztliche Entscheidung über die Rechtmäßigkeit des Verfahrens liegt allerdings bei den Datenschutzbeauftragten der einzelnen Kommunen.

Nutzung des KOSIS-Datensatzes in der Stadt Bremen Mit der Stadt Bremen gab es unter den Praxispartnern ein Mitglied des KOSIS-Verbundes. Der Projektpartner Statistisches Landesamt Bremen hat für das WEBWiKo-Projekt eine Möglichkeit geschaffen, die vorliegenden Daten des KOSIS-Datensatzes Bevölkerungsbestand in die EMA-Daten-Aggregation einfließen zu lassen und eine Anbindung an das KOSIS-Werkzeug AGK für die Georeferenzierung zu schaffen. Grundsätzlich wäre das auch mit dem Datensatz Bevölkerungsbewegungen möglich. Da dort allerdings keine Adressen für die Zuzugsquelle bzw. das Fortzugsziel vermerkt sind, würde man darüber die

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kleinräumigen Wanderungen innerhalb der Region Bremen nicht darstellen können. Aus Sicht der Praxispartner und des Kommunalverbunds liegt aber gerade hier ein großer Mehrwert der WEBWiKo-Werkzeuge, weshalb auch für Bremen die Bewegungsdaten aus dem Einwohnermeldewesen exportiert werden.

Kleinräumige Gebietsgliederung vs. INSPIRE GRID Neben der Aggregation auf der Ebene der kommunalen, kleinräumigen Gebietsgliederung (in der Regel Stadt- oder Ortsteile) nimmt das Werkzeug EMA-Daten-Aggregation automatisch auch eine Aggregation auf Rasterebene vor. Zur Standardisierung wird das von der europäischen Initiative zum Aufbau einer Geodateninfrastruktur INSPIRE definierte Raster in verschiedenen Auflösungen (500 m, 1 km, 10km) mit dem gesamten Merkmalssatz der Bevölkerungsdaten befüllt. Die Betrachtung und Analyse von statistischen Daten im regelmäßigen Raster ist ein etabliertes Verfahren, das auch bereits im Zensus 2011 eingesetzt wurde (BKG 2017; Neutze 2015). Darüber hinaus bieten Raster sowohl bei der kommunalen als auch der regionalen Betrachtung weitere Vorteile: • Bevölkerungsdaten auf Rasterebene ermöglichen eine differenziertere Betrachtung der Entwicklungen in den Kommunen. Gerade in ländlichen Kommunen mit einzelnen Siedlungskernen und ansonsten disperser Bebauung verzerren z. B. kleine Baugebiete in Ortsteilgrenzlage den Eindruck für den gesamten Ortsteil. Zudem ergeben sich dadurch genauere Analysen für einzelne Fachplanungen. Zwei Beispiele: Bei der Erstellung kommunaler oder regionaler Einzelhandelskonzepte können Versorgungslücken wesentlich besser ausgemacht werden. Der Katastrophenschutz kann im Notfall in einem Umkreis die Anzahl der zu evakuierenden Personen genauer bestimmen und wird so bei der Koordinierung unterstützt. • Rasterzellen sind unabhängig von administrativen, mitunter historisch gewachsenen und dadurch ggf. heute rein planerisch nicht mehr sinnvollen Ortsteilgrenzen, die eine regionale und teils auch kommunale Gegenüberstellung ausschließen. Rasterzellen dagegen, da immer gleich groß, können auch zwischen Kommunen und an Gemeindegrenzen verglichen werden (Deißelmann u. Meinel 2013 nach Witt 1970; Arnberger 1977). Die Beobachtung und das Aufdecken bestimmter Entwicklungen an den Gemeindegrenzen sind auch in der regionalen Betrachtung wichtig und ermöglichen die Lösung verschiedener Fragestellungen wie z. B. „Finden Abwanderungen von einer in die andere Kommune an der Grenze statt?“ oder „Wäre der Besuch einer Kita oder Schule in der Nachbargemeinde aufgrund der Nähe ggf. für die Familien sinnvoller?“ • Durch die Speicherung im Raster können zukünftig die WEBWiKo-Daten bei Bedarf sehr schnell und einfach mit den Zensus-Ergebnissen verschnitten werden, was für die Kommunen vor allem 2021 zur Bewertung ihrer Einwohnerverzeichnisse und des Zensusergebnisses interessant werden könnte.


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Säule 2: Kleinräumige Bevölkerungsvorausberechnung Die erfassten und gespeicherten Bestands- und Bewegungsdaten bilden die Grundlage für eine regionale und mit den Kommunen abgestimmte Bevölkerungsprognose. Im Verlauf des Projektes stellte sich allerdings heraus, dass die vollständig anonymisierten Daten nicht zu einem validen Prognoseergebnis führen, so dass die Prognose die aggregierten, noch nicht vollständig anonymisierten Daten verwendet. Um den Bestimmungen der DS-GVO Rechnung zu tragen, werden diese Daten nur für diesen einen Zweck verwendet und getrennt von den vollständig anonymisierten Daten gespeichert. Allerdings bedarf es zusätzlich einer vertraglichen Regelung (Vertrag zur Auftragsverarbeitung) zwischen der jeweiligen Kommune und dem Betreiber der regionalen Dateninfrastruktur. Die Prognoserechnung erfolgt zunächst auf der Stadt- und Ortsteilebene nach der Kohorten-/Komponenten-Methode und nutzt die Möglichkeiten des im WEBWiKo-Projekt verfolgten regionalen Ansatzes durch einige spezielle Konzepte aus: • Um ausreichend hohe Bevölkerungszahlen für die Berechnung von Geburten-, Zuzugs- und Fortzugsraten zu bekommen, werden die kleinräumigen Gebiete pro Komponente nach verschiedenen Kriterien interkommunal geclustert • Um das Wanderungsverhalten für die Prognoserechnung besser abbilden zu können, werden auf regionaler und auf kommunaler Ebene Wanderungspools gebildet, die für eine kleinräumige Verteilung der Zuzüge und Fortzüge herangezogen werden. Für die Prognoserechnung werden von einem regionalen Prognose-Verantwortlichen die grundlegenden Annahmen und weiteren Rahmenbedingungen wie die verwendeten

Ausgangsjahre festgelegt. Dabei werden drei verschiedene Prognoseszenarien konfiguriert – ein mittleres, ein oberes und ein unteres Szenario, um einen Entwicklungskorridor für die auf der Prognose beruhenden Planungen zu definieren. Nach erfolgter Prognoserechnung für die Stadt- und Ortsteilebene wird das Ergebnis noch proportional zu den bestehenden Bevölkerungsstrukturen auf das 500m-Raster verteilt. Damit ein realitätsnahes Prognoseergebnis erzielt werden kann, ist es darüber hinaus wichtig, dass das lokal in den beteiligten Kommunen vorhandene Wissen über besondere Entwicklungen, wie z.B. Neubaugebiete, in die Rechnung mit einfließen können. Dafür wurde im WEBWiKo-Projekt der Prognose-Editor entwickelt, der es den einzelnen Kommunen ermöglicht auf kleinräumiger Ebene die Fortschreibung zu beeinflussen. So kann beispielsweise in einem Gebiet mit einem geplanten Neubaugebiet der Zuzug für einen gewählten Zeitraum relativ erhöht werden. (s. Abb. 5) Aufgrund der begrenzten Projektlaufzeit konnten die Beeinflussungsmöglichkeiten nur begrenzt mit den beteiligten Praxiskommunen getestet werden. Es stellte sich aber bereits heraus, dass es manchen kommunalen Partnern nicht leicht fällt die kleinräumigen Entwicklungen anhand von Fortschreibungsparametern zu beschreiben. Hier besteht Potenzial für zukünftige Entwicklungen, um das lokal vorhandene Wissen noch besser in die Prognoserechnung einfließen lassen zu können. Ein weiterer in Zukunft näher zu untersuchender Punkt ist, ob durch die kommunale Anpassung der Fortschreibungsparameter negative Effekte bei der Prognoserechnung für andere Kommunen entstehen können und ob sich auch innerhalb der Kommune ein stimmiges Gesamtbild ergibt. Darüber hinaus war in dem Projekt problematisch, dass die Bevölkerungsdaten nur von vier Praxispartnern zur Verfügung standen. Die neuen Konzepte werden ihre Stärken erst ausspielen können, wenn wirklich eine gesamträumliche

Abbildung 5: Der Prognose-Editor zur kleinräumigen Anpassung der Prognose-Annahmen.

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Prognose mit allen Kommunen des Kommunalverbunds gerechnet werden kann. Entsprechend wird auch eine weitere Evaluation der Prognoseergebnisse notwendig werden, wenn diese für die gesamte Region vorliegen. Es zeigte sich in der Praxisphase des Projektes aber schon, dass in der regionalen Prognoserechnung trotz aller Unsicherheiten auch große Chancen liegen. Viele der kleineren Kommunen des Kommunalverbunds verfügten in der Vergangenheit nicht über eine Bevölkerungsprognose, sodass beispielsweise in der Kindertagesstättenplanung nur die Geburten hochgerechnet werden, ohne das Wanderungsgeschehen zu berücksichtigen. Noch wichtiger im Umgang mit den Risiken einer kleinräumigen Prognoserechnung ist allerdings die Möglichkeit, die Prognosen mit aktuellen Daten jährlich neu zu berechnen und dadurch sich verändernde Entwicklungen schnell berücksichtigen zu können. Der Digitalisierungsgrad der Werkzeuge zur Datengewinnung und zur Prognoserechnung ist so hoch, dass die jährliche Wiederholung mit geringem Personaleinsatz gelingt.

Säule 3: Werkzeuge zur Betrachtung und Analyse der Bestands-, Bewegungsund Prognosedaten Die dritte Säule enthält die regionale Bereitstellung aller Daten für die teilnehmenden Kommunen und deren Verwaltungen. Damit eine breite Nutzung der Daten für die vielfältigen Planungs- und Entscheidungsprozesse sowohl innerhalb einer Kommune, als auch interkommunal oder regional möglich wird, wurden zum einen leicht zu bedienende interaktive Web-

anwendungen entwickelt, sogenannte Dashboards. Die Dashboards stellen die Daten sowohl räumlich in Form einer Karte, als auch zeitlich in Form eines Liniendiagramms dar. In einigen Dashboardansichten kommen noch weitere Diagramme hinzu, z.B. Balkendiagramme für die Darstellung der Altersstrukturen. Alle Grafik-Elemente sind dynamisch miteinander verbunden, was die Analysemöglichkeiten der Daten stark verbessert. Es können dabei sowohl einzelne Jahre, Altersgruppen als auch einzelne räumliche Einheiten ausgewählt und näher betrachtet werden. Alle weiteren Darstellungen passen sich dynamisch an die getätigte Auswahl an. Der Dashboard-Zugang ermöglicht so niedrigschwellig den schnellen Zugriff auf die von kommunalen oder regionalen Akteuren benötigten Daten (Abb. 6–8). Das Wanderungsdashboard ermöglicht mit seinen anschaulichen Darstellungen der Zuzüge, Fortzüge und des Wanderungssaldos einen neuen und gerade in vielen der kleineren Kommunen bisher nicht verfügbaren Blick auf das regionale und überregionale Wanderungsverhalten. Besonders hervorzuheben ist die Darstellung der kleinräumigen innerregionalen Wanderungen, mit denen genau zu analysieren ist, von welchem Stadt- oder Ortsteil in welchen anderen Stadt- oder Ortsteil bzw. von welcher Rasterzelle in welche Rasterzelle gewandert wird. In der Praxisphase haben die kommunalen Planer darüber schon ganz neue Erkenntnisse gewonnen zu Aussagen, die davor eher in Form von Vermutungen vorlagen. Im Rahmen des WEBWiKo-Projektes wurde unter anderem darüber diskutiert, ob die Dashboards ausschließlich den Kommunalverwaltungen und dem Kommunalverbund für Analysen und Datenaufbereitungen zur Verfügung stehen oder ob sie auch öffentlich zugänglich sein sollen, damit sie beispielsweise von politischen Vertretern oder in Bürgerbe-

Abbildung 6: Das Demografie-Dashboard, Bevölkerung nach Geschlecht und Alter in der kleinräumigen Gliederung.

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teiligungsprozessen verwendet werden können. Hier ergab sich unter den Praxiskommunen noch kein einheitliches Meinungsbild, so dass eine Entscheidung darüber bei Einführung der Werkzeuge im gesamten Raum des Kommunalverbunds noch getroffen werden muss. Nur für die kommunalen Mitarbeiter, die sich intensiver mit der Datenanalyse beschäftigen, steht darüber hinaus ein Expertentool – das vom Projektpartner OFFIS entwickelte

MUSTANG (Abb. 9) – zur Verfügung, über das der gesamte Datenschatz bereitgestellt wird und das zur Erstellung komplexer Analysen befähigt. Die Daten können in MUSTANG flexibel in der gewünschten Form ausgewählt und sowohl als Tabellen als auch als Grafiken oder Karten aufbereitet werden. Für eine Weiterverarbeitung in anderen Programmen wie z.B. einer Tabellenkalkulation oder einem Geoinformationssystem stehen passende Exportformate zur Verfügung.

Abbildung 7: Das Demografie-Dashboard, Bevölkerung nach Geschlecht und Alter im Raster.

Abbildung 8: Das Wanderungsdashboard auf kleinräumiger Ebene.

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Abbildung 9: Das Expertenwerkzeug MUSTANG.

Darüber hinaus werden die Bestands-, Bewegungs- und Prognosedaten mit sogenannten Wirkungsszenarien zusätzlich in Wert gesetzt, indem sie themenbezogen erweitert werden. Im Rahmen von WEBWiKo wurde exemplarisch ein Wirkungsszenario für die Kita-Planung erstellt, bei dem zunächst neben den demografischen Daten auch die Anzahl der genehmigten Plätze jeder Krippe und jedes Kindergartens und Horts in den Praxiskommunen abgefragt wurden. Ein eigens für die Kita-Planung angefertigtes Dashboard ermöglicht zudem die Beeinflussung der Bedarfsquoten und eine kleinräumige Gegenüberstellung der Kinder in der entsprechenden Altersgruppe und der verfügbaren Plätze.

WEBWiKo und die regionale Zusammenarbeit Das Projekt wurde von Beginn an regional gedacht und bearbeitet. Die Erfüllung der Anforderungen und Bedürfnisse von Kommunen und Region an die Datenstrukturen und die Werkzeuge waren ein Hauptziel des Projektes. Regelmäßig wurden im Reallabor die bereits erzeugten Methoden mit diesen Bedarfen abgeglichen und ggf. die Entwicklung angepasst. Die Praxispartner wurden so ausgewählt, dass die Belange der unterschiedlichen Gebietskörperschaften in die Werkzeugentwicklung einfließen: So wurden trotz der gesamtregionalen Betrachtung auch Spezialfälle der Kommunen, die aufgrund der Größe bestehen, berücksichtigt. Mit dem „Grundsatzbeschluss zur kooperativen Regionalentwicklung“ hat der Kommunalverbund sich 2015 ein

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aktualisiertes Leitbild gegeben. Zur Umsetzung der Leitziele sollen u.a. eine gemeinsamen Wissensbasis, die Qualifikation der Akteure und die Bündelung bestimmter Kompetenzen und Ressourcen an einer Stelle beitragen. Die in WEBWiKo entwickelten Methoden erfüllen alle Anforderungen, um diese Ziele zu erreichen, etwa mittels der modernen, digitalisierten Datensammlungsverfahren und der Bereitstellung der Daten in der Form, wie sie vom jeweiligen Nutzenden (für den Datenexperten im Expertentool oder für den Datenlaien im Dashboard) verarbeitet werden kann. Die Bündelung der Kompetenzen und Ressourcen kann ebenfalls mit WEBWiKoMethoden umgesetzt werden: Der Kommunalverbund wird damit in die Lage versetzt, als regionaler Datendienstleister zu fungieren und regionale und – wenn gewünscht – kommunale Analysen anzufertigen und so das Ziel der Bündelung der Ressourcen umzusetzen: Gerade kleinere Gemeinden, die keine Statistikstelle und oft auch mangels Personal nicht die Zeit für tiefergehende Analysen haben, können davon profitieren. Zugleich wird das Wissen und Know-how in der Region auf einen Stand gebracht, wodurch die „Partnerschaft auf Augenhöhe“, eines der wichtigsten Prinzipien des Kommunalverbunds, gefördert wird. Auch die Arbeit des Kommunalverbunds an sich wird von WEBWiKo profitieren können: Nahezu alle regionalen Strategien und deren Fortschreibungen basieren auf den Bevölkerungsdaten. So wurden für die Erstellung einer regionalen Wohnungsmarktstrategie, ein Projekt, das als Modellvorhaben der Raumordnung vom Kommunalverbund durchgeführt wird, bereits Bevölkerungsprognosen und aktuelle Wande-


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rungsbewegungen verwendet, um den zukünftigen Bedarf an bezahlbarem Wohnraum abschätzen zu können. Für das Regionale Zentren- und Einzelhandelskonzept (RZEHK), das unter Leitung des Kommunalverbunds erstellt wurde, gibt es ebenfalls Anwendungsgebiete: Wo leben welche Bevölkerungsgruppen und wo muss dementsprechend eine bestimmte Nahversorgung vorhanden sein? Solche und ähnliche Fragen können mit den WEBWiKo-Werkzeugen schnell und flächendeckend beantwortet werden. In beiden Anwendungsfällen kann der hohe Mehraufwand durch die Einzelabfrage in den 28 Mitgliedskommunen beseitigt werden. Aber auch die Landkreise und Gemeinden bzw. Städte können Nutzen aus den Daten ziehen: Die Kosten für Prognosen, die zahlreiche Kommunen an externe Büros vergeben und die die Grundlage weiterer planerischer Aufgabenfelder bilden, können bei gleichzeitiger, erhöhter Fortschreibungsfrequenz eingespart werden. Die Landkreise können die kreisangehörigen Gemeinden von Datenanfragen entlasten, indem sie alle Daten zentral an einer Stelle abrufen. Die Speicherung und Darstellung der Daten im Raster ermöglicht den Gemeinden und Städten die Bearbeitung neuer Fragestellungen und vereinfacht bisherige Abläufe wie die Spielplatzplanung, Strategie- bzw. Konzeptentwicklung (z. B. Einzelhandel) etc.

Ausblick Auch wenn durch die begrenzte Projektlaufzeit des WEBWiKoProjekts nicht alle der Ideen der Entwickler und Wünsche der Verwaltungsmitarbeitenden umgesetzt werden konnten, so sind doch einsatzfähige und praxistaugliche Werkzeuge für ein kontinuierliches Demografie-Monitoring entstanden. Die positiven Rückmeldungen durch die Praxispartner im Projekt zeigen deutlich, dass ein Bedarf an regionalen, kleinräumigen Daten und Analysen besteht. Der Kommunalverbund Niedersachsen/Bremen ist bestrebt, die WEBWiKo-Werkzeuge regionsweit einzuführen. Mit einem entsprechenden politischen Beschluss könnte er die Aufgabe eines regionalen Datendienstleisters für die Kommunen übernehmen und damit die Datensammlung, Prognoseberechnung und darauf aufbauende Analysen, Monitorings etc. für das gesamte Verbundgebiet anstoßen. Besonders hilfreich ist für den Einsatz in der gesamten Region, dass keine Notwendigkeit für die Einrichtung einer abgeschotteten Statistikstelle besteht. Der Projektpartner regio gmbh ist dabei, die entstandenen Lösungen so weiterzuentwickeln, dass sie auch langfristig einsetzbar und zu betreiben sind. Dadurch können die Werkzeuge auch anderen interessierten Regionen angeboten werden. Darüber hinaus wurde im Projekt festgestellt, dass die Methoden zur datenschutzkonformen Gewinnung kleinräumiger Daten auch für andere Anwendungsbereiche ein großes Potenzial haben. So könnten in dem Dashboard für das Wirkungsszenario Kita-Planung beispielsweise Daten zur Belegung ergänzt werden und man so besser analysieren, aus welchen Wohngebieten die Kinder welche Kita besuchen und so eine bessere Standortplanung für neue Kitas ermöglichen. Aber auch für ein Wirkungsszenario Wohnungsmarkt ergäbe sich Potenzial z.B. in der Ermittlung von Haushaltszahlen (ähnlich zum Verfahren HHGEN aus dem KOSIS-Verbund) oder für eine kleinräumige Aufbereitung der Bautätigkeit.

Literatur Bundesamt für Kartographie und Geodäsie (BKG) (2017): Geographische Gitter für Deutschland GeoGitter. <https:// sg.geodatenzentrum.de/web_public/gdz/ dokumentation/deu/geogitter.pdf>. Deißelmann, M., Meinel, G. (2013): Zur Erzeugung hochauflösender datenschutzkonformer Mischrasterkarten. In: Meinel, G.; Schumacher, U.; Behnisch, M. (Hrsg.): Flächennutzungsmonitoring V. Methodik – Analyseergebnisse – Flächenmanagement. Berlin: Rhombos, IÖR Schriften 61, S. 189-197.

Kommunalverbund Niedersachsen/Bremen e. V. (Hrsg.) (2015): Grundsatzbeschluss zur kooperativen Regionalentwicklung. <https:// www.kommunalverbund.de/portal/seiten/ grundsatzbeschluss-zur-kooperativen-regionalentwicklung-901000341-3300.html>. Neutze, M. (2015): Gitterbasierte Auswertungen des Zensus 2011. In: Stadtforschung und Statistik: Zeitschrift des Verbandes Deutscher Städtestatistiker 2/2015. S. 64 – 67. <https://www. zensus2011.de/SharedDocs/Downloads/DE/ Publikationen/Aufsaetze_Archiv/2015_02_ Destatis_GitterbasierteAuswertungen.pdf?__ blob=publicationFile&v=3>.

Rothe, P. (2019) Statistische Geheimhaltung – Der Schutz vertraulicher Daten in der amtlichen Statistik, FDZ-Arbeitspapier Nr. 50, Forschungsdatenzentrum der Statistischen Ämter der Länder. <https://www.forschungsdatenzentrum.de/sites/default/files/arbeitspapier-50.pdf> Statistische Ämter des Bundes und der Länder (2014): Nutzer-Kurzinformation zu SAFE. <https://www.zensus2011.de/SharedDocs/Downloads/DE/Merkmale/Nutzerhinweise_safe. pdf?__blob=publicationFile&v=16>.

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Entdeckt Bücher

Die Geschichte des „Grand Hotels Abgrund“

Unter dem Titel „Grand Hotel Abgrund“ hat der Londoner Publizist Stuart Jeffries ein aktuell ausgerichtetes Buch über die Geschichte des berühmten Frankfurter Instituts für Sozialforschung vorgelegt. Neben dem bereits 1976 erschienenen Buch von Martin Jay über die Geschichte der Frankfurter Schule (Martin Jay, Dialektische Phantasie – Die Geschichte der Frankfurter Schule und des Instituts für Sozialforschung 1923–1950, S. Fischer Verlag Frankfurt 1976) und dem voluminösen Band von Rolf Wiggershaus mit 795 Seiten (Die Frankfurter Schule, Carl Hanser Verlag München 1986) erzählt Jeffries eine „Gruppenbiografie“ der Personen des Instituts vor dem Hintergrund der Katastrophen und Kriege des 20. Jahrhunderts. „Er arbeitet sich nicht durch die Archive oder entdeckt neue Quellen, sondern arrangiert Bekanntes in leicht lesbarer Form, ergänzt um einzelne Werkanalysen – alles so präsentiert, dass es ideal zu einer intellektuellen Cocktailparty passt, vielleicht weniger ins Doktorandenkolloquium“ schreibt Alexander Cammann in seiner Rezension in DIE ZEIT (48/2019). Die leichte Lesbarkeit des Buches von Jeffries unterscheidet sich vom tiefgründig philosophischen Ansatz des Buches von Rolf Wiggershaus und dem recht oberflächlichen Buch von Martin Jay, ohne die wesentlichen Debatten, Auseinandersetzungen und Intrigen im Institut auszublenden. Jeffries kann auf die große Fülle der bereits vorliegenden Materialien wie Briefe, Veröffentlichungen und interne Dokumente zurückgreifen und eine vielschichtige Biografie der bekannten Mitglieder wie Theodor W. Adorno, Max Horkheimer oder Herbert Marcuse vorlegen. Die heute weniger bekannten Mitarbeiter wie Leo Löwenthal oder Friedrich Pollock sowie die dem Institut nahestehenden Walter Benjamin oder Erich Fromm werden ebenfalls als wichtige Ideengeber und Diskussionspartner vorgestellt.

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& Stuart Jeffries, Grand Hotel Abgrund, Verlag Klett-Kotta 2018, 28 Euro

Max Horkheimer, der Leiter des Frankfurter Instituts für Sozialforschung, hatte bereits Anfang der dreißiger Jahre die Zeichen der Zeit, das Aufkommen des Faschismus in Deutschland und seine Gefahr für die jüdischen Mitbürger/innen, erkannt, alles Vermögen des Instituts in die Schweiz transferiert und damit das Überleben des Instituts und seiner Mitarbeiter im Exil in Amerika gesichert. Entstanden sind die wesentlichen Schriften überwiegend im amerikanischen Exil und nicht in Frankfurt, wo das Institut 1923 gegründet wurde und wohin es 1951 zurückkehrte. Die Kritische Theorie, die Frankfurter Schule war in der Bundesrepublik selbst zu einem Begriff geworden und hatte großen Einfluss auf die sich entwickelnde Studentenbewegung der 68er Jahre. Die Aufsätze aus der mittlerweile berühmten Zeitschrift für Sozialforschung, die Studien über Autorität und Familie, über den autoritären Charakter und

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vor allem das Hauptwerk, die „Dialektik der Aufklärung“ von Horkheimer und Adorno, werden von Jeffries in ihrem ideengeschichtlichen Zusammenhang unterhaltsam und brilliant geschrieben vorgestellt. Sein Buch geht jedoch über die Gründungsphase in den frühen zwanziger Jahren, das Exil in den USA, die Rückkehr in die Bundesrepublik und den Tod Adornos 1969 hinaus: Habermas, der Entstehung der GRÜNEN und der aktuellen Bedeutung der Kritischen Theorie sind die letzten Kapitel gewidmet. Laut Jeffries ist die Frankfurter Schule und ihre Kritische Theorie deshalb so bedeutend, weil sie versuchte, die Konsequenzen aus dem Scheitern der europäischen Arbeiterbewegung im Kampf gegen den Faschismus und dem Scheitern der russischen Revolution mit seiner Transformation in den Stalinismus zu ziehen und die moderne westliche Version des Kapitalismus samt Kulturindustrie zu verstehen. Ein lesenswertes Buch! Günther Bachmann


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