Inhalt
Schwerpunkt
Heft 1 | 2022
Moderation: Gabriele Sturm, Till Heinsohn 2
Hintergrunddaten zum Themenfeld „Kinder in der Stadt“
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Kinderfreundliche Stadtentwicklung und kommunale Kinderpolitik Peter Höfflin
11 Dortmunder Kinderbefragung – gemeinsam mit Kindern Qualität entwickeln Mirjam Brondies, Katja Dreisbach 16 Übergewichtige Kinder in sozial schwachen Strukturen – eine Verstärkung der Chancenungleichheit Carmen Söldner 21 Im Souterrain des Wohnungsmarktes: Beengte Wohnverhältnisse von Familien in der Grundsicherung für Arbeitssuchende Henning Schridde 28 Soziale Lage von Kindern in der Stadt – Kinderarmut im sozialräumlichen Kontext Teresa Grundmann, Dorothee Winkler 38 Ungleiche Kindheiten? Frühe Bildung im Stadt-Land-Vergleich Susanne Lochner, Katharina Kopp 43 Kinderleben in der Suburbia Angelina Göb
Stadtforschung 51 Stadt-Umland-Wanderungen von jungen Familien in Leipzig: Analyse und Visualisierung mit der hin&weg-Anwendung Aura Moldovan, Tim Leibert, Anna Dunkl
60 Wo zieht es die Familien hin? Haushaltsbewegungen und Wohnsegmente von Familien in Freiburg 2010–2020 Sören Werner 67 Besonders • Alltäglich: Bericht einer Mixed-Methods-Studie zu den Lebensverhältnissen Alleinerziehender in Bielefeld Jakob Guzy 74 Covid-19 und Sozialstruktur: Einige Ergebnisse der Analyse von Daten der Stadt Offenbach am Main Matthias Schulze-Böing 83 Folgen und Effekte der Corona-Pandemie in der Innenstadt Wiesbadens Gregor Arnold, Ricarda Schäfer-Etz 91 Corona und Stadtentwicklung: Ende der urbanen Renaissance? Stefan Siedentop
Statistik und Informationsmanagement 97 Einfache Mietspiegel qualifizieren: Alternative Daten zur Ermittlung Lorenz Thomschke 108 Neue Beobachtungsdimensionen der Freiburger Kommunalstatistik: Haushaltsbewegungen und Wohnsegmente Sören Werner
Historie 112 „Morgen wirst du vielleicht sterben.“: Zum Umgang mit hoher Kindersterblichkeit in der römischen Kaiserzeit (1.–3. Jh. n. Chr.) Paul von Otting
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Kinder in der Stadt
Hintergrunddaten zum Themenfeld „Kinder in der Stadt“
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Im Jahr 2020 werden in Deutschland 773 144 Menschen lebend geboren. Weltweit werden – bei regionalen und historischen Abweichungen – einem vermutlich evolutionär zu begründendem Trend folgend mehr Knaben als Mädchen geboren: In Deutschland sind unter den Neugeborenen 397 385 Knaben (51,4 %) und 375 759 Mädchen (48,6 %). Bei der Geburt des ersten Kindes sind die Mütter durchschnittlich 30,2 Jahre alt und die Väter 33,2 Jahre.
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Damit erreicht die Zahl der Minderjährigen (Bevölkerung bis unter 18 Jahre) zum 31.12. 2020 insgesamt 13 743 944. Das entspricht rund 16,5 % der derzeitigen Bevölkerung von 83,155 Millionen Menschen. Die absolute Zahl Minderjähriger hat in den vergangenen zehn Jahren zugenommen – bei ebenfalls wachsender Gesamtbevölkerung ist ihr Anteil im Vergleich zu den anderen Altersgruppen jedoch in etwa gleichgeblieben.
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Von den in Deutschland lebenden 11,4 Millionen Menschen ohne deutsche Staatsangehörigkeit sind 1,9 Millionen (16,7 %) bis unter 20 Jahre alt. Von diesen Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen haben 713 Tausend die Staatsangehörigkeit eines EU-Staates, 316 Tausend die eines europäischen Nicht-EU-Staates und 681 Tausend die eines asiatischen Staates. Unter Letzteren befinden sich mehrheitlich Kinder und Jugendliche, die auf Wegen der Fluchtmigration nach Deutschland kamen. 1,175 Millionen der in Deutschland lebenden jungen Ausländer*innen – unter diesen insbesondere die 5- bis unter 15-Jährigen – haben eigene Migrationserfahrung versus 653 Tausend ohne eigene Einwanderungsgeschichte. Zudem haben 4 Millionen junge Deutsche im Alter bis unter 20 Jahre einen familiären Migrationshintergrund. Von diesen verfügen nur 217 Tausend über eigene Migrationserfahrung – insbesondere in der Altersgruppe der 15- bis unter 20-Jährigen (81 Tausend). Letztere dürften bereits als jüngere Kinder mit ihren Eltern nach Deutschland gekommen sein. Nach mindestens acht Jahren im Land konnten sie oder ihre Eltern die Einbürgerung beantragen.
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Rund 40 Millionen Menschen leben 2019 in 11,5 Millionen Familienhaushalten, d.h., in Eltern-Kind-Gemeinschaften mit ledigen Kindern ohne Altersbegrenzung. Jede dieser Familie hat im statistischen Durchschnitt 3,44 Familienmitglieder. Von diesen Familienmitgliedern ohne Altersbegrenzung wohnen 7,9 Millionen im städtischen Raum (davon 3,3 Millionen in kreisfreien Großstädten) und 3,6 Millionen im ländlichen Raum. In 5,8 Millionen Familien lebt nur ein lediges Kind, in 4,4 Millionen Familien sind es zwei und in weiteren 1,4 Millionen sind es drei und mehr.
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Bei 8,2 Millionen Familien lebt mindestens ein minderjähriges Kind im Haushalt (70,9 %) – entsprechend leben in 3,4 Millionen Familienhaushalten ausschließlich Kinder, die 18 Jahre oder älter sind (29,1 %). Insgesamt leben in den Haushalten mit mindestens einem minderjährigen Kind 13,5 Millionen minderjährige und 1,3 Millionen volljährige Kinder.
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In allen Bundesländern hat sich der Anteil der Ehepaare mit Kindern als vorherrschende Familienform verringert. Entsprechend ist in allen Bundesländern der Anteil der Haushalte allein Erziehender und vor allem der der Lebensgemeinschaften mit Kindern gestiegen. Von den insgesamt 8,2 Millionen Familien mit mindestens einem minderjährigen Kind sind 69,9 % Ehepaare, 18,6 % allein Erziehende und 11,5 % Paargemeinschaften. Kinderleben in Einelternfamilien oder bei in Paargemeinschaft lebenden Erwachsenen ist insbesondere ein großstädtisches (Berlin: 26,6 % oder Hamburg: 24,5 % allein Erziehende) und ostdeutsches (24,6 % allein Erziehende und 22,1 % Paargemeinschaften mit Kindern) Phänomen.
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11,3 Millionen minderjährige Kinder und Jugendliche leben in Zweielternfamilien, also bei Ehepaaren oder Paargemeinschaften – 2,2 Millionen Minderjährige leben in Einelternfamilien bei allein erziehenden Müttern oder Vätern.
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In knapp 2,1 Millionen Familienhaushalten lebt mindestens ein Kind, das jünger als 3 Jahre ist; bei rund 3,5 Millionen Familien gibt es mindestens ein Kind, das jünger als 6 Jahre ist; mindestens ein unter 15-jähriges Kind findet sich bei genau 7 Millionen Familienhaushalten.
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Kinder in der Stadt
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Von den 13,5 Millionen Minderjährigen lebt knapp ein Viertel ohne weitere Geschwister im Haushalt (24,7 %).
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Nur 36,2 % der Bevölkerung leben als Elternteil oder Kind in einer Familie mit mindestens einem minderjährigen Kind – die eine Hälfte als Eltern, die andere Hälfte als Kinder. Auch unter Berücksichtigung der beruflich im Erziehungsbereich Tätigen hat aktuell die Mehrheit der Bevölkerung keine Alltagserfahrungen mit minderjährigen Kindern und Jugendlichen.
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Am 1. März 2020 sind gut 3,9 Millionen unter 14-jährige Kinder in einer Tagesbetreuung. Davon 3,75 Millionen in einer Tageseinrichtung, zum Beispiel einer Kindertagesstätte, und gut 163 Tausend in Tagespflege, zum Beispiel bei einer Tagesmutter. Von den 3,9 Millionen Kindern in einer Tagesbetreuung sind rund 829 Tausend unter 3 Jahre alt und 2,2 Millionen 3 bis unter 6 Jahre alt. Bei 56 % der unter 3-Jährigen liegt die vertraglich vereinbarte Betreuungszeit am 1. März 2020 (Stichtag) bei durchgängig mehr als 7 Stunden pro Tag, bei den 3- bis unter 6-Jährigen gilt dies für 51,8 %. Die Betreuungsquote (Tageseinrichtungen und Tagespflege) liegt bei den 3- bis unter 6-Jährigen bundesweit bei 92,5 % und bei den unter 3-Jährigen bei 35 %. Bei den unter 3-Jährigen nimmt die Betreuungsquote mit zunehmendem Alter der Kinder stark zu: Von den unter 1-jährigen Kindern sind Anfang März 2020 deutschlandweit nur
1,8 % in einer Kindertagesbetreuung. Von den Einjährigen nehmen 37,5 % ein Angebot der Kindertagesbetreuung in Anspruch und bei den Zweijährigen sind es schon fast zwei Drittel (64,5 %). •
In Ostdeutschland werden Kinder insgesamt deutlich häufiger in Tageseinrichtungen oder in der Tagespflege betreut als in Westdeutschland: In Ostdeutschland ist durchschnittlich mehr als die Hälfte aller Kinder unter drei Jahren in einer Tagesbetreuung (52,7 %), in Westdeutschland ist es knapp jedes dritte Kind (31 %).
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Wiederum bezogen auf alle unter 3-Jährigen ist am 1. März 2019 die Betreuungsquote von Kindern mit Migrationshintergrund mit 21 % nur halb so hoch wie die Betreuungsquote von Kindern ohne Migrationshintergrund. Bei den 3- bis unter 6-Jährigen liegt die Betreuungsquote im selben Jahr bei 81 % versus 100 %.
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Gemäß der Mikrozensusbefragung 2019 ist die Zahl der erwerbstätigen Mütter aufgrund der verbesserten Betreuungssituation stetig gestiegen. Die Erwerbsbeteiligung hängt bei Müttern sehr stark vom Alter des jüngsten Kindes ab. Mütter mit Kindern unter 3 Jahren sind nur zu 33 % erwerbstätig. Ist das jüngste Kind 3 bis unter 6 Jahre alt, steigt die Erwerbsbeteiligung auf 67 %, und ab einem Alter von 6 bis unter 18 Jahren auf durchschnittlich 74 %. Allerdings arbeiten die wenigsten Mütter in Vollzeit – je nach Alter des Kindes nur zwischen 10 bis maximal 30 %.
Abbildung: Regionale Verteilung von Kindern und Jugendlichen nach Stadt- und Gemeindetyp im Vergleich zur Verteilung der Gesamtbevölkerung, 2019.
Datenbasis: Bevölkerungsfortschreibung des Bundes und der Länder, Laufende Raumbeobachtung des BBSR © BBSR Bonn 2022
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Kinder in der Stadt
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Am 1. März 2020 gibt es deutschlandweit rund 57 600 Kindertageseinrichtungen. Die Zahl der dort als pädagogisches, Leitungs- oder Verwaltungspersonal beschäftigten Personen liegt bei knapp 683 000 und die Zahl der Tageseltern bei rund 44 800 (Tagesmütter: 96,1 % – Tagesväter 3,9 %). Die Ausgaben von Bund, Ländern und Gemeinden für die Tageseinrichtungen stiegen zwischen 2009 und 2019 von 15,9 auf 35,4 Milliarden Euro. Die Ausgaben für die Tagespflege erhöhten sich in dieser Zeit von 340 Millionen auf 1,48 Milliarden.
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Die Hilfe zur Erziehung ist eine der grundlegenden Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe. Im Jahr 2019 werden gut eine Million erzieherische Hilfen für junge Menschen unter 27 Jahren gewährt. Am häufigsten werden Erziehungsberatungen in Anspruch genommen (46,9 %). Darauf folgen Heimerziehung/betreute Wohnformen (13,4 %), sozialpädagogische Familienhilfen (13,1 %) sowie Vollzeitpflege in Pflegefamilien (9 %). Insgesamt ist festzustellen, dass Haushalte von allein Erziehenden und Haushalte, die ganz oder teilweise von Transferleistungen leben, einen überdurchschnittlich hohen Anteil bei der Inanspruchnahme erzieherischer Hilfen haben.
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Von allen Minderjährigen leben 2019 laut Laufender Raumbeobachtung des BBSR gut 31,6 % in Großstädten – mit sinkenden Anteilen bei zunehmendem Alter. In Mittelstädten leben weitere 29,0 %, in Kleinstädten 29,6 % und in Landgemeinden 9,8 % aller Minderjährigen – mit über das Lebensalter jeweils zunehmenden Anteilen. Mit anderem Blickwinkel auf die nach Alter der Kinder sich verschiebende Verteilung heißt das: Von der Gesamtbevölkerung aller Großstädte waren 2019 etwa 6,5 % unter 6 Jahre sowie 11,2 % zwischen 6 und 17 Jahre alt; in den Mittelstädten betrugen diese Anteile 5,7 % und 11 %, in Kleinstädten 5,5 % und 11,1 % sowie in Landgemeinden 5,4 % und 11,0 %.
Literatur BBSR – Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung (2022): Laufende Raumbeobachtung. Bonn. BpB – Bundeszentrale für politische Bildung (abgerufen im Januar 2022): Nachschlagen/Zahlen und Fakten/Soziale Situation in Deutschland/ Familie und Kinder. https://www.bpb.de/nachschlagen/zahlen-undfakten/soziale-situation-in-deutschland/. Destatis – Statistisches Bundesamt (abgerufen im Januar 2022): https:// www.destatis.de/DE/Themen/Gesellschaft-Umwelt/Bevoelkerung/.
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Kinder in der Stadt
Peter Höfflin
Kinderfreundliche Stadtentwicklung und kommunale Kinderpolitik
Es gibt kaum einen Faktor, der den Alltag und die Entwicklung von Kindern mehr beeinflusst, als die räumliche Gestaltung des Wohnumfeldes und die damit verbundenen Möglichkeiten zum „freien Spiel“ und zur eigenständigen Mobilität von Kindern. Dies ist das zentrale Ergebnis von Studien, die von der Forschungsgruppe „Raum für Kinderspiel!“ in verschiedenen Städten durchgeführt wurden. Der Beitrag zeigt auf, welche zentrale Bedeutung die Gestaltung des urbanen Raums für Kinder hat. Kommunalstatistik und Stadtforschung können mit ihren Indikatoren und Berichtssystemen einen wichtigen Beitrag für eine kinderfreundliche Stadtentwicklung leisten.
Dr. Peter Höfflin Professor für Soziologie und empirische Sozialforschung an der Evangelischen Hochschule Ludwigsburg, Leitung Institut für Angewandte Forschung (IAF), Arbeitsschwerpunkte in den Feldern Sozialraumorientierte Arbeitsansätze in der Sozialen Arbeit, Sozialberichterstattung und Sozialplanung, kinderfreundliche Stadtentwicklung. Bis 2008 Wissenschaftlicher Mitarbeiter für Stadtforschung bei der Stadt Freiburg. : p.hoefflin@eh-ludwigsburg.de Schlüsselwörter: Kinderfreundlichkeit – Draußenspiel – Mobilität – Aktionsraumqualität - Kinderrechte
Einleitung Die Stadt Freiburg gilt international als Beispiel für eine kinderfreundliche Stadtentwicklung (vgl. Gill 2017). Die Grundlagen dafür wurden kommunalpolitisch bereits zu Beginn der 1990er-Jahre mit dem Leitbild „Freiburg – kinderfreundliche Stadt“ und der Durchführung der als „Freiburger Kinderstudie“ bekannt gewordenen Untersuchung „Aktionsräume von Kindern in der Stadt“ (Blinkert 1993) geschaffen. Die Studie war Teil eines Masterplans, mit dem in einer integrierten und strategischen Vorgehensweise die Wohnumfeldbedingungen für Kinder verbessert werden sollten. Die beiden neu entwickelten Stadtteile Rieselfeld und Vauban boten optimale Gelegenheiten, diese Empfehlungen umzusetzen. Beide Stadtteile strahlen heute über Freiburg hinaus. Vor allem der autofreie Stadtteil Vauban gilt heute als Blaupause für eine umweltgerechte und menschenfreundliche Stadt. Es bestätigt sich damit die viel zitierte Aussage des früheren Bürgermeisters von Bogota, dass eine kinderfreundliche Stadt eine gute Stadt für alle Menschen ist: „If we can build a successful city for children, we will have a successful city for everyone“ (Enrique Peñalosa ).Die Sichtbarkeit von Kindern im öffentlichen Raum ist ein vergleichbarer Qualitätsindikator, wie es etwa die Sichtbarkeit von Lachsen für die Gewässergüte von Flüssen ist. Für die Kommunalpolitik empfiehlt es sich deshalb sehr, kinderfreundliche Stadtpolitik nicht lediglich sektoral als Sozialthema zu behandeln, sondern sie als möglichen Motor für eine nachhaltige Stadtentwicklung und Transformation in das Zentrum zu stellen.
Kindheit und urbaner Raum Die Freiburger Kinderstudie begründete über Freiburg hinaus ein kontinuierliches Forschungsprogramm, mit dessen Methoden der Einfluss des städtischen Raumes auf den Kinderalltag und damit auf die Lebensqualität von Kindern und deren Entwicklungsbedingungen in den Fokus genommen werden konnte. Die 2015 veröffentlichte Nachfolgestudie „Raum für Kinderspiel“, die mit Unterstützung des Deutsche Kinderhilfswerk und in Kooperation mit fünf Städten BadenWürttembergs realisiert werden konnte, bestätigt die Bedeutung einer raumbezogenen Perspektive für die kommunale Kinderpolitik. Auf der Grundlage der empirischen Ergebnisse lässt sich die Aussage belegen, dass es kaum einen Faktor
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Kinder in der Stadt
gibt, der den Alltag und die Entwicklung von Kindern mehr beeinflusst, als die räumliche Gestaltung des Wohnumfeldes und die damit verbundenen Möglichkeiten zum freien Spiel.
Sozialökologische Kindheitsforschung Den theoretisch-konzeptionellen Rahmen bietet die sozialökologische Kindheitsforschung mit ihrer Verknüpfung von sozialen und räumlichen Fragen im Hinblick auf die Lebensqualität und die Entwicklungschancen von Kindern. Klassische theoretische Bezugspunkte sind hier die Pionierstudie von Martha Muchow zum „Lebensraum des Großstadtkindes“ (1935) mit ihrem Blick auf die Streifräume von Kindern im Hamburger Stadtteil Barmbek und aktueller die stadt- und kindheitssoziologischen Arbeiten von Helga Zeiher und Jürgen Zinnecker (Zeiher und Zinnecker 2001). Moderne Kindheit und ihr Wandel lässt sich in Raumbegriffen beschreiben. Der Kinderalltag findet zunehmend in Institutionen und Innenräumen statt („Verhäuslichte Kindheit/ institutionalisierte Kindheit“), während Außenräume an Bedeutung verlieren. Wenn Kinder andere Kinder treffen, dann findet dies immer seltener in der unmittelbaren Wohnumgebung statt und muss organisiert werden („organisierte/insularisierte Kindheit“). Kinder verbringen zudem immer mehr Zeit in virtuellen Räumen („Medienkindheit“). Diese Entwicklung ist im Kontext des sozialen Wandels und der Anforderungen des Bildungs- und Wirtschaftssystems zu erklären. Der Kinderalltag ist aber auch durch die städtebauliche Gestaltung des Wohnumfeldes beeinflusst, die ebenfalls einem Wandel unterliegt (Abb. 1).
Inzwischen wird mit zunehmender Empirie die Vernachlässigung der Kinderinteressen als Pandemiefolge stärker thematisiert (Ravens-Sieberer u. a. 2021, Riazi u. a. 2021). Durch Corona waren Kinder von dem abgeschnitten, was nicht nur die Wissenschaften, sondern auch die UN-Kinderrechtskonvention im Artikel 31 („Recht auf Spiel“) als essentiell für die physische, soziale, kognitive, emotionale und seelische Entwicklung von Kindern anerkennt: dem freien Spiel und Kontakt mit anderen Kindern. Bei genauerer Betrachtung hat die Pandemie hier aber keineswegs eine völlig neue Situation geschaffen, sondern negative Tendenzen erheblich verschärft, die die Lebensbedingungen von Kindern schon vor der Pandemie beeinträchtigt haben. Kinder sind heute in ihren Möglichkeiten zum freien Draußenspiel und zur eigenständigen Mobilität massiv eingeschränkt. So ist der Kinderalltag heute noch stark vom Leitbild der „autogerechten Stadt“ geprägt, das vor allem in den 60erJahren in unseren Städten vorherrschte und bis heute einen erheblichen Beitrag zur Verdrängung von Kindern aus dem öffentlichen Raum leistet. Gab es 1950 gerade einmal etwas mehr als eine halbe Million PKW auf deutschen Straßen, so sind nach Angaben des Statistischen Bundesamtes Ende 2017 knapp 46,5 Millionen PKW zugelassen (Abb. 2). Die Straße als öffentlicher Ort hat in den letzten zwei bis drei Generationen einen dramatischen Wandel erfahren, in dem sie von einem vielfältigen Begegnungs-, Spiel- und Sozialisationsraum immer mehr zum reinen Verkehrsraum wurde.
Abbildung 2: Anzahl Personenkraftwagen und Kinder von 1950 bis 2010 in Deutschland (in Millionen)
Abbildung 1: Der Kinderalltag in sozialräumlicher Perspektive
Damit erweitert sich die Perspektive auf Kindheit über den engeren Sozialbereich hinaus. Zwar ist auch in der Pädagogik und der Entwicklungspsychologie die Bedeutung des Raums als sogenannter „Dritter Erzieher“ schon lange anerkannt. Im öffentlichen Diskurs wird Kindheit aber meist auf die Themen Bildung und Betreuung reduziert. Dies zeigt sich aktuell auch in der Corona-Pandemie. Im politischen Raum lag der Fokus primär auf den Folgen von Bildungsrückständen und den Vereinbarkeitsproblemen mit Homeoffice und Beruf angesichts geschlossener Schulen und Betreuungseinrichtungen. Die pandemiebedingten Restriktionen, wie „zu Hause zu bleiben“, „nicht auf den Spielplatz oder in den Park zu gehen“, „keine Freunde zu besuchen“, nicht „in den Sport“ oder „zur Musikstunde“ zu dürfen haben massive Folgen für den Kinderalltag.
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Wie die eigenständige Mobilität von Kindern innerhalb von wenigen Generationen verloren ging, erzählt die Geschichte der Familie Thomas aus der nordenglischen Stadt Sheffield. Das älteste Familienmitglied, der Urgroßvater George, war im Jahr 1926 acht Jahre alt und damals bis zu 10 Kilometer ohne Aufsicht von Erwachsenen zum Fischen unterwegs. Auch der Großvater Jack konnte 1950 noch in bis zu zwei Kilometer Entfernung in der näheren Natur spielen und unbegleitet zu Fuß zur Schule gehen. Im Jahr 1979, als die Mutter acht Jahre alt war, lag der ihr zugestandene Streifraum schon deutlich unter einem Kilometer. Es war ihr aber noch möglich und erlaubt mit dem Fahrrad um das Haus zu fahren und auch ohne Begleitung zum naheliegenden Schwimmbad und in die Schule zu gehen. Der Sohn Jack, der heute 8 Jahre alt ist,
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Kinder in der Stadt
kennt keine dieser Freiheiten. Er darf im günstigsten Fall in Sichtweite bis zum Ende des Straßenblockes gehen. Er hält sich ohnehin nur selten draußen auf und wird von seiner Mutter zur Schule gefahren, während sie selbst auf dem Weg zu ihrer Arbeitsstelle ist. Diese Geschichte ist publiziert in einer Studie von Wissenschaftlerinnen der Universität Sheffield (Woolley und Griffin 2015). Dass sich diese Erfahrungen einer massiven Abnahme eigenständiger Mobilität generalisieren lässt, belegt die quantitativ angelegte Untersuchung von Shaw et.al (2013), die auf Surveydaten für den Zeitraum 1971 bis 2010 in England und Deutschland zurückgreift.
Empirie und Aktionsraumkriterien Für die kommunale Kinderpolitik ist ein Assessment und Monitoring der Qualität urbaner Räume von zentraler Bedeutung, insbesondere für das „Strategische Management“, das auf der Verbindung von Zielen der Stadtentwicklung als Leitbild und Vision mit Handlungsmaßnahmen und (der Entwicklung von) Indikatoren für Ist-Analysen und Evaluation beruht. Der Auftrag, Raumqualitäten für Kinder in den kommunalen Fachplanungen zu berücksichtigen, ergibt sich auch aus dem Auftrag des Kinder- und Jugendhilfegesetzes, nach dem die Jugendhilfe dazu beizutragen hat, „… positive Lebensbedingungen für junge Menschen und ihre Familien sowie eine kinder- und familienfreundliche Umwelt zu erhalten oder zu schaffen.” (SGB VIII, § 1 Abs.3). Bei den sozialräumlichen Datengrundlagen zur Kinderfreundlichkeit von Städten ist ein erheblicher Entwicklungsbedarf zu konstatieren. Monitoringsysteme zur Kinderfreundlichkeit von Städten enthalten zwar oft vielfältige Indikatoren von der Zahl an Kitaplätzen bis hin zur Versorgung mit Kinderärzten. Aber allein die Frage nach der wohngebietsbezogenen Spielplatzfläche pro Kind sprengt oft die Auskunftsfähigkeit von Kommunen. Dass hier ein systematisches Defizit vorliegt, macht ein Vergleich mit dem Umweltbereich deutlich. Die Umweltqualitäten städtischer Räume sind erheblich umfangreicher mit Daten hinterlegt als dies für die Wohnumfeldqualität „kindlicher Soziotope“ der Fall ist. Eine systematische und kleinräumige Evaluierung der Flächenqualitäten aus Kindersicht ist dringend notwendig. Für die Evaluation von Raumqualitäten im Planungsalltag sind auch Handreichungen und Unterlagen sehr hilfreich wie sie beispielsweise die Stadt Basel mit der Checkliste „Auf Augenhöhe 1,20 Meter“ verwendet (Kantons- und Stadtentwicklung Basel-Stadt 2016). Im Rahmen unserer Aktionsraumforschung haben sich vier zentrale Dimensionen bewährt, die für Ausdifferenzierungen und Ergänzungen durchaus offen sind. Das Wohnumfeld ist für Kinder als Aktionsraum geeignet, wenn es die vier Anforderungen „Gefahrlosigkeit“, „Zugänglichkeit“, „Gestaltbarkeit“ und „Interaktionschancen“ erfüllt. (1) Zugänglichkeit: Welche öffentlichen Räume sind im Wohnumfeld für das Kind erreichbar (Naturerfahrungsraum, Park, Grünfläche, Spielplatz, Garten)? Wem gehört der Raum, ist die Straße bespielbar oder dem Verkehr vorbehalten? Welche physischen und sozialen Zugangsbarrieren sind vorhanden? In dieser Dimension werden aktuelle Fragen der Verkehrs- und Grünflächenplanung angesprochen
(„Walkability“, „Mobilitätswende“, „Masterplan Stadtnatur“ etc.). Die eigenständige aktive Mobilität von Kindern muss gefördert werden um eine „Backseat-Generation“ (Karsten 2005) zu verhindern. (2) Gefahrlosigkeit: Neben der objektiven Verfügbarkeit von Räumen spielen auch die Bewertung von Gefahren und Risiken und deren subjektive Bewertung eine erhebliche Rolle. Öffentliche Räume sind so zu gestalten, dass von ihnen keine ernsthaften Gefahren ausgehen. Die (Spiel-) Umgebung muss aber auch bewältigbare Risiken und Herausforderungen beinhalten („Risk-Balance Analyse“), um die negativen Auswirkungen einer „Risk-Averse Society“ zu verhindern, die in der internationalen Gesundheitsforschung diskutiert werden (vgl. Brussoni u. a. 2015). (3) Gestaltbarkeit ist in einem sehr weiten Sinne zu verstehen. Sie soll bedeuten, dass Aktivitäten möglich sind, die auf Interessen oder auch Bedürfnisse der Kinder Bezug nehmen. Das könnte z. B. auch Herumlaufen oder Toben sein, aber auch soziales Gestalten (eine Gruppe, ein Team, eine „Clique“ gründen, Regeln vereinbaren). „Gestalten“ meint also, dass sich ein Raum (oder ein soziales Arrangement) und seine Ausstattung so nutzen lässt, dass er den Absichten und Interessen von Kindern entspricht. Dies deckt auch den Aufforderungs- und Affordanzbegriff aus der Umweltpsychologie mit ab. (4) Interaktionschancen. Das Wohnumfeld muss die Möglichkeit bieten, sich frei und auch ohne Aufsicht von Erwachsenen mit anderen Kindern zu treffen. Kinder lernen viele Dinge nur mit anderen Kindern und das freie Spiel ist wesentlich für ihre Entwicklung. Dies war einer der Bereiche, der durch die Pandemie am stärksten eingeschränkt wurde, wobei die Isolation im Zusammentreffen schlechter Wohnumfeldbedingungen und geschlossener Schulen verstärkt wurde und Kinder aus ungünstigen Wohnverhältnissen doppelt benachteiligt waren. Eine kinderfreundliche Wohnumfeldgestaltung wirkt auf eine Förderung der Netzwerkkontakte in der Nachbarschaft hin und trägt zur Bildung von Sozialkapital bei. Entsprechende Maßnahmen von Spielplatzumgestaltungen bis hin zu Partizipationsprojekten eignen sich deshalb auch hervorragend für die soziale Quartiersentwicklung. Die Aktionsraumqualität und ihre Auswirkung auf den Kinderalltag kann entweder in eigenständigen Erhebungen oder auch im Rahmen allgemeiner oder thematischer kommunaler Umfragen erfolgen (z.B. Bürgerumfragen, Mobilitätsuntersuchungen etc.). In den fünf Städten der Studie „Raum für Kinderspiel!“ wurden die Spielmöglichkeiten von über 5 000 Kindern im Alter von 5 bis 9 Jahren über eine schriftliche Befragung der Eltern erhoben. Damit kombiniert wurde eine systematische Inventarisierung des Wohnumfeldes im Hinblick auf die Bebauungsstruktur, die Verkehrssituation und die Erreichbarkeit von Spielräumen und Grünflächen. Die Aktionsraumforschung ist methodenplural und auch partizipativ angelegt. Über die standardisierten Erhebungen hinaus können unterschiedliche weitere Verfahren zum Einsatz kommen: Wohngebietsbegehungen mit Kindern („exploratory walks“), die Analyse von Kinderzeichnungen zu Spielraumwünschen, standardisierte Wohnumfeldinventare, um Bebauungsstrukturen und
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Kinder in der Stadt
die Verkehrssituation zu erheben, sowie Leitfadeninterviews mit städtischen Expertinnen und Experten, die in der sozialen Stadtentwicklung und Spielraumplanung zuständig sind. Die UN-Kinderrechtskonvention hat dazu geführt, dass Kinder auch als Experten in eigener Sache aktiv einbezogen werden müssen und dies in den Gesetzgebungen und Ordnungen verankert wird. Der § 41 a der Gemeindeordnung Baden-Württemberg formuliert entsprechend: „Die Gemeinde soll Kinder und muss Jugendliche bei Planungen und Vorhaben, die ihre Interessen berühren, in angemessener Weise beteiligen“. Das Kinderbüro der Landeshauptstadt Stuttgart hat im Leitfaden „Stadt-Detektive unterwegs“ verschiedene Methodenbausteine der Aktionsraumstudien für die Durchführung von Stadtteilbegehungen mit Kindern aufbereitet (Landeshauptstadt Stuttgart 2017).
Tabelle 1: Streuung der Spielmöglichkeiten in den 50 Beobachtungsgebieten der 5 Teilnahmestädte Lesebeispiel: In den 20 % der am schlechtesten beurteilten Gebiete können weniger als 37 % der Kinder draußen spielen, während dies im oberen Fünftel der am besten beurteilten Quartiere 72 % tun können.
Quintile 20
40
50
60
80
61 %
72 %
„Draußenspiel möglich?“ Ja, ohne Aufsicht und Bedenken
37 %
49 %
59 %
Freunde können eigenständig erreicht werden Ja, können erreicht werden
67 %
76 %
77 %
79 %
83 %
„durchschnittliche Spielzeit in Minuten/Tag“
Aktionsraumqualität und Draußenspiel
draußen, unbeaufsichtigt
53 Min. 63 Min. 69 Min. 76 Min. 82 Min.
Die Zeit, die Kinder mit freiem Spielen im Umfeld ihrer Wohnung verbringen können, wird vor allem von der Aktionsraumqualität bestimmt (Abb. 3).
draußen, beaufsichtigt
51 Min. 59 Min. 63 Min. 64 Min. 72 Min.
Abbildung 3: Aktionsraumqualität und Draußenspiel
Wenn diese „sehr gut“ ist, spielen Kinder im Durchschnitt fast zwei Stunden pro Tag (108 Minuten) draußen ohne Aufsicht. Ist die Aktionsraumqualität „sehr schlecht“ sind es im Durchschnitt nur 16 Minuten. Rund drei Viertel der Kinder können unter diesen Bedingungen überhaupt nicht draußen ohne Aufsicht spielen. Bei einer sehr guten Aktionsraumqualität können nahezu alle Kinder draußen spielen. Bei einer vergleichenden Analyse der Wohnquartiere zeigt sich eine starke Segregation von Familien im Hinblick auf die Aktionsraumqualität. Gute und schlechte Qualitäten konzentrieren sich in verschiedenen Quartieren. Je günstiger die Ressourcen sind (hohe Schulbildung der Eltern, nicht alleinerziehend, Erwerbstätigkeit, kein Migrationshintergrund), desto größer ist die Chance, dass Kinder in einem Wohngebiet mit günstigen Merkmalen aufwachsen und deshalb relativ lange unbeaufsichtigt draußen spielen können und nur wenig beaufsichtigt werden müssen. „Straßenkindheit“ ist in diesem Sinne heute ein Mittelschichtphänomen. Der „Straßenjunge“ war früher mit dem Bild sozial benachteiligter Wohnverhältnisse verbunden. Heute wird die Möglichkeit zum freien Draußenspiel zunehmend zum Privileg.
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Im unteren Fünftel der untersuchten Stadtquartiere, mit den geringsten Möglichkeiten zum freien Spiel, können weniger als 37 % der Kinder ohne Aufsicht und Bedenken draußen spielen. In den 20 % der Gebiete mit den besten Spielbedingungen werden Durchschnittswerte über 72 % erreicht. Der geringste Wert innerhalb der von uns untersuchten 50 Quartiere liegt bei 13 % und der Maximalwert bei 83 %. Auch die durchschnittlichen Zeiten für das unbeaufsichtigte Freispiel variieren von 53 Minuten beim unteren Fünftel bis zu 82 Minuten beim oberen Fünftel. Diese Werte zeigen, wie unterschiedlich die Spielsituation in den Stadtgebieten ist. In sehr guten Stadtgebieten erhöht sich die Zeit, die Kinder im Freien mit Spiel verbringen, um ein Vielfaches. Die erhebliche Varianz macht zudem deutlich, dass Wohnumfeld- und insbesondere Spielraumqualitäten auch eine Dimension sozialer Benachteiligung und von Umweltgerechtigkeit sind.
Mobilitätswende und Kinderfreundlichkeit Die aus Klimagründen notwendige Mobilitätswende ist für viele Menschen mit Befürchtungen verbunden, weil ihr Lebensstil und Alltag auf den motorisierten Individualverkehr ausgerichtet sind. Für Kinder, aber vielleicht auch für uns alle, verspricht ein Wandel in unserem Mobilitätsverhalten einen erheblichen Gewinn an Lebensqualität und Bewegungsfreiheit in unserem täglichen Leben. Allein schon durch eine konsequentere Verkehrsberuhigung lassen sich die Spielmöglichkeiten von Kindern erheblich verbessern (Abb. 4). Die durchschnittliche tägliche Zeit, die Kinder im Alter von 5 bis 7 Jahren mit freiem Draußenspiel verbringen, war in unserer Untersuchung in Gebieten mit „Tempo 30-Regelung“ doppelt so hoch (66 Minuten) wie in Gebieten ohne Verkehrsberuhigung (32 Minuten). Raum- und Verkehrsfragen sind deshalb auch soziale Fragen. Die Sicherung von Räumen und ihren Qualitäten ist ein zentrales Thema für die kommunale Kinderpolitik und eine wichtige Aufgabe kommunaler Kinderbeauftragter, bei denen
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Kinder in der Stadt
Abbildung 4: Verkehrsberuhigung und Zeit für Draußenspiel
vor allem die Beteiligung von Kindern und das Einbringen ihrer Interessen in planerische Entscheidungsprozesse eine zentrale Rolle spielen. Auch die offene Kinder- und Jugendarbeit, von den Spielmobilen bis hin zu den Jugendfarmen und Aktivspielplätzen, arbeitet sozialraumorientiert für die Schaffung von Spiel- und Freiräumen in der Stadt. Die Kindertageseinrichtungen und Schulen stellen Fragen und Anforderungen an die Raumqualitäten. Welche Außen- und Bewegungsräume stehen in den Einrichtungen zur Verfügung? Und können Kinder die Schule und den Kindergarten eigenständig und zu Fuß erreichen oder sind sie auf das „Elterntaxi“ angewiesen? Das ist übrigens auch ein Thema von Bildungsprozessen. Wenn Kindern die Erfahrung genommen wird, Wege eigenständig zurückzulegen, sozialisieren wir sie als „Backseat-Generation“ zu zukünftigen Autofahrerinnen und Autofahrern, reduzieren ihre körperliche Bewegung und verhindern gemeinsame Erfahrungen der Selbstwirksamkeit mit Gleichaltrigen. Die Gestaltung des urbanen Raums hat zudem einen maßgeblichen Einfluss auf die Gesundheit von Kindern. Gesundheitsprobleme wie Übergewicht und Bewegungsmangel hängen eng mit den Wohnumfeldbedingungen zusammen. Nach den Zahlen des Kindergesundheitssurvey (Finger u.a. 2018) erreichen in Deutschland lediglich 25,4 % der Mädchen und 29,4 % der Jungen im Alter von 3 bis 17 Jahren die Bewegungsempfehlungen der Weltgesundheitsorganisation. Nach der WHO-Definition sind Kinder und Jugendliche ausreichend körperlich aktiv, wenn sie jeden Tag mindestens 60 Minuten mäßig bis sehr anstrengende körperlich-sportliche Aktivität ausüben. Das Bewegungsdefizit hat negative Auswirkungen auf die Kindergesundheit (Adipositas, Diabetes, Herz-KreislaufErkrankungen) und die psychosoziale Entwicklung (Visuomotorik, Selbstwirksamkeit etc.). Nach dem Stuttgarter Kindergesundheitsbericht 2015 haben 30 % der eingeschulten Kinder grobmotorische Einschränkungen. In den Einschulungsuntersuchungen wird die grobmotorische Entwicklung der Kinder in einem Screening erfasst durch die Fähigkeit zum Vorwärtshüpfen auf einem Bein (Einbeinhüpfen). Alarmierend sind die Unterschiede zwischen den einzelnen Stadtteilen. Deutlich unterhalb des Mittelwerts liegen zehn Stadtteile, wobei sechs davon alleine in Bad Cannstatt liegen. Bad Cannstatt ist der älteste und bevölkerungsreichste Stadtbezirk der
Landeshauptstadt Stuttgart. Hier ist fast nur jedes zweite Kind im Screening unauffällig. Durch Bewegungs- und Sportprogramme wird verhaltenspräventiv versucht, dieser Problematik zu begegnen. So sinnvoll und wichtig diese Programme sind, wird doch zunehmend deutlich, dass sie ohne eine gleichzeitige Verhältnisprävention durch die Förderung freier Bewegungs- und Mobilitätsmöglichkeiten keinen ausreichenden Erfolg haben können. In den Sportwissenschaften wird unter dem Stichwort des „Sportparadoxons“ die Beobachtung diskutiert, dass Kinder heute stärker an organisierten Sportangeboten teilnehmen, sich aber insgesamt im Durchschnitt weniger bewegen. Der erste Corona-Lockdown im Frühjahr 2020 hat als „natürliches Experiment“ diese Zusammenhänge deutlich sichtbar gemacht (Schmidt u. a. 2020). So nahm die Bildschirmzeit in der Freizeit um etwa eine Stunde zu, während für organisierte sportliche Aktivität deutlich weniger Zeit aufgebracht wurde. Im Bereich Bewegung und freies Spiel zeigt sich der Einfluss des räumlichen Umfelds. In Mehrfamilienhäusern (ab 6 Wohnungen) und Gebäuden ohne Garten sank die durchschnittliche Bewegungszeit, während Kinder in günstigeren Wohnumgebungen sogar mehr Möglichkeiten für Spiel und Bewegung hatten.
Fazit und Ausblick Ausgehend von dem auf der Freiburger Aktionsraumstudie begründeten Forschungsprogramm „Raum für Kinderspiel!“ wurde dargestellt, welche zentrale Bedeutung die Gestaltung des urbanen Raums für den Alltag von Kindern und deren Lebensqualität hat. Das Thema Kindheit wird sehr häufig auf die Aspekte der Kinderbetreuung und der frühkindlichen Bildung verkürzt. Kindheit ist aber mehr als Betreuung und Bildung und muss deshalb in Form integrativer Ansätze als ressortübergreifende Querschnittspolitik gestaltet und in der Sozial-, Bildungs-, Gesundheits- und Mobilitätspolitik stadtplanerisch miteinander verbunden werden. Damit wird zugleich der Verpflichtung aus Artikel 3 der UN-Kinderrechtskonvention Rechnung getragen, bei allen Maßnahmen, die Kinder betreffen, das Wohl des Kindes vorrangig zu berücksichtigen. Eine Kommunalpolitik, die dem Wohlergehen von Kindern eine vorrangige Priorität einräumt, ist nicht partikular verengt, sondern nachhaltig. Sie betreibt eine Stadtentwicklung „für alle Menschen“, wie sie der bekannte Stadtarchitekt Jan Gehl für Kopenhagen formuliert hat. Es lohnt sich, den Fokus auf eine kinderfreundliche Stadtentwicklung zu richten, da hier erhebliche Gestaltungsmöglichkeiten und eine Fülle guter Beispiele vorhanden sind. Während viele gesellschaftliche Entwicklungen auf kommunaler Ebene nur begrenzt beeinflusst werden können, haben die Städte direkte und weitgehende Möglichkeiten in der Gestaltung ihrer Flächen, Bebauung und Verkehrswege. Der Kommunalstatistik und Stadtforschung mit ihren Daten und Analysen kommen hier eine wichtige Bedeutung zu. Was ist für eine kinderfreundliche Stadtentwicklung an empirischen Informationen notwendig und wird entsprechend als Datenbasis für die Planung und Öffentlichkeit zur Verfügung gestellt? Statistische Informationssysteme bilden immer auch Prioritäten ab. Deshalb ist zu überprüfen, welche Lebenslagen-
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bereiche von Kindern, über Betreuungs- und Bildungsstatistiken hinaus, abgebildet sind oder aus der Perspektive einer kinderfreundlichen Stadtentwicklung heraus erschlossen werden sollten. Hier gibt es gute Beispiele, aber auch noch breite Entwicklungsmöglichkeiten. Besondere Chancen liegen in der verstärkten Integration von Datenbeständen und Berichtssystemen. Verkehrs- und Grünflächenplanung können mit einer Spielleitplanung verbunden werden, die mit einer systematischen Evaluation der Raumqualität aus Kindersicht einhergeht. Auch kommunale Gesundheitsberichte, Sportent-
wicklungspläne und Mobilitätserhebungen liefern wertvolle Daten und Informationen für eine kinderfreundliche Stadtentwicklung. Ein weiterer notwendiger Perspektivenwechsel besteht darin, Kinder direkt als Subjekte mit eigenen Beteiligungsrechten anzuerkennen. Hier gibt es eine zunehmende Anzahl an „Good-Practice“-Beispielen in der Kooperation der Kommunalstatistik bei Verfahren der Qualitätsentwicklung und Kinderbeteiligung. Auch für die regelmäßigen kommunalen Bürgerumfragen bieten sich Erhebungsmodule zur Kinderfreundlichkeit an.
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Schwerpunkt
Kinder in der Stadt
Mirjam Brondies, Katja Dreisbach
Dortmunder Kitabefragung – gemeinsam mit Kindern Qualität entwickeln
Die Dortmunder Statistik hat in Kooperation mit dem städtischen Träger der Kindertageseinrichtungen „FABIDO“ 1.300 vier- und fünfjährige Kinder befragt. Ziel der Befragung war es, im Rahmen der pädagogischen Qualitätsentwicklung frühe Formen der Partizipation zu fördern und zu ermitteln, was Kinder – im Unterschied zu pädagogischen Fachkräften und Eltern – unter einer „guten Kita“ verstehen. Der Beitrag beleuchtet die Entwicklung, Durchführung und Nachbetrachtung des Projekts aus Sicht der Dortmunder Statistik. Dazu gehören neben der Ergebnisdarstellung, die methodischen Vorüberlegungen zu einem geeigneten Erhebungsinstrument und zur Interviewsituation, Besonderheiten bei der Durchführung einer Kinderbefragung und eine abschließende Reflexion.
„Unsere Kita hat verschiedene Räume und Spielzeuge zum Spielen. Wo spielst du am liebsten? Kannst du es mir zeigen?“ Eine Frage aus dem Kinderfragebogen, der gemeinsam mit dem städtischen Träger der Kindertageseinrichtungen „FABIDO“ und der Dortmunder Statistik entwickelt wurde. Kinder zu befragen, war für die Dortmunder Statistik ein Novum und eine interessante methodische Herausforderung.
Umfragezyklus zur pädagogischen Qualitätsentwicklung Seit vielen Jahren führt die Dortmunder Statistik Umfragen in unterschiedlichsten Kontexten durch. Zielgruppen waren bisher allerdings immer Erwachsene oder Jugendliche. Gemeinsam mit FABIDO wurde jetzt ein Umfragezyklus entwickelt, der, neben einer Befragung der Kita-Leitungen, der pädagogischen Beschäftigten und der Eltern, auch die Kinder einbindet. Ziel des Qualitätsprojektes ist es, die pädagogische Arbeit in den Einrichtungen laufend zu verbessern und alle Beteiligten mit ihren Perspektiven und Erwartungen an eine „gute Kita“ partizipativ einzubinden. Abbildung 1: Umfragezyklus
Umfrage Leitungskräfte
Umfrage Eltern Mirjam Brondies Diplom-Soziologin, Wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Dortmunder Statistik : mirjam.brondies@stadtdo.de
Umfragezyklus 4 Jahre
Katja Dreisbach Diplom-Volkswirtin, Wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Dortmunder Statistik, : kdreisbach@stadtdo.de Schlüsselwörter Kinderbefragung – teilstandardisiertes Interview – pädagogische Qualitätsentwicklung – frühe Formen der Partizipation – Stärkung des Selbstbestimmungsrechts
Umfrage Kinder
Umfrage pädagogisches Personal
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Im dritten Baustein des Umfragezyklus wurden Kinder in ihrem vorletzten Kindergartenjahr befragt. Bis zu ihrer Einschulung haben sie so noch die Möglichkeit, die Umsetzung der Ergebnisse mitzuerleben. FABIDO hat den Anspruch, die Kinder am pädagogischen Alltag sowie an der räumlichen und strukturellen Gestaltung der Tageseinrichtungen zu beteiligen. Durch die Befragung soll das Selbstbestimmungsrecht der Kinder gestärkt und Selbstwirksamkeit erfahrbar gemacht werden. Im Jahr 2022 wird der erste Zyklus mit dem Meinungsbild der Eltern abgeschlossen, bevor anschließend der nächste wieder mit den Leitungskräften startet (Abb. 1).
Fragebogenentwicklung Einen Fragebogen für Kinder zu entwickeln bedeutet, manches neu zu denken. Kinderbefragungen werden bisher selten als Instrument genutzt, insofern ist die Literaturlage überschaubar. Ein Projektbericht der Universität Frankfurt (Betz, 2016) wies jedoch darauf hin, dass erst Kinder im Alter von vier bis fünf Jahren die notwendige Sprachkompetenz besitzen, um erfolgreich an einer Befragung teilnehmen zu können. Ferner solle der Fragebogen nicht zu umfangreich sein, die Zahl der Antwortoptionen je Frage begrenzt und möglichst Symbol- und Bildmaterial eingesetzt werden. Uns war außerdem wichtig, nur Inhalte aufzunehmen, in denen Veränderungen überhaupt möglich sind. Die Kinder sollten erleben, dass sie durch die Teilnahme an der Umfrage tatsächlich Einfluss nehmen können.
Abbildung 2: Fragebogenseite 1
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Mit diesen und vielen weiteren Anregungen von den Kolleg*innen des städtischen Kita-Trägers wurde der Fragebogen kooperativ entwickelt, einem Pretest in den Einrichtungen unterzogen und danach noch einmal feinjustiert. Im Ergebnis entstand ein Erhebungsinstrument mit 28 überwiegend geschlossenen Fragen, das die Meinung der Kinder über drei Antwortoptionen, visualisiert mit Smiley-Symbolen, erfragt. Eine an die jeweiligen Themenkomplexe anschließende offene Frage ermöglichte den Kindern aber immer noch, ihre eigenen Vorstellungen und Ideen frei zu äußern. Über Fotos wurden zudem Einrichtungsvarianten für die einzelnen Bereiche der Kita vorgeschlagen. Die Kinder konnten so mit Hilfe der Bilder leere Räume „bestücken“. Gerade bei diesem Fragebogenteil erwies sich der Pretest als sinnvoll: Aus Kindersicht missverständliches Fotomaterial wurde daraufhin nochmals ausgetauscht. Der an die Kinder gerichtete Umfrageteil wurde um einen weiteren für die pädagogische Fachkraft ergänzt. Hier sollte dokumentiert werden, wie das Interview verlaufen ist, was die Kinder besonders beschäftigt hat und wo es gegebenenfalls Verständnisschwierigkeiten gab. Trotz des mancherorts hohen Anteils an Kindern mit Migrationshintergrund in den städtischen Kitas haben wir uns für den Einsatz eines deutschsprachigen Fragebogens entschieden. Zum einen enthält der Fragebogen sprachunabhängige Bilder und Symbole (Abb. 2 und 3), zum anderen arbeiten in den Einrichtungen zahlreiche mehrsprachige pädagogische Fachkräfte, die bei Verständnisschwierigkeiten helfen können.
Abbildung 3: Fragebogenseite 2
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Befragungsergebnisse Die Feldphase der Umfrage fiel zeitlich in den langen Lockdown im Winter und Frühjahr 2020/2021. Trotz des zeitweise eingeschränkten Kita-Betriebs konnten die pädagogischen Fachkräfte 1.300 Interviews durchführen. Für Kinder, die nicht regelmäßig in den damals eingerichteten Notfallgruppen vor Ort waren, gab es gesonderte Einzeltermine in Randzeiten. In wenigen Ausnahmefällen wurde der Bogen zu Hause mit den Eltern ausgefüllt. Auch wenn dies von der (mehr oder weniger) standardisierten Interviewsituation abwich, stand hier im Vordergrund, auch länger abwesende oder erkrankte Kinder am Partizipationsprojekt teilhaben zu lassen. Für die Kinder startete das Interview mit einfachen Einstiegsfragen nach dem Namen ihrer Kitagruppe, ihrem Alter und ihrer für Gruppenauswertungen wichtigen Gesamteinschätzung, ob sie gern in die Kita kommen. Ergänzend enthielt der Fragebogen in dieser Einstiegsphase auch die aus dem Kontext fallende Frage „Magst du gerne Eis?“, die die Tauglichkeit der Smileys als Antwortoptionen belegen und als Kontrollfrage dienen sollte, um stereotype Antwortmuster (beispielsweise durchgängige „Nein-Sager*innen“) zu identifizieren. Die allermeisten Kinder haben die Einstiegsfragen beantworten können. Gut neun von zehn Kindern ist ihre Kindergartengruppe namentlich bekannt und sie haben auch ihr Alter verraten. Demnach setzt sich die Befragtengruppe aus rund 60 % Vier- und 40 % Fünfjährigen zusammen. 87 % der Kinder kommen gern in die Kita, wobei Jungen bei dieser Frage etwas häufiger als Mädchen zur Antwort „manchmal“ tendieren (Abb. 4). Wenig überraschend mag die große Mehrheit der Kinder gerne Eis (93 %) und zwar in gleichen Anteilen auch diejenigen, die nur manchmal oder überhaupt nicht gerne in die Kita kommen – an dieser Stelle ein erster Beleg für differenziertes Antwortverhalten und ein Funktionieren der „Smiley-Symbole“. Für den Fragenkomplex „Gestaltung des Gruppenraums“ haben die Kinder zunächst das Foto eines leeren Raums betrachtet und anschließend Rangplätze für fünf auf Fotos abgebildete Einrichtungselemente (Abb. 3) vergeben. Abb. 5 zeigt die Präferenzen von Jungen und Mädchen. Als besonders wertvoll erwies sich die zugehörige Freitextfrage, in der 30 % der Kinder weitere, teils ausführliche Ideen geäußert haben. Diese Nennungen beinhalten auch soziale Aspekte wie „Nicht
Abbildung 4: „Kommst du gerne in die Kita?“ 3 10
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87
83
GESAMT
Jungen
Nein
Manchmal
3
2 7
91
Ja
Mädchen
Angaben in Prozent
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Angaben in Prozent
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Abbildung 5: „Wenn du den Gruppenraum gestalten dürftest, wie sähe er dann aus?“ Ergebnis der Fotoabfrage nach Geschlecht 58
42 32 32 Mädchen
Coronabedingt hat keine klassische Interviewer*innen schulung in Präsenz stattgefunden. Wichtige Informationen zur Standardisierung der Interviewsituation und Erfassung der offenen Antworten – hier sollten die Kinder möglichst im Wortlaut zitiert werden – wurden schriftlich übermittelt. Mit der behördlichen Datenschutzbeauftragten der Stadt Dortmund wurde zudem ein Informationsschreiben an die Erziehungsberechtigten mit einer entsprechenden Einwilligungserklärung formuliert. Wunsch des Kita-Trägers war es schließlich, die Originalbögen in die Portfoliomappen der Kinder zu heften (hier werden Werke, die den Entwicklungsprozess und die persönliche Lerndisposition des Kindes dokumentieren, im Verlauf der Kita-Zeit gesammelt und den Kindern zum Abschied übergeben).
Jungen
Schwerpunkt
Turnmatten Angaben in Prozent
Angaben in Prozent
30 19
18 12 Höhle/ Versteck
Puppenecke
Malecke
8
7
Leseecke
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wehtun!“, „Ich wünsche mir noch eine Erzieherin.“ oder „Ich wünsche mir einen Roboter, der mit mir spielt, wenn meine Freunde nicht da sind.“. Zudem möchten vier von fünf Kindern gern mit aussuchen, wenn etwas für den Gruppenraum gekauft wird. In gleicher Methodik mit entsprechendem Bildmaterial (leere Rasenfläche und Spielplatzgestaltungselemente) sind auch Anregungen für das Außengelände ermittelt worden. Abgesehen vom Wunsch nach mehr Fahrzeugen inklusive zugehöriger Wege – dieser rangiert häufiger bei den Jungen auf Platz eins – gibt es kaum Geschlechterunterschiede. So finden sich auf den vorderen Plätzen „Klettergerüst“, „Wasserbaustelle“ und „Rückzugsmöglichkeiten“ bzw. „Verstecke“. Die anschließende offene Frage enthält ebenfalls ein breites thematisches Spektrum. Inhaltliche Häufungen gab es bei „viel Platz zum Rennen“, speziellen Pflanzen-, Saatgut- und Garten-
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gerätewünschen sowie dem Wunsch nach einem Trampolin. Insgesamt hat die Mehrheit der Kinder (87 %) geäußert, „gerne draußen zu sein“, 36 % der Kinder würden sogar am liebsten „immer“ draußen spielen. Die tägliche Institution des „Morgenkreises“ wird von den Kindern ebenfalls mehrheitlich positiv gesehen und es dürfen meist auch Wünsche eingebracht werden (Abb. 6). Knapp die Hälfte der Kinder hat im Interview weitere Ideen geäußert, die eine Vielzahl denkbarer Aktivitäten beinhalten oder auch, was nicht gefällt. Dazu gehören Antworten wie „Ich möchte nicht Abbildung 6: Einschätzung des „Morgenkreises“
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Abbildung 8: „Wenn dir etwas nicht gefällt oder du traurig bist, wem kannst du das sagen?“
Mehrfachnennungen, Angaben in Prozent
Mehrfachnennungen, Angaben in Prozent
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immer singen müssen“ oder dass man, anders als auf dem im Fragebogen abgebildeten Morgenkreis, nicht auf Stühlen, sondern auf dem Boden sitzen müsse, bis hin zu aus Erwachsenensicht ungewöhnlichen Aspekten wie „unser Morgenkreis ist zu eckig“. Die beiden zuletzt genannten Anmerkungen zeigen allerdings auch, dass im Fragebogen präsentiertes Bildmaterial das kindliche Antwortverhalten unmittelbarer beeinflusst als dies bei einer Erwachsenenbefragung der Fall wäre. „Was gefällt dir besser?“ – Mit drei Entweder-Oder-Fragen wurde ermittelt, ob bzw. wie viele Kinder zu einer zurückgezogenen Situation und zur Beschäftigung mit einer erwachsenen Person tendieren oder zum „Austoben“ und dem Zusammensein mit Gleichaltrigen. Abbildung 7 zeigt, dass die Mehrheit der Kinder den „Toberaum“ der „Kuschelecke“ vorzieht. Bei jüngeren Kindern und Mädchen fällt der Anteil derer, die zum Rückzug tendieren, etwas größer aus. Bei der Lesesituation halten sich die Präferenzen – mit Erzieher*in oder mit anderen Kindern – die Waage. Gruppenübergreifend ziehen drei von vier Kindern das Spielen mit Freund*innen im „Toberaum“ den Bewegungsspielen mit einem*einer Erzieher*in vor. Das gemeinsame Mittagessen, an dem jedes Kind teilnimmt und sich möglichst wohlfühlen und satt essen soll, erhält ein vergleichsweise kritisches Urteil. So gibt es für 30 % der Kinder etwas, das ihnen nicht zusagt. Neben der zu erwartenden Aufzählung bestimmter Speisen, die entweder nicht schmecken oder gut sind, aber zu selten auf den Tisch kommen, werden auffallend viele Aspekte des Sozialverhaltens genannt („zu laut“, „zu viel Streit“, „Schubsen“, „Schimpfen“, „zu lange am Tisch sitzen“, „Verbote“, „Unordnung“ und auch die einschränkenden Coronaregeln). Im Rahmen eines Kita-Rundgangs während des Interviews haben die Kinder weitere, funktional festgelegte Räumlichkeiten, wie den Kreativ- und den Rollenspielbereich, begutachtet. Hier wurde die Einschätzung der Kinder wiederum durch die Smiley-Symbole erfragt und über Freitext konnten Vorschläge erfasst werden. Im Ergebnis überwiegen konkrete Sach- oder Veränderungswünsche. Letztere konnten zum Teil schon während der Interviewsituation erfüllt werden (z. B. „Malmappen etwas weiter runterstellen“). Zum Abschluss des Interviews gaben die Kinder darüber Auskunft, an wen sie sich wenden können, wenn sie traurig sind, wo sie es gegebenenfalls zu laut finden und welchen
Abbildung 7: „Was gefällt dir besser?“
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Abbildung 9: „Kannst du mir zeigen, wo du hingehst, wenn es dir zu laut wird?“ Auswahl Freitextantworten:
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Rückzugsort es dann für sie gäbe. Abbildung 8 zeigt, dass die Erzieher*innen für die Mehrheit der Kinder die häufigste Anlaufstelle sind. Jedes zwanzigste Kind äußert allerdings, es gebe niemanden, dem es sich anvertrauen könne – ein Ergebnis, bei dem FABIDO als Kita-Träger für sich Handlungsbedarf sieht. Unterschiede zwischen Jungen und Mädchen, älteren und jüngeren Kindern gibt es hier nicht. Der meiste Lärm entsteht nach Meinung der Kinder in Spielsituationen (im Gruppenraum oder in der Turnhalle). 80 % der Kinder haben gezeigt, welche Orte sie aufsuchen, wenn es ihnen zu laut wird (Abb. 9). Der abschließenden Einschätzung des*der Interviewer*in ist zu entnehmen, dass 60 % der Kinder (sehr oder eher) motiviert mitgemacht haben (Mädchen: 64 %, Jungen: 56 %). Jedes zehnte Kind benötigte zwischendurch eine Pause. Die offenen Fragen nach weiteren Gestaltungsideen, vor allem in Bezug auf den Gruppenraum und das Außengelände, waren für die Kinder insgesamt am bedeutsamsten. Jeder vierte Fragebogen enthielt noch weiterführende Anmerkungen zum Gelingen des Interviews. Die hier am häufigsten angesprochenen Themen waren sprachliche Verständigungsprobleme oder Länge und Umfang des Fragebogens – aber auch, dass sich das befragte Kind wertgeschätzt fühlte und Freude am Interview hatte.
Ergebnisreflexion mit dem Kita-Träger FABIDO als Auftraggeber hat von der Dortmunder Statistik sowohl einen Gesamtbericht als auch rund 100 einrichtungsbezogene Kurzberichte erhalten. So ist es in den Kitas möglich, die eigenen Umfrageergebnisse, die insbesondere in den offenen Fragen einrichtungsspezifische Anregungen der Kinder enthalten, vor Ort in Kommunikation mit den Kindern weiterzubearbeiten. Insgesamt zeigte sich FABIDO mit dem Verlauf der ersten Kinderbefragung sehr zufrieden. Die Ergebnisse ermöglichen eine daran anknüpfende Weiterarbeit auf Träger- und Einrichtungsebene. Gezeigt habe sich aus Sicht des Trägers, dass die Kinder klare Standpunkte beziehen, ihre Gedanken darlegen und Veränderungsvorschläge benennen können. Es sei erfreulich, dass die Mehrheit der befragten Kinder äußert, ihren Alltag überwiegend selbstbestimmt gestalten zu können und in den Fachkräften vertrauensvolle Ansprechpartner*innen sieht. „Alleine durch die Durchführung der Umfrage an sich“, so FABIDO, „hat sich oft schon etwas in den Einrichtungen bewegt“. So wurden kleine alltagstaugliche Anregungen der Kinder, wie
z. B. „Couch umstellen“ oder „besserer Kleber“ direkt nach der Durchführung der Interviews umgesetzt. Die Befragung liefere aber auch wichtige Hinweise für die Weiterentwicklung pädagogischer Schwerpunkte. So hätten die Präferenzen der Kinder die große Bedeutung des Themenfelds „Bewegung“ untermauert. Speziell hierzu werde der Träger eine Stelle schaffen, die sich der Weiterentwicklung und konzeptionellen Umsetzung des Themas widmen wird. Diskutiert werde zudem, wie Kinder zukünftig stärker in Planungsprozesse eingebunden werden können, beispielsweise über feste Gremien. Die Rückmeldung der Interviewer*innen aufgreifend, sind für die Kinderbefragung des nächsten Befragungszyklus methodische und organisatorische Verbesserungsvorschläge festgehalten worden. Neben einer Anpassung des Fragebogenumfangs, hat die Dortmunder Statistik eine intensivere Interviewer*innenschulung empfohlen. Eine Standardisierung der Interviewsituation und das konsequente Zulassen und Dokumentieren von Wortlaut-Antworten würde die Belastbarkeit der Ergebnisse weiter erhöhen. Aus kommunalstatistischer Sicht bereichert die Kinderbefragung das Spektrum der bisherigen Dortmunder Umfragen ungemein. Nicht bei jedem unserer Befragungsprojekte besteht ein derart enger Praxisbezug. Leitgedanke war zu jedem Zeitpunkt, dass die Erkenntnisse unmittelbar umgesetzt werden und so Beteiligung erlebbar wird. Das Ermöglichen von Partizipation hatte damit zwar Vorrang vor methodischer Genauigkeit, schmälert aus unserer Sicht den Projekterfolg insgesamt aber kaum. Dass der Teleformscanner bei der Erfassung der Fragebögen einen technischen Defekt hatte – oder solch bunten, stark bebilderten Formularen schlichtweg nicht gewachsen war – brachte durch die manuelle Erfassung einen zunächst zwar „unfreiwilligen“, aber ungewohnt tiefen Einblick in die Welt unserer jungen Befragten. Und für einen Zyklus gilt: „Nach der Umfrage ist vor der Umfrage“ – alle Beteiligten starten jetzt mit Interesse in die Vorbereitung der Elternbefragung und erwarten mit Spannung die Ergebnisse und den vorläufig letzten Blick auf den „Lebensraum Kita“. Literatur Betz, Tanja, (2016). Kinderbefragungen in der Kita – Ein Beitrag zu Partizipation und Qualitätsentwicklung. https://www.konzept-e.de/ fileadmin/Daten/Fachliteratur/Betrifft_Kinder_2016-05.pdf. Zuletzt abgerufen am 6.12.2021. rund-um-kita.de (2021, 6. Dezember). https://www.rund-um-kita.de/allemethoden-der-kinderbefragung-auf-einen-blick
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Carmen Söldner
Übergewichtige Kinder in sozialökonomisch schwachen Strukturen – eine Verstärkung der Chancenungleichheit Das Aufwachsen für Kinder und Jugendliche in sozialökonomisch schwachen Strukturen hat nicht nur einen negativen Einfluss auf deren Lebensbedingungen und sozialen Teilhabechancen, sondern prägt ebenfalls deren gesundheitliche Entwicklung. Kinder aus einkommensschwachen Familien tendieren eher dazu, an Übergewicht und Adipositas zu leiden, als Kinder aus sozial besser gestellten Verhältnissen. Im weiteren Verlauf kann das zu vielen Folgekrankheiten und schlechterer physischer und psychischer Entwicklung führen, was die bereits bestehende Chancenungleichheit dieser Kinder und Jugendlichen drastisch verstärkt. Diese Zusammenhänge lassen sich auch in der Landeshauptstadt Stuttgart beobachten.
Im Mai 2004 wurde erstmals flächendeckend eine deutliche Zunahme des Anteils an übergewichtigen Kindern in Europa festgestellt. Etwa zur selben Zeit wurde zwischen 2003 und 2006 die Basiserhebung der Studie zur Gesundheit von Kindern und Jugendlichen in Deutschland (KiGGS-Studie) durch das Robert Koch-Institut (RKI) durchgeführt, um bundesweit einheitliche Daten zum Thema Gesundheit von Kindern und Jugendlichen zu erfassen. Insgesamt 14.836 Kinder aus 167 Städten und Gemeinden waren Teil dieser Studie, deren Ergebnis zeigt, dass etwa 15 Prozent aller Kinder und Jugendlichen zwischen drei und 17 Jahren übergewichtig sind und knapp die Hälfte von ihnen unter Adipositas leidet. Zwischen 2014 und 2017 wurden die Daten zur KiGGS Studie ein drittes Mal erhoben, bei deren erneuter Auswertung keine erheblichen Veränderungen konstatiert werden konnten. Das bedeutet zwar, dass der Anteil der übergewichtigen Kinder und Jugendlichen in Deutschland nicht weiter ansteigt, er jedoch auf einem hohen Niveau verharrt. Auffällig ist vor allem die Tatsache, dass Kinder und Jugendliche mit niedrigem sozialökonomischen Status deutlich häufiger von Übergewicht und Adipositas betroffen sind als Kinder aus Familien mit höherem sozialökonomischen Status (Lampert 2019). Als Grundlage zur Definition des sozialökonomischen Status dienen hierbei die Schulbildung, die berufliche Qualifikation sowie das Haushaltsnettoeinkommen der Eltern. Es ist unbestritten, dass Kinder aus sozialökonomisch schwachen Strukturen schlechtere monetäre Lebensbedingungen sowie geringere soziale Teilhabechancen haben. Dass sich dieser Status jedoch ebenfalls auf die gesundheitliche Entwicklung auswirkt, verschärft die Chancenungleichheit dieser Kinder enorm. Denn Übergewicht und Adipositas im Kindes- und Jugendalter können die frühe Entstehung von langfristigen Gesundheitsproblemen begünstigen (Robert Koch-Institut 2018).
Beobachtungen in Stuttgart Carmen Söldner Economics (M.Sc.), Sachgebietsleiterin Personal- und Sozialstatistik, Statistisches Amt der Landeshauptstadt Stuttgart : carmen.soeldner@stuttgart.de Schlüsselwörter ökonomische Ungleichheit – soziale Ungleichheit – Übergewicht – Übergewichtsprävention – Stuttgart
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Auch in Stuttgart kann auf Makroebene ein Zusammenhang zwischen einem niedrigen sozialökonomischen Status und einem erhöhten Anteil an übergewichtigen Kindern festgestellt werden. Grundlage dieser Beobachtung sind die Untersuchungen der Einschulungsjahrgänge, bei denen die Kinder im Durchschnitt fünf Jahre alt sind. Dieser Untersuchung liegt der Body Mass Index (BMI) zugrunde, bei dem ein Grenzwert von Verhältnis des Körpergewichts in Kilogramm zur Kör-
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Kinder in der Stadt
Abbildung 1: Arbeitslosenquote und Anteil der übergewichtigen Kinder im Einschulungsalter auf Stadtteilebene in Stuttgart 2015–2019
Arbeitslosenquote (2015-2019)
Stammheim Mühlhausen
0 oder zu wenig Fälle
Zuffenhausen
unter 3,0 % 3,0 % bis unter 5,0 %
Münster
5,0 % bis unter 10,0 % über 10,0 %
Weilimdorf Bad Cannstatt Feuerbach
Nord
Untertürkheim Mitte
Botnang
Obertürkheim
Ost Wangen
West Süd
Hedelfingen
Sillenbuch
Degerloch Vaihingen Möhringen
Birkach
Plieningen
Stammheim Mühlhausen Zuffenhausen
Übergewichtsquote (2015-2019) 0 oder zu wenig Fälle unter 5,0 %
Münster Weilimdorf Bad Cannstatt
5,0 % bis unter 10,0 %
Feuerbach
10,0 % bis unter 15,0 %
Nord
über 15,0 %
Untertürkheim Mitte
Botnang
Obertürkheim
Ost Wangen
West Süd
Hedelfingen
Sillenbuch
Degerloch Vaihingen Möhringen
Birkach
Stadtbezirke Stadtteile
Plieningen
Quelle: Bundesagentur für Arbeit, Gesundheitsamt Stuttgart, eigene Berechnungen
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pergröße in Metern gesetzt wird. Da der BMI während des Wachstums starken Veränderungen unterliegt, wird für Kinder und Jugendliche in Deutschland die Normwertetabelle für die gebräuchliche Referenzbevölkerung angewendet. Für jede Alters- und Geschlechtsgruppe ist definiert, dass die schwersten zehn Prozent als übergewichtig gelten. Während von den untersuchten Kindern der Jahrgänge 2009 bis 2011 noch 10,6 Prozent der einzuschulenden Kinder übergewichtig waren, verringert sich der Anteil seitdem jährlich und liegt im aktuellsten Untersuchungszeitraum (2017 bis 2019) bei nunmehr 8,6 Prozent. Das ist zwar eine positive Entwicklung, da jedoch der Anteil der Übergewichtigen mit dem Lebensalter zunimmt, ist davon auszugehen, dass der Anteil der übergewichtigen Kinder und Jugendlichen insgesamt höher ist, als in der beobachteten Querschnittsaufnahme der Fünfjährigen (Lampert, Hagen, 2010). Wie verhält sich nun der Zusammenhang der sozioökonomisch schwachen Bevölkerung mit dem Anteil der übergewichtigen Kinder in kleinräumiger Betrachtung in Stuttgart? Zu den Eltern der untersuchten Kinder liegen keine Einzeldaten bezüglich des sozialökonomischen Status vor. Es besteht jedoch über alle Stadtteile hinweg ein signifikanter Zusammenhang zwischen dem Anteil übergewichtiger Fünfjähriger einerseits und hoher Arbeitslosigkeit, dem Anteil an Arbeitslosengeld II-Empfängern (ALG II-Empfängern), einem geringeren Einkommensindex sowie dem Anteil der Kinder, die Sozialgeld beziehen, andererseits. Zusammenfassend sind die Gruppen betroffen, die nah an der Armutsgefährdungsquote liegen. Definiert ist diese als dann zutreffend, wenn das Nettoäquivalenzeinkommen1 eines Haushalts weniger als 60 Prozent des Medians der Nettoäquivalenzeinkommen der Bevölkerung beträgt. In Stuttgart sind davon im Jahr 2019 20,4 Prozent der Haushalte betroffen. Daher wird angenommen, dass Kinder, die in Stadtteilen mit hoher Arbeitslosigkeit leben, tendenziell in einem Umfeld mit insgesamt schwächeren Sozialstrukturen leben. Obwohl die Stadtteile Stuttgarts aufgrund ihrer Größe sehr heterogen sind, kann auf den abgebildeten Karten dennoch ein Zusammenhang (R = 0,63) zwischen der Höhe der Arbeitslosenquote und dem Anteil der übergewichtigen Kinder im Einschulungsalter beobachtet werden (Abb. 1). Hierbei ist anzumerken, dass aufgrund der geringen Anzahl von untersuchten Kindern je Stadtteil, fünf Einschulungsjahrgänge (2015–2019) zusammengefasst dargestellt werden. Ein ähnlicher Zusammenhang zeigt sich, wie bereits erläutert, in Bezug auf ALG II-Empfänger (R = 0,61), auf Sozialgeldempfänger unter 18 Jahren (R = 0,47), sowie auf den Einkommensindex (R = -0,49). Zweifellos, lässt sich ein hohes Übergewicht bei Kindern nicht alleine durch einen niedrigen sozialökonomischen Status erklären. Auch andere Aspekte, wie strukturelle Kontextfaktoren, Persönlichkeitsmerkmale oder unterschiedliche Wertesysteme, die auch kulturell bedingt sein können, müssen in Bezug auf die Tendenz zu Übergewicht und Adipositas berücksichtigt werden. So fiel beispielsweise ebenfalls in der KiGGs Studie auf, dass auch Kinder mit Migrationshintergrund eine höhere Tendenz zu Übergewicht und Adipositas aufweisen, was jedoch nicht zwingend auf den Sozialstatus zurückzuführen ist. Dieser Sachverhalt war 2007 außerdem Gegenstand einer Untersuchung in Stuttgart, bei der ebenfalls ein positiver Zusammenhang dieser Aspekte festgestellt wurde. Die Effektstärke allerdings konstatierte
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sich als gering, somit sind die Ergebnisse mit Vorsicht zu interpretieren (Sonnberger et al. 2011). Dieser Aspekt wird im Folgenden nicht weiterverfolgt.
Erörterung der Ergebnisse Zusammengefasst halten wir fest, dass der Anteil der übergewichtigen Kinder in den Stuttgarter Stadtteilen am höchsten ist, in denen die sozial und ökonomisch schwächeren Bevölkerungsgruppen leben. Wie ist dieser Zusammenhang zu erklären? Gründe hierfür hängen von unterschiedlichen Faktoren ab und können nicht abschließend aufgeklärt werden. Ein zentraler Gesichtspunkt ist die Bewegung im Alltag von Kindern und Jugendlichen. Zum einen wird, unabhängig vom Einkommen, das freie Spiel der Kinder vor allem in Städten immer seltener, da durch Bebauung und Verkehrsverdichtung immer weniger Freiflächen zur Benutzung bleiben. Bundesweit ist demnach der Anteil der Kinder die täglich im Freien spielen von 62 Prozent im Jahr 2008 auf 50 Prozent im Jahr 2018 gesunken. Noch stärker ist der Rückgang im Jahr 2020, was sich aber vermutlich hauptsächlich durch die Corona-Pandemie und die damit verbundenen Lockdowns erklären lässt. (Medienpädagogischer Forschungsverbund Südwest 2002, 2019, 2021). Zum anderen wird dieser Effekt durch einen immer höheren Medienkonsum verstärkt, der bei Kindern aus sozial schwachen Familien vermehrt auftritt (Lampert 2010). Ebenso treiben Kinder aus schlechteren sozialen Verhältnissen deutlich weniger Sport als sozial besser gestellte Kinder (Greiner et al. 2018, Lampert et al. 2010). Die Zeit, die im Freien verbracht wird, hängt dabei stark von der Qualität des Wohnraums ab. Schneidet das Wohngebiet in Bezug auf fehlende Spielmöglichkeiten, Gefahren durch den Straßenverkehr sowie soziale Gefahren sehr schlecht ab, so spielen Kinder im Durchschnitt nur 17 Minuten täglich ohne Beaufsichtigung im Freien. In positiv bewerteten Wohngegenden kann die Zeit hingegen bis zu durchschnittlichen 106 Minuten betragen (Hahn et al. 2020). Auch in Stuttgart lässt sich aus den Ergebnissen der Stuttgarter Bürgerumfrage 2021, an der 3.906 Personen teilnahmen, feststellen, dass ein schwacher jedoch signifikanter Zusammenhang zwischen dem Äquivalenzeinkommen der Haushalte und der Bewertung der eigenen Wohngegend (R = -0,88) sowie der Problemwahrnehmung von Unsicherheit auf den Straßen (R = -0,71) besteht. Das könnte ein Anzeichen dafür sein, dass Kinder, die in diesen Gegenden wohnen, seltener im Freien spielen und sich bewegen. Ein weiterer Faktor für den Grund des hohen Anteils an übergewichtigen Kindern ist die Ernährung. In einkommensschwächeren Familien werden häufiger Lebensmittel mit einer hohen Energiedichte, die oftmals preiswerter sind, konsumiert (Muff u. Weyers 2010). Dabei spielen vor allem fett- und zuckerhaltige Nahrungsmittel und Getränke eine zentrale Rolle (Lampert 2019). Außerdem ist der Anteil der Kinder in Deutschland, die zwischen drei und fünf Portionen Obst und Gemüse pro Tag essen, in Familien mit niedrigem sozialen Status signifikant geringer (Borrmann 2015, Lampert 2019). In Stuttgart lässt sich zu diesem Thema die Befragung zum Thema „Gutes Essen in der Schule“ heranziehen. Insgesamt nahmen 3.891 Schülerinnen und Schüler der dritten bis zehnten Klasse sowie
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1.358 Eltern von 72 Schulen in Stuttgart teil. Auf die Frage „Was ist für Sie gutes Essen?“, (Mehrfachantworten waren möglich), traten deutliche Unterschiede einkommensabhängig zu Tage (Abb. 2). Für diese Auswertung wird das angegebene Haushaltsnettoeinkommen im Verhältnis zur jeweiligen Haushaltsgröße dargestellt. Die Umrechnung erfolgt hier über die OECD-Skala. Die befragte Person erhält demzufolge den Wert 1. Jede weitere Person über 14 Jahren erhält den Faktor 0,5 und Kinder im Alter von null bis 14 Jahre erhalten den Faktor 0,3. Hat eine Familie mit zwei Elternteilen und zwei Kindern unter 14 Jahren also ein Haushaltsnettoäquivalenzeinkommen von 5.000 Euro, so liegt ihr Haushaltsäquivalenzeinkommen bei 5.000/2,1 = 2.380,95 Euro. Dieses gewichtete Äquivalenzeinkommen wird in drei Kategorien unterteilt: (1) für Einkommen unter 1.500 Euro, (2) für Einkommen zwischen 1.500 und 3.000 Euro und (3) für Einkommen von 3.000 Euro und mehr. Für dreiviertel aller Eltern mit geringem Einkommen beinhaltet gutes Essen Gemüse, während es in den beiden anderen Einkommensgruppen für fast 90 Prozent der Eltern eine Rolle spielt. Eine ähnliche Verteilung zeigt sich beim Aspekt „gesund“. Eine deutliche Differenz im Antwortverhalten zeigt sich ebenfalls bei „frei von künstlichen Zusatzstoffen“ sowie „enthält Vitamine“. Kaum einen Unterschied lässt sich bei der Antwortmöglichkeit „enthält Fleisch“ erkennen, allerdings ist auch insgesamt für die wenigsten Eltern Fleisch ein
zwingender Bestandteil von gutem Essen. Aus den deutlich abweichenden Antworten der Gruppe mit dem geringsten Einkommen könnte sich schließen lassen, dass diese Gruppe sich am wenigsten mit der Frage beschäftigt, was gutes Essen für Kinder bedeutet. Ökonomisch schwächere Familien verfügen häufiger über geringeres Wissen über Ernährung als sozioökonomisch besser gestellte (Parmenter K. et al. 2000). Eine interessante Nebenbeobachtung ist ebenfalls die sehr geringe Bedeutung von „Regional“, „Nachhaltig“ und „Bio“. Da diese Produkte im Regelfall teurer sind als Lebensmittel, die nicht diese Eigenschaften aufweisen, spielen sie bei einkommensschwachen Familien vermutlich kaum eine Rolle. Auch bei Lebensmitteln, die nicht in die Kategorien Regional, Bio oder Nachhaltig gehören, sind Unterschiede im Kaufverhalten zu erkennen. Der Kostendruck, der auf einkommensschwachen Haushalten lastet, lässt öfter zu preisgünstigen Produkten und hochkalorischen Fertigprodukten greifen. Kinder, die in diesen Haushalten leben, haben daher häufig eine ausreichende Kalorienzufuhr, ihnen fehlen aber von klein auf wichtige Mikronährstoffe. Beispielsweise liegt in Haushalten, die ALG IILeistungen beziehen, der Regelsatz für die tägliche Ernährung eines Kindes unter sechs Jahren bei circa 3,30 Euro. 4,10 Euro sind es für Kinder zwischen sechs und 13 Jahren und 5,80 Euro für Kinder über 14 Jahren. Davon eine abwechslungsreiche, ausgewogene und gesunde Ernährung zu finanzieren, dürfte
Abbildung 2: Häufigkeit der Antworten auf die Frage „Was ist für Sie gutes Essen“ verteilt nach dem Haushaltsäquivalenzeinkommen in Prozent
Quelle: Statistisches Amt, Landeshauptstadt Stuttgart
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eine große Herausforderung für die betroffenen Haushalte darstellen. In Stuttgart gibt es im Jahr 2020 mehr als 21.000 Bedarfsgemeinschaften, die ALG II-Leistungen beziehen, in einem Drittel von ihnen leben Kinder. Darin nicht eingeschlossen sind weitere Haushalte, die Arbeitslosengeld I oder soziale Leistungen wie Hilfe zum Lebensunterhalt beziehen. Als dritter Schlüsselaspekt für den hohen Anteil an übergewichtigen Kindern in sozialökonomisch schwachen Strukturen erscheint eine gewisse Pfadabhängigkeit. Die Wahrscheinlichkeit für Kinder, selbst an Übergewicht oder Adipositas zu leiden, ist erheblich höher wenn auch die Eltern übergewichtig sind (Robert Koch-Institut 2018, Muff 2009). Das ist zum einen genetisch bedingt, zum anderen aber auch dem tendenziell ungesünderen Lebensstil der Eltern zuzuschreiben. Dazu gehören Ernährung, Rauchen, Inaktivität und Alkoholkonsum (Richter 2007). Auch in Stuttgart zeigt sich im Zuge der Bürgerumfrage in der Gesamtbevölkerung zwischen dem Haushaltsnettoeinkommen beziehungsweise der Erwerbstätigkeit und dem Gesundheitszustand ein negativer Zusammenhang. Genauere Aspekte dazu lassen sich aus der Umfrage jedoch nicht ableiten.
Fazit Kinder und Jugendliche, die in schwachen sozialökonomischen Strukturen aufwachsen, sind maßgeblich in ihrer Chancengleichheit was die Gesundheit betrifft benachteiligt. Ein guter Gesundheitszustand ist essentiell für eine positive Entwicklung und die Bewältigung der Herausforderungen, die das Heranwachsen mit sich bringt. Durch ihre höhere Tendenz, an Übergewicht und Adipositas zu leiden, stellen Kinder aus sozialökonomisch schwachen Familien eine wichtige Zielgruppe der Prävention und der Gesundheitsförderung dar. Die Ursachen von Übergewicht bei Kindern sind komplex und
ein Zusammenspiel aus vielen unterschiedlichen Faktoren. Darum ist es wichtig, sowohl das Ernährungs- als auch das Bewegungsverhalten von Kindern und Erwachsenen nachhaltig zu verbessern. Ein zentraler Punkt, besonders in Städten, kann hier das Schaffen von Aktionsraum sein, der genügend Platz für Spiel und Sport bietet und der wenig bis keine Gefahren wie beispielsweise Straßenverkehr birgt. Dabei ist nicht nur der Platz an sich, sondern auch die Attraktivität der Spiel- und Freiflächen von Bedeutung. In Stuttgart ist die Zufriedenheit was Spielplätze und Spielmöglichkeiten angeht zwar auf einem mittleren Niveau, trotzdem gibt es vor allem in kinderreichen Stadtteilen wenig Spielplätze und Aktionsflächen. So gibt es in den 62 Stadtteilen, in denen jeweils mehr als 500 Kinder unter 14 Jahren leben, weniger als eine Spielfläche je 100 Kinder. Eine weitere Stellschraube sind gesunde Ernährungsangebote in Kindertagesstätten und Ganztagesschulen. In der Stuttgarter Essensumfrage geben mehr als 90 Prozent der Eltern an, dass ihre Kinder mehrmals pro Woche am Schulessen teilnehmen. Gesundes Essen in Schulen würde also einen Großteil der Kinder mehrmals wöchentlich erreichen. Darüber hinaus ist es notwendig, sowohl bei Kindern als auch bei deren Eltern grundlegendes Wissen über gute Ernährung und einen gesunden Lebensstil zu schaffen. Insgesamt dürfe sich das Bewegungsverhalten aufgrund der Corona-Pandemie noch deutlich verschlechtert haben. Es ist daher noch essentieller, Ziele und Zielgruppen für die Orientierung der Gesundheitspolitik zu definieren um einer Prävention von Übergewicht bei Kindern und Jugendlichen nachzukommen.
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Nettoäquivalenzeinkommen: Macht die Einkommenssituation von Haushalten unterschiedlicher Größe und Zusammensetzung vergleichbar. Die Nettoeinkommen aller im Haushalt lebenden Personen werden addiert und mithilfe einer Bedarfsskala passend für die Struktur des Haushalts umgerechnet.
Literatur Borrmann, Anja; Mensink, Gert; KiGGS Study Group (2015): Obst- und Gemüsekonsum von Kindern und Jugendlichen in Deutschland. In: Bundesgesundheitsblatt 2015; 58: 1005–1014. Greiner, Wolfgang; Batram, Manuel; Damm, Oliver et al. (2018): Kinder- und Jugendreport 2018: Gesundheitsversorgung von Kindern und Jugendlichen in Deutschland, Schwerpunkt: Familiengesundheit. Heidelberg. Deutsches Kinderhilfswerk (2020): Kinderreport Deutschland 2020 – Rechte von Kindern in Deutschland: Die Bedeutung des Draußenspielens für Kinder. Berlin. Helmert, Uwe; Strube, Helga (2004): Die Entwicklung der Adipositas in Deutschland von 1985 bis 2002. In: Gesundheitswesen 2004; 66(7): 409–415. Lampert, Thomas; Kuntz, Benjamin (2019): Auswirkungen von Armut auf den Gesundheitszustand und das Gesundheitsverhalten von
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Kindern und Jugendlichen. In: Bundesgesundheitsblatt 2019, 62: 1263–1274. Robert Koch-Institut (2010): Gesundheitliche Ungleichheit bei Kindern und Jugendlichen in Deutschland. Robert Koch-Institut; Beiträge zur Gesundheitsberichterstattung des Bundes, Berlin. Robert Koch-Institut (2018): Übergewicht und Adipositas im Kindes- und Jugendalter in Deutschland – Querschnittsergebnisse aus der KiGGS Welle 2 und Trends. In: Journal of Health Monitoring 2018 3(1), 16–23. Medienpädagogischer Forschungsverbund (2018): KIM Studie 2018, – Kinder, Internet, Medien, Stuttgart. Muff Christine (2009): Soziale Ungleichheiten im Ernährungsverhalten. Theoretische Hintergründe und empirische Befunde. Lit-Verlag, Berlin. Muff, Christine; Weyers Simone (2010): Sozialer Status und Ernährungsqualität: Evidenz, Ursa-
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chen und Interventionen. In: Ernährungsumschau 57 (2010), S. 84–89. Parmenter, Karen; Waller Jo, Wardle Jane (2000): Demographic variation in nutrition knowledge in England. In: Health Edu Res 15: S. 163–174. Richter, Matthias; Lampert, Thomas (2007): Adolescent smoking behaviour: The role of socioeconomic status, peer and school context. In: Archives of Public Health 66: S. 69–87. Robert Koch-Institut (2018): Kindliche Adipositas: Einflussfaktoren im Blick. Berlin. Sonnberger, Marco; Deutschle, Jürgen; Fiebig, Joachim (2011): Übergewichtsprävention für Kinder aus stadtökologischer Perspektive. In: Soziale Probleme 22 (2011), 1, S. 56–88. Statistische Ämter des Bundes und der Länder: Armutsgefährdungsquoten. https:// www.statistikportal.de/de/sbe/ergebnisse/ einkommen-armutsgefaehrdung-und-soziale-lebensbedingungen/armutsgefaehrdungund-8 (abgerufen am 02.12.2021).
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Henning Schridde
Im Souterrain des Wohnungsmarktes Beengte Wohnverhältnisse von Familien in der Grundsicherung für Arbeitsuchende Beengte Wohnverhältnisse stellen für Kinder und Familien in der Grundsicherung eine erhebliche Belastung dar, die durch die pandemiebedingten Schließungen von Schulen und Kindertagesstätten sowie Sport- und Freizeiteinrichtungen verschärft wurde. Aber wie genau ist ein beengtes Wohnverhältnis definiert? Der Beitrag stellt drei unterschiedliche Messkonzepte dar und zeigt dabei auf, dass insbesondere kinderreiche Familien in Großstädten von beengten Wohnverhältnissen betroffen sind – und das ganz unabhängig des verwendeten Messkonzepts. Unter den drei vorgestellten Arten beengte Wohnverhältnisse zu erheben, erweist sich im Ergebnis das Messkonzept „unzureichende Wohnverhältnisse“ als die „strengste“ Herangehensweise.
Dr. Henning Schridde Diplom-Sozialwissenschaftler, Dr. phil., seit 2007 Statistik der BA, Experte und Leiter des Statistik-Service Nordost : henning.schridde@arbeitsagentur.de Schlüsselwörter Familien – Kinder – Grundsicherung – Beengte Wohnverhältnisse – Großstädte
Die Beschränkungen zur Eindämmung der Corona-Pandemie, wie z. B. die Schließung von Schulen und Kindertagesstätten, außerhäuslichen Unterstützungsangeboten (z.B. Hausaufgabenbetreuung) und von Sport- und Freizeiteinrichtungen, haben zu einer erheblichen Belastung von Familien geführt. Dabei wurde deutlich, dass die Wohnung und die Wohnumgebung einen Einfluss darauf haben, wie gut Menschen mit Beschränkungen durch die Corona-Krise umgehen können. Die Belastungen treffen alle Familien, insbesondere jedoch benachteiligte Familien in beengten Wohnverhältnissen. So dürften die Ausgangsbeschränkungen beispielsweise eine fünfköpfige Familie weniger hart treffen, wenn diese in einem großen Haus mit Garten wohnt und nicht in einer beengten, hellhörigen Drei-Zimmer-Wohnung ohne Balkon in einer Großwohnsiedlung. Beengte Wohnverhältnisse bringen ein Mehr an familiären Spannungen mit sich und schränken die Bewegungs- und Entwicklungsmöglichkeiten von Kindern ein. Dies gilt insbesondere für Kleinkinder, für die die Wohnung in der Anfangsphase des Lebens der erste und wohl wichtigste Erlebnis- und Erfahrungsraum ist. (MAGSFFS Baden-Württemberg 2013: 18). Angemessene Wohnverhältnisse sind eine wichtige Rahmenbedingung für das Aufwachsen von Kindern in ihren Familien. Welche Wohnverhältnisse als angemessen oder unzureichend angesehen werden, bleibt meist unklar. Der Beitrag bemüht sich hier um eine Klärung anhand der Wohnsituation von Familien in der Grundsicherung für Arbeitsuchende. Im Folgenden wird der Begriff beengte Wohnverhältnisse anhand normativer Maßstäbe und Indikatoren der Wohnraumversorgung sowie Daten zur Grundsicherung für Arbeitsuchende operationalisiert und in einem zweiten Schritt empirisch ausgeleuchtet. Dabei werden Möglichkeiten und Grenzen der Berichterstattung zur Wohnsituation in der Grundsicherung aufgezeigt und die Ergebnisse abschließend diskutiert.
„Angemessene“ und „beengte“ Wohnverhältnisse – eine Frage der Definition Die Versorgung mit angemessenem Wohnraum ist in vielen Landesverfassungen verankert und konkretisiert sich in einer Vielzahl von wohnungs- und sozialrechtlichen Regelungen. Im Rahmen der Grundsicherung für Arbeitsuchende und der Sozialhilfe (§ 22 SGB II, § 35 SGB XII) zählt dazu als Teil des grundgesetzlich geschützten Existenzminimums auch der Bedarf an einer angemessenen Unterkunft.
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Angemessenheit in der Grundsicherung für Arbeitsuchende Die Angemessenheit von Unterkunftskosten wird in der Verwaltungspraxis in einem mehrstufigen Verfahren bestimmt. Dabei wird zwischen abstrakter und konkreter Angemessenheit unterschieden. Zunächst werden auf einer abstrakten Ebene allgemeine Mietrichtwerte auf Basis abstrakter Wohnungsgrößen und abstrakt angemessener Wohnungsstandards, welche ihren Niederschlag in dem Quadratmetermietpreis finden, ermittelt. Im Rahmen der konkreten Angemessenheitsprüfung gelten Kosten der Unterkunft als angemessen, wenn sie nicht höher liegen als die vom kommunalen Träger festgelegten abstrakten Angemessenheitsgrenzen (Mietrichtwerte). Die Höhe der Angemessenheitsgrenzen orientiert sich am einfachen Standard auf dem örtlichen Wohnungsmarkt und der angemessenen Bruttokaltmiete für eine Wohnung, deren Wohnfläche für die Haushaltsangehörigen nach den Wohnraumförderbestimmungen des sozialen Wohnungsbaus der Länder als angemessen gilt (vgl. DV 2014, 16 ff.). Als „angemessen“ gelten nach Nr. 15 der Richtlinie zur sozialen Wohnraumförderung in Niedersachsen für Mietwohnungen folgende Grenzen: - für Alleinstehende bis 50 m², - für zwei Haushaltsmitglieder bis 60 m², - für drei Haushaltsmitglieder bis 75 m², - für vier Haushaltsmitglieder bis 85 m²; - für jedes weitere Haushaltsmitglied bis 10 m² zusätzlich. Nach Nr. 59.1 der Richtlinie zur sozialen Wohnraumförderung erhöht sich die angemessene Wohnfläche u.a. für Alleinerziehende und für jeden Menschen mit Behinderung um jeweils weitere 10 m². Für die Bestimmung der abstrakt angemessenen Wohnfläche sind die erhöhten Wohnflächengrenzen nicht von Bedeutung. Diese finden im Rahmen der konkreten Angemessenheitsprüfung Berücksichtigung (DV 2014,19).
nach Haushaltszusammensetzung, Alter und Geschlecht differenziert (DESTATIS 2021). Wohnraumversorgung Ein Gradmesser für die Wohnraumversorgung ist die durchschnittliche Wohnfläche je Person. Diese kann ungewichtet oder äquivalenzgewichtet berechnet werden. Um die verfügbare Wohnfläche in Haushalten unterschiedlicher Größe und Zusammensetzung jedoch vergleichbar zu machen, muss die jeweilige Wohnfläche unter Verwendung von Bedarfsgewichten in eine äquivalenzgewichtete Wohnfläche je Person umgerechnet werden. Die Bedarfsgewichtung der Personenzahl kann wie z. B. in dem Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung anhand einer von Meyer-Ehlers entwickelten Skala zur „optimalen Wohnflächenversorgung“ ermittelt werden, bei dem mit zunehmender Haushaltsgröße ein unterproportional zunehmender Wohnbedarf unterstellt wird. Im Folgenden werden die Indikatoren (1) äquivalenzgewichtete Wohnfläche, (2) die Überbelegung bzw. Wohnraumunterversorgung und (3) „unzureichende Wohnverhältnisse“ nach der niedersächsischen Wohnraumförderung herangezogen, um „beengte Wohnverhältnisse“ von Familien in der Grundsicherung für Arbeitsuchende zu beschreiben.
Wie „eng“ wohnen Familien in der Grundsicherung für Arbeitsuchende?
„Unzureichende“ Wohnverhältnisse Als „unzureichend“ gelten Wohnverhältnisse, wenn dem Haushalt weniger als 85 % der als angemessen angesehenen Wohnfläche zur Verfügung steht (Nr. 40). Eine Untergrenze von 35 m² soll nicht unterschritten werden (Nr. 15.4).
Haushalte mit ALG II-Bezug wohnten nach den Ergebnissen des Mikrozensus im Jahr 2018 mit einer durchschnittlichen Wohnfläche je Person von 29,4 qm beengter als die Haushalte insgesamt (45,6 qm) (DESTATIS 2020, Tabelle 17). Auswertungen aus der Grundsicherungsstatistik weisen auf eine höhere durchschnittliche Wohnfläche je Person hin, die bei 35,3 qm liegt (Statistik der BA 2018). Mieterhaushalte wohnen wiederum beengter als Eigentümerhaushalte. So liegt die durchschnittliche Wohnfläche je Person in Mieterhaushalten auf Basis des Mikrozensus bei 39,3 qm und in Haushalten mit ALG II-Bezug bei 28,9 qm bzw. nach den Ergebnissen der Statistik der BA bei 34,9 qm (ebd.).
Überbelegung Eine Überbelegung von Wohnraum nach den Wohnungsaufsichtsgesetzen der Länder ist dann gegeben, wenn nicht genügend Wohnfläche für jeden Erwachsenen und jedes Kind vorhanden ist. So darf in Niedersachsen Wohnraum nur dann überlassen werden, wenn für jede Bewohnerin oder jeden Bewohner eine Wohnfläche von mindestens 10 m² vorhanden ist (§2 Nr. 5a NWoSchG). Als „überbelegt“ gelten in der wohnungswissenschaftlichen Diskussion zudem Wohnungen, die über zu wenige Zimmer im Verhältnis zur Zahl der Personen verfügen und in denen daher nicht jedem Haushaltsmitglied ein Zimmer zur Verfügung steht. Mitunter wird in diesem Zusammenhang von Wohnraumunterversorgung gesprochen (IT.NRW 2010). Ein weitaus komplexeres Messkonzept der Überbelegung sieht die Europäische Gemeinschaftsstatistik über Einkommen und Lebensbedingungen (EU-SILC) vor, die die Überbelegung je
Äquivalenzgewichtete Wohnfläche Die äquivalenzgewichtete Wohnfläche (nach Meyer-Ehlers) liegt in Deutschland lt. dem 6. Armutsbericht der Bundesregierung bei 64,2 qm. Nach Auswertungen des IAB liegt die äquivalenzgewichtete Wohnfläche bei 65,3 qm und in der Grundsicherung bei 44,9 qm (Bähr u.a. 2020, Tab 3). Auswertungen aus der Grundsicherungsstatistik ergeben eine äquivalenzgewichtete Wohnfläche je Person von 42,6 qm und von 37,5 qm in Familienhaushalten mit Kindern unter 15 Jahren (Stand Juni 2018). Alleinerziehende und Paare mit 3 und mehr Kindern weisen mit knapp 54 qm die geringste äquivalenzgewichtete Wohnfläche auf. Mit steigender Zahl der Kinder nimmt die äquivalenzgewichtete Wohnfläche bei Paaren mit Kindern ab. In der Grundsicherung liegen die äquivalenzgewichteten Wohnflächen je Person um ca. ein Drittel unter dem Niveau der Gesamtbevölkerung.
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Seit 2018 hat sich die äquivalenzgewichtete Wohnfläche in den unterschiedlichen BG-Typen nur geringfügig verändert. Eine leichte Zunahme der Wohnflächen lässt sich bei Single-Haushalten, Paaren ohne bzw. mit 1 Kind beobachten; bei Alleinerziehenden stagnierte die gewichtete Wohnfläche ebenso wie bei Paaren mit mehreren Kindern. Äquivalenzgewichtete Wohnflächen können Unterschiede in der Wohnungsversorgung von Haushalten und Regionen verdeutlichen. Wie viele Haushalte beengt wohnen, lässt sich nur anhand von Referenzwerten messen. Angesichts der geringfügigen Veränderungen kann als Referenzwert die äquivalenzgewichtete Wohnfläche des Jahres 2018 herangezogen werden. Da der Abstand zwischen der äquivalenzgewichteten Wohnfläche in der Bevölkerung und der Grundsicherung bei ca. einen Drittel liegt, wurde in Anlehnung
Abbildung 1: Anteil der Bedarfsgemeinschaften mit weniger als 60 % äquivalenzgewichteter Wohnfläche je Person an allen Bedarfsgemeinschaften, Deutschland Juni 2021 insgesamt; 48,2 kreisfreie Großstädte
Alleinerziehende-BG; 58,8 Paar-BG mit Kinder; 75,8
39,4 städtische Kreise
46,7 63,2 38,0
ländliche Kreise mit Verdichtungsansätzen
52,0 63,7 37,7
dünnbesiedelte ländliche Kreise
52,0 63,2
Quelle: Statistik der BA
Tabelle 1: Äquivalenzgewichtete Wohnfläche je Person in Quadratmetern nach Haushalts- bzw. BG-Typ, Deutschland 2018, 2021 Haushalts-/ BG-Typ
Äquivalenzgewichtete Wohnfläche je Person in Quadratmetern Haushalte1
Bedarfsgemeinschaften (BG) im SGB II2
im Jahr 2018
Juni 2018
Juni 2021
Insgesamt
64,2
42,6
43,3
Alleinlebend bzw. Single
73,3
46,0
47,0
Alleinerziehend
53,7
39,6
39,5
Paar ohne Kind
68,2
41,1
41,9
Paar mit 1 Kind
63,6
37,6
38,2
Paar mit 2 Kindern
57,4
34,6
34,8
Paar mit 3 und mehr Kindern
53,7
35,1
35,1
1 2
Quelle: BMAS: Armuts- und Reichtumsbericht; Indikator G14 äquivalenzgewichtete Wohnfläche Äquivalenzgewichtete Wohnflächen nach Meyer-Ehlers von Bedarfsgemeinschaften im SGB II; die Berechnung erfolgte auf Basis von Haushaltsgemeinschaften für Kreise mit plausiblen Angaben zur Wohnsituationen Quelle: Statistik der BA
Tabelle 2: Äquivalenzgewichtete Wohnfläche je Person in Quadratmetern in der Grundsicherung für Arbeitsuchende, Deutschland Juni 2021 Äquivalenzgewichtete Wohnfläche je Person in Quadratmetern Siedlungsstrukturelle Gebietstypen1
Insgesamt
Single BG
Alleinerziehende BG
Paar BG ohne Kinder
Paar BG mit Kindern
kreisfreie Großstädte
40,8
44,0
38,1
39,2
34,3
städtische Kreise
43,5
47,0
40,8
42,2
36,9
ländliche Kreise mit Verdichtungsansätzen
44,5
48,1
40,6
42,6
37,1
dünnbesiedelte ländliche Kreise
44,8
48,4
40,7
43,1
37,5
1 2
Die siedlungsstrukturellen Kreistypen und die Raumordnungsregionen sind Gebietseinheiten des Bundesinstituts für Bau-, Stadt und Raumforschung (BBSR). Die Raumabgrenzungen sind verfügbar unter https://www.bbsr.bund.de/BBSR/DE/forschung/raumbeobachtung/Raumabgrenzungen/ deutschland/kreise/siedlungsstrukturelle-kreistypen/kreistypen.html?nn=2544954. Äquivalenzgewichtete Wohnflächen nach Meyer-Ehlers von Bedarfsgemeinschaften im SGB II; die Berechnung erfolgte auf Basis von Haushaltsgemeinschaften für Kreise mit plausiblen Angaben zur Wohnsituation Quelle: Statistik der BA
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an die Armutsgefährdungsschwelle die Zahl der Haushalte, die in beengten Wohnverhältnissen leben, anhand der Haushalte ermittelt, die weniger als 60 % der vom IAB ermittelten bundesweiten äquivalenzgewichteten Wohnfläche (nach MeyerEhlers) aufweisen. Die äquivalenzgewichtete Wohnfläche beträgt 65,3 qm (Bähr u. a. 2020, Tab. 3): 60 % entsprechen 39,2 qm. Zwischen Regionen und Haushalten streut der Anteil der BG mit weniger als 60 % der äquivalenzgewichteten Wohnfläche. In den Großstädten lebt fast jede zweite BG nach der vorgenannten Definition in beengten Wohnverhältnissen, in dünn besiedelten ländlichen Kreisen hingegen 38 %. Je nach BG-Typ streut der Anteil von BG, die in beengten Wohnverhältnissen leben. Dabei sind Familien häufiger von beengten Wohnverhältnissen betroffen als Singles oder Paare ohne Kinder. Während bei Paaren mit Kindern in den Großstädten ¾ der BG weniger als 60 % der äquivalenzgewichteten Wohnfläche aufweisen, sind es in den ländlichen Kreisen etwas weniger als zwei Drittel. Der Anteil der Alleinerziehenden-BG in beengten Wohnverhältnissen beträgt hingegen in den Großstädten 60 % und in den ländlichen Kreisen 52 %, während in den städtischen Kreisen weniger als die Hälfte beengt wohnt. Ca. 550 Tsd. Familien-BG und damit nahezu zwei von drei Kindern in der Grundsicherung in Deutschland wohnten auf weniger als 60 % der bundesweiten, äquivalenzgewichteten Wohnfläche je Person (Stand Juni 2021). Überbelegung/Wohnraumunterversorgung Wohnraumunterversorgung gilt als Merkmal für unzureichende Wohnungsgröße und kann als ein Indikator für „prekäre Wohnverhältnisse“ herangezogen werden. Dieser bildet das Vorhandensein ausreichenden Wohnraums ab. Durch das Einbeziehen der Haushaltsgröße ist es neben den Merkmalen Wohnfläche oder Anzahl der Wohnräume ein brauchbares Kriterium für die Wohnraumversorgung (Statistik Austria 2019, 30). Ein Teil der Wohnraumförderungsgesetze der Länder sieht, wie in Niedersachsen, ausschließlich Wohnflächengrenzen vor. Ein anderer Teil der Länder, wie Schleswig-Holstein oder Bayern, hat Wohnflächengrenzen oder Raumvorgaben bzw. eine Kombination von beiden festgelegt. Normativ wird in wohnungswirtschaftlichen Debatten häufig eine Mindestausstattung von einem Wohnraum pro Person angenommen. Angaben zur Anzahl der Zimmer stehen jedoch nur für Jobcenter in gemeinsamer Einrichtung zur Verfügung und sind nicht Bestandteil der allgemeinen Berichterstattung zur Wohnsituation und den Wohnkosten in der Grundsicherung für Arbeitsuchende. Kinderreiche Familien in der Grundsicherung tragen ein höheres Risiko, in überbelegten Wohnverhältnissen zu leben, als kinderlose BG. Einer Studie des IAB zufolge beklagen 20,4 % der Familien aller Kinder im SGB II-Leistungsbezug, dass sie nicht über eine ausreichende Anzahl von Zimmern verfügen. Im Vergleich dazu gaben lediglich 4,9 % der Familien ohne SGB II-Leistungsbezug an, in überbelegten Wohnungen zu leben (Christoph u. a. 2016, 7). Je nach Anzahl der Kinder und Region variiert die Wohnraumunterversorgung. So weisen 70 % der Alleinerziehenden BG und 94 % der Paar BG mit 3 und mehr Kindern eine Wohnraumunterversorgung auf. Ferner herrscht
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ein Stadt-Land-Gefälle bei dem Anteil von BG in beengten Wohnverhältnissen. In den Großstädten liegt das Risiko der Überbelegung bei Alleinerziehenden BG mit einem oder zwei Kindern fast doppelt so hoch wie in ländlichen Kreisen. Bei den Paaren mit einem oder zwei Kindern liegt der Anteil der BG mit einer Wohnraumunterversorgung in den Großstädten um 20 Prozentpunkte über den Werten in den ländlichen Kreisen. Insgesamt ist jedes dritte Kind in Alleinerziehenden-BG und vier von fünf Kindern in Paar-BG von einer Wohnraumunterversorgung betroffen. Angemessene und unzureichende Wohnverhältnisse Die Bestimmung der abstrakten Angemessenheit im SGB II und SGB XII orientiert sich an den Wohnflächengrenzen der sozialen Wohnraumförderung in den Bundesländern. Den leistungsberechtigten BG steht dabei ein Wahlrecht bei der Auswahl angemessenen Wohnraums zu, in dem sie zugunsten einer größeren Wohnfläche einen geringeren Quadratmeterpreis wählen können (sog. „Produkttheorie“). Die Wohnflächengrenzen der Wohnraumförderung bieten jedoch einen normativen Referenzpunkt für die „angemessene“ und „unzureichende“ Ausstattung mit Wohnraum. Ein Drittel der Paar BG mit Kindern, aber nur ein Fünftel der Alleinerziehenden BG in Niedersachsen weisen „unzureichende“ Wohnverhältnisse i. S. der Wohnraumförderungsbestimmungen auf (Tab. 5). Gemessen an den erhöhten Wohnflächengrenzen jedoch sind 40 % der Alleinerziehenden BG von „unzureichenden Wohnverhältnissen“ betroffen. Dabei gibt es regionale Unterschiede. Beengte Wohnverhältnisse von Familien in der Grundsicherung betreffen vor allem solche Familien, die in einem städtischen Kontext wohnen. In den Großstädten weisen überdurchschnittlich viele Paar BG mit Kindern „unzureichende“ Wohnflächen auf, während in den ländlichen Regionen „nur“ ca. jede sechste Paar BG mit Kindern in entsprechenden Wohnverhältnissen lebt. Aber auch Alleinerziehende BG leben in den Großstädten häufiger in „unzureichenden“ Wohnverhältnissen als in ländlichen Regionen. Dies gilt umso mehr, wenn die erhöhten Wohnflächengrenzen für Alleinerziehende als Referenzgröße herangezogen werden. Wendet man den Blick von der Ebene der BG auf die Kinder in Bedarfsgemeinschaften, die in beengten Wohnverhältnissen leben, so lassen sich daraus spezifische kommunale Herausforderungen besser beschreiben. Insgesamt leben in Niedersachsen ca. 56 Tsd. (bzw. bei erhöhter Wohnfläche bei Alleinerziehenden ca. 70 Tsd.) Kinder in Familien BG mit einer „unzureichenden“ Wohnfläche. Dies waren 4,2 % aller Kinder unter 18 Jahren in Niedersachsen. Fast 60 % der Kinder in Familien-BG mit „unzureichenden Wohnverhältnissen“ wohnten in Großstädten, aber nur 30 % aller Kinder insgesamt. In ländlichen Gebieten fallen die Verhältnisse umgekehrt aus. 11 % aller Kinder wohnen in strukturstarken ländlichen Gebieten, aber nur 3 % der Kinder in Familien-BG mit „unzureichenden Wohnverhältnissen“. Entsprechend leben in den ländlichen Gebieten lediglich 1–2 Prozent der Kinder in „unzureichenden Wohnverhältnissen“, während in den Großstädten 8,4 Prozent der Kinder (bzw. 10,4 Prozent auf Basis der erhöhten Wohnflächengrenzen für Alleinerziehende) in beengten Wohnverhältnissen aufwachsen (Abb. 2).
Schwerpunkt
Kinder in der Stadt
Tabelle 3: Anteil der Bedarfsgemeinschaften im SGB II mit Wohnraum-Unterversorgung nach Typ der Bedarfsgemeinschaft, Deutschland Juni 2021 Anteil der BG mit Wohnraum-Unterversorgung1 nach BG-Typ2 Insgesamt
Single BG
Alleinerziehende-BG mit 1
Siedlungsstr. Gebiet
mit 2
Paar-BG
mit 3+
ohne
mit 1
Kind/er
mit 2
mit 3+
Kind/er
Insgesamt
18,6
2,3
10,4
24,8
69,6
13,7
39,7
77,2
93,6
kreisfreie Großstädte
20,5
2,5
12,0
29,9
76,6
16,6
45,5
83,2
96,4
städtische Kreise
18,8
2,4
10,2
22,6
66,9
12,9
36,5
74,3
92,0
ländliche Kreise mit Verdichtungsansätzen
14,9
1,7
7,6
17,1
57,1
9,4
30,0
65,2
89,0
dünnbesiedelte ländliche Kreise
12,4
1,6
6,3
14,7
54,7
7,2
24,9
60,0
87,9
1 2
Als Wohnraum-Unterversorgung wird definiert, wenn die Zahl der Haushaltsmitglieder die Zahl der Wohnräume ohne Küche und Bad übersteigt (IT.NRW 2020, 9) Angaben zur Anzahl der Zimmer stehen ausschließlich für Jobcenter in gemeinsamer Einrichtung zur Verfügung. Sie sind nicht Bestandteil der Berichterstattung zur Wohnsituation und den Wohnkosten in der Grundsicherung für Arbeitsuchende. Quelle: Statistik der BA
Tabelle 4: Anteil der BG mit „unzureichenden Wohnverhältnissen“ nach Regionaltypen Juni 2021 Anteil der BG2 mit „unzureichenden“ Wohnverhältnissen“3 Insgesamt
Single BG
Alleinerziehende BG4
Paar BG ohne Kinder
Paar BG mit Kindern
1
2
3
4
5
Regionalcluster1
in % des jeweiligen BG-Typs1
Überwiegend Großstädte und verstädterte Gebiete
39,7
45,7
25,0 (49,0)
26,6
44,5
Überwiegend Klein- und Mittelstädte
29,8
34,9
18,0 (36,8)
20,4
33,0
Überwiegend ländliche Gebiete im großstädtischen Umland
29,0
35,6
18,1 (32,0)
19,6
27,9
Überwiegend ländliche strukturstarke Gebiete
23,8
31,5
12,4 (22,6)
15,8
21,6
Überwiegend ländliche Gebiete
24,4
28,0
17,8 (29,4)
17,9
26,4
Überwiegend ländliche strukturschwache Gebiete
23,5
28,3
16,3 (28,8)
16,9
21,2
Ostfriesische Inseln
42,1
40,7
*
*
*
Niedersachsen
32,8
38,3
20,5 (39,5)
21,6
36,2
1 2 3 4
siehe Niedersächsisches Ministerium für Soziales 2020, 152 BG mit Unterkunftsart Miete und Angaben zur Wohnfläche „Unzureichende Wohnverhältnisse“ lt. Nr. 40 Richtlinie zur sozialen Wohnraumförderung Niedersachsen (WFB) in Klammern „unzureichende Wohnverhältnisse“ lt. Nr. 40 i.V. mit wohnraumförderrechtliche Sonderregelungen nach Nr. 15.4 der WFB Niedersachsen Quelle: Statistik der BA
Tabelle 5: Kinder in Familie-BG in „unzureichenden Wohnverhältnissen“ nach Alter der Kinder, Niedersachsen, Region Hannover Juni 2021 Kinder in Familien-BG1 in „unzureichenden Wohnverhältnissen“2
Niedersachsen LH Hannover Region Hannover ohne LHH 1 2 3
Insgesamt
unter 3 Jahre
3 bis 6 Jahre
6 bis 15 Jahre
15 bis 18 Jahre
55.775
12.730
11.872
25.303
5.870
3
4,2%
5,7%
5,2%
5,9%
2,6%
abs.
9.983
2.183
2.129
4.660
1.011
in %3
11,8%
14,0%
14,2%
11,4%
7,8%
abs.
5.628
1.226
1.210
2.646
546
in %3
5,2%
7,0%
6,4%
7,5%
3,0%
abs. in %
BG mit Unterkunftsart Miete und Angaben zur Wohnfläche „Unzureichende Wohnverhältnisse“ lt. Nr. 40 Richtlinie zur sozialen Wohnraumförderung Niedersachsen (WFB) Quelle: Statistik der BA; Anteil an der Bevölkerung unter 18 Jahre mit Stand 31.12.2020; Landesamt für Statistik Niedersachsen (LSN)
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Schwerpunkt
Kinder in der Stadt
Abbildung 2: Kinder unter 18 Jahren in Familien-BG mit „unzureichenden Wohnverhältnissen“, Niedersachsen Juni 2021 Niedersachsen
4,2
5,2
Großstädte und verstädterte Gebiete Klein- und Mittelstädte
4,2
ländliche Gebiete im großstädtischen Umland
2,1
ländliche strukturstarke Gebiete ländliche Gebiete ländliche strukturschwache Gebiete
Ostfriesische Inseln
10,4
8,4
2,6
1,7
2,2
1,5
1,2
5,4
2,0
1,5
1,6 1,6
1 Regionalcluster: siehe Ministerium für Soziales Niedersachsen 2020, 152 2 BG mit Unterkunftsart Miete und Angaben zur Wohnfläche 3 „Unzureichende Wohnverhältnisse“ lt. Nr. 40 Richtlinie zur sozialen Wohnraumförderung Niedersachsen (WFB) bezogen auf Wohnflächengrenzen nach Nr. 15.1. bzw. 15.4. WFB Quelle: Statistik der BA; Bevölkerung zum 31.12.2020, Landesamt für Statistik Niedersachsen (LSN)
Abbildung 3: Anteil der Bedarfsgemeinschaften mit Kindern in „beengten Wohnverhältnissen“ nach unterschiedlichen Messkonzepten, Niedersachsen, Jobcenter (gE) Juni 2021)
Bedarfsgemeinschaft; 59,3
Nach Altersgruppen differenziert zeigt sich, dass in Niedersachsen ca. 6 % der Kinder im Krippen-, Kindergarten- oder schulpflichtigem Alter im Rahmen der Grundsicherung für Arbeitsuchende in „unzureichenden“ Wohnverhältnissen leben. In den Ballungszentren und insbesondere den Kernstädten liegt der Anteil der Kinder mit einer „unzureichenden“ Wohnfläche deutlich höher. In der Landeshauptstadt Hannover lebt fast jedes siebte Kind unter 6 Jahren und mehr als jedes zehnte Kind im Schulalter in beengten Wohnverhältnissen, während der Anteil der Kinder in beengten Wohnverhältnissen im Umland der Landeshauptstadt Hannover deutlich unter dem Wert der Stadt liegt. Neben dem Anteilswert ist hierbei schlicht auch die absolute Zahl von Bedeutung. Nahezu 4.700 Kinder im schulpflichtigen Alter von 6 bis 15 Jahre in der Landeshauptstadt Hannover bedeuten überschlagsmäßig ein Volumen von ca. 21 Klassen je Jahrgangsstufe, die in „unzureichenden Wohnverhältnissen“ im Rahmen der Grundsicherung leben. Beengte Wohnverhältnisse schränken Rückzugräume für ungestörtes Lernen oder die Freizeitgestaltung innerhalb der Wohnung ein. Sie stellen eine erhebliche Belastung der Familien und der Kinder im Alltag dar. All diese Belastungen treten neben den eingeschränkten finanziellen Handlungsspielräumen und lenken den Blick auf die Herausforderungen in den Kindertagesstätten, den Schulen sowie den außerschulischen und außerfamiliären Einrichtungen in den Städten.
< 60% äquivalenzgewichtete Wohnfläche Kinder; 62,0
Bedarfsgemeinschaft; 42,4 Wohnraumunterversorgung Kinder; 57,2
Bedarfsgemeinschaft; 29,1 unzureichende Wohnverhältnisse Kinder; 32,2
BG mit Kindern, Unterkunftsart Miete und Angaben zur Wohnfläche und Anzahl der Zimmer in Jobcenter in gemeinsamer Trägerschaft (gE) in Niedersachsen * BG und Kinder einschließlich erweiterter Wohnflächengrenzen für Alleinerziehende nach Nr. 15.4 WFB Quelle: Statistik der BA
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STADTFORSCHUNG UND STATISTIK 1|2022
Fazit: Beengte Wohnverhältnisse von Familien – Auswirkungen und Ausmaß Für Familien mit geringen Einkommen stellen beengte Wohnverhältnisse eine erhebliche Belastung dar, welche häufig schon an sich durch ein Bündel von Problemen gekennzeichnet sind. Zu chronisch eingeschränkten finanziellen Handlungsspielräumen, fehlenden beruflichen Perspektiven bzw. Langzeitarbeitslosigkeit der Eltern oder einen Fluchtkontext treten familiäre Spannungen, eine unruhige Lernumgebung für die Kinder und eingeschränkte Sozialkontakte (Bähr u.a. 2020). Die Schließung öffentlicher Einrichtungen (Ämter, Jobcenter, Beratungsstellen etc.) und von Schulen und anderen außerhäus-
Schwerpunkt
Kinder in der Stadt
lichen Einrichtungen für Kinder und Jugendliche im Rahmen der pandemiebedingten Beschränkungen hat zu einer weiteren kumulativen Belastung vieler Familien in der Grundsicherung für Arbeitsuchende geführt. Die Frage, was als „angemessene“ Wohnraumversorgung oder beengte Wohnverhältnisse anzusehen ist, ist normativ umstritten und bedarf der Konkretisierung. Für die Grundsicherung für Arbeitsuchende sind die Wohnflächengrenzen in den Wohnraumförderungsgesetzen der Bundesländer von zentraler Bedeutung. Beengte Wohnverhältnisse wurden anhand unterschiedlicher Indikatoren der Wohnraumversorgung operationalisiert. Im vorliegenden Beitrag wurden drei Indikatoren (1) weniger als 60 % der äquivalenzgewichteten Wohnfläche je Person, (2) Überbelegung bzw. Wohnraumunterversorgung und (3) „unzureichende Wohnverhältnisse“ nach den niedersächsischen Wohnraumförderungsbestimmungen behandelt. Die Indikatoren ziehen die Grenze zwischen beengten Wohnverhältnissen und als ausreichend angesehener Wohnraumversorgung unterschiedlich weit. Strukturell weisen alle genannten Indikatoren darauf hin, dass Familien und Kinder in Großstädten überdurchschnittlich und in ländlichen Regionen eher unterdurchschnittlich von beengten Wohnverhältnissen betroffen sind.
Das strengste Messkonzept ist der Indikator „unzureichende Wohnverhältnisse“ (Abb. 3). Demnach leben nahezu etwas mehr als 42 % aller BG mit Kindern in beengten Wohnverhältnissen. Legt man den Maßstab Wohnraumunterversorgung an, so wären 43 % der BG, aber 58 % der Kinder von beengten Wohnverhältnissen betroffen. Und zöge man den Indikator weniger als 60 % der bundesweiten äquivalenzgewichteten Wohnfläche je Person heran, so wohnten nahezu zwei Drittel der BG beengt. Besonders beengte Wohnverhältnisse herrschen bei den Familien, die nicht nur eine geringe Wohnfläche, sondern auch eine ungenügende Zahl an Zimmern aufweisen. So ist etwas mehr als jede fünfte Familien-BG (22 %) und mehr als ein Viertel (27 %) der Kinder zugleich von Wohnraumunterversorgung und „unzureichenden“ Wohnverhältnissen betroffen. Die Statistik der BA stellt im Rahmen der Grundsicherungsstatistik monatlich differenziert Informationen zur Wohnsituation und Wohnkosten von Bedarfsgemeinschaften zur Verfügung. Darüber hinaus lassen sich flexibel weitere Auswertungskonzepte nutzen, um beengte Wohnverhältnisse im Rahmen der Grundsicherung zu beschreiben. Diese dürften nicht nur aus akademischen Gründen, sondern auch im Rahmen der örtlichen Planung und Sozialberichterstattung von Interesse sein.
Literatur Bähr, Sebastian u. a. 2020: Knapper Wohnraum, weniger IT Ausstattung, häufiger alleinstehend: Warum die Corona-Krise Menschen in der Grundsicherung hart trifft, Abruf unter https:// www.iab-forum.de/knapper-wohnraum-weniger-it-ausstattung-haeufiger-alleinstehendwarum-die-corona-krise-menschen-in-dergrundsicherung-hart-trifft vom 03.06.21 BMAS 2021: Armuts- und Reichtumsbericht; Indikator G14 äquivalenzgewichtete Wohnfläche; Abruf unter: https://www.armutsund-reichtumsbericht.de/SharedDocs/Downloads/Gesellschaft/G14-Excel-Wohnflaeche. xlsx?__blob=publicationFile&v=13; Abrufdatum 13.09.2021 Christoph, Bernhard/ Lietzmann, Torsten/ Tophoven, Silke/ Wenzig, Claudia 2016: Materielle Lebensbedingungen von SGB-II-Leistungsempfängern, IAB Aktuelle Berichte 21/2016, Nürnberg
Deutscher Verein für öffentliche und private Fürsorge (2014): Empfehlungen des Deutschen Vereins zu den angemessenen Aufwendungen für Unterkunft und Heizung nach §§ 22 ff. SGB II und §§ 35 ff. SGB XII, Berlin IT.NRW 2010: Wohnen und Armut. Sozialberichterstattung NRW. Kurzanalyse 01/2010, Düsseldorf, Abruf unter http://www.sozialberichte.nrw.de/sozialberichterstattung_nrw/ kurzanalysen/Kurzanalyse_10_1_Wohnen_ und_Armut.pdf vom 19.03.2021 MAGSFFS Baden-Württemberg 2013: „Familien in Baden-Württemberg“, Stuttgart Niedersächsisches Ministerium für Soziales, Gesundheit und Gleichstellung 2020: Handlungsorientierte Sozialberichterstattung Niedersachsen. Statistikteil, Hannover Statistik Austria 2020: WOHNEN 2019. Mikrozensus –Wohnungserhebung und EU-SILC, Wien
Statistik der BA 2018: Wohn- und Kostensituation SGB II (Monatszahlen) Deutschland Mai 2018, Nürnberg, Abruf unter https:// statistik.arbeitsagentur.de/Statistikdaten/ Detail/201805/iiia7/kdu-kdu/kdu-d-0-201805xlsx.xlsx?__blob=publicationFile&v=1 vom 03.06.2021 Statistisches Bundesamt (Destatis) 2020: Wohnen in Deutschland. Zusatzprogramm des Mikrozensus 2018, Wiesbaden; Abruf unter https://www.destatis.de/DE/ Themen/Gesellschaft-Umwelt/Wohnen/ Publikationen/Downloads-Wohnen/wohnen-in-deutschland-5122125189005.xlsx?__ blob=publicationFile 23.03.21 Statistisches Bundesamt (Destatis) 2021: 8,5 Millionen Menschen lebten 2020 in überbelegten Wohnungen, Pressemitteilung Nr. 506 vom 4. November 2021
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Schwerpunkt
Kinder in der Stadt
Teresa Grundmann, Dorothee Winkler
Soziale Lage von Kindern in der Stadt – Kinderarmut im sozialräumlichen Kontext
Die soziale Lage von Kindern wird in den nächsten Jahren eines der wichtigsten Themen auf der politischen Agenda sein, da die Covid-19-Pandemie in den letzten beiden Jahren sehr deutlich gemacht hat, dass die Entwicklungsvoraussetzungen von Kindern je nach familiärem Hintergrund sehr unterschiedlich sein können. Der Artikel beschäftigt sich mit der Situation von Kindern armer Haushalte und analysiert die unterschiedlichen sozialräumlichen Kontexte, in denen Kinder aufwachsen, in Bezug auf die Sozialstruktur, die Wohnverhältnisse und die infrastrukturelle Ausstattung. Primäre Datenquelle ist die Innerstädtische Raumbeobachtung (IRB), die Aussagen auf Stadtteilebene und somit die kleinräumige Analyse des Themas Kinderarmut ermöglicht.
Teresa Grundmann Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung (BBSR) im Bundesamt für Bauwesen und Raumordnung (BBR), Bonn. Aufgabenschwerpunkte: kleinräumige Stadtbeobachtung, wissenschaftliche Begleitung des Städtebauförderungsprogramms „Sozialer Zusammenhalt“ : teresa.grundmann@bbr.bund.de Dorothee Winkler Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung (BBSR) im Bundesamt für Bauwesen und Raumordnung (BBR), Bonn. Aufgabenschwerpunkte: Datenakquise, -aufbereitung und -analyse zu den Themen kleinräumige Stadtbeobachtung und Städtebauförderung : dorothee.winkler@bbr.bund.de Schlüsselwörter Kinderarmut – Innerstädtische Raumbeobachtung – kleinräumiger Stadtvergleich – soziale Disparitäten – Sozialraumanalyse
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STADTFORSCHUNG UND STATISTIK 1|2022
Einleitung Etwa jedes fünfte Kind lebt in Deutschland in Armut (Lietzmann/Wenzig 2020). Innerhalb Deutschlands gibt es jedoch deutliche regionale Unterschiede im Ausmaß der Kinderarmut. So ist etwa die Armut in Ostdeutschland nach wie vor größer als in vielen anderen Landesteilen. Doch auch in strukturschwachen Regionen im Nordwesten, wie etwa dem Ruhrgebiet, gibt es ähnlich hohe Armutsraten, während der Süden Deutschlands in geringerem Ausmaß von Kinderarmut betroffen ist. Armut im Allgemeinen und somit auch Kinderarmut wird häufig als großstädtisches Phänomen bezeichnet. Laut einer Studie der Bertelsmann Stiftung (2019) lagen die (Kinder-) Armutsquoten der Großstädte über dem Bundesdurchschnitt. Allerdings muss innerhalb dieser Gruppe von Städten genauer unterschieden werden. Differenziert man zudem noch kleinräumiger, finden sich auch innerhalb einer Großstadt große Unterschiede im Ausmaß von Kinderarmut. Wie die Stadtsoziologie bereits vielfach gezeigt hat, ist Armut stark räumlich segregiert, d.h. in vielen städtischen Armutsquartieren sind sozialbenachteiligte1 Kinder in der Mehrheit und beispielsweise auch in Betreuungs- und Bildungseinrichtungen „unter sich“. Dabei verstärkt das Verhalten gutverdienender Eltern bei der Wahl der Kitas und Schulen das bereits hohe Ausmaß an sozialer Segregation. Vor diesem Hintergrund widmet sich dieser Beitrag den städtischen Wohn- und Lebenskontexten von Kindern und Jugendlichen in Bezug auf die soziale und infrastrukturelle Lebensumwelt, untersucht deren Kinderfreundlichkeit und geht der Frage nach, welche Handlungsoptionen Kommunen zur Herstellung ebendieser haben. Nach dem Sozialgesetzbuch (SGB) VIII (Kinder- und Jugendhilfe) sind die Kommunen in der Pflicht, „dazu beizutragen, positive Lebensbedingungen für junge Menschen und ihre Familien sowie eine kinder- und familienfreundliche Umwelt zu erhalten oder zu schaffen“ (§ 1 Abs. 3 SGB VIII). Die Möglichkeiten der Kommunen umfassen direkte Angebote für Kinder und Jugendliche wie z. B. die Bereitstellung von Kitas, Schulen, Freizeitangeboten sowie die Unterstützung durch Kinder- und Jugendhilfe. Auch andere kommunalpolitische Bereiche wie Öffentlicher Personennahverkehr, Wirtschaftsförderung und vor allem Wohnen sind von konkreter Bedeutung für die Lebensbedingungen von Kindern und ihren Familien. Basierend auf den Daten der Innerstädtischen Raumbeobachtung (IRB) und weiteren Geoinformationsdaten zu den
Schwerpunkt
Kinder in der Stadt
Bereichen Wohnen und Infrastruktur geht der vorliegende Beitrag den folgenden Fragen nach: 1. Wie unterscheiden sich die deutschen Großstädte in ihrem Ausmaß an Kinderarmut? 2. Wie unterscheiden sich die Städte im Hinblick auf ihre innerstädtische Streuung, d. h. wie groß ist die Kluft zwischen armutsgeprägten und eher wohlhabenden Stadtteilen? Lassen sich hier regionale Muster erkennen? 3. Inwiefern unterscheiden sich Stadtteile mit konzentrierter (Kinder-)Armut von Stadtteilen, die vergleichsweise geringe Kinderarmut aufweisen, im Hinblick auf ihre soziale und infrastrukturelle Lebensumwelt?
Theoretischer Rahmen Ausmaß und Verteilung von Kinderarmut in Deutschland Kinderarmut ist immer auch Familienarmut und kann daher nur im familiären Haushaltskontext betrachtet werden. Um das materielle Wohlbefinden von Haushalten zu beurteilen, können verschiedene Indikatoren herangezogen werden. Das geläufigste Maß zur Armutsbestimmung ist das Konzept der relativen Einkommensarmut, das sich am durchschnittlichen Einkommen in einer Gesellschaft orientiert. In der Regel wird von relativer Einkommensarmut gesprochen, wenn Haushalte über weniger als 60 % des Durchschnittseinkommens (äquivalenzgewichtetes Median-Nettoeinkommen) verfügen (GrohSamberg/Goebel 2007). Nach dieser Definition lebten 2018 in Deutschland etwa 2,4 Millionen Kinder in einkommensarmen Haushalten.2 Diese Zahl bewegte sich in den vergangenen Jahren recht konstant auf diesem hohen Niveau und liegt auch kontinuierlich höher als die Einkommensarmut in der Gesamtbevölkerung (Lietzmann/Wenzig 2020). Alternativ zum Konzept der Einkommensarmut, das auf Einkommensangaben aus repräsentativen Befragungen angewiesen ist, dient der Bezug von Grundsicherungsleistungen nach dem SGB II oft als alternativer Armutsindikator. Die Armutsgrenze orientiert sich nicht am Durchschnittseinkommen, sondern ist sozialpolitisch über den Leistungsanspruch definiert. Hinsichtlich der Inanspruchnahme von Sozialtransfers ist zu berücksichtigen, dass Personen und Haushalte, die an der Armutsschwelle leben oder aus Scham oder Unwissenheit keine Sozialtransfers beantragen, über diesen Indikator nicht erfasst werden. Daher wird das Ausmaß an Armut tendenziell unterschätzt. Insgesamt leben aktuell (Stand Juni 2021) etwa 1,9 Millionen Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren in Haushalten, die auf Grundsicherung nach SGB II angewiesen sind (Bundesagentur für Arbeit 2021). Das entspricht rund 14 % aller Minderjährigen. Dabei sind insbesondere erwerbslose und alleinerziehende Familienhaushalte sowie Haushalte mit Migrationsgeschichte von höheren Armutsrisiken betroffen. Zudem steigt das Armutsrisiko mit zunehmender Anzahl der Kinder im Haushalt (Holz 2006). Betrachtet man die räumliche Verteilung von Kinderarmut in Deutschland, so zeigt sich, dass die Zahl der Kinder, die in einem armutsgeprägten Haushaltskontext leben, innerhalb Deutschlands stark variiert. Auffällig ist, dass die höheren Armutsquoten in den ostdeutschen Bundesländern in den vergangenen Jahren gesunken sind und sich damit an die der
westdeutschen Bundesländer angeglichen haben. Dennoch ist die Situation im Nordwesten differenziert zu betrachten, da hier Armutsrisiken in strukturschwachen Gebieten und in den Stadtstaaten am höchsten ausfallen. Gerade auf der Ebene von Kreisen und kreisfreien Großstädten zeigt sich, dass etwa Nordrhein-Westfalen intern so große Unterschiede aufweist wie Deutschland insgesamt (Bertelsmann Stiftung 2020). Solche deutlichen Unterschiede sind auch zwischen einzelnen Städten zu finden. Von entscheidender Bedeutung sind die wirtschaftlichen Ausgangslagen. Zwar können diese wie auch die finanzielle Situation von Familien nicht kurzfristig verändert werden, wie man es an den sich im Strukturwandel befindlichen Kommunen im Ruhrgebiet sieht, allerdings können die Kommunen durchaus etwas für ein positives Wohn- und Lebensumfeld von Kindern und ihren Familien tun. So sollten Städte in die Lage versetzt werden, besonders intensiv in die Infrastruktur für Kinder zu investieren. Auch wenn sich die sozioökonomische Situation von Familien nicht unmittelbar ändern lässt, besitzen Investitionen in die Infrastruktur und den Sozialkontext dieser Infrastruktur positive Effekte auf die kindliche Entwicklung (UNICEF 2021). Was zeichnet ein kinderfreundliches Wohn- und Lebensumfeld aus? Das Lebens- und Wohnumfeld stellt einen zentralen Erfahrungs- und Lernraum für Kinder dar und besitzt unmittelbaren Einfluss auf die kindliche Entwicklung. Hierzu wird einerseits zwischen der Wohnung als solcher und andererseits dem Wohnumfeld, in dem Kinder aufwachsen, unterschieden. Bei beiden Dimensionen können Unterschiede zwischen Familienhaushalten je nach Einkommen festgestellt werden (Bäcker et al. 2010). Einkommensarme Familien sind überdurchschnittlich häufig von beengten Wohnverhältnissen betroffen. Dies hat direkte Folgen für die kindliche Entwicklung, da in den frühen Jahren häufig Räume zum Spielen fehlen, später dann eigene Rückzugs-, Lern- oder Entfaltungsorte (Butterwegge 2017). Mit zunehmendem Alter verlagern sich die Sozialkontakte von Kindern in das direkte bzw. weitere Wohnumfeld. Faktoren, die ein sicheres Aufwachsen von Kindern fördern, sind u.a. eine wohnortnahe Versorgung mit Spielplätzen, naturbelassene Frei- und Grünräume, Sportanlagen und die gute Erreichbarkeit von sozialen und kulturellen Infrastrukturen wie Kitas, Schulen oder Büchereien (Richter 2000). Auch eine Studie der Wüstenrot Stiftung zeigt anhand einer Befragung von 3.000 Familien, dass insbesondere die Sicherheit im Straßenverkehr und gute Erreichbarkeit von Grün- und Freiflächen, Kitas und Schulen einen hohen Stellenwert in der Beurteilung der Familienfreundlichkeit der Wohnumgebung haben (Wüstenrot Stiftung 2008). Gerade für Wohngegenden, in denen viele einkommensschwache Familien leben, gibt es die Vermutung, dass eine Unterversorgung in diesen Bereichen zu beobachten ist (Laubstein et al. 2012). Insbesondere für ärmere Familien ist die öffentliche Infrastruktur aber von zentraler Bedeutung, da sie kommerzielle Angebote kaum bezahlen können. Einsparungen der Kommunen in diesem Bereich wirken sich also insbesondere auf Kinder aus diesen Haushalten nachteilig aus (Butterwegge 2017).
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Schwerpunkt
Kinder in der Stadt
Datenbasis und Operationalisierung Für die Analysen zur Verteilung von Kinderarmut zwischen und innerhalb von Großstädten sowie zur Charakterisierung von Stadtteilen, die besonders stark von Kinderarmut betroffen sind, wird in erster Linie das Datenangebot der Innerstädtischen Raumbeobachtung (IRB) genutzt. Sie ist ein vom BBSR koordiniertes kommunalstatistisches Gemeinschaftsprojekt, an dem 56 deutsche Städte beteiligt sind. Diese Städte liefern Daten auf Stadtteilebene in eine Datenbank. So können Auswertungen innerstädtisch differenziert erfolgen. Es sind vor allem Großstädte an dem Projekt beteiligt. Jährlich werden von den Städten Daten zu mehr als 400 Merkmalen abgefragt. Zu beachten ist, dass nicht alle Städte Daten zu allen Merkmalen liefern können, sodass die folgenden Analysen teilweise auf unterschiedlichen Städtesamples basieren. Neben Einwohnerzahlen nach Altersgruppen, werden auch Daten der Bundesagentur für Arbeit zu Erwachsenen und Kindern in Bedarfsgemeinschaften erfasst. Zusätzlich enthält die IRB Daten zur Bevölkerung mit Migrationshintergrund, zur Haushaltsstruktur und zum Wohnungsbestand. Außerdem liegen dem BBSR die räumlichen Einheiten der IRB in Form von Shape-Files vor, sodass die Daten der Kommunen mit weiteren geografischen Daten verknüpft werden können. Für diesen Beitrag wurde unter anderem auf den Datensatz POI-Bund des Bundesamts für Kartographie und Geodäsie (BKG) zurückgegriffen. Es stehen geographische Koordinaten zu den einzelnen Themenbereichen für das gesamte Bundesgebiet zur Verfügung. Die Adresslisten stammen dabei aus offiziellen Quellen oder wurden vom BKG eigenhändig recherchiert. In diesem Beitrag wurden Daten zu den Themen Arztpraxen, Kindertageseinrichtungen und Schulen verwendet3. Zusätzlich zu den zuvor genannten Quellen wurde auch auf OpenStreetMap (OSM) zurückgegriffen. Dies ist ein Projekt mit dem Ziel, eine Weltkarte zu erstellen, die frei verfügbar ist. Dabei kann jeder Daten erfassen und so an dem Projekt mitwirken. Beachtet werden muss, dass sich der Erfassungsgrad regional sehr stark unterscheiden kann. Für den vorliegenden Beitrag wurden die georeferenzierten Punkte und Polygone von Spielplätzen und Bibliotheken verwendet. Um Auswertungen zur Flächennutzung in den einzelnen Berichtseinheiten vornehmen zu können, wurde zudem auf das Digitale Landbedeckungsmodell für Deutschland (LBMDE2018) vom BKG zurückgegriffen. Die Daten werden hier alle drei Jahre für das gesamte Bundesgebiet erfasst. Die Qualität der Daten wurde durch ein DIN-basiertes Stichprobenverfahren durch das BKG überprüft. Verwendet wurden die Klassen „Städtische Grünflächen“ und „Sport und Freizeit“. Neben den zuvor genannten räumlichen Daten werden in diesem Beitrag auch Mietdaten ausgewertet, die ebenfalls georeferenziert vorliegen. Dazu werden die im BBSR gesammelten Angebotsmieten genutzt, die die Mieten von Wohnungen, die gegenwärtig am Markt angeboten werden, beinhalten. Die Daten kommen dabei aus über 100 Internetquellen wie Immobilienplattformen oder Zeitungen. Sie spiegeln nicht das tatsächliche Mietniveau einer Stadt wider, da Bestandsmieten häufig niedriger liegen, hier aber nicht abgebildet werden. Berücksichtigt werden muss zudem, dass tendenziell das
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günstige Wohnungssegment und das Luxussegment in den Inseratsdaten unterrepräsentiert sind, ebenso wie Wohnungen großer Wohnungsunternehmen.
Empirische Ergebnisse Auf der Basis dieser Datenquellen sollen nun die in der Einleitung aufgeführten Forschungsfragen beantwortet werden: Ausmaß an Kinderarmut im Städtevergleich Mit der IRB lassen sich Unterschiede in den Anteilen an unter 18-Jährigen, die in Bedarfsgemeinschaften leben, zwischen und innerhalb von Großstädten empirisch darstellen. Die Spannweite zwischen den hier betrachteten 50 Großstädten liegt bei 32 Prozentpunkten, wobei Gelsenkirchen mit 39,8 % den höchsten und Konstanz mit 7,9 % den niedrigsten Anteil aufweist. Neben weiteren Städten des Ruhrgebiets (Essen, Duisburg, Oberhausen, Dortmund) sind die strukturschwächeren Städte Bremen und Saarbrücken im oberen Bereich zu finden. Auch einige ostdeutsche Städte weisen überdurchschnittlich hohe Quoten auf, allerdings teilen sich die Oststädte in zwei Gruppen: Strukturschwächere Städte wie Halle, Frankfurt (Oder) und Magdeburg stehen sich dynamisch entwickelnden Städten wie Potsdam, Dresden oder Weimar gegenüber. Sehr deutlich am unteren Ende gruppieren sich Städte aus dem Süden Deutschlands wie etwa Konstanz, Ingolstadt, Heidelberg oder München. Sie zeichnen sich insbesondere durch ihre Wirtschaftsstärke aus, was sich in niedrigeren Kinderarmutsquoten niederschlägt. Vergleich der innerstädtischen Spannweiten Die Betrachtung der gesamtstädtischen Quoten gibt erste Hinweise auf die soziale Lage von Kindern in Großstädten. Sie sagt allerdings nichts über die Verteilung der betroffenen Kinder innerhalb der Städte aus. Helbig und Jähnen zeigen in ihrer Studie 2018 etwa, dass hohe Anteile an Kinderarmut nicht zwangsläufig mit hohen Segregationsindizes einhergehen. Dazu lohnt ein Blick auf die innerstädtische Differenzierung und Spreizung der Armutsquoten zwischen Stadtteilen in den Städten. So gibt es in Städten einerseits Stadtteile, in denen keine bzw. sehr wenige Kinder in Bedarfsgemeinschaften leben, andererseits aber Stadtteile, in denen mehr als drei von vier Kindern in Haushalten mit Sozialleistungstransfer aufwachsen. Insbesondere in sehr großen Städten, wie den Stadtstaaten Berlin und Hamburg, ist die Streuung sehr hoch. Für Hamburg könnte diese auch durch die sehr unterschiedliche Bevölkerungszahl der Stadtteile beeinflusst sein. Wiederum die süddeutschen Städte zeichnen sich durch eine eher geringe Spreizung zwischen den Stadtteilen aus, da hier Stadtteile mit für die jeweilige Stadt vergleichsweise hohen Anteilen im Vergleich aller betrachteten Städte immer noch eher niedrige Quoten aufweisen. Demgegenüber stehen Städte wie Gelsenkirchen, Frankfurt (Oder) oder Offenbach am Main, bei denen die Unterschiede zwischen Stadtteilen ebenfalls geringer ausfallen, dagegen die Quoten aber auf einem deutlich höheren Niveau liegen. Betrachtet man die Abweichung zwischen dem Mittelwert aller Stadtteile einer Stadt und dem Median (was eine im
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Vergleich zur Normalverteilung schiefe Verteilung kennzeichnet), fällt auf, dass insbesondere in den ostdeutschen Städten der Mittelwert deutlich oberhalb des Medians liegt (Abb. 1). Für die Verzerrung der Mittelwerte nach oben sind einzelne Stadtteile, insbesondere an den Stadträndern, mit sehr hohen Anteilen verantwortlich. In Ostdeutschland scheint die Konzentration von Kinderarmut in einzelnen Stadtteilen demnach ausgeprägter zu sein als in westdeutschen Städten. Dies deckt sich auch mit den Ergebnissen von Helbig und Jähnen. Die entgegengesetzte Abweichung in einigen als weniger reich bekannten westdeutschen Städten verweist auf Ausreißer in die andere Richtung, also auf Stadtteile mit im Vergleich zum Durchschnitt deutlich wohlhabenderen Haushalten in ausgewählten Wohnlagen.
Betrachtung des sozialen und infrastrukturellen Kontextes von Stadtteilen nach ihrem Ausmaß an Kinderarmut Was macht nun Stadtteile, in denen besonders viele Kinder und Jugendliche von Armut betroffen sind, aus? In welchem sozialen Umfeld wachsen Kinder in solchen Stadtteilen auf? Wie lassen sich ihre Wohnsituation und ihr Wohnumfeld in Bezug auf die Ausstattung mit kinderfreundlicher Infrastruktur charakterisieren? Um diesen Fragen nachzugehen, wurden die ca. 2.400 Stadtteile der IRB-Städte auf Basis ihrer Kinderarmutsquoten kategorisiert. Hierzu wurden die Stadtteile jeweils getrennt für eine Stadt entlang der Verteilung der Kinderarmutsanteile in vier Quartile eingeteilt, die wiederum drei Gruppen zugeordnet wurden. In die Gruppe „niedrig“ fallen demnach alle Stadtteile einer Stadt, die in Bezug auf Kinderarmut in den
Abbildung 1: Abweichung zwischen Mittelwert und Median der Kinderarmutsquoten in Städten 2020
Quelle: Innerstädtische Raumbeobachtung des BBSR; Datengrundlage: Kommunalstatistiken der IRB-Städte / Statistik der Bundesagentur für Arbeit
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untersten 25 % der Verteilung dieser Stadt, d.h. im untersten Quartil, liegen. Die Gruppe „mittel“ umfasst alle Stadtteile des zweiten und dritten Quartils und die Gruppe „hoch“ enthält die Stadtteile der obersten 25 % der Verteilung4. Da die Einteilung getrennt nach Städten erfolgt, können so die unterschiedlichen Niveaus zwischen den Städten berücksichtigt werden.5 Entlang dieser Kategorien betrachtet der Beitrag Stadtteile in Bezug auf ihre sozialstrukturelle Zusammensetzung und infrastrukturelle Ausstattung. Es wird untersucht, ob und inwieweit sich die in der Literatur in Kapitel 2 genannten Aspekte, die zum einen Kinderarmut bedingen und die zum anderen ein kinderfreundliches Wohn- und Lebensumfeld auszeichnen, zwischen den drei Stadtteil-Gruppen unterscheiden (Stadtteile mit niedriger, mittlerer und hoher Kinderarmut). Es wird davon ausgegangen, dass die Gruppe der Stadtteile mit
hohen Kinderarmutsquoten in Bezug auf ihren sozial- und infrastrukturellen Kontext benachteiligt ist. Kinder können den sozialen Kontext und das Wohnumfeld, in dem sie aufwachsen, nicht beeinflussen. Dennoch haben diese einen großen Einfluss auf ihre weitere Entwicklung. Ob Kinder in Armut aufwachsen, wird maßgeblich durch die sozioökonomische Situation der Eltern bestimmt. Wie bereits eingangs erwähnt, erhöhen bestimmte Faktoren wie Erwerbslosigkeit der Eltern, alleinerziehende Haushalte, die Zahl der im Haushalt lebenden Kinder oder auch der Migrationshintergrund des Haushalts das Armutsrisiko von Kindern. Korreliert man diese Faktoren mit den drei Stadtteilausprägungen für die Anzahl von Kindern in Bedarfsgemeinschaften, stützen die Daten für die Städte der IRB die bisherigen Zusammenhangsvermutungen (Abb. 2). Im Durchschnitt weisen alle
Abbildung 2: Sozialindikatoren nach dem Ausmaß an Kinderarmut im Stadtteil (niedrig, mittel, hoch)
Quelle: Innerstädtische Raumbeobachtung des BBSR; Datengrundlage: Kommunalstatistiken der IRB-Städte/Statistik der Bundesagentur für Arbeit
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betrachteten Indikatoren in Stadtteilen, die besonders stark von Kinderarmut betroffen sind, die höchsten Werte auf. Dies macht deutlich, dass sich viele Faktoren, die einen nachteiligen Einfluss auf die Entwicklung von Kindern haben können, in bestimmten Stadtteilen überlagern und den Effekt somit unter Umständen noch verstärken. Auch das physische Umfeld, in dem Kinder aufwachsen, spielt in ihrer Entwicklung eine Rolle. Haushalte, die Transferleistungen beziehen und für die somit die Kosten der Unterkunft vom Sozialamt übernommen werden, sind in ihrer Wahl des Wohnortes eingeschränkt, da die Mietkosten ein festgelegtes Niveau nicht übersteigen dürfen. Die Werte in Abbildung 3 zeigen, dass das Mietniveau in Stadtteilen, in denen Kinderarmut besonders hoch ist, am niedrigsten ist. Wohnungen mit günstigen Mieten liegen häufig in großen
Wohnanlagen mit hoher Bebauungsdichte, in denen mehrere Wohnungen pro Gebäude der Normalfall sind. Im Schnitt sind in Stadtteilen mit hoher Kinderarmut mehr als neun Wohnungen in einem Gebäude und damit fast dreimal so viele wie in Stadtteilen der Gruppe „niedrig“. Dies spiegelt sich in einer überdurchschnittlichen Bevölkerungsdichte wider. Im Schnitt ist diese in Stadtteilen mit hoher Kinderarmut 1,9 mal höher als in Stadtteilen mit geringer Kinderarmut.6 Beengte Wohnverhältnisse sind eine Folge. Einem Kind, das in einem stärker betroffenen Stadtteil wohnt, stehen im Vergleich zu Kindern, die in Stadtteilen mit wenig Kinderarmut leben, etwa 25% weniger Wohnfläche zur Verfügung. Insbesondere vor dem Hintergrund fehlender Rückzugsorte und Lernvoraussetzungen von Kindern und Jugendlichen ergeben sich somit große Unterschiede. Ein ruhiger Platz zum Arbeiten und Lernen ist
Abbildung 3: Wohnindikatoren nach dem Ausmaß an Kinderarmut im Stadtteil (niedrig, mittel, hoch)
Quelle: Innerstädtische Raumbeobachtung des BBSR; Datengrundlage: Kommunalstatistiken der IRB-Städte/Statistik der Bundesagentur für Arbeit; BBSR – Wohnungsmarktbeobachtung
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Abbildung 4: Infrastrukturindikatoren nach dem Ausmaß an Kinderarmut im Stadtteil (niedrig, mittel, hoch)
Quelle: Innerstädtische Raumbeobachtung des BBSR; Datengrundlage: Kommunalstatistiken der IRB-Städte/ Statistik der Bundesagentur für Arbeit; OSM – Database Contents License (DbCL) 1.0; BKG – POI-Bund; BKG LBM-DE2018
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bei diesen Wohnverhältnissen kaum gegeben, sodass alternative Orte, an denen ungestörtes Lernen möglich ist, umso wichtiger sind. Neben den eigentlichen Wohnverhältnissen, in denen Kinder und Jugendliche aufwachsen, spielt das Wohnumfeld eine zentrale Rolle für die Entwicklungsmöglichkeiten. Ein kinder- und jugendfreundliches Wohnumfeld trägt dazu bei, dass sich Kindern unabhängig von ihrer familiären Situation vergleichbare Chancen eröffnen. Hierbei liegt der Fokus insbesondere auf der Ausstattung der Wohnumgebung mit sozialer und kultureller Infrastruktur. Diese liegt in der Verantwortung der Kommunen, die somit einen positiven Einfluss auf die kindliche Entwicklung ausüben können. Im Rahmen des Beitrags lagen Daten zu folgenden für Kinder relevanten Infrastrukturen vor: Anzahl der Spielplätze, Anteil an öffentlichen Grün-, Sport- und Freizeitflächen sowie Anzahl an Kitas, Grundschulen, Büchereien und Kinderärztinnen und -ärzten. Im Bereich der Infrastruktur ergibt sich ein differenzierteres Bild als in den Bereichen Wohnen und Sozialstruktur. Nicht alle Infrastrukturindikatoren weisen eindeutige Unterschiede zwischen den drei Gruppen auf, so etwa der Indikator der Spielplätze pro 1.000 Kinder unter 10 Jahren im Stadtteil. Spielplätze scheinen im Stadtgebiet relativ homogen verteilt zu sein (Abb. 4). Eine mögliche Begründung liegt darin, dass es eine Pflicht zum Errichten eines Spielplatzes beim Bau von Mehrfamilienhäusern gibt. Dagegen deutet der Indikator des Anteils der Grün-, Sport- und Freizeitflächen an der Gesamtfläche des Stadtteils wiederum auf Unterschiede zwischen den drei Gruppen hin. Stadtteile mit einer niedrigeren Kinderarmutsquote weisen demnach einen geringeren Anteil dieser Flächen auf. Eine eventuelle Erklärung liegt darin, dass diese Stadtteile eher von Einfamilienhäusern geprägt sind, in denen Familien ihre eigenen Gärten besitzen und weniger öffentliche Grünflächen benötigt werden. Die Anzahl an Kitas und Grundschulen zeigen ebenfalls Unterschiede zwischen den Gruppen. So ist zu erkennen, dass es in Stadtteilen mit einer im Verhältnis zur Stadt niedrigeren Armutsquote mehr Bildungs- und Betreuungsangebote gibt. Möglicherweise könnte diese Diskrepanz zu einer Verstärkung der Unterschiede führen, indem vor allem Kinder in höheren gesellschaftlichen Schichten weiter gefördert werden und Stadtteile mit einem hohen Anteil einkommensschwacher Familien unterversorgt sind. Ein ähnliches Bild zeigt auch die Verteilung von Büchereien im Stadtgebiet. Hier befinden sich ebenfalls am wenigsten Einrichtungen in Stadtteilen mit hohen Kinderarmutsquoten. Der Indikator der Kinderärztinnen und -ärzte pro 1.000 Kinder im Stadtteil zeigt, dass dieser bei Stadtteilen mit einer mittleren Kinderarmutsquote am stärksten ausgeprägt ist. Eine mögliche Begründung liegt darin, dass sie eher in den Stadtzentren angesiedelt sind und in der Anzahl weniger in Stadtteilen am Stadtrand. Dies kann zum einen auf die höhere Bevölkerungsdichte in den Stadtzentren und zum anderen auf die bessere Erreichbarkeit mit öffentlichen Verkehrsmitteln in den Innenstädten zurückgeführt werden.
Diskussion der Ergebnisse Kinderarmut ist in Deutschland ungleichmäßig verteilt. Dadurch sind einige Regionen bzw. Städte stärker von der Problematik betroffen als andere. Aber insbesondere die Unterschiede innerhalb von Städten beeinflussen die Chancenverteilung in Bezug auf die Entwicklungsmöglichkeiten von Kindern in hohem Maße. Die Analysen zeigen, dass in Stadtteilen, in denen sich Kinderarmut konzentriert, die Lebensumstände und Entwicklungsmöglichkeiten für Kinder schlechter sind, sowohl in Bezug auf den sozialstrukturellen Kontext, auf die Wohnverhältnisse sowie auf die Ausstattung des öffentlichen Raums und des Wohnumfelds mit sozialer und kultureller Infrastruktur. Bereits jetzt lebt circa jedes fünfte Kind in Armut und ein Großteil dieser Kinder sieht sich mit den beschriebenen Lebensumständen konfrontiert. Auch für die Zukunft ist zu vermuten, dass sich die Situation allenfalls langfristig verbessern wird. Verschiedene Entwicklungen weisen eher darauf hin, dass sich die Lage von Kindern in den nächsten Jahren weiter verschlechtern könnte. Und dabei sind die Auswirkungen der Corona-Pandemie noch nicht in ihren vollen Umfängen absehbar. Gerade die Zunahme prekärer Beschäftigungsverhältnisse hat dazu geführt, dass während der Pandemie ohnehin schon vulnerable Gruppen stärker betroffen waren, da insbesondere bei diesen Arbeitsverhältnissen Kündigungen oder Einkommenseinbußen häufiger auftraten (Hövermann/ Kohlrausch 2020). Die Einkommenssituation vieler Familien wird sich somit noch angespannter darstellen. Auch die seit Jahren steigenden Mietpreise führen zu zunehmenden Belastungen einkommensschwacher Haushalte durch Wohnkosten, insbesondere wenn deren Kosten der Unterkunft nicht vom Amt übernommen werden (Sagner et al. 2020). Die aktuell enorm gestiegene Inflationsrate und Verteuerung vieler Alltagsgüter und Energiepreise tragen ebenfalls zur Anspannung der finanziellen Lage von Familien bei. All dies hat einen direkten Einfluss auf die Lage von Kindern und auch zukünftige Entwicklungen, insbesondere in einem Land wie Deutschland, in dem der soziale Status in hohem Maße von der Elterngeneration abhängt und sozialer Aufstieg für Kinder aus sozial schwachen Familien deutlich schwieriger ist (Braun/ Stuhler 2018). Diese Probleme gilt es mit makroökonomischen Instrumenten in den Bereichen Arbeitsmarkt und Wirtschaftsentwicklung anzugehen. Was aber können Kommunen vor Ort dazu beitragen, die Lebensumstände von Kindern zu verbessern und wie können sie bei dieser Aufgabe unterstützt werden? Sie können keinen direkten Einfluss auf die ökonomische Situation der Familien nehmen, allerdings kann durch den gezielten Einsatz verschiedener sozialraumpolitischer Instrumente das physische Umfeld, in dem Kinder aufwachsen, verbessert werden. Die Bereitstellung von bezahlbarem und angemessenem Wohnraum für Familien und die Ausweitung des sozialen Wohnungsbaus stellen eine Möglichkeit dar, auf die Wohnsituation von Familien Einfluss zu nehmen. Eine geringere Wohnkostenbelastung lässt mehr finanziellen Spielraum zur Deckung weiterer Bedarfe, wie etwa die Bildung der Kinder. Auch die Angemessenheit von Wohnraum, das heißt an den Bedarfen von Familien angepasster Wohnraum, kann dazu
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beitragen, dass beengte Wohnverhältnisse reduziert werden und Kindern so mehr Raum zur Entwicklung gegeben wird. Neben den eigentlichen Wohnverhältnissen sind Investitionen in das Wohnumfeld und die wohnortnahe Infrastruktur für Kinder aus sozial schwachen Familien besonders wichtig, da sie im Elternhaus häufig nicht dieselben Möglichkeiten und Unterstützung erfahren wie andere Kinder. Daher nehmen wohnortnahe Infrastrukturangebote einen wichtigen Stellenwert in der Entwicklung von Kindern ein. Diese liegen sogar stärker im Verantwortungsbereich der Kommunen als die Qualität der Wohnungen. Die Ausstattung mit sozialer und kultureller Infrastruktur, die im Wohnumfeld gut zu erreichen ist, bietet Kindern weitere Orte für Entfaltung, etwa in den Bereichen Freizeit, Spiel und Bewegung, Bildung, Begegnung und Gesundheit. Neben der guten Erreichbarkeit und ausreichenden Ausstattung spielt die Qualität und Zugänglichkeit der Infrastrukturen und Einrichtungen eine zentrale Rolle. Kommunen sollten einen niedrigschwelligen und kostengünstigen (bzw. kostenlosen) Zugang zu Angeboten und Infrastruktureinrichtungen für Kinder gewährleisten.
Fazit und Ausblick Insgesamt zeigen die Ergebnisse, dass vor allem die untersuchten Sozial- und Wohnindikatoren, aber teilweise auch die Infrastrukturindikatoren Unterschiede zwischen den drei Stadtteilgruppen unterschiedlicher Kinderarmutsquoten aufweisen. Die prekäre Situation von Kindern und deren Familien wird damit durch weitere äußere Faktoren begleitet und möglicherweise verstärkt. Schlussendlich geben die Analysen dieses Artikels einen ersten Hinweis darauf, dass in Stadtteilen, in denen vermehrt arme Kinder leben, höherer kommunaler Handlungsbedarf besteht. Da es gerade für finanzschwache Kommunen schwierig ist, diese Herausforderung alleine zu bewältigen, sollte der Bund mit entsprechenden Förderprogrammen unterstützend zur Seite stehen. So hat etwa das Städtebauförderprogramm Sozialer Zusammenhalt die Verbesserung der Wohn- und Lebensqualität sowie die Integration aller Bevölkerungsgruppen zum Ziel. Insbesondere Investitionen in das Wohnumfeld und die soziale Infrastruktur in den Quartieren sind mit diesem Programm förderfähig. Der integrierte Ansatz der Städtebauförderung und insbesondere des Programms Sozialer Zusammenhalt trägt zudem dazu bei, dass alle Bereiche, also neben dem Bau auch die Themen Soziales, Arbeit oder Gesundheit, in den Blick genommen werden. Dies könnte einen wichtigen Beitrag leisten, um die Lebenssituation armer Kinder zu verbessern. Bei der Interpretation der Ergebnisse muss allerdings berücksichtigt werden, dass lediglich eine quantitative Betrach-
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tung der Wohn- und Infrastrukturausstattung stattgefunden hat. Dabei spielt die Qualität der entsprechenden Indikatoren ebenfalls eine wesentliche Rolle. So wäre etwa neben der reinen Anzahl an Kitas und Grundschulen im Stadtteil beispielsweise interessant, wie viele Kinder in einer Gruppe oder Klasse betreut werden und wie die Qualität gewährleistet wird (z. B. Betreuungsschlüssel, Qualifikation der Erzieherinnen und Erzieher, Qualität von Spielplätzen). In diesem Bereich besteht somit weiterer Forschungsbedarf hinsichtlich der qualitativen Bewertung der kindbezogenen Infrastruktur. Dies gilt ebenso für die Erreichbarkeiten der einzelnen Angebote. Vorhandene Infrastrukturen helfen den Kindern und Familien nicht, wenn sie von diesen nicht erreicht werden können. Zielführend wären daher entsprechende Erreichbarkeitsanalysen. Dabei müsste vor allem der ÖPNV in den Blick genommen werden, da dieser – auch bedingt durch die Corona-Pandemie – verstärkt von ärmeren Bevölkerungsschichten genutzt wird. Ebenso interessant wäre die Auswertung der Daten mithilfe von Mehrebenenanalysen, die eine gleichzeitige Berücksichtigung von Merkmalen auf Haushalts- und (inner)städtischer Ebene ermöglicht und damit wechselseitige Beeinflussungsmöglichkeiten miteinbeziehen kann. Der Beitrag ist somit ein erster Schritt zur Analyse der Beschaffenheit von Wohnquartieren mit hoher Kinderarmut, die noch weiter vertieft werden sollte.
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Die Definition sozialer Benachteiligung geht hier über den ökonomischen Status hinaus: „Ein Kind ist sozial benachteiligt, wenn seine seelischen und körperlichen Grundbedürfnisse wegen ungünstiger äußerer Lebensbedingungen nicht oder nur unzureichend befriedigt und dadurch seine Gesundheit und Entwicklung beeinträchtigt werden.“ Soziale Benachteiligung wird in diesem Fall allerdings über den sozioökonomischen Status gemessen, da dieser ein aussagefähiger Indikator hierfür ist (Schlack 2003). Laut Statistischem Bundesamt (2022) lebten im Jahr 2018 13,17 Mio. ledige Kinder unter 18 Jahren in Familien in Deutschland (2020: 13,64 Mio.) Die Daten zu den Arztpraxen kommen von infas 360 GmbH, während die Adressen der Kindertageseinrichtungen teilweise von Landesämtern zur Verfügung gestellt werden und teilweise auf einer Eigenrecherche des BKG beruhen. Die georeferenzierten Schulstandorte stammen dagegen komplett von den Landesämtern der 16 Bundesländer. Spannweite unteres Quartil: 0,00% - 30,20%; Spannweite oberes Quartil: 10,28-50,01% Hierbei muss erwähnt werden, dass für einen Teil der Städte die Einteilung in Quartile nicht auf der vollen Anzahl (mindestens 50%) der Stadtteile basiert, da diese Städte nicht für alle Stadtteile Daten liefern. Eine höhere Bevölkerungsdichte geht oft auch mit der Lage des Stadtteils im Stadtgebiet einher. Im Durchschnitt liegen mehr Stadtteile mit hohen Kinderarmutsquoten in innenstädtischen Lagen als Stadtteile der anderen beiden Gruppen. Dies kann auch als Erklärung für einige Unterschiede in den im Folgenden beschriebenen Infrastrukturindikatoren dienen.
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Literatur Bäcker et al. (2008): Sozialpolitik und soziale Lage in Deutschland. Wiesbaden. Bertelsmann Stiftung (2019): Monitor Nachhaltige Kommune. Bericht 2018. Schwerpunktthema Armut. Gütersloh. Bertelsmann Stiftung (2020): Factsheet Kinderarmut in Deutschland. Gütersloh. Braun, S.; Stuhler, J. (2018): The Transmission of Inequality Across Multiple Generations: Testing Recent Theories with Evidence from Germany. In: Economic Journal 128, S. 576–611. Bundesagentur für Arbeit (2021): Kinder in Bedarfsgemeinschaften – Deutschland, West/ Ost, Länder und Kreise (Monatszahlen). Online abrufbar unter: https://statistik.arbeitsagentur.de/SiteGlobals/Forms/Suche/Einzelheftsuche_Formular.html;jsessionid=A45499AF8 02B57C5FF8E6FFC3378C60B?nn=20656&top ic_f=kinder (zuletzt abgerufen am 07.12.2021) Butterwegge, C. (2017): Kinderarmut in Deutschland. Risikogruppen, mehrdimensionale Erscheinungsformen und sozialräumliche Ausprägungen. FWG Studie Integrierende Stadtentwicklung 01. Düsseldorf. Destatis (2022): Bevölkerung und Erwerbstätigkeit – Haushalte und Familien. Ergebnisse
des Mikrozensus. Fachserie 1, Reihe 3. Wiesbaden Groh-Samberg, O.; Goebel, J. (2007): Armutsmessungen im Zeitverlauf: Indirekte und direkte Armutsindikatoren im Vergleich. In: Wirtschaftsdienst 2007. DIW Berlin. Helbig, M.; Jähnen, S. (2018): Wie brüchig ist die soziale Architektur unserer Städte? Trends und Analysen der Segregation in 74 deutschen Städten. WZB Discussion Paper P 2018-001. Berlin. Hövermann, A.; Kohlrausch, B. (2020): Soziale Ungleichheit und Einkommenseinbußen in der Corona-Krise. Befunde einer Erwerbstätigenbefragung. In: WSI Mitteilungen 73, Jg. 6/2020. Düsseldorf. Holz, G. (2006): Lebenslagen und Chancen von Kindern in Deutschland. In: Aus Politik und Zeitgeschichte (APuZ), H. 26, S. 3–11. Laubstein, C.; Holz, G.; Dittmann, J.; Sthamer, E. (2012): „Von alleine wächst sich nichts aus …“. Lebenslagen von (armen) Kindern und Jugendlichen und gesellschaftliches Handeln bis zum Ende der Sekundarstufe I. Abschlussbericht der 4. Phase der Langzeitstudie im Auftrag des Bundesverbandes der
Arbeiterwohlfahrt. Schriftenreihe Theorie und Praxis. Berlin. Lietzmann, T.; Wenzig, C. (2020): Materielle Unterversorgung von Kindern. Bertelsmann Stiftung. Gütersloh. Richter, A. (2000): Wie erleben und bewältigen Kinder Armut? Eine qualitative Studie über die Belastungen aus Unterversorgungslagen und ihre Bewältigung aus subjektiver Sicht von Grundschulkindern einer ländlichen Region. Aachen. Sagner, P.; Stockhausen, M.; Voigtländer, M. (2020): Wohnen – die neue soziale Frage? IW-Analysen, No. 136, Institut der deutschen Wirtschaft (IW). Köln. Schlack, H.G. (2003): Sozial benachteiligte Kinder – eine Herausforderung für die gemeinwesenbezogene Gesundheitsfürsorge. In: Das Gesundheitswesen 65(12). S. 671–675. Stuttgart. Unicef (2021): Kinder – unsere Zukunft! Der UNICEF-Bericht zur Lage der Kinder in Deutschland 2021. Köln. Wüstenrot Stiftung (2008): Kinder- und Familienfreundlichkeit deutscher Städte und Gemeinden. Ludwigsburg.
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Susanne Lochner, Katharina Kopp
Ungleiche Kindheiten? Frühe Bildung im Stadt-Land-Vergleich
Ein Kita-Besuch stellt mittlerweile für fast alle Kinder in Deutschland vor dem Schuleintritt die Regel dar. In den letzten zwei Jahrzehnten kann hierzu ein nahezu flächendeckender Ausbau von Kindertagesbetreuungsangeboten nachgezeichnet werden. Sowohl Kindertageseinrichtungen als auch Tagespflegestellen werden dabei immer mehr bereits von unter 3-jährigen Kindern in Anspruch genommen und für diese Altersgruppe nachgefragt. Diese Dynamik zeigt neben regionalspezifischen Besonderheiten, beispielsweise im Vergleich der städtischen zur ländlichen Entwicklung, auch Herausforderungen hinsichtlich gleicher Zugangschancen z. B. für Neuzugewanderte. Hierzu können mit regionalen Analysen der Kinder- und Jugendhilfestatistik spezifische Bedarfslagen für die kommunale Kindertagesbetreuungslandschaft aufgezeigt werden.
Dr. Susanne Lochner seit 2017 wissenschaftliche Referentin am Deutschen Jugendinstitut e. V.; Arbeitsschwerpunkte: Frühe Bildung, non-formale Bildung und Migrationsforschung : lochner@dji.de Katharina Kopp seit 2019 wissenschaftliche Referentin am Deutschen Jugendinstitut e. V.; Arbeitsschwerpunkte: Frühe Bildung, Ganztagsbildung und Kinderschutz : kopp@dji.de Schlüsselwörter Frühe Bildung – Kindertagesbetreuung – Inanspruchnahme von Kindertageseinrichtungen – Kinder mit nicht-deutscher Familiensprache
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Einleitung Die frühe Kindheit ist in Deutschland in den letzten zwei Jahrzehnten von einem starken Wandel geprägt. Neben der schulischen Bildung hat die frühe Bildung spätestens seit dem sogenannten PISA-Schock zu Beginn des Jahrtausends einen enormen Bedeutungszuwachs erfahren, der sich bildungspolitisch vor allem in der gesetzlichen Verankerung von Plätzen in Kindertageseinrichtungen oder -tagespflegestellen für Kinder vor dem Schuleintritt widerspiegelt. Dabei wurde mit dem seit 2005 geltenden Tagesbetreuungsausbaugesetz (TAG) der Ausbau der Kindertagesbetreuungsangebote gesetzlich festgeschrieben. Dieser mündete in dem im Dezember 2008 verabschiedeten Kinderförderungsgesetz (KiföG), das für alle Kinder ab dem ersten Lebensjahr den Rechtsanspruch für ein Kindertagesbetreuungsangebot ab dem 1. August 2013 gesetzlich verankert. Sowohl der strukturelle Ausbau von Angeboten früher Bildung, Betreuung und Erziehung insbesondere für unter 3-jährige Kinder (Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2020) als auch eine steigende Müttererwerbstätigkeit (vgl. bereits 2002 Büchel/Spieß) lassen das Aufwachsen von Kindern verstärkt aus der privaten in die öffentliche (Mit-)Verantwortung übergehen. Ein weiteres Charakteristikum der frühen Kindheit im letzten Jahrzehnt ist Resultat einer gestiegenen Zuwanderung nach Deutschland – insbesondere getragen von EU-Binnenmigration und Fluchtzuwanderung in den letzten Jahren. So wird Kindheit in Deutschland immer vielfältiger: Im Jahr 2020 hatten nach vorläufigen Ergebnissen des Statistischen Bundesamts 40 % der unter 5-Jährigen einen Migrationshintergrund (Destatis 2021). Gerade in den jüngeren Altersgruppen ist der Anteil an Asylerstanträgen in den letzten Jahren durch Geburten deutlich angestiegen (Lochner/Jähnert 2020). Wie sich Bedingungen des Aufwachsens in städtischen und ländlichen Gebieten bereits kurz nach der Geburt unterscheiden und in den letzten Jahren in Bezug auf die Inanspruchnahme von Angeboten der Kindertagesbetreuung entwickelt haben, wird im Folgenden mit den amtlichen Daten der Kinder- und Jugendhilfestatistik untersucht, die regionale Analysen auf Kreisebene ermöglichen. Einen Analyseschwerpunkt bildet der Anteil an Kita-Kindern mit vorrangig nichtdeutscher Familiensprache, der insbesondere das Aufwachsen von Kindern vor dem Schuleintritt in zugewanderten Familien regionalspezifisch betrachtet.
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Regionale Inanspruchnahme von Kindertagesbetreuung bei unter 3-Jährigen Mit dem kontinuierlichen Ausbau von Kindertageseinrichtungen und Kindertagespflegestellen – hier zusammen als „Kindertagesbetreuung“ gefasst – und dem bestehenden Rechtsanspruch, der allen Kindern ab dem vollendeten ersten Lebensjahr ein entsprechendes Platzangebot zusichert, sollte bundesweit allen Familien mit 1-Jährigen und älteren Kindern vor dem Schuleintritt vor Ort ein Betreuungsangebot zur Verfügung stehen. Wie Ergebnisse einer bundesweiten DJI-Elternbefragung (KiBS) in den letzten Jahren zeigten, liegt der Elternbedarf jedoch bis dato höher als die derzeitige Inanspruchnahmequote von Kindertagesbetreuungsangeboten (Anton et al. 2021). Aus diesem Grund ist gerade die regionale Entwicklung der
Inanspruchnahme von unter 3-Jährigen bedeutend, da sich in dieser Altersgruppe – anders als bei den 3-Jährigen bis zum Schuleintritt, die bundesweit zum Großteil eine Kita besuchen – deutlich geringere Inanspruchnahmequoten zeigen (Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2020). Abbildung 1 stellt die regionale Entwicklung seit kurz vor dem im Jahr 2013 in Kraft getretenen Rechtsanspruch für Kinder ab dem ersten Lebensjahr im Zeitverlauf von 2012 bis 2020 dar. Dabei zeigt sich zunächst, dass es in den letzten acht Jahren bundesweit in den meisten Kreisen zu einer deutlichen Erhöhung der Inanspruchnahme von Kindertagesbetreuungsangeboten für unter 3-Jährige kam. Eine Ausnahme zeigt sich in 16 Kreisen in Ostdeutschland, in denen die Inanspruchnahmequote bereits 2012 über 55 % lag (Abb. 1). Während 2012 noch in einigen Kreisen Bayerns, Baden-Württembergs, Nordrhein-Westfalens und Niedersachsens weniger als 15 %
Abbildung 1: Regionale Entwicklung der Inanspruchnahme von Kindertagesbetreuung bei unter 3-Jährigen (2012 bis 2020)
Quelle: Statistische Ämter des Bundes und der Länder, Kinder- und Jugendhilfestatistik, Auswertungen der Arbeitsstelle Kinder- und Jugendhilfestatistik (AKJstat); Bevölkerungsstatistik, BBSR Laufende Raumbeobachtung, eigene Berechnungen.
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der unter 3-Jährigen eine Kita oder Tagespflege besuchten, wies im Jahr 2020 kein Kreis in Deutschland eine derart geringe Inanspruchnahmequote mehr auf. So ist auch die deutschlandweite Quote von 27 % im Jahr 2012 auf 35 % im Jahr 2020 kontinuierlich angestiegen. Der Stadt-Land-Vergleich zeigt dabei, dass die Inanspruchnahmequoten von Kindern unter 3 Jahren in ländlichen Regionen etwas höher als in städtischen liegen (Abb. 1). Dieses Ergebnis verwundert insbesondere vor der Annahme einer höheren Müttererwerbstätigkeit in städtischen Regionen (Geis-Thöne 2021). Hier scheinen nach wie vor Ost-West-Unterschiede zum Tragen zu kommen, wie die deutlich höhere Vollzeiterwerbstätigkeit von Müttern in Ostdeutschland zeigt (Barth et al. 2020). Eine genauere Betrachtung der Kreise verdeutlicht große Spannweiten, vor allem im städtischen Raum (vgl. auch Daniel et al. 2019). So wiesen im Jahr 2020 unter anderem die städtischen Kreise Duisburg, Gelsenkirchen, Pforzheim oder Bremerhaven Kita-Inanspruchnahmequoten bei unter 3-Jährigen von unter 20 % auf, während in städtischen Regionen wie Leipzig, Zwickau, Gera oder Dresden über 50 % der unter 3-Jährigen die Kita oder Tagespflege besuchten. Entsprechend zeigt sich auch 2020 noch ein deutliches Ost-West-Gefälle in der Kindertagesbetreuung: Während die Inanspruchnahmequote in Westdeutschland 2020 nur 31 % betrug, lag diese in Ostdeutschland inklusive Berlin bei 53 %. Aufgrund der historisch-bedingt deutlich stärkeren Ausprägung staatlicher Kindertagesbetreuung in den ostdeutschen Ländern weisen diese auch heute noch eine stärker in Anspruch genommene und ausgebaute Kindertagesbetreuungslandschaft auf. Seit 2012 – einem Jahr vor dem Inkrafttreten des Rechtsanspruchs – kam es in Ostdeutschland zu einem Inanspruchnahme-Zuwachs von 4 Prozentpunkten und in Westdeutschland von 9 Prozentpunkten. Somit zeigt sich eine leichte Annäherung der westdeutschen Inanspruchnahmequoten an die höheren ostdeutschen Quoten. Der beschriebene Wandel hat folglich in Deutschland regional sehr unterschiedlich eingesetzt. So stellt auch die Autorengruppe Bildungsberichterstattung (2020) fest, dass sich der Ausbau von Kindertageseinrichtungen zwischen 2009 und 2019 vor allem in kreisfreien Städten und Großstädten zeigt; weniger in strukturschwächeren Gegenden und vor allem in Ostdeutschland (ebd., S. 51). Dies hängt vor allem damit zusammen, dass in Ostdeutschland die KitaAngebotslandschaft schon vor der Wiedervereinigung stärker ausgebaut und aufgrund der hohen Vollzeiterwerbstätigkeit auch von Müttern unter 3-jähriger Kinder stärker in Anspruch genommen wurde und dadurch in den letzten Jahren nicht mehr so viel ausgebaut werden musste wie in Westdeutschland. Überraschend sind jedoch vor allem Unterschiede, die sich seit dem Inkrafttreten des bundesweit geltenden Rechtsanspruchs auf Angebote der Kindertagesbetreuung am 1. August 2013 zeigen (Abb. 2). Während zwischen 2012 und 2016 die Inanspruchnahmequote besonders in westdeutschen Städten deutlich gestiegen ist, zeigen sich in Ostdeutschland vergleichsweise leichtere Zuwächse, die in den darauffolgenden Jahren nur noch im ländlichen Raum zu einem weiteren Anstieg führen. Dagegen steigen die Inanspruchnahmequoten in Westdeutschland seit 2016 im ländlichen Raum etwas stärker und nähern sich immer mehr der ebenfalls leicht steigenden Inanspruchnah-
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Abbildung 2: Entwicklung der Inanspruchnahme von Kindertagesbetreuung bei unter 3-Jährigen nach städtischem und ländlichem Raum in Ost- und Westdeutschland (2012 bis 2020)
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Ostdeutschland inklusive Berlin Quelle: Statistische Ämter des Bundes und der Länder, Kinder-und Jugendhilfestatistik, Auswertungen der Arbeitsstelle Kinder- und Jugendhilfestatistik (AKJstat); Bevölkerungsstatistik, BBSR Laufende Raumbeobachtung, eigene Berechnungen.
mequote im städtischen Raum. Dabei bieten sowohl demografische Entwicklungen als auch Effekte der Urbanisierung sowie die Fluchtzuwanderung und EU-Binnenmigration erste Erklärungsansätze. Darüber hinaus hat mancherorts gegebenenfalls auch der bestehende Fachkräftemangel dazu geführt, dass Angebote der Kindertagesbetreuung aufgrund bestehender Personalengpässe nicht weiter ausgebaut werden konnten (BA 2021, S.18 f.); fehlender Raum in Großstädten wie Berlin, die bereits in den letzten Jahren im Vergleich zu anderen Ländern und Stadtstaaten überwiegend kleinere Einrichtungen mit weniger Plätzen vorhielten, kann einen weiteren Grund für eine Deckelung der Inanspruchnahmequote in städtischen Räumen darstellen. Letzteres stellt aktuell jedoch noch ein Forschungsdesiderat dar.
Regionale Verteilung von Kindern mit nicht-deutscher Familiensprache Neben des immer früheren Einstiegs in die Kita (Meiner-Teubner/Tiedemann 2018) prägt auch die zunehmende Vielfalt in den Kita-Angeboten die frühe Kindheit. Damit einher gehen Fragen gleicher Bildungschancen zum einen hinsichtlich der regional gleichverteilten Zugangsmöglichkeiten zu den KitaAngeboten und zum anderen hinsichtlich der qualitativen Umsetzung und Förderung in den Kitas selbst – wobei letzteres in diesem Beitrag wegen der zugrunde gelegten Daten nicht näher betrachtet werden kann. Gerade Kinder, die vorrangig zu Hause mit einer anderen Sprache aufwachsen, würden stark von einem frühen Kita-Start profitieren, wenn dieser mit einer hohen (Anregungs-)Qualität in der Kita und längerer Besuchsdauer einhergeht (bspw. Kluczinok 2017; Relikowski et al. 2015; Anders 2013). Jedoch zeigen bisherige Studien, dass ungleiche Zugangschancen zu früher Bildung abhängig von
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Migrationshintergrund und Familiensprache gegeben sind (Jessen et al. 2020; Jessen et al. 2018; Roth, Klein 2018), obwohl Familien mit Migrationshintergrund auch für Kinder unter 3 Jahren einen ähnlichen Bedarf artikulieren wie Familien ohne Migrationshintergrund (Olszenka/Meiner-Teubner 2020). Die Kinder- und Jugendhilfestatistik erhebt neben dem Migrationshintergrund auch die vorrangig in der Familie gesprochene Sprache von Kita-Kindern. Bei den unter 3-Jährigen ist die Inanspruchnahmequote deutlich niedriger als bei älteren Kindern vor dem Schuleintritt und weist große Diskrepanzen zwischen Kindern mit und ohne Migrationshintergrund auf (Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2020). Da in dem Alter der 3- bis unter 6-Jährigen ein Großteil der Kinder eine Kita besucht, wird im Folgenden diese Altersgruppe betrachtet. Zwischen den Jahren 2012 und 2020 ist in dieser Altersgruppe der Anteil an Kindern mit Migrationshintergrund und vorrangig nicht-deutscher Familiensprache von 18 % (2012) auf 21 % (2020) angestiegen. Aus der bisherigen Migrationsforschung ist bekannt, dass sich Neuzugewanderte für den Anschluss an die ethnische Community und bessere Jobaussichten primär in städtischen Räumen niederlassen (u. a. Göddeke-Stellmann et al. 2018). Eine Analyse nach städtischen und ländlichen Räumen belegt dies (Abb. 3). So liegen die Anteile an Kita-Kindern, die zu Hause eine andere Sprache sprechen, in städtischen Kreisen deutlich über den Anteilen in ländlichen Räumen. Die gestiegene Zuwanderung in den Jahren 2015/16 zeigt sich auch in dieser jungen Altersgruppe in sowohl städtischen als auch ländlichen Räumen mit einer Zunahme der Anteile an Kita-Kindern mit vorrangig nichtdeutscher Familiensprache. Die paritätische Verteilung der Asylsuchenden auf die Bundesländer nach dem Königsteiner Schlüssel dürfte die Fokussierung auf Großstädte bei der Ankunft in Deutschland unterbrochen haben. Gleichzeitig spiegelt sich die historisch bedingt heterogen gewachsene Zusammensetzung der Bevölkerung in Ost- und Westdeutschland auch in deutlich divergierenden Anteilen an Kita-Kindern, die zu Hause vorrangig eine andere Sprache sprechen, wider. So lag dieser Anteil 2020 in Ostdeutschland bei 13 % und in Westdeutschland bei 23 %. Noch deutlicher stellt sich die alleinige Betrachtung des Migrationshintergrunds dar: Mit 17 % der 3- bis unter 6-jährigen Kita-Kinder in Ostdeutschland liegt der Migrationsanteil etwa bei der Hälfte des Anteils in Westdeutschland mit 35 %. Es wird ersichtlich, dass trotz einer deutlich geringeren Migrationsquote der Anteil an Kindern, die mit Deutsch als Zweitsprache aufwachsen, in Ostdeutschland prozentual deutlich höher ist und darauf hinweist, dass die Familien erst in jüngerer Zeit nach Deutschland migriert sind. Eine Betrachtung nach ländlichem und städtischem Raum in Ost- und Westdeutschland veranschaulicht in beiden Landesteilen eine starke Konzentration auf die Städte (Abb. 3). Als Folge der paritätischen Verteilung der Asylsuchenden in den Jahren 2015 und 2016 ist wohl eine stärkere Fokussierung auf die städtischen Regionen vorerst ausgeblieben. Während in allen Gruppen eine leichte Zunahme seit 2014 zu erkennen ist, steigt der Anteil in den städtischen Räumen in Ostdeutschland in den letzten Jahren stark an. Es kann angenommen werden, dass dies einen Effekt der nach drei Jahren auslaufenden Wohnsitzauflage bei Asylsuchenden darstellt.
Abbildung 3: Anteil an 3- bis unter 6-jährigen Kita-Kindern mit nicht-deutscher Familiensprache und Migrationshintergrund in städtischen und ländlichen Räumen in Ost- und Westdeutschland (2012 bis 2020)
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Ostdeutschland inklusive Berlin Quelle: Statistische Ämter des Bundes und der Länder, Kinder-und Jugendhilfestatistik, Auswertungen der Arbeitsstelle Kinder- und Jugendhilfestatistik (AKJstat); Bevölkerungsstatistik, BBSR Laufende Raumbeobachtung, eigene Berechnungen.
Diskussion Der vorliegende Beitrag zeigt, dass die frühe Kindheit in Deutschland in den letzten Jahren einem Wandel unterlegen ist, der sich regional äußerst heterogen darstellt. Erstens rückt die frühe Bildung, Betreuung und Erziehung seit Einführung des Rechtsanspruchs auf Kindertagesbetreuung ab dem 1. Lebensjahr immer stärker in die öffentliche Verantwortung und zweitens wird die Gruppenzusammensetzung der Kinder in den Kindertagesbetreuungsangeboten immer vielfältiger – nicht zuletzt durch die hohe Zuwanderung in den Jahren 2015/16. Diese beiden Faktoren haben auch einen großen Einfluss auf die Qualität in Angeboten der Tagesbetreuung. Der Beitrag hat mit den regional sehr differenzierten Daten der Kinder- und Jugendhilfestatistik darstellen können, wie sich die Inanspruchnahme von Kindertagesbetreuung bei unter 3-Jährigen regional seit 2012 entwickelt hat. In den städtischen Räumen – insbesondere in Ostdeutschland – stieg die Inanspruchnahmequote in den letzten Jahren vergleichsweise gering an. Ein Grund kann in der seit 2015 steigenden Anzahl an Kindern mit Migrationshintergrund in deutschen Städten gesehen werden, die aufgrund von geringerer Müttererwerbstätigkeit seltener eine Kita besuchen, jedoch auch deutliche Zugangsbarrieren vorfinden. Weitere Gründe für den geringen Anstieg der Inanspruchnahmequote in Städten können auch in dem fehlenden Platzangebot begründet sein, das durch den bestehenden Fachkräftemangel und – insbesondere in Städten – durch einen Engpass an für den Kita-Ausbau zur Verfügung stehenden Räumlichkeiten entsteht. Der bereits heute bestehende Personalmangel trifft folglich auf wachsenden Betreuungsbedarf für unter 3-Jährige und wird – zumindest in Westdeutschland – in den kommenden Jahren vielerorts einen kommunalen Kraftakt erforderlich machen, um den Bildungs- und Betreuungsbedarf zu erfüllen und die Strukturqualität durch ausreichend (qualifizierte) Fachkräfte zu sichern (Rauschenbach et al. 2020).
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Nicht aus dem Blick geraten dürfen dabei gerade Kinder mit besonderem Unterstützungsbedarf, die Deutsch als Zweitsprache zum Teil erst in der Kita lernen. Da deren Anteil in den Städten – insbesondere in Ostdeutschland – in den letzten Jahren kontinuierlich angestiegen ist und Zugangsbarrieren für Familien mit Migrationshintergrund vor allem bei Platzmangel vorliegen, ist der weitere Ausbau von Betreuungsplätzen hier besonders voranzutreiben. Neben dem reinen Ausbau ist die Qualität nicht zu vernachlässigen, da insbesondere Kinder mit
Deutsch als Zweitsprache von einer hohen Anregungsqualität in den Kitas profitieren. Sobald kommunal allen Familien mit Kindern vor dem Schuleintritt ein passendes Betreuungsangebot zur Verfügung gestellt werden kann, könnte dies beispielsweise durch eine Verbesserung des Personalschlüssels erreicht werden. Um den heterogenen und spezifischen Bedarfslagen der Kinder gerecht zu werden und Anregungsqualität sicherzustellen, sind dabei vor allem umfassend qualifizierte pädagogische Fachkräfte in die Angebote einzubinden.
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Angelina Göb
Kinderleben in der Suburbia
Wie nehmen Familien ihren Wohnort im Suburbanen wahr, wie gebrauchen und gestalten sie diesen durch ihre Routinen? Basierend auf einer qualitativ-ethnographischen Studie in zwei suburbanen Räumen der Region Hannover werden Alltagssituierungen von Kindern aus der Perspektive von vier Müttern beschrieben und analysiert. Dafür geht der Beitrag auf familienbezogene Wahrnehmungs-, Aktions- und Aneignungsräume in der Suburbia ein. Neben der vergleichsweise guten Infrastrukturausstattung für Kinder, deren Nähe und Erreichbarkeit, ist es die sozialräumliche Überschaubarkeit mit der Möglichkeit zur lokalen Zentrierung, die das Familienleben am Stadtrand komfortabel macht. Zwischen Isolation und Integration spannt sich der Kinderalltag auf, der verhäuslicht, institutionell verinselt oder frei bespielbar erfahren, (un-)selbstständig bewältigt werden kann.
Dr. Angelina Göb Diplomgeographin, seit 2019 wissenschaftliche Mitarbeiterin im Institut für Wirtschafts- und Kulturgeographie der Leibniz Universität Hannover. Forschungsschwerpunkte: Stadt- und Sozialgeographie sowie qualitative Sozialforschung und Sozialraumanalyse : goeb@kusogeo.uni-hannover.de Schlüsselwörter Suburbia – kinderfreundliche Infrastruktur – sozialräumliche Integration – Verhäuslichung – Verinselung
Suburbia, Familien und Alltags(er)leben „Es wird viel gemacht für Familien und ich finde es auch nicht übertrieben, wenn der Bürgermeister sagt, Hemmingen ist eine familienfreundliche Stadt.“ (Fr. Richartz) Suburbane Räume gelten gemeinhin als Präferenzwohnorte von Familien: kinderfreundlich, sicher, überschaubar (Menzl 2007; Göb 2021). Mit dieser raumbezogenen Attribuierung geht die Erwartungshaltung einher, familialen Bedürfnissen und Alltagsarrangements adäquater nachkommen zu können. Ein Grund, warum die Wanderung ins Umland meist in der Phase der Familiengründung vollzogen wird. Jedoch hat die Randwanderung resp. Suburbanisierung folgenreiche Auswirkungen – wie eine zunehmende Motorisierung und Mobilität oder eine Trennung von Funktionen und Familien –, die sich in einem veränderten Raum- und Sozialverhalten widerspiegeln. So verschiebt sich seit den 1960er-Jahren die Lebensführung von (halb-)öffentlichen Räumen an private und institutionalisierte Orte, d.h. vom Lern- und Sozialisationsraum Straße zum Binnenraum Wohnung sowie in Einrichtungen der Bildungs-, Betreuungs- und Erziehungslandschaft (Farrenberg 2021). Mit dem Aufsuchen dieser Spezialorte setzt eine Fragmentierung (Verinselung) des kindlichen (Er-)Lebens ein (Zeiher 1991, 1998), das sich in einer „betreuten Kindheit“ (Bollig 2018) und damit in einer raumzeitlich wie sozial begrenzten Kindheit manifestiert. In „eingezäunte(n) Kinderghettos“ (Ward 1978: 87) soll das Kind nunmehr in seiner individuellen Entwicklung gefördert, geschützt befreit und diskret kontrolliert werden (Donzelot 1980: 60). Für die Erfüllung dieser Aufgaben scheinen suburbane Räume prädestiniert zu sein. Denn sie bieten aufgrund ihrer sozialräumlichen Überschaubarkeit alle Voraussetzungen für ein Leben in Geborgenheit und Überwachung, einen geregelten und abgeriegelten Familienalltag. Durch die Covid-19-Pandemie und den im Frühjahr 2020 verhängten Lockdown ist die „verhäuslichte Familienkindheit“ (Zinnecker 2001) – d. h. Isolation assoziiert mit Bewegungs- und Beziehungsmangel sowie intensiviertem Gebrauch digitaler Medien (Muri Koller 2017) – verschärft bzw. zur Norm(alität) geworden. Wie sich die alltägliche Lebenswelt von Familien in suburbanen Räumen vor der Pandemie darstellte, zeige ich im Folgenden anhand einer Sekundärauswertung2 einer qualitativ-ethnographischen Studie auf, die zwischen 2017 und 2020 durchgeführt wurde. Die beiden Untersuchungsräume grenzen nordöstlich und südwestlich an die administrative
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Stadtgrenze von Hannover an.3 Beide Siedlungsbereiche sind in den 1950er/60er-Jahren planmäßig angelegt und sukzessive mit grundzentralen Funktionen angereichert worden.4 Aufgrund ihrer Anbindung und Ausstattung sind die gewählten suburbanen Räume als „zukunftsfähige Selbstläufer in hochattraktiven Lagen“ (BMVBS 2013: 134) im engeren Pendlerverflechtungsraum einer Großstadtregion5 zu klassifizieren. Zur Datenerhebung, basierend auf der im Sample vertretenen Eltern (hier v. a. der Mütter), wurden drei Instrumente eingesetzt: explorative Interviews (Honer 1994), um das subjektive Erleben und Bewerten der Teilnehmenden herauszustellen, Aktionsraumkarten (Göb 2021), um Aufschluss über deren Raumgebrauch in Form von kartographisch verzeichneten und verbal kontextualisierten Aktivitäten zu erhalten, sowie Go-Alongs (Kusenbach 2008), um Alltagspraktiken in situ nachvollziehen zu können. Die Datenauswertung erfolgte mittels dokumentarischer Methode (Nohl 2017) zur Analyse von Erfahrungen und Orientierungen, dem „Was“ und „Wie“ des Gesagten, Gezeichneten oder Getanen. Ausgehend vom Material nehme ich für die folgende Kategorisierung von differierenden sozialräumlichen Deutungs- und Handlungsmustern von Familien eine analytische Dreiteilung vor6: - Zuerst gehe ich auf den Wahrnehmungsraum ein, den Raum, den Familien erleben. Dazu betrachte ich die mit der Wohnstandortentscheidung verbundene Beschreibung und Bewertung der Suburbia. - Hiernach fokussiere ich auf den Aktionsraum, den Raum in dem Familien leben. Es geht darum zu erfahren, wo sie wann, mit wem und wie oft, welche außerhäusigen Aktivitäten durchführen. - Schließlich zeichne ich anhand des Aneignungsraums den Raum nach, den Familien „(um-)leben“ (Muchow 2012), wie sie ihre Erziehungsvorstellungen umsetzen und welche Strategien sie dabei verfolgen.
Der Wahrnehmungsraum: familienfreundlich und familiär
muss hier keine Bedenken haben, dass [mein Sohn alleine] vor die Tür geht und über zehn rote Ampeln muss. Er kann die Oma besuchen ohne, dass er hier unter die Räder kommen könnte“ (Fr. Ritter). Der „Speckgürtel“ Suburbia soll ein „Sicherheitsgürtel“, Schutz- und Schonraum der kindlichen Entwicklung sein; das Elterndasein – unter Annahme sozialer und lebenszyklischer Homogenität – erleichtern. Durch das Aufeinandertreffen von Gleichgesinnten, so die Vermutung, soll das wechselseitige Erwarten-Können vereinfacht werden, die Ausübung und Aushandlungen des richtigen Maßes an sozialer Kontrolle, gegenseitiger Hilfe und Problemsicht. Das aufeinander Aufpassen ist bei Frau Klötsch elementar für ihr Wohlbefinden: „Mein wertvollstes, also meine Kinder, gebe ich den Nachbarn ohne Murren. […] Ich weiß es wird jederzeit aufgepasst. Meine Kinder könnte nicht irgendjemand einfach so mitnehmen.“ Zum Heim und dessen Gestaltung gehört selbstverständlich auch die Bereitstellung eines vertrauten Settings und Rückzugsraums für die Kinder. Ein Grund, laut Herrn Dedendorf, warum wir „hier erstmal wohnen bleiben, [nämlich] weil wir Kinder haben. Die haben alle ein einzelnes Zimmer.“ Neben der Wohnfläche zählt zur „suburbanen Grundausstattung“ auch das erweiterte Kinderzimmer in Form eines Gartens, „damit das Kind mehr Auslauf hat, mehr Grün oder bessere Luft“ (Fr. Richartz). Für das Draußenspiel muss das Grundstück nun gar nicht mehr verlassen werden und ermöglicht den Eltern die (un-)mittelbare Überwachung. Dabei schirmen hohe Zäune und Hecken den Nachwuchs nach außen vor potenziellen Gefahren ab; Spielsachen mit „Kindersicherung“ schützen das Kind vor sich selbst. Suburbia wird von Familien als Wohnideal für Familien empfunden, um ein angenehmeres und risikofreieres Leben mit Kindern führen zu können (Abb. 1). Inwiefern sich der Wahrnehmungsraum im Aktionsraum von Familien vor Ort widerspiegelt bzw. diesen prägt, zeige ich nachfolgend auf. Die exemplarischen Alltagsschilderungen der Mütter Ritter (Fall A), Klötsch (Fall B), Baal (Fall C) und Jüngst (Fall D) sollen veranschaulichen, wie Suburbia in unterschiedlichen Familienkonstellationen genutzt wird, welche Alltagsarrangements gebildet, wo und wie diese erfüllt werden können.
„So wie es jetzt ist, ist es für unsere Familie perfekt.“ (Fr. Jablonski) Der suburbane Raum wird von den befragten Eltern bereits vor dem Zuzug als der ideale Wohnstandort für Familien wahrgenommen. Denn: „Altwarmbüchen hat alles, was Familien, finden wir, benötigen. Wir haben alle Schulformen, wir haben Kindergärten, wir haben viele Sportvereine und so etwas.“ (Fr. Jüngst). Es ist die „Infrastruktur für Kinder“, die von den Eltern hervorgehoben und als zentraler Pull-Faktor für den Umzug ins Umland genannt wird. Die Wichtigkeit der familienfreundlichen Daseinsvorsorgeeinrichtungen wird sogar von den Untersuchungsteilnehmern betont, die keine bzw. keine kleinen Kinder mehr haben: „Wir haben immer sofort geguckt, Schule, Kindergarten, wie erreichbar. Gerade bei berufstätigen Frauen, sonst ist man da Chauffeur.“ (Ehepaar Ribbek). In Hinblick auf die elterliche Ressourcenschonung sind außerdem Lagerelationen und Entfernungen zu beachten. „Hier ist alles sehr gut eingebunden, eben auch für die Kinder. Alles in der Nähe“ (Fr. Jablonski). Alles da, alles nah zu haben, entlastet Eltern nicht nur zeitlich-personell, sondern auch emotional-kognitiv. „Ich
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Der Aktionsraum: überschaubar und bequem „Mein Leben bewegt sich momentan wirklich in so kleinen Bahnen. Was aber normal ist, wenn man Familie hat.“ (Fr. Jablonski) Lokaler Aktionsraum einer Alleinerziehenden – bewusst begrenzt und fokussiert auf Wohnung, Arbeit sowie Einkaufs- und Freizeitmöglichkeiten vor Ort Frau Ritter ist Mitte 40, alleinerziehend und wohnt mit ihrem jüngeren schulpflichtigen Sohn in einer gemieteten Dreizimmerwohnung. Ihr Alltag: „Meistens gehe ich um 8:00 Uhr [los] […] und bin dann schon ca. 20 Minuten später im Gewerbegebiet, wo ich beruflich tätig bin. Ich mache dann da meine Arbeit und komme so gegen 16:00 Uhr zurück. Mein Sohn ist schon ein bisschen eher [da]. […] Dann gehen wir hier oft einkaufen oder schauen, was der Tag noch bringt.“ Frau Ritter hat kein Auto und bewegt sich zu Fuß, manchmal auch mit dem Bus durch den Ort, den sie so gut wie nie verlässt. Dadurch, dass sie im Ort arbeitet (rd. 2 km entfernt) und dort ihre täglichen
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Abbildung 1: Übersicht über die „kinderbezogene Infrastruktur“ in den beiden Untersuchungsraumen: Altwarmbüchen (l.) und Hemmingen-Westerfeld (r.).
Einkäufe erledigt (rd. 1 km entfernt), ist ihr Bewegungsradius ausschließlich und bewusst lokal ausgerichtet. Selbst ihre Freizeitaktivitäten (Besuch ihrer Mutter und des Kleingartens) liegen in fußläufiger Entfernung wie auch die ihres Sohnes. „Er geht z. B. zweimal die Woche, naja so ist die Theorie, die Praxis sieht oft anders aus, hier in seinen Schachverein.“ Am Wochenende besuchen beide manchmal die Kirche (ohne Mitglied zu sein), gehen zu den im Ort stattfindenden Flohmärkten und Festivitäten oder schauen, was sich so ergibt. Regionalisierter Aktionsraum einer Kleinfamilie – getaktet durch Schichtdienste, Freizeitaktivitäten und Pkw-Fahrzeiten Frau Klötsch ist Anfang 40, verheiratet und lebt mit ihren zwei Kindern im Kita- und Grundschulalter in einem Einfamilienhaus. Sie und ihr Mann arbeiten im Schichtdienst in der Stadt bzw. der Region Hannover und pendeln die 10 km dorthin jeweils mit dem Auto. Einen individuellen Alltag gibt es für Frau Klötsch, seit sie Kinder hat, nicht mehr. „Dass man fixe Zeiten hat, das ist schon klar: Wann muss ich wo [sein] aber es dreht sich ja alles, der ganze Alltag, um die Kinder. Weil, die sind immer da und alles andere ist ringsum, also das ist quasi das Gerüst.“ Ein typischer Nachmittag beginnt für sie mit dem rechtzeitigen Verlassen ihrer Arbeitsstelle, damit sie ihre Kinder pünktlich abholen kann. Dabei sind Notfalleinsätze, Stau oder Schulausfall einzukalkulieren, weshalb sie drei abrufbereite Babysitter hat. Mit der Einschulung ihres Sohnes haben sich eingespielte Alltagsarrangements verändert, müssen neu etabliert werden. Einkäufe werden reduziert auf einen großen Wocheneinkauf, damit unter der Woche ausreichend Zeit ist, um die Kinder zu ihren zahlreichen Hobbies und sportlichen Aktivitäten – im Ort und in der Region – zu fahren. „Beispiel: Mein Mann hat Spätschicht, also heute hat er Frühschicht, aber wenn er Spätschicht hat, muss ich um 16:45 Uhr bei [meiner Tochter] in [einer Stadt der Region Hannover] sein, um 17:15 Uhr wieder in der Sporthalle [hier im Ort], um da meinen Sohn abzuliefern. Dann fahre ich wieder zurück, hole meine Tochter ab. Dann fahre ich nach
Hause, mache ein bisschen Abendessen, weil ich meinen Sohn um 18:30 Uhr abhole und dann essen wir Abend und dann gehen die ins Bett. Das ist normalerweise immer ein Mittwoch. Wenn mein Mann zuhause ist, teilen wir uns das.“ Auch die Wochenenden sind in der Familie durchorganisiert. Egal ob Feste, Arbeit oder Besuche: „Rings um diese Termine legen wir das Wochenende.“ Der Aktionsraum der Familie erstreckt sich auf den Wohnort und andere, gezielt aufgesuchte Punkte im Pkw-Fahrtkreis von 30-Minuten, weshalb ein Auto für sie unabdingbar ist, „wenn man es vernünftig machen will“. Die Tagesabläufe aller Familienmitglieder sind eng aufeinander abgestimmt und so gibt es wenig Spielraum für kurzfristige und ungeplante Änderungen. Nachbarschaftlich-grenzregionaler Aktionsraum von Mutter, Tochter und Sohn – gemeinsame und getrennte Fahrten für die (un-)geplante Freizeit Frau Baal ist Anfang vierzig, verheiratet und lebt mit ihren zwei (Schul-)Kindern in einem Einfamilienhaus. Sie arbeitet halbtags im Ort, ihr Mann in Schichten in der Stadt. Alltag heißt: „Ich stehe um 6:30 Uhr auf […]. Dann macht man sich fertig, man bereitet das Frühstück, und, und, und. Dann wecke ich die Kinder, dann fahren wir los. Meinen Sohn in die Grundschule, wir stoppen einmal, verabschieden uns, wir fahren weiter. Dann bleiben wir stehen, ich parke, weil meine Tochter geht rechts zur Schule meine [Arbeit] liegt links davon. […] [Mein Sohn] ist der Erste, der fertig ist, viertel vor eins, ich um eins, [meine Tochter] um viertel nach eins. Wir warten alle aufeinander, fahren gemeinsam zurück, kommen nach Hause. Ich gehe kochen, die Kinder hören Musik oder gucken irgendetwas. Weil […] die erstmal so ein bisschen runterkommen sollen nach der Schule. Dann gibt es Mittagessen, es gibt Hausaufgaben und dann gibt es Freizeit, Sport, Besuche und mal gar nichts […]. Abends essen wir Abendbrot, gucken fernsehen und gehen schlafen.“ Die Familie muss den Ort nicht verlassen, tut dies nur manchmal am Wochenende für Besuche bei den Großeltern, für auswärtige Fußballturniere des Sohnes oder um ins Schwimmbad zu gehen. Eine Lieblingsbeschäftigung der Eheleute Baal ist der Besuch in
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den umliegenden Möbelhäusern – nicht nur zum Zeitvertreib, sondern auch um ihre Kinder im „Spieleparadies“ abzugeben. Einkäufe, Kirchen- und Flohmarktbesuche werden im Ort getätigt, sodass der Aktionsraum von Frau Baal und ihren Kindern wochentags auf den Wohnort, am Wochenende auf einen 5 km-Bewegungsradius beschränkt ist. Neben fest terminierten sportlichen und musischen Aktivitäten der Kinder, bleibt Zeit für spontane Tätigkeiten wie das Spiel mit den Nachbarskindern auf der Straße, das Heimgehen mit dem besten Freund nach der Schule oder Zerstreuung im Kinderzimmer. Kindlich-kleiner Aktionsraum einer Mutter mit ihren Töchtern – spielerische und phantasiereiche Nutzung des örtlichen Aktionsangebots Frau Jüngst ist Mitte 30, wohnt im Reihenmittelhaus, hat zwei Kinder im Kita-Alter und ein Neugeborenes. Aktuell ist sie in Elternzeit, nimmt hiernach ihre Teilzeitarbeit wieder auf, in der Stadt wie ihr Mann. Das Paar pendelt mit dem Rad oder der Straßenbahn. Das Auto wird nur für Großeinkäufe und Besuche von Freunden auf dem Land genutzt. „Der normale Alltag ist: Ich bringe die beiden Großen zum Kindergarten, dann komme ich nach Hause und frühstücke in der Regel mit der Kleinen noch einmal in Ruhe, wenn das klappt. Dann hängt es davon ab, ob sie schlafen muss oder nicht. Dann mache ich hier morgens ein bisschen Tabula rasa, [habe Zeit um] aufzuräumen oder einkaufen zu gehen. […] Dann hole ich die Kinder vom Kindergarten, also nach dem Mittagessen irgendwann. Und dann, je nach Wetterlage, spielen wir draußen oder wir verabreden uns vielleicht mal oder unternehmen etwas. Das ist so mein Alltag. Und am Wochenende probieren wir natürlich mit [meinem Mann], als Familie etwas zu machen. Ich fahre auch gerne mal mit den Kindern in den Zoo […] oder wir machen gerne Radtouren oder so kleine Sachen, was man erreichen kann. Jetzt fangen wir [als Paar] gerade an, dass wir abends wieder unterwegs sind.“ Frau Jüngst profitiert von der Nähe zu ihren Eltern, die neben der Kita (1,5 km entfernt) wohnen und auch mal die Betreuung der Kinder übernehmen
Abbildung 2: Täglicher Aktionsraum (abstrahiert) der vier exemplarisch vorgestellten Fälle.
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können. Sie verlässt sehr selten – zumindest unter der Woche – den Ort und gestaltet ihren Aktionsraum als Aktionsweg mit vielen Spielepunkten zusammen mit ihren Kindern. Der Verzicht auf das Auto ist für sie selbstverständlich, weil fußläufig und mit dem Rad alles gut zu erreichen ist. Mit ihren Kindern nutzt sie „Hilfsmittel“ (Roller, Radanhänger u. Ä.), um Freizeitfahrten in die Feldmark am Siedlungsrand zu unternehmen. Aus der Perspektive der Eltern halten die Untersuchungsräume, fußläufig bzw. in geringer Entfernung, ausreichend familienfreundliche Gelegenheitsstrukturen vor, die ein Verlassen des Ortes für das Tägliche nicht notwendig machen, ihre zeitlichen Ressourcen (via Wege-/Aktivitätenkopplung) schonen. Die Möglichkeiten, über (Sport-)Vereine, eigene „Freizeitprogramme“ und Verabredungen mit anderen Kindern, Aktionsräume auf das Lokale zu reduzieren, werden nicht negativ, sondern als Erleichterung betrachtet und entsprechend genutzt. So findet die positive Wahrnehmung des Standortes Suburbia als kinder- und familientauglich im Alltag ihre Bestätigung. Wie „familiale Aktionsräume“ im Suburbanen (Abb. 2) mit Leben gefüllt werden, illustriere ich im Folgenden beispielhaft entlang der Aneignungsräume der vorgenannten Mütter.
Der Aneignungsraum: isoliert bis integriert „Weil wir unseren Kindern hier wirklich dieses ruhige Leben auch gönnen und feststellen, dass ihnen das so guttut, dass sie hier so ihre gewohnten Wege haben, ihre Freunde haben und so.“ (Fr. Jablonski) Zuhause: Isoliert und ohne Programm Frau Ritter beschreibt ihren Sohn als „ein bisschen faul was Sport betrifft“, weil er die vielfältigen Möglichkeiten im Ort nicht von sich aus nutzt, um seine Freizeit zu gestalten. Sie selbst agiert allerdings genauso. Beide verbringen die meiste Zeit zuhause, zurückgezogen, für bzw. unter sich. Ihr Privatsein geht mit einer Passivität einher, die sich in einer KonsumentenHaltung widerspiegelt: „Hier war mal so ein Kleinkindertreff […], [mit] Spielzeug und Müttern, wo man sich selbst überlassen war.“ Solche Angebote nimmt sie zwar gerne an, aber nicht, wenn sie selbst eine Gegenleistung dafür erbringen muss. Feste im Ort werden aufgesucht, weil sie nichts kosten, man nach Belieben kommen und gehen kann und temporär Teil der Ortsgemeinschaft ist. Normalerweise sieht Frau Ritter keine Notwendigkeit darin, für sich und ihren Sohn Beziehungen zu anderen Personen im Ort aufzubauen. Sie lässt ihn (nichts) machen, fördert und fordert nichts. Beide wirken desinteressiert – aneinander, an Anderen, an aktiver Teilhabe. Einziger außerhäusiger Kontakt ihres Sohnes sind die Verwandten im Zentrum, die er regelmäßig besucht. „Das ist die Hauptsache, warum [mein Sohn] zum Schach geht. Weil normalerweise geht er sowohl davor als auch danach zur Oma und macht PlayStation und ich weiß nicht was. Sein Bruder hat so einen richtigen GamerPC, das ist natürlich besser als vor seinem Laptop zu spielen.“ So führt ihr Sohn das Leben seiner Mutter (weiter) – sozial und räumlich desintegriert, ohne gelernt zu haben, Bindungen aufzubauen und zu pflegen.
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Überall und nirgends: Aktive Verinselung mit zweckgerichteter Integration Frau Klötschts Leben dreht sich um ihre Kinder, denen sie alles ermöglichen möchte. Sie spricht sich gegen eine ganztägige institutionelle Einschließung im Hort aus, denn: „Ich setze Kinder in die Welt, weil ich Zuhause sein möchte, weil ich die Kinder erleben möchte und nicht, weil ich die nach einem Jahr wieder abgeben möchte.“ Der gemeinsame Familienalltag findet v. a. unterwegs statt – im Auto, von einer Aktivität zur nächsten. „Also ich fahre schon den ganzen Tag nur in der Gegend rum, um die Kinder unterzubringen, weil die so viele Freizeitaktivitäten hier haben. Das finde ich total klasse, was hier angeboten wird für die Kinder […] und auch hier rings rum [in der Region]. Das sind Sachen, die habe ich nie erlebt.“ Diese Bringdienste empfindet Frau Klötsch nicht als Last, sondern als Selbstverständlichkeit. Sie möchte ihre Kinder bei deren Entfaltung und Weiterentwicklung unterstützten. „[Als Eltern] haben [wir] uns vorgenommen, wir zeigen den Kindern alles. Die müssen selber entscheiden. Sie wissen aber auch, sie können nicht heute hier sein und morgen da […]. Aber die sollen schon alles versuchen können, was sie wollen.“ Um dies zu erreichen, nimmt sich Frau Klötsch Zeit, wobei feste Zeitstrukturen und Nutzungsvorgaben der externen Tätigkeitsgelegenheiten effizient eingeplant, in zahlreichen WhatsApp-Gruppen mit anderen Eltern abgesprochen werden müssen. Der Kontakt der Kinder an diesen für sie eingerichteten und auf sie ausgerichteten Orten ist begrenzt, beschränkt auf den jeweiligen „Sachzweck“. Die intentionalen Begegnungen verbleiben oft oberflächlich, die Kinder partiell integriert. Der Familienalltag von den Klötschs ist durchgetaktet und dafür „brauche [ich] feste Strukturen. Bei mir ist jeder Zeitplan oder jedes Machen wirklich Timing, sonst kriege ich das nicht hin.“ Je mehr Aktivitäten die Kinder haben, desto mehr Einpassungen sind vorzunehmen und zu einem Gesamtarrangement zu verbinden. Dabei stellen die Fahrdienste nicht nur für Frau Klötsch eine Auszeit dar, sondern auch für ihre Kinder, die temporär unbeobachtet von ihrer Mutter sind und dennoch professionell beaufsichtigt werden. „[Mein Sohn] muss auch mal alleine machen und selbstständig werden und da hilft es, wenn ich nicht die ganze Zeit daneben sitze. Ich verstehe das auch gar nicht bei den anderen Eltern, als ob die nichts zu tun hätten. Von daher ist das mit dem Ablauf so ganz gut. Dann weiß er, dass ich weg bin und am Ende des Trainings wieder da und dazwischen hat er seine Freiheit.“ Die Ausübung vieler Tätigkeiten im Wohnort ermöglicht nicht nur tiefergehende soziale Kontakte, sondern macht diese auch wahrscheinlich. Denn (gleichaltrige) Kinder bzw. ihre Eltern treffen sich in unterschiedlichen Kontexten immer wieder. So kann aus einer partiellen Integration eine ganzheitliche werden, Freundschaft entstehen. Frau Klötschs Kinder „erfahren“ ihre Lebenswelt im Pkw und an Spezialorten, aktiv von ihrer Mutter organisiert und von Fachleuten umgesetzt, aber selbst gewählt. Dadurch erleben sie gleichzeitig (Un-)Abhängigkeiten im Sozialen und im Raumgebrauch. Vor der Haustür: Nachbarschaftliche Integration unter Aufsicht Frau Baals Kinder haben zwar feste Programmpunkte in ihrem Alltag aber genauso Zeit für spontanes Kinderspiel, Raum für Rückzug und Regeneration. Flexibilität und Freiheit in der
Freizeitgestaltung sind Frau Baal und ihren Kindern wichtig, um Entscheidungen nach Lust und Laune treffen zu können. Da in ihrem Neubaugebiet viele Kinder wohnen, „kennt man sich auch von der Straße“, die ruhig und abgeschieden inmitten des Wohnquartiers liegt. „Da haben sich so ein paar Kinder gefunden, Größere wie Kleinere, und jeder hat so eine Nerf, so eine Plastikpistole. Dann treffen die sich manchmal oder holen sich gegenseitig ab und schießen so ein bisschen in der Gegend rum.“ Die Nachbarschaft bildet für sie eine sozialräumliche Einheit, in die sich Erwachsene wie Kinder integrieren können, die Straße das „erweiterte Wohn- bzw. Kinderzimmer“, in dem man sich immer wieder trifft. Ausgehend von diesem Erfahrungspool werden gemeinsame Rituale (Straßenfeste) und Normen (Spielregeln, Rückgabe von Spielsachen) entwickelt. Das umeinander Kümmern läuft problemlos und wechselseitig, also „total cool“, weshalb Nachbarschaft für Frau Baal „sehr angenehm und unkompliziert ist. […] Wenn man manchmal hört, dass sich Familien streiten wegen Nachbarn, weil irgendetwas vorgefallen ist oder wegen der Kinder …, wenn es da Probleme gibt, sind wir natürlich immer da und klären das.“ So wirft jede Familie einen Blick auf die Kinder bzw. die Straße, damit nichts passiert, Spiele bzw. Streitigkeiten nicht eskalieren. Kinder stellen für Frau Baal eine Verbindung zwischen den Nachbarn her; sind „Begegnungspunkte“ also Integrationsfaktoren für Eltern. Als normal empfindet sie deshalb, dass sich nicht nur die Kinder, sondern auch die Eltern Zuhause besuchen. „Eine Mutter bringt ihr Kind hierher und verweilt dann ein bisschen oder genau anders herum.“ In diesem Zusammenhang scheinen Eltern eine dritte Kategorie, neben Freunden und Bekannten, zu sein, die automatisch Zugang zur Privatsphäre anderer Familien haben, ohne dass man sich kennen oder mögen müsste. Die reduzierte sozialräumliche Distanz in einem relativ homogenen Wohnumfeld bei steigender Wohndauer erleichtert die Vertrauensbildung und das Einbinden der Nachbarn in die eigenen Alltagsarrangements. Frau Baal und ihre Kinder konzentrieren sich primär auf ihre Integration im Sozialraum Nachbarschaft, der ihnen Komfort und Komplexitätsreduktion zuteilwerden lässt, wobei sie Kontakte über Schule und Hobbies im ganzen Ort verteilt haben (Abb. 3). Das Wohnumfeld als Spielplatz: Zusammen(hängend) erfahrbare „Inseln“ Frau Jüngst kann sich aktiv mit ihren Kindern beschäftigen, die gemeinsame Zeit gestalten. Da ihr kleiner Garten wenig Raum für großes Spiel lässt, geht sie mit den Kindern meist raus. Den Ort und ihre Wege unterteilt sie dafür in Spielorte, entlang derer sie sich fortbewegen. „Es gibt zigtausend kleine Spielplätze, wo wir [jeden Tag] sind. […] Hier ist ein Spielplatz, da ein Spielplatz und da. So machen wir immer Spielplatz-Hopping nach Hause.“ Aus einer 15-minütigen Strecke wird so ein einstündiges Abenteuer. Frau Jüngst beaufsichtigt ihre Kinder im Spiel mit Anderen aus der Ferne, schaukelt oder rutscht währenddessen selbst, um sich die Zeit zu vertreiben. Angst hat sie nicht, denn ihre Kinder wissen um potenzielle Gefahrenstellen auf ihren Wegen durch den Ort, kennen die Verhaltensregeln. Innerhalb der Grünflächen des autofreien Wohnparks dürfen ihre Töchter bspw. überall hinlaufen, ohne vorher um Erlaubnis zu fragen. Sie müssen die Gegend nicht mehr erkunden, sondern orientieren sich dort in gewohnter Weise. Auch kleinere
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Abbildung 3: Auszug des Go-Alongs mit Frau Baal durch die Nachbarschaft (Kartengrundlage: OpenStreetMap-Deutschland OSM. Lizenz: Open Database License (ODbl) 2017, genordet, ohne Maßstab. Bearbeitung: A. Göb) (M.), fotografische Eindrücke aus dem Straßen- und Gartenraum Suburbias (A. Göb).
Abbildung 4: Auszug des Go-Alongs mit Frau Jüngst und ihren Kindern durch den Wohnpark (Kartengrundlage: OpenStreetMapDeutschland OSM. Lizenz: Open Database License (ODbl) 2017, genordet, ohne Maßstab. Bearbeitung: A. Göb) (l.), Warnschild (r.).
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Unfälle bleiben für Frau Jüngst unproblematisch, gehören vielmehr zum Aufwachsen dazu. Kinder sollen ihre eigenen Erfahrungen sammeln, sodass „man sie möglichst früh loslassen kann“. Weniger Kontrolle mehr Selbstständigkeit ist ihre Devise, wobei sie immer in der Nähe ist, sollte doch mal etwas passieren. Verabredungen mit anderen Eltern initiiert sie kaum, weil man sich ohnehin im Ort begegnet. „Man trifft sich hauptsächlich am Kindergarten, weil man dann auch denselben Uhrzeitablauf hat. Danach meist auf den Spielplätzen, obwohl die Spielplätze gefühlt leer sind in Altwarmbüchen. Viele Kinder haben viele Hobbies und dann trifft man die vielleicht nochmal bei den Sportvereinen oder so etwas.“ Dafür sind ihre Kinder aber noch zu jung, genauso wie für das unbeaufsichtigte Kinderspiel auf der Straße. Trotz Ausweisung als Spielstraße, „[fahren] die Autos hier so schnell und leider auch so viele Autos. Ich wollte immer mal vorne auf der Seite ein Schild anbringen […], [weil] meine Kinder, die rennen ständig aus dem Haus […] und da kann keiner mehr bremsen.“ Naturerleben bietet Frau Jüngst ihren Kindern in Form von Radtouren oder Spaziergängen. Die spielerische Auseinandersetzung mit ihren Kindern ist ihr besonders wichtig, da sie auf dieselbe Weise in dem Ort groß geworden ist „und weil ich jetzt hier auch heimisch bin. […] Ich bin hier gerne viel unterwegs […] kenne mich aus […], weiß halt wo ich hinmuss.“ In der Kita erfahren die Kinder eine institutionalisierte Integration, nachmittags eine familiale. Weil man sich in so vielen Kontexten im Ort immer wieder begegnet, können sich mit der Zeit enge Beziehungen und Verabredungsgeflechte zwischen den Kindern bilden. Räumlich sind Frau Jüngst Kinder dadurch integriert, dass sie den Wohnort als einen gesamten Spielraum erleben, zusammenhängend aber thematisch unterteilt nach Spielepunkten (Abb. 4).
Resümee: Suburbia aus Familiensicht „Es gab ein Leben vor den Kindern, es gibt ein Leben mit den Kindern sozusagen... Das ist wirklich ein ganz großer Unterschied.“ (Fr. Jablonski) In diesem Beitrag sind familienbezogene Interaktionen in ihrer raumzeitlichen Situierung und Kontextualisierung herausgestellt worden zusammen mit Deutungsmustern, die hinter Alltagsarrangements im Suburbanen stehen. So werden wahrgenommene Beschränkungen wie Möglichkeiten für individuelles Handeln (vor Ort) sowie familientypische Anforderungen an den Wohnort transparent, die als Grundlage für politisch-planerische Maßnahmen herangezogen werden können. Gezeigt wurde, wie der Zugang zu und die Erreichbarkeit von Infrastruktureinrichtungen den Alltag von Familien, insbesondere der Kinder, beeinflussen und ortsbezogene Teilhabe gewährleisten können. Hinsichtlich der Reichweite der hier vorgestellten Sekundärauswertung ist einzuschränken, dass der Familienalltag aus der Perspektive der Eltern bzw. der Mütter und nicht der Kinder betrachtet wurde. Bezüglich des qualitativen Zugangs zur Forschungsthematik ist zu betonen, dass zwar strukturelle Zusammenhänge objektiver wie subjektiver Faktoren und Beziehungsgeflechte sozial-räumlicher
Handlungen – in einer noch zu vertiefenden Untersuchung und Typologisierung – aufgezeigt werden können, diese aber keinerlei Rückschlüsse über deren Auftretenshäufigkeit und Verteilung im Untersuchungsraum zulassen. Als Ausgangspunkt standardisierter Untersuchungen (mit entsprechender Stichprobenziehung) liefern die hier aufgeführten Fälle jedoch erste Hinweise auf Einstellungs- und Verhaltensmuster von Familien im Suburbanen. Der Wahrnehmungsraum Suburbia ist für die hier untersuchten Familien ein „angenehmer Raum“. Dass man hier alles (für Kinder) hat, was man täglich braucht, spiegelt sich im Aktionsraum der Familien wider. Dieser ist zumeist lokal begrenzt und wird durch Berufspendel- oder Kinderbringfahrten erweitert, die gewöhnlich in einem 10-km-Radius stattfinden. Die präsentierten Alltagsarrangements sind von verschiedenen Faktoren abhängig, die je nach Familienkonstellation unterschiedlich gewichtet werden. Neben den (nicht-)gegebenen eigenen Ressourcen und Fähigkeiten, welche sich in Form von zeitlichen, personellen, finanziellen sowie materiellen Restriktionen oder Chancen niederschlagen, sind es subjektive Ansprüche und objektive Anforderungen (der Kinder, Eltern und Institutionen), die es in den Tagesablauf zu integrieren gilt (Voß 1995; Scheiner 1998). Diese Eckpunkte stehen in einem Zusammenhang mit den (nicht-)gegebenen Gelegenheitsstrukturen vor Ort, beeinflussen sich wechselseitig und den Aneignungsraum. Der gelebte suburbane Raum spannt sich – vor dem Hintergrund der jeweiligen Handlungsspielräume – zwischen einer aktiven und passiven Gestaltung durch Kinder, Eltern oder Institutionen auf, ist kontrolliert oder selbstständig zu bewältigen, wird spontan oder strukturiert in raumzeitlich offenen oder geschlossen Räumen mit je eigenen Regeln umgesetzt. Im Kontinuum einer sozialen wie räumlichen (Des-) Integration und (Dis-)Kontinuität entwickeln die hier präsentierten Familien verschiedene raumzeitliche Bewältigungsstrategien für einen möglichst reibungslosen Alltagsablauf. Festzuhalten für suburbanen Räume dieses Typs, d. h. ähnlicher Größenordnung (Kleinstadt), Lage (Außenrand) sowie infrastrukturellen Ausstattung (Grundzentrum) ist: Aufgrund ihrer sozialräumlichen Überschaubarkeit erwecken diese Räume den Eindruck dafür geschaffen zu sein, Familien Sicherheit, Zugehörigkeit, Anerkennung und Selbstverwirklichung zu offerieren, ihnen das wechselseitige Erwarten-Können in einer Komfortzone bewusst begrenzter Aktionsräume zu erleichtern. Diese Rahmenbedingungen ermöglichen Kindern das Erleben von Raum, das Orientieren und Integrieren –besonders, wenn es im Ort, vor der Haustür gelernt werden kann. Solche überschaubaren Lebenswelten lassen sich vermutlich auch in urbanen Nachbarschaftsquartieren und dörflichen Ortschaften finden, die in dieser Studie gewonnenen Ergebnisse sich in Teilen übertragen. Suburbia scheint als „Intermediär“ zwischen Stadt und Land dennoch eine Sonderstellung einzunehmen was das Vorhandensein von Gelegenheitsstrukturen (was, wie viel) und deren Erreichbarkeit (wo, wie zugänglich) im „richtigen Maß“ für Familien anbelangt. Zumindest legen die hier vorgestellten Einblicke einen eigenen räumlichen Ausdruck sozialer Situierungen von Kindheit nahe.
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Bei den im Text angeführten Zitaten handelt es sich um Interviewpassagen von Untersuchungsteilnehmenden (pseudonymisiert), die im Rahmen der in Veröffentlichung befindlichen Dissertation der Autorin (s. Literatur) entstanden sind. Obwohl die Studie nicht auf Familien fokussiert war, ist diese Gruppe als ohnehin dominante Erscheinung im Suburbanen im Sample vertreten. Altwarmbüchen: 9.091 Einwohner; Hemmingen-Westerfeld: 6.935 Einwohner, Quelle: Einwohnermelderegister, Stand 30.06.2017. Regionales Raumordnungsprogramm 2016 der Landeshauptstadt Hannover. Laufende Stadtbeobachtung des BBSR, Raumabgrenzungen: Großstadtregionen Die Gliederung bzw. der Raumzugang folgt einer in den 1930erJahren durchgeführten Studie Muchows zum „Lebensraum des Großstadtkindes“. In dieser wurde untersucht, in welcher Wechselbeziehung Kinder und Stadt, unter der konzeptionellen Klammer des Lebensraums, stehen und sich beeinflussen.
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Scheiner, J. (1998): Aktionsraumforschung auf phänomenologischer und handlungstheoretischer Grundlage. In: Geographische Zeitschrift 86, 50–66. Voß, G. G. (1995): Entwicklung und Eckpunkten des theoretischen Konzepts. In: Projektgruppe „Alltägliche Lebensführung“ (Hrsg.): Alltäg liche Lebensführung Arrangements zwischen Traditionalität und Modernisierung. Wiesbaden, 23–42. Ward, C. (1978): Das Kind in der Stadt. Frankfurt am Main. Zeiher, H. (1991): Die vielen Räume der Kinder. Zum Wandel räumlicher Lebensbedingungen seit 1945. In: Preuss-Lausitz, U. (Hg.): Kriegskinder, Konsumkinder, Krisenkinder. Zur Sozialisationsgeschichte seit dem Zweiten Weltkrieg. Weinheim/Basel, 176–195. Zeiher, H. (1998): Organisation des Lebensraums bei Großstadtkindern Einheitlichkeit oder Verinselung? In: Bertels, L.; Herlyn, U. (Hg.): Lebenslauf und Raumerfahrung. Opladen, 35–58. Zinnecker, J. (2001): Stadtkids. Kinderleben zwischen Straße und Schule. Weinheim/München.
Stadtforschung
Aura Moldovan, Tim Leibert, Anna Dunkl
Stadt-Umland-Wanderungen von jungen Familien in Leipzig Analyse und Visualisierung mit der hin&weg-Anwendung Der Beitrag untersucht mittels kleinräumiger Wanderungsdaten der Stadt Leipzig für die Region Leipzig, wie sich Suburbanisierungstrends junger Familien im Zeitraum zwischen 2015 und 2020 entwickelt haben. Dabei werden insbesondere Auswirkungen der Corona-Pandemie und der Wohnungsmarktentwicklungen auf die Stadt-Umland-Wanderungen betrachtet. Führt die Corona-Pandemie zu „Stadtflucht“ und zu einer Neubewertung des Lebens „auf dem Land“, wie in den Medien dargestellt? Ist angesichts ungebremst steigender Mieten und Immobilienpreise in den Kernstädten eine verstärkte Abwanderung junger Familien in die Umlandgemeinden zu beobachten? Mit der hin&wegAnwendung werden die Bevölkerungsbewegungen analysiert und visualisiert, um aktuelle Muster der Familienwanderungen in der Region aufzudecken.
Dr. Aura Moldovan M. A. Soziologie. Seit 2018 Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Leibniz-Institut für Länderkunde in Leipzig, Abteilung Regionale Geographie Europas; Themenschwerpunkte: Raumsoziologie, Humangeographie, Polarisierungs- und Peripherisierungsprozesse, Migration und demografischer Wandel. : A_Moldovan@leibniz-ifl.de Dr. Tim Leibert Dipl.-Geograph. Seit 2006 Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Leibniz-Institut für Länderkunde in Leipzig, Abteilung Regionale Geographie Europas; Themenschwerpunkte: internationale und Binnenwanderungen, Regionalentwicklung, demografischer Wandel und Peripherisierung ländlicher Räume. : T_Leibert@leibniz-ifl.de Anna Dunkl M. Sc. Stadt- und Regionalplanung. Seit 2018 Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Leibniz-Institut für Länderkunde in Leipzig, Abteilung Regionale Geographie Europas; Themenschwerpunkte: nachhaltige Wohnraumversorgung, Stadt-UmlandBeziehungen, Wanderungsverflechtungen und demografischer Wandel. : A_Dunkl@leibniz-ifl.de Schlüsselwörter Stadt-Umland-Wanderungen – Wanderungsverflechtungen – Mobilitätsmuster junger Familien – Leipzig
Einleitung und Forschungsbedarf Führt die Corona-Pandemie zu „Stadtflucht“ und zu einer Neubewertung des Lebens „auf dem Land“? Ist angesichts ungebremst steigender Mieten und Immobilienpreise in den Kernstädten eine verstärkte Abwanderung junger Familien in die Umlandgemeinden zu beobachten? Diese und weitere Fragen beschäftigen Stadtforscher:innen, Planer:innen und die Kommunalpolitik nicht nur in der Region Leipzig, wo auch die örtliche Presse der Abwanderung von Familien ins Umland einen breiten Raum widmet. Aktuelle Umfragen deuten jedoch darauf hin, dass dieser Trend weniger ausgeprägt ist, als es die Medien darstellen. Dolls und Mehles (2021) zufolge plant jede:r achte Bewohner:in einer Stadt mit mehr als 500.000 Einwohner:innen, binnen Jahresfrist umzuziehen – vorrangig in kleinere Großstädte (38 %) oder Gemeinden im „Speckgürtel“ (30 %). Der Einfluss der Pandemie auf die Bereitschaft, die eigene Wohnsituation grundlegend zu ändern, scheint dabei für die Mehrheit der Großstädter:innen nicht ausschlaggebend zu sein, da nur 34 % dieser ihre Umzugsbereitschaft auf die Pandemie zurückführten (Dolls u. Mehles 2021: 30). In unserem Beitrag stellen wir anhand von kleinräumigen Wanderungsdaten der Stadt Leipzig aktuelle Trends der Familienwanderungen in der Region Leipzig dar. Wir untersuchen, wohin die aus Leipzig fortziehenden Familien umziehen, inwieweit sich die Wanderungsdynamiken durch einen angespannten Wohnungsmarkt im Oberzentrum und einem Mietpreisgefälle in der Region erklären lassen bzw. ob sie sich im ersten Jahr der Corona-Pandemie verstärkt haben. Analyse und Visualisierung der Wanderungsdaten erfolgen mit der am Leibniz-Institut für Länderkunde (IfL) entwickelten hin&weg-Anwendung. Die Arbeit mit Quelle-Ziel-Verflechtungen wie der StadtUmland-Wanderung von jungen Familien stellt kommunale Verwaltungen vor große Herausforderungen, da es oft an Ressourcen, Kapazitäten und Erfahrungen fehlt, um die Masse der statistischen Daten zu analysieren und in nachhaltiges politisches und planerisches Handeln einzubeziehen. Hier bietet das am IfL entwickelte Analyse- und Visualisierungstool hin&weg eine wesentliche Hilfe für Städtestatistiker:innen, Stadtplaner:innen und Stadtforscher:innen. Mit hin&weg lassen sich Bevölkerungsbewegungen für verschiedene Raumebenen und über Zeitreihen schnell und präzise analysieren und visualisieren. Die Software wurde durch die Leibniz-Gemeinschaft finanziert und partizipativ mit 18 kommunalen Verwaltungen entwickelt.
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Stadtforschung
Daten und Analyse mit der hin&weg-Anwendung Eine besondere Herausforderung für die quantitative Suburbanisierungsforschung ist die Frage, welche Bevölkerungsgruppen hinsichtlich ihres Wanderungsverhaltens untersucht werden sollen. Das BBSR definiert z. B. Umziehende unter 18 und zwischen 30 und 50 als „Familienwanderer“ – für eine differenzierte Analyse sind diese Altersgruppen jedoch zu breit. Auch der plakative Begriff „Familienwanderer“ ist problematisch, suggeriert er doch, dass familienbezogene Motive in dieser Altersgruppe die dominante Ursache für Wohnstandortwechsel seien. Die Lebenslaufforschung hat gezeigt, dass die Erwerbs-, Familien- und Wohnbiographien der Familienmitglieder eng verflochten sind (vgl. Dunkl et al. 2022). Außerdem wohnt diesem Ansatz implizit eine normative Vorstellung davon inne, wie (und wo) Menschen verschiedener Altersgruppen leben sollten, was der Diversität von Lebenswirklichkeiten, Familienformen und Wohnwünschen keineswegs gerecht wird. Aus dem Alter der Wandernden auf die Motive zu schließen greift also im Prinzip zu kurz – angesichts fehlender Daten ist dieses Vorgehen leider „alternativlos“ und sollte daher mit Vorsicht interpretiert werden. Eine gewisse Annäherung wäre, statt des individuellen Wanderungsverhaltens die Umzüge von Haushalten mit (Klein-)Kindern zu betrachten. Allerdings ist denkbar, dass vorher getrennt lebende Paare im Vorgriff einer
Familiengründung in einer neuen Wohnung zusammenziehen. Dieser in der Realität vermutlich quantitativ nicht unbedeutende Typ familienbezogener Wanderungen lässt sich statistisch kaum abbilden. Wir haben daher entschieden, uns der Fragestellung datenseitig so zu nähern, dass Wanderungen von Familien zwischen Leipzig und den Umlandkommunen aus zwei Blickwinkeln untersucht werden. Einerseits als Umzüge von Familien mit Kindern im Vorschulalter (Indikator Wanderungsströme von Kindern unter 7 Jahren), andererseits als Umzüge potentieller Mütter (Indikator Wanderungsströme von Frauen zwischen 25 und unter 40 Jahren), um auch (potentiell) familienbezogene Umzüge im Vorfeld der Geburt von Kindern abbilden zu können. Die Daten decken Wanderungen zwischen der Stadt Leipzig, den Gemeinden der umliegenden Landkreise Leipzig, Nordsachsen und Saalekreis sowie der kreisfreien Stadt Halle (Saale) im Zeitraum 2015-2020 ab. Dabei machten Umzüge in diese Region 2019 etwa 29 % aller Wegzüge aus dem Oberzentrum Leipzig aus (Stadt Leipzig 2020: 56–57). Die Altersgruppe der Frauen wurde auf 25- bis unter 40-Jährige festgelegt, da diese zwischen den Jahren 2015 und 2019 in Leipzig die höchste altersspezifische Geburtenziffer aufweisen (Stadt Leipzig 2020: 50). Dies bedeutet wiederum, dass bei Frauen im Alter zwischen 25 und unter 40 die höchste Wahrscheinlichkeit besteht, Mutter zu werden. Kinder zwischen 0 und 7 Jahren wurden als Untersuchungsgruppe
Abbildung 1: Die vier Gebietskategorien
Quelle: Bergfeld et al. 2022: 29
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Stadtforschung
ausgewählt, da sie per Definition Teil von jungen Familien sind. Bei Kindern unter 7 Jahren ist im Vergleich zu älteren Kindern und Jugendlichen die Umzugsrate deutlich erhöht: interkommunale Umzüge finden vermehrt in den ersten Lebensjahren und vor der Einschulung statt (BiB 2021; Dunkl et al. 2022). Die Daten wurden mit der Beta-Version 1.8.3 der hin&wegAnwendung visualisiert und analysiert. Diese importiert Wanderungsmatrizen der beiden Bevölkerungsuntergruppen und stellt sie als Zeitreihen in verschiedenen Visualisierungstypen wie Karten oder Diagrammen dar. Wir haben von der Stadt Leipzig anonymisierte Datensätze erhalten, in denen 1er und 2er Werte ausgepunktet wurden. Da die Anwendung Dezimalwerte beim Import nicht erkennt, wurden die ausgepunkteten Werte nicht mit 1,5 sondern mit 1 ersetzt. Im Beitrag dargestellte Summenwerte können daher von der tatsächlichen Anzahl der umziehenden Personen abweichen. Eine weitere Auswirkung der relativ niedrigen absoluten Zahlen der Wandernden in den beiden analysierten Bevölkerungsgruppen ist, dass sich bei 82 Kommunen im Betrachtungsgebiet eine für Ortsunkundige schwer zu interpretierende Vielzahl von Wanderungsströmen ergibt. Daher verwenden wir im Folgenden auch drei regionale Gruppen, um die Frage zu beantworten, welche Gemeindetypen als Zuzugsort für die aus Leipzig abwandernden jungen Familien beliebt(er) sind. Diese funktionale Regionsabgrenzung wurde im Rahmen des vom BMBF geförderten Projekts Interko2 am IfL mit dem Ziel der Erarbeitung eines Wohnbauflächenkonzepts für die Region Leipzig/Halle anhand folgender Abgrenzungskriterien erarbeitet: Pendelintensität, Nahwanderungsgewinn, Bevölkerungsentwicklung und Arbeitsplatzdichte. Wir unterscheiden den mit Leipzig und Halle (Saale) funktional eng verwobenen Verflechtungsraum, den Ring der Mittelzentren mit eigenen zentralörtlichen Funktionen und mit vielfältigen Verflechtungen mit den Oberzentren, sowie das in weiten Teilen ländlich-periphere Weitere Umland, wo die funktionalen Verflechtungen mit den beiden Kernstädten schwächer ausgeprägt sind (Abb. 1).
Familienwanderungen in der Region Leipzig: Das Oberzentrum profitiert, das Umland auch Aktuelle Suburbanisierungstrends Deutschlandweit hat sich die absolute Bevölkerungszunahme im Umland von Großstadtregionen zwischen 2015 und 2017 weiter verstärkt (Adam 2020). In dieser Zeit erhöhte sich in einem Drittel der Großstadtregionen der Anteil der Bevölkerung im Umland im Verhältnis zur Stadt-Umland-Region gesamt – ein Indikator für Wohnsuburbanisierung (Adam 2020: 16). Jedoch sind in Gemeinden im Umfeld von Großstädten sowohl Schrumpfung als auch Wachstum zu verzeichnen. Insgesamt hat auch der Druck auf die Großstädte nicht abgenommen (Adam 2020: 16, 2019: 37). Immer mehr werden kleinteilige Raummuster präsent und die Stadt-Land-Unterschiede verwischen (Wolff et al. 2020); Sub- und Reurbanisierungsprozesse finden gleichzeitig statt (Adam 2019). So ist es auch in der Region Leipzig: Die Kernstadt wächst, aber auch das Umland. Von den 82 Gemeinden im Betrachtungsgebiet verzeichnete zwischen 2015 und 2020 rund ein
Drittel eine positive Bevölkerungsentwicklung (SÄBL 2021a). Dieses Wachstum wird durch Zuzüge getragen, denn bis auf Leipzig und wenige weitere Gemeinden war die natürliche Bevölkerungsentwicklung im Betrachtungsgebiet im betrachteten Zeitraum negativ (SÄBL 2020a, 2020b). Dies unterstreicht die besondere Bedeutung von Wanderungen für das Bevölkerungswachstum in Deutschland (vgl. Leibert 2019). Die höchste durchschnittliche jährliche Wachstumsrate liegt jedoch nicht, wie in den Jahren zuvor, in der Stadt Leipzig vor, sondern in Gemeinden im engeren Umland. Und auch außerhalb der eigentlichen Stadtregion gelegene Kommunen (Lagrange et al. 2021: 9) profitieren von Wanderungsgewinnen (SÄBL 2021a). Dieser verstärkte Zuzug in die Region ist ein seit der Suburbanisierungswelle in den 1990er Jahren (Kabisch et al. 2019) neues Phänomen. Die Wanderungssaldi der Landkreise Leipzig, Nordsachsen und des Saalekreises haben sich um das Jahr 2014 vom Negativen ins Positive gewandelt (SÄBL 2021b; vgl. auch Braunschweig et al. 2020: 101). Die Stadt Leipzig profitierte bis 2014 von Zuzügen aus den Landkreisen Leipzig und Nordsachsen (Stadt Leipzig, Amt für Statistik und Wahlen 2019: 5). Seit 2014 ist der jährliche Wanderungssaldo mit den umliegenden Landkreisen jedoch negativ – mit zunehmender Tendenz (Schultz 2020: 12; Stadt Leipzig, Amt für Statistik und Wahlen 2019: 5; Stadt Leipzig 2019: 23, 2020: 56–57). Insgesamt ist im Jahr 2020 der Wanderungssaldo der Stadt Leipzig mit knapp 4.600 weiterhin deutlich positiv. Die Wanderungsgewinne nehmen jedoch seit dem Ausnahmejahr 2015 stetig ab (SÄBL 2021b). Grund dafür ist einerseits eine sinkende Anzahl an Zuzügen und andererseits eine steigende Zahl an Wegzügen, insbesondere ins direkte Umland (SÄBL 2021b; StaLa SN 2020; Schultz 2020: 12). Bei der Betrachtung der altersselektiven Wanderungsmuster für die Stadt Leipzig im Jahr 2019 ist auffällig, dass der Wanderungssaldo der unter 18-Jährigen sowie der 30- bis 50-Jährigen negativ ausfällt, während die Stadt für alle anderen Altersgruppen positive Wanderungssaldi aufweist. Auch hier liegt der Grund in Wanderungsverflechtungen mit dem Umland. Während unter 18-Jährige bei allen Wegzügen aus Leipzig 14,8 % ausmachen und 30- bis 50-Jährige 35,9 %, sind die Anteile dieser beiden Altersgruppen beim Fortzug in das Umland (hier als Landkreis Leipzig und Nordsachsen definiert) knapp 7 bis 9 Prozentpunkte höher (Stadt Leipzig 2020: 59; Lagrange et al. 2021: 13–14). In der Detailbetrachtung zeigen sich heterogene Wanderungsbewegungen, die sich auf unterschiedliche Teilgruppen mit unterschiedlichen Wanderungsmustern zurückführen lassen (Dunkl et al. 2022). Der verstärkte Wegzug von Kindern aus der Stadt Leipzig in das Umland ist ein solches Muster, das hier näher beleuchtet werden soll. Da Minderjährige in der Regel mit ihren Erziehungsberechtigten umziehen, sind ihre Wanderungsmuster eng mit denen der potentiellen „jungen Elterngeneration“ (25- bis unter 40-Jährige) verwoben. Erwartungsgemäß lassen sich in dieser Altersgruppe ähnliche Stadt-Umland-Bewegungen erkennen. Die Altersgruppe der 25- bis unter 40-Jährigen ist auch daher interessant, da sie bei den Wegzügen aus der Stadt Leipzig in die angrenzenden sächsischen Landkreise mit 43,9 % den größten Anteil ausmacht (StaLa SN 2019).
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Abbildung 2: Wegzüge der Kinder, 0–6 Jahre aus Leipzig, 2015–2019, als Karte mit Pfeilverflechtungen
Quelle: Stadt Leipzig, Amt für Statistik und Wahlen 2021
Abbildung 3: Wegzüge der Frauen, 25–39 Jahre aus Leipzig, 2015–2019, als Karte mit Pfeilverflechtungen
Quelle: Stadt Leipzig, Amt für Statistik und Wahlen 2021
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Abbildung 4: Saldi für Leipzig mit den Gebietskategorien, 2020, als Sankey-Diagram
Quelle: Stadt Leipzig, Amt für Statistik und Wahlen 2021
Intraregionale Zielgebiete der Stadt-Umland-Wanderung von Familien Die Zielgebiete der Abwanderung von Familien mit jungen Kindern und potentiellen Müttern aus Leipzig sind in den Abbildungen 2 und 3 dargestellt. Zu einem gewissen Grad profitiert (fast) die gesamte Region vom Zuzug von Kindern im Vorschulalter aus Leipzig. Mit zunehmender Entfernung vom Oberzentrum sinkt jedoch die Zuzugswahrscheinlichkeit erheblich (vgl. auch Abb. 4 und 8). Die aus Leipzig fortziehenden Familien mit Vorschulkindern bleiben folglich tendenziell im näheren Umland, dem Verflechtungsraum. Insbesondere die direkt an das Oberzentrum angrenzenden Gemeinden sind beliebte Zielgebiete, ebenso wie Halle (Saale) und die Städte des Mittelzentralen Rings. Hier deutet sich an, dass Familienwanderung mehr ist als der Umzug ins Eigenheim mit Garten in einer kleineren Gemeinde. Die Mehrheit der in die Mittelzentren Zuziehenden1 wohnt am neuen Wohnstandort in einem Mehrfamilienhaus, während der Zuzug in eine kleinere Gemeinde tendenziell eher mit einem Umzug von einem Mehrfamilienhaus in ein freistehendes Einfamilienhaus einhergeht. Der Zuzug in die Mittelzentren ist zudem seltener mit dem Erwerb von selbstgenutztem Wohneigentum verbunden (Dunkl et al. 2022: 20–23). Diese Befragungsergebnisse stehen auch in einem gewissen Widerspruch zum „Bauchgefühl“ der Gemeindeverwaltungen, wonach junge Familien, die Wohneigentum in Form eines freistehenden Einfamilienhauses bilden wollen, die dominante Nachfragegruppe in der Region Leipzig sei (Dunkl et al. 2022). Die Wanderungsziele der potentiellen Mütter unterscheiden sich eher in Nuancen von diesen Mustern. Der größte Unterschied ist, dass Halle (Saale) als Zielgebiet für aus Leipzig fortziehende junge Frauen bedeutender ist als für Familien mit kleinen Kindern – wobei auch anzumerken ist, dass Leipzig bei Frauen dieser Altersgruppe einen positiven Wanderungssaldo mit Halle (Saale) aufweist. Diese Unterschiede unterstreichen das im vorherigen Abschnitt diskutierte Problem der Verknüpfung von Altersgruppen und Wanderungsmotiven – deuten
sie doch darauf hin, dass ein Teil der „potentiellen Mütter“ aus gänzlich anderen Motiven wandert. Abbildung 5 zeigt, dass dieses übergeordnete Muster in beiden untersuchten Bevölkerungsgruppen seit 2015 recht stabil ist. Über den gesamten Analysezeitraum sind die direkt an Leipzig angrenzenden Städte Markkleeberg, Markranstädt, Schkeuditz und Taucha die mit Abstand bedeutendsten Zielgebiete. Im direkten Vergleich zwischen 2019 und 2020 zeigen sich nur geringe Unterschiede, insbesondere bei den aus Leipzig fortziehenden Familien mit kleinen Kindern. Offensichtlich hat im Pandemiejahr die Bereitschaft abgenommen, in Leipzig-ferne ländliche Räume im äußersten Westen (Raum Querfurt) bzw. im äußersten Osten (Raum Torgau-Oschatz) des Betrachtungsgebiets zu ziehen.
Das Jahr der Corona-Pandemie 2020 Deutschlandweit stagnierte die Bevölkerungsentwicklung im ersten Corona-Jahr 2020. Mit Blick auf die Komponenten der Bevölkerungsentwicklung wird deutlich, dass sich bei der natürlichen Bevölkerungsentwicklung Trends fortgesetzt bzw. verstärkt haben, die Mitte der 2010er Jahre eingesetzt haben: eine Beschleunigung der natürlichen Schrumpfung durch sinkende Geburten- und steigende Sterbezahlen. Von den Metropolen (Berlin, Hamburg, München, Köln, Frankfurt am Main, Stuttgart, Düsseldorf ) abgesehen hat die Zahl der Sterbefälle pro 1.000 Einwohner:innen Höchststände erreicht. Abgesehen davon sind die Trends in den unterschiedlichen Siedlungstypen ähnlich – wenngleich mit unterschiedlichen Ausgangsniveaus und Intensitäten (Wolff et al. 2021). Im Wanderungsverhalten lassen sich dagegen im Jahr 2020 klare Trendbrüche feststellen, die grosso modo zum Nachteil der kreisfreien Städte verlaufen sind. Die Zuwanderung – vor allem die der nach Deutschland ziehenden Ausländer:innen (vgl. Lauerbach 2020) – ist 2020 regelrecht eingebrochen, während sich die Abwanderung nur moderat verringert hat, wodurch die Wanderungsrate im Durchschnitt der kreisfreien
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Abbildung 5: Höchste Wegzugsraten2 aus Leipzig pro Jahr, 2015–2020, als Balkendiagramm
Quelle: Stadt Leipzig, Amt für Statistik und Wahlen 2021; StaLa SN 2021; StaLa ST 2021
Abbildung 6: Zuzüge, Wegzüge und Saldi für Leipzig im Zeitraum 2015–2020, als Zeitreihe
Quelle: Stadt Leipzig, Amt für Statistik und Wahlen 2021
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Abbildung 7: Saldi für Leipzig im Zeitraum 2015–2020, als Indexwert
Quelle: Stadt Leipzig, Amt für Statistik und Wahlen 2021
Städte ins Minus gerutscht ist. Im Saldo hat sich das Städtewachstum im Vergleich zu den Vorjahren verlangsamt, wobei einige wenige Städte, inklusive Leipzig, auch 2020 noch vergleichsweise stark gewachsen sind (Wolff et al. 2021). Näher betrachtet hat Leipzig seinen Wachstumstrend also auch 2020 fortsetzen können, trotz eines geringen negativen natürlichen Saldos und eines leichten Rückgangs der positiven Wanderungsbilanz. In den Landkreisen sind die Zuzugszahlen 2020 ebenfalls stark eingebrochen, allerdings war der Rückgang bei den Fortzügen noch deutlicher. Tatsächlich ist sowohl die Zahl der Zu- als auch der Fortzüge pro 1.000 Einwohner:innen in den Landkreisen 2020 im Vergleich zu 2019 sogar noch stärker zurückgegangen als in den kreisfreien Städten. Da die Fortzugsrate stärker gesunken ist als die Zuzugsrate, hat sich die Wanderungsbilanz der Landkreise im Vergleich zu 2019 nur geringfügig verändert – allerdings gibt es große regionale Unterschiede (Wolff et al. 2021, 2022). Insgesamt setzen sich die Bevölkerungsverluste 2020 für ländliche Kreise in Ostdeutschland fort. Für die Landkreise der betrachteten Region ergeben sich jedoch unterschiedliche Trends. Der Landkreis Leipzig ist auch 2020 durch einen positiven Wanderungssaldo, der die Sterbeüberschüsse übersteigt, leicht gewachsen – allerdings schwächer als im Vorjahr. In den Landkreisen Nordsachsen und Saalekreis sowie in der Stadt Halle (Saale) setzt sich der Trend des Bevölkerungsverlusts fort, da der Sterbeüberschuss den Wanderungsgewinn übersteigt (Wolff et al. 2021). Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass sowohl die Bevölkerungsentwicklung als auch die Wanderungsdynamik in den deutschen Stadtregionen im Pandemiejahr 2020 entgegen der öffentlichen Wahrnehmung einer ausgeprägten „Stadtflucht“ alles andere als einheitlich war. Die Stadtregion Leipzig gehört – ebenso wie die Stadtregion Halle (Saale) – zu den 43 (von 107) Stadt-Umland-Regionen, in denen sowohl die Kernstadt als auch das Umland 2020 positive Wanderungssaldi
aufwiesen, wobei die Wanderungsgewinne in den Umlandkreisen höher waren als in der Kernstadt. Im Vergleich zu 2019 waren die Wanderungsgewinne sowohl in der Kernstadt als auch im Umland leicht rückläufig (Wolff et al. 2022). Die Abbildungen 6 und 7 zeigen, dass die Stadt Leipzig seit mehreren Jahren sowohl Familien mit Kindern als auch potentielle Mütter an ihr Umland verliert. Bei der Stadt-UmlandWanderung handelt es sich jedoch um einen längerfristigen Trend, der sich im ersten Jahr der Corona-Pandemie 2020 nach einem (vorläufigen?) Höhepunkt im Jahr 2019 sogar etwas abgeschwächt hat.
Mietpreise kein starker Erklärungsansatz Seit 2012 sind die Angebotsmieten in Leipzig um 42 % gestiegen, die geschätzte Leerstandsquote liegt unter 2 % (Bergfeld et al. 2022: 41–42). In Halle (Saale) und den Umlandkreisen sind die Angebotsmieten im gleichen Zeitraum ebenfalls stark gestiegen, aber nicht so deutlich wie in Leipzig (Bergfeld et al. 2022). Abbildung 8 zeigt, dass die größten Wanderungsströme in Gemeinden mit höheren Angebotsmieten fließen. Der Mieter:innenanteil in der Region Leipzig ist im bundesweiten Vergleich recht hoch. Die Ergebnisse des Zensus 2011 zeigen, dass fast zwei Drittel der Wohnungen zu Wohnzwecken vermietet waren. Lediglich 25 % wurden von den Eigentümer:innen bewohnt, der Anteil des selbstgenutzten Wohneigentums liegt damit deutlich unterhalb des Bundesdurchschnitts (SÄBL 2014; Bergfeld et al. 2021: 61). Eine Befragung von kürzlich Zugezogenen im Rahmen des Projektes Interko2 in sechs Gemeinden des Untersuchungsgebietes ergab, dass 54 % in einem Mietverhältnis leben möchten (Bergfeld et al. 2022: 34). Es zeigt sich also eine Diversifizierung der Wohnraumnachfrage und der Wohnbedürfnisse im Leipziger Umland – das freistehende, vom Eigentümer bewohnte
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Abbildung 8: Wegzüge aus Leipzig für 2020, als Karte mit Pfeilverflechtungen, mit Hintergrundkarte zu Angebotsmieten in den Gemeinden der Region in € je m2 und gewichtete Mittelwerte der Landkreise
Quelle: Stadt Leipzig, Amt für Statistik und Wahlen 2021; Bergfeld et al. 2022
Einfamilienhaus ist bei Weitem nicht so dominant wie häufig angenommen (Dunkl et al. 2022; Bergfeld et al. 2021). Die Ergebnisse einer in der Region Leipzig/Halle durchgeführten Bürger:innenbefragung deuten darauf hin, dass hohe Mieten – anders als familienbezogene, wohnumfeldbezogene, berufliche Gründe oder Wohneigentumsbildung – nur in wenigen Fällen das Hauptmotiv für einen Umzug waren, wohl aber ein bedeutsames weiteres Motiv (Dunkl et al. 2022: 18–19). Mit anderen Worten: die hohen (und steigenden) Mieten in der Kernstadt verstärken in der Regel bereits bestehende Umzugsabsichten, lösen diese aber eher selten direkt aus. Eine Auswertung der Leipziger Bürgerbefragung zu Umzugsabsichten zeigt zudem, dass insbesondere einkommensreiche Haushalte und die obere Mittelschicht einen Umzug ins Umland konkret planen. Dominant sind dabei familiäre und wohnungsbezogene Gründe, Wohneigentumsbildung sowie wohnviertelbezogene Motive. Finanzielle Motive sind – erwartungsgemäß – insbesondere für armutsgefährdete Haushalte und die untere Mittelschicht relevant – beide Gruppen fassen jedoch eher innerstädtische Umzüge ins Auge (Schultz 2021).
Fazit Die Analyse der Stadt-Umland-Wanderungen zeigt, dass – entgegen der landläufigen Meinung – die Corona-Pandemie zumindest im Jahr 2020 und in der Region Leipzig keine „Stadtflucht“ von Familien ins Umland ausgelöst hat. Vielmehr zeigt die kleinräumige Betrachtung von Wanderungsströmen in der Region Leipzig mit der hin&weg-Anwendung, dass sich bereits bestehende Muster verstetigt haben. Was sich jedoch deutlich zeigt ist, dass das Bevölkerungswachstum der deutschen Großstädte eng mit ihren Funktionen als Bildungszentren und Ankunftsorte internationaler Zuwanderer gekoppelt ist. Beide Funktionen wurden durch die Pandemie stark in Mitleidenschaft gezogen, was die Hauptursache für die reduzierten
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Wanderungsgewinne oder gar Wanderungsverluste im Vergleich zu 2019 ist. Wahrscheinlich hat die Pandemie aber als Katalysator gewirkt, dass sich viele Großstädter:innen der Nachteile ihrer Wohnsituation stärker bewusst geworden sind und/oder die Vor- und Nachteile des Stadtlebens anders gewichten als vor Corona, etwa mit Blick auf Lebensqualität des Wohnquartiers. Es ist daher wichtig, zu betrachten, wie sich die demographische Lage der Städte und die Stadt-Umland-Wanderungen 2021 entwickelt haben. Dabei sollte auch der „blinde Fleck“ adressiert werden, dass soziale Aspekte in der Diskussion um pandemiebedingte „Stadtflucht“ erstaunlich selten diskutiert werden. Insbesondere Geringverdiener:innen arbeiten, oft in Berufen, die es nicht zulassen, im Homeoffice zu arbeiten und haben daher eine geringere Wahlfreiheit, was ihren Wohnstandorts angeht – von den direkten und indirekten Folgekosten (z. B. Transportkosten) ganz zu schweigen. Unabhängig von der Pandemie legt die in den letzten Jahren gestiegene Stadt-Umland-Wanderung strukturelle Schwächen der Großstädte bei Wohnungsangebot, Wohnumfeld und Wohnkosten offen, die von der Stadtpolitik analysiert und adressiert werden müssen. Dabei ist es wichtig zu berücksichtigen, dass das „Eigenheim im Grünen“ nur ein Aspekt der Suburbanisierung ist, der allerdings – wie eigene Befragungen in der Region Leipzig/ Halle zeigen (Dunkl et al. 2022) – überproportionale Beachtung bei Entscheidungsträger:innen findet. „Familien wollen ohnehin im Eigenheim wohnen“ darf nicht zur Ausrede werden, die offenkundigen Baustellen zu mehr Familien- und Kinderfreundlichkeit (z. B. adäquater Wohnraum, mehr Freiraum für Kinder, Verkehrsberuhigung) nicht entschlossen anzugehen. Hinweis auf Projekt und Projektförderung Der vorliegende Beitrag beruht auf dem von der LeibnizGemeinschaft im Rahmen des Förderprogramms „LeibnizTransfer“ geförderten Projekt hin&weg (https://hin-und-weg. online/). Mit der digitalen Anwendung hin&weg lassen sich
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komplexe Bevölkerungsbewegungen über Zeitreihen mit Daten der amtlichen Statistik schnell und präzise analysieren, visualisieren und damit in planerische Entscheidungsprozesse integrieren. Im Einzelnen heißt dies, dass hin&weg über vielfältige Möglichkeiten verfügt, Bevölkerungsbewegungen auf verschiedenen Raumebenen zu analysieren und zu visualisieren.
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Diese Aussage bezieht sich auf alle Zuziehenden. Aus methodischen Gründen und aufgrund der Stichprobengröße ist ein Vergleich der Wohnsituation von Familien mit Kindern im Vorschulalter nicht möglich. Wanderungsrate hier berechnet als: Wegzüge der Kinder 0–6 Jahre von Leipzig in die Zuzugsgemeinde/Gesamtbevölkerung von Kindern 0–5 Jahre in Leipzig *1.000 bzw. Wegzüge von Frauen 25–39 Jahre von Leipzig in die Zuzugsgemeinde/Gesamtbevölkerung von Frauen 25–39 Jahre in Leipzig *1.000.
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Sören Werner
Wo zieht es die Familien hin? Haushaltsbewegungen und Wohnsegmente von Familien in Freiburg 2010–2020 Familien spielen im kommunalpolitischen Kontext eine hervorgehobene Rolle im Hinblick auf sowohl den Wohnungsbedarf als auch die Zukunftsgestaltung von städtischen Quartieren und deren Versorgungsstrukturen. Für eine tiefergehende Analyse der Wohnsituation und der Umzüge von Familien im Stadtgebiet und im unmittelbaren Umland wurden die neu geschaffenen Dimensionen „Haushaltsbewegungen“ und „Wohnsegmente“ ausgewertet. Der Beitrag stellt eine erste Analyse vor.
Sören M. Werner (M. A. Soziologie) Sachgebietsleiter Kommunalstatistik, Stadt Freiburg i. Brsg. : soeren.werner@stadt.freiburg.de Schlüsselwörter Haushaltsbewegungen – Wohnsegmente – Familien – Wohnen – Suburbanisierung
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In Freiburg war das 2010er Jahrzehnt hinsichtlich der Bevölkerungs- und Wohnungsstatistik geprägt von starken Zuwächsen und plötzlichen Einbrüchen, von bedeutenden Veränderungen in einigen Bereichen wie von Kontinuität und Freiburg-spezifischen Eigenheiten in anderen. Ein ständiger Begleiter war dabei die Diskussion um Wohnraum und den Wohnungsmarkt. Insbesondere der Zuwanderungsdruck durch zuziehende Studierende aus dem Bundesgebiet sowie Arbeitskräfte und Flüchtlinge aus dem Ausland auf der einen Seite und die fortlaufende Abwanderung von Familien ins Umland auf der anderen Seite erzeugten eine Wanderungsdynamik, mit deren Auswirkungen die Kommunalpolitik und die Stadtverwaltung stets konfrontiert war und immer noch ist. Ein grundlegendes Problem dabei war und ist die Tatsache, dass die übliche Bevölkerungs- und Wohnungsstatistik nie das gesamte Bild liefern konnte. Das wurde zum Anlass für die kommunale Statistikstelle, aus der Verschneidung von vorliegenden Daten zwei neue „Beobachtungsdimensionen“ zu erzeugen: die Darstellung von Haushaltsbewegungen und die Bildung von Wohnsegmenten. Hierzu findet sich eine detaillierte Beschreibung in diesem Heft in der Rubrik „Statistik & Informationsmanagement“. Zur Einordnung der Analyse soll zunächst ein kurzer Abriss der Entwicklung zwischen 2010 und 2020 erfolgen. Die Bevölkerung betrug zum 31.12.2010 205.430 und zum 31.12.2020 226.728 Einwohner*innen (mit Hauptwohnsitz).Insgesamt ist die Bevölkerungsentwicklung Freiburgs in den 2010er Jahren geprägt durch eine Zeit des starken Zuwachses (2010–2015) und eine Zeit des langsamen Wachstums (2016–2019) bis hin zum „Corona-Jahr“ 2020, in dem zum ersten Mal seit 1998 ein Bevölkerungsrückgang zu verzeichnen war. Ein größerer Rückgang als 2020 (362) wurde zuletzt 1987 (-964) beobachtet. Entwicklungsverläufe und Zeitvergleiche sind für Haushalte und Haushaltestrukturen immer etwas schwierig, da Verbesserungen im Haushaltegenerierungsverfahren zumeist größere Veränderungen in der Darstellung verursachen als tatsächlich stattfinden. Die Zahl der Haushalte stieg zwischen 2010 und 2020 von insgesamt 115.600 auf 127.918 (+10,7 %) an. Unter Berücksichtigung der verfahrensbedingten Veränderungen können bzgl. der Entwicklung der Haushaltetypen folgende Veränderungen konstatiert werden: Die Zahl von Einpersonenhaushalten ist zwischen 2010 und 2020 nur leicht gestiegen (+2,8 %) ebenso wie die Zahl von kinderlosen Paarhaushalten (+1,0 %). Die Zahl von Paarhaushalten mit Kindern
Stadtforschung
Abbildung 2: Außenwanderungssaldo von Kindern in Familienhaushalten 2011–2020
Abbildung 1: Wanderungen von Familienhaushalten 2011–2020 14000
-298
12000
10000
-714
7066
8000 4832 6000
3454
4000 1299 2000
2358
1506
2325
2867
Außenzuzüge
Außenwegzüge
3791
0 Alleinerziehender HH
Familien in der Phase der Konsolidierung
Binnenumzüge Familien in der Phase der Expansion
stieg hingegen um 8,0 % und die der alleinerziehenden Haushalte um 5,6 %. Der natürliche Saldo betrug zwischen 2010 und 2020 insgesamt 6.292 Personen, d.h. das Freiburger Bevölkerungswachstum beruht zu einem nicht unerheblichen Anteil auf einem Geburtenüberschuss. An dieser Stelle sei noch bemerkt, dass dabei die geringe Zahl der Sterbefälle eher als die Zahl der Geburten eine Freiburger Besonderheit ist. Beim Außenwanderungssaldo war in Freiburg (wie auch in vielen anderen Städten) eine außerordentliche Entwicklung zu beobachten. Zu Beginn des letzten Jahrzehnts gab es einen großen Wanderungsüberschuss bedingt durch verschiedene Faktoren: starke Alterskohorten (Kinder der „Baby-Boomer“) sowie doppelte Abiturjahrgänge, die mit Ausbildung oder Studium begannen, und die EU-Osterweiterung mit der Arbeitnehmerfreizügigkeit und der Zuwanderung von Arbeitskräften nach Deutschland. In Freiburg kam der Effekt der Zweitwohnsitzsteuer hinzu, der sich aber bei der Betrachtung der Wohnberechtigten (d.h. Personen mit Haupt- und Nebenwohnsitz) egalisiert. Im fließenden Übergang dazu kam die Flüchtlingszuwanderung um das Jahr 2015 hinzu. Ab 2016 traten hingegen folgende Effekte ein: erhöhte Wegzüge von jungen Menschen zwischen 20 und 35 Jahren – zum größten Teil genau die Studierenden, die Jahre zuvor zahlreich ihr Studium begonnen hatten – sowohl nach Deutschland als auch ins Ausland sowie erhöhte Wegzüge von Familien ins Umland. Tatsächlich sind für den negativen Wanderungssaldo mit dem Ausland überwiegend junge Deutsche verantwortlich (ca. 5.000 Personen seit 2015). Die Entwicklung mündete im „Corona-Jahr“ 2020, als zusätzlich die ausländischen Studierenden in ihre Herkunftsländer zurückkehrten, keine neuen nachkamen und auch die deutschen Studierenden, die noch nicht in Freiburg wohnten, teilweise an ihrem bisherigen Wohnort blieben, da die universitären Veranstaltungen weitestgehend online abgehalten wurden. In der Gesamtentwicklung führte dies dazu, dass Freiburg seit 2017 stärker durch den Geburtenüberschuss wuchs als durch den Wanderungssaldo – letzterer fiel in den Jahren 2018
-2.340 Familien in der Phase Familien in der Phase der Expansion der Konsolidierung
Alleinerziehende Haushalte
und 2020 sogar negativ aus. Betrachtet man den Außenwanderungssaldo Freiburgs mit den vier Außenräumen Umland, Baden-Württemberg, Deutschland und Ausland, ist auffällig, dass die Stadt mit weiter entfernten Zielen einen positiven Wanderungssaldo aufweist, nur mit dem Umland nicht – hier verließen ca. 7.500 Personen mehr die Stadt ins Umland als aus dem Umland nach Freiburg zogen. Die Betrachtung der Verteilung der Wanderungen von Familienhaushaltstypen zeigt, dass insgesamt 7.078 Familien zu- und 9.205 Familien weggezogen sind. Insbesondere Paarhaushalte mit Kindern in der Phase der Expansion,1 d. h. in der Zeit der Familiengründung bzw. kurz danach, ziehen häufiger aus Freiburg weg als nach Freiburg zu. Das Verhältnis der Weg- zu den Zuzügen liegt hier bei ca. 1,4, d. h. auf einen Familienzuzug fallen 1,4 Familienwegzüge – zum Vergleich liegt dieses Verhältnis bei Familien in der Phase der Konsolidierung (also mit älteren Kindern) bei 1,16. Auffällig sind hier die häufigen Umzüge (insbesondere Binnenumzüge) von alleinerziehenden Haushalten, da sie nur ca. ein Viertel aller Haushalte mit Kindern ausmachen, aber einen großen Anteil am Umzugsvolumen darstellen. Zählt man die Kinder in Familienhaushalten, die an den Wanderungen beteiligt sind, wird deutlich, wie viele Kinder die Stadt verlassen. Den ca. 11.000 Außenzuzügen stehen mehr als 14.000 Außenwegzüge gegenüber und bilden somit einen negativen Saldo von ca. -3.350 Kindern, was mehr als 12 % des Geburtenvolumens in Freiburg darstellt.
Wo zieht es die Familien hin? Von 2011 bis 2020 gab es 7.078 Außenzuzüge, 9.205 Außenwegzüge und 13.215 innerstädtische Umzüge von Familienhaushalten. Im Folgenden sollen diese Wanderungen nun näher analysiert werden. Was sind die geografischen Quell- und Zielgebiete der Wanderungen, von welchen Wohnsegmenten in welche Wohnsegmente wird umgezogen und können Zusammenhänge mit anderen Kennzahlen festgestellt werden?
STADTFORSCHUNG UND STATISTIK 1|2022
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Stadtforschung
Weingarten Haslach-Egerten Munzingen Littenweiler Landwasser Mooswald-Ost Haslach-Gartenstadt Waldsee Opfingen Zähringen Hochdorf Rieselfeld Günterstal St. Georgen-Süd Kappel Brühl-Beurbarung Lehen Ebnet Waltershofen Haslach-Schildacker Vauban St. Georgen-Nord Mooswald-West Tiengen Haslach-Haid Betzenhausen-Bischofslinde Herdern-Nord Unterwiehre-Süd Brühl-Güterbahnhof Herdern-Süd Mundenhof Brühl-Industriegebiet Neuburg Mittelwiehre Unterwiehre-Nord Alt-Betzenhausen Altstadt-Ring Oberwiehre Oberau Altstadt-Mitte Stühlinger-Eschholz Alt-Stühlinger
+219
+149 +104 +94 +91 +91 +86 +78 +73 +70 +64 +52 +46 +43 +35 +34 +32 +30 +25 +21 +19 +16 +15 +14
Abbildung 3: Binnensaldo von Familienhaushalten der Freiburger Stadtbezirke 2011–2020
Abbildung 4: Binnensaldo von Familienhaushalten nach gruppierten Stadtbezirken 2011–2020 +620
-19 -22 -23 -35 -37 -41 -41 -50 -53 -55 -65 -107 -115 -132 -143 -153 -159
+486
-1.106 Kernstadt
Stadtrand
-251
Ortslage / äußerer Stadtrand
Stadtbezirke in ...
Binnensaldo von FamilienHH absolut
Binnenwanderung von Familien Am stärksten vom Familienzuzug innerhalb der Stadt profitiert haben die Stadtbezirke Weingarten, Haslach-Egerten und Munzingen mit einem positiven Saldo von mehr als +100 Familien sowie die Stadtbezirke Littenweiler, Landwasser und MooswaldOst mit knapp unter +100 Familien. Eine hohe Zahl von Binnenwegzügen sind in den innenstadtnahen Stadtbezirken zu beobachten: Alt-Stühlinger, Stühlinger-Eschholz, Altstadt-Mitte, Oberau, Oberwiehre, Altstadt-Ring sowie Alt-Betzenhausen. Die Änderung der innerstädtischen Verteilung – von der Innenstadt hin zu den Randbezirken – wird durch eine entsprechende Gruppierung noch deutlicher. So hat die Kernstadt einen hohen negativen Saldo, während der Stadtrand und die Ortslage/äußerer Stadtrand einen Zuwachs zu verzeichnen haben. Dass der Stadtrand hier einen höheren Saldo als der äußere Stadtrand aufweist, hängt auch mit den großen Neubaugebieten zusammen, die dort entstanden sind. Auffällig ist, dass die meisten Familienumzüge jedoch innerhalb eines Stadtbezirks stattfinden – in den Top 5 liegen hier die tendenziell größeren Stadtbezirke Weingarten, Rieselfeld, St. Georgen-Nord, aber auch Haslach-Gartenstadt und Landwasser. In der gesamten Umzugsmatrix von Quell- und Zielbezirk kommt erst an Position 20 ein Wanderungsstrom zwischen zwei verschiedenen Stadtbezirken. Fokussieren wir den Blick auf diese grenzüberschreitende innerstädtische Mobilität, zählen zu den Top 5 die Wanderungen von der Oberwiehre nach Littenweiler, von Rieselfeld nach Weingarten, von Betzenhausen-
62
STADTFORSCHUNG UND STATISTIK 1|2022
Bischofslinde nach Weingarten, von Weingarten nach HaslachGartenstadt und von Unterwiehre-Süd nach St. Georgen-Nord. Tabelle 1: Top 5 Umzugsströme von Familien zwischen Stadtbezirken 2011–2020 von
nach
Oberwiehre
Littenweiler
Rieselfeld
Weingarten
Betzenh.-Bischofslinde
Weingarten
Weingarten
Haslach-Gartenstadt
Unterwiehre-Süd
St. Georgen-Nord
Es könnte nun vermutet werden, dass in den Zuzugsbezirken der Familien die durchschnittliche Kaltmiete entweder besonders niedrig– was den Zuzug dahin begründet haben könnte – oder besonders hoch ist – als Folge der starken Nachfrage. Der Korrelationskoeffizient von Binnenwanderungssaldo und durchschnittlicher Kaltmiete je Quadratmeter liegt jedoch fast bei 0, was bedeutet, dass es diesbezüglich keinen Zusammenhang gibt. Einen leichten positiven Zusammenhang gibt es jedoch zwischen dem Binnenwanderungssaldo und der durchschnittlichen Wohnfläche je Wohnung (r = 0,35) sowie der durch-
Stadtforschung
schnittlichen Raumanzahl je Wohnung (r = 0,35). Das bedeutet, je größer die durchschnittliche Wohnfläche oder Raumanzahl in einem Stadtbezirk ist, desto höher der Binnenwanderungssaldo und umgekehrt. Tabelle 2: Korrelationen zwischen dem Familien-Binnensaldo der Freiburger Stadtbezirke und ausgewählten Kennziffern 2011–2020 Korrelationskoeffizient Korrelation von durchschnittlicher Kaltmiete je qm (Angebotsmieten) und Binnensaldo
-0,07
Korrelation von durchschnittlicher Wohnfläche und Binnensaldo
0,35
Korrelation von durchschnittlicher Raumanzahl je Wohnung und Binnensaldo
0,35
Die Frage stellt sich, ob die beobachteten Tendenzen bei den Familienumzügen zu einer höheren Konzentration von Familien in wenige Stadtbezirke geführt haben. Dies lässt sich durch den Vergleich der Segregationsindizes von 2010 und 2020 feststellen. Bezogen auf die 42 Stadtbezirke lag der Segregationsindex von Familienhaushalten im Jahr 2010 bei 0,36 und im Jahr 2020 bei 0,27. Somit sind Familien heute sogar gleichmäßiger über das Stadtgebiet verteilt als vor zehn Jahren. Zur Kontrolle bietet es sich an, den Index für die räumliche Ebene unterhalb der Stadtbezirke zu errechnen, nämlich bezogen auf die 168 statistischen Bezirke. Hier ist das Ergebnis noch deutlicher: Im Jahr 2010 lag der Wert noch bei 0,43 – d. h. fast die Hälfte der Familien hätten umziehen müssen, damit eine Gleichverteilung erreicht worden wäre – und im Jahr 2020 lag der Wert nur noch bei 0,10. Tabelle 3: Segregation von Familien in den Freiburger Stadtbezirken und statistischen Bezirken 2010 und 2020 2010
2020
Segregationsindex IS (Duncan) HH mit Kindern – Stadtbezirke
0,36
0,27
Segregationsindex IS (Duncan) HH mit Kindern – statistische Stadtbezirke
0,43
0,10
Festgehalten werden kann somit, dass Lage und/oder Größe der Wohnung offensichtlich einen gewissen Zusammenhang mit dem Umzugsverhalten von Familien aufweisen, dies aber nicht dazu geführt hat, dass Familien stärker in wenigen Stadtbezirken konzentriert sind.
Wohnsegmente von Familien Am 31.12.2020 wohnte der überwiegende Anteil aller Haushalte (65,6 %) im Wohnsegment „vorwiegend Mietwohnungen“ und der nächstgrößere Anteil im Wohnsegment „vorwiegend Wohneigentum“ (12 %). In den Wohnsegmenten „Genossenschaften“, „Wohnheime“ und „geförderte/gebundene Wohnungen“ liegen die Anteile jeweils um 6–7 %. Die Anteile bei den Familienhaushalten sind ähnlich verteilt, aber hier wohnt ein etwas größerer Anteil im Wohnsegment „Wohneigentum“ und im „geförderten/gebundenen Wohnsegment“.
Gegenüber 2010 ist bei allen Haushalten wie bei den Familienhaushalten der Anteil der im „vorwiegend geförderten/ gebundenen Wohnsegment“ wohnenden gesunken und im Wohnsegment „vorwiegend Mietwohnungen“ entsprechend gestiegen. Erstaunlicherweise ist der Anteil von Familien im Wohnsegment „vorwiegend Wohneigentum“ gegenüber 2010 um 2 %-Punkte gesunken. Betrachtet man das Wohnsegment „vorwiegend Mietwohnungen“ genauer, wird deutlich, dass Familienhaushalte im Vergleich zu den anderen Haushaltsformen eher in Mehrfamilienhäusern mit großen Wohnungen und in Ein- und Zweifamilienhäusern wohnen sowie in Gebäuden mit jüngerem Baujahr. Tabelle 4: Verteilung der Haushalte auf die Wohn-segmente Vorwiegend Mietwohnungen 2020 (in %) FamilienAnzahl haushalte Haushalte Mietwohnungen EFH vor 1962
6,9
6,6
Mietwohnungen EFH von 1962 bis 1994
6,8
5,8
Mietwohnungen EFH von 1995 bis 2009
2,4
1,4
Mietwohnungen EFH nach 2009
2,2
0,8
Mietwohnungen MFH große Wohnung vor 1962
16,4
14,5
Mietwohnungen MFH große Wohnung von 1962 bis 1994
17,7
14,5
Mietwohnungen MFH große Wohnung von 1995 bis 2009
8,8
5,2
Mietwohnungen MFH große Wohnung nach 2009
5,6
2,9
Mietwohnungen MFH kleine Wohnung vor 1962
12,7
18,1
Mietwohnungen MFH kleine Wohnung von 1962 bis 1994
13,4
21,8
Mietwohnungen MFH kleine Wohnung von 1995 bis 2009
5,1
6,6
Mietwohnungen MFH kleine Wohnung nach 2009
2,0
1,8
Wechseln Familien die Wohnsegmente? Diese Frage kann nicht ganz eindeutig beantwortet werden. Es gibt hier von den absoluten Zahlen her drei Ströme:2 a) Haushaltsbewegungen innerhalb des gleichen Wohnsegments, b) Haushaltsbewegungen, die eine scheinbare, individuelle „Verbesserung“ mit sich bringen (von kleinen Wohnungen zu großen, von Mehrfamilienhäusern zu Ein- und Zweifamilienhäusern), aber auch c) Bewegungen, die in die entgegengesetzte Richtung weisen (von großen Wohnungen zu kleinen, vom Mietsegment zum geförderten/gebundenen Wohnsegment). Betrachtet man diese Haushaltsbewegungen etwas genauer, und zwar anteilig an den jeweiligen Wohnsegmenten und ohne Berücksichtigung der Größe der Wohnsegmente, werden die Abweichungen der unterschiedlichen Segmentwechsel etwas deutlicher. So fanden die bedeutendsten Segmentwechsel zwischen den folgenden Wohnsegmenten statt:
STADTFORSCHUNG UND STATISTIK 1|2022
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Stadtforschung
-
von Mietwohnung EFH/ZFH und Wohneigentum MFH groß zu Wohneigentum EFH/ZFH von Wohneigentum MFH groß zu Mietwohnung EFH/ZFH von Wohneigentum MFH klein zu Mietwohnung MFH groß
Tabelle 5: Top 10 Umzugsströme von Familien zwischen Wohnsegmenten 2011–2020
Aus den Wohnsegmenten „Genossenschaften“, „Wohnheime“ und „vorwiegend geförderte/gebundene Wohnungen“ heraus gab es fast keine nennenswerten Segmentwechsel. Hier fand der überwiegende Anteil der Umzüge innerhalb des Wohnsegmentes statt. So wie die räumliche Verteilung der Familien auf die Stadtbezirke lässt sich auch die Verteilung der Familien auf die Wohnsegmente mit dem Segregationsindex beschreiben. Im Jahr 2010 betrug dieser noch 0,47 und bis zum Jahr 2020 sank er geringfügig auf 0,42. Das ist ein relativ hoher Wert und bedeutet im Umkehrschluss angesichts der Tatsache, dass die räumliche Verteilung ausgeglichener ist (siehe oben: SI=0,27), dass nur die Wohnsegmente gleichmäßiger im Stadtgebiet verteilt sind, aber die Familien weiterhin nach Wohnsegmenten segregiert sind. Dies ist jedoch nicht verwunderlich, da Familien gezielt bestimmte Wohnsegmente (größere Wohnungen) anvisieren und andere Wohnsegmente kaum in Betracht ziehen (Wohnheime etc.).
Abbildung 5a und 5b: Umzugsströme der Familien zwischen den Wohnsegmenten 2011–2020 (Abweichung zu den Gesamtzeilenprozentwerten in %-Punkte)
nach
von Wohneigentum - EFH/ZFH Wohneigentum - MFH mit großen Whg. Wohneigentum - MFH mit kleinen Whg. Mietwohnung - EFH/ZFH Mietwohnung - MFH mit großen Whg. Mietwohnung - MFH mit kleinen Whg. Genossenschaft oder Syndikat ohne Förderung
nach
Mietwohnung – MFH mit kleinen Wohnungen
Mietwohnung – MFH mit großen Wohnungen
Mietwohnung – MFH mit großen Wohnungen
Mietwohnung – MFH mit großen Wohnungen
Mietwohnung – MFH mit kleinen Wohnungen
Mietwohnung – MFH mit kleinen Wohnungen
Mietwohnung – MFH mit großen Wohnungen
Mietwohnung – MFH mit kleinen Wohnungen
Mietwohnung – MFH mit großen Wohnungen
Mietwohnung – EFH/ZFH
Mietwohnung – MFH mit kleinen Wohnungen
Vorwiegend geförderte oder gebundene Wohnungen
Mietwohnung – MFH mit kleinen Wohnungen
Mietwohnung – EFH/ZFH
Vorwiegend geförderte oder gebundene Wohnungen
Vorwiegend geförderte oder gebundene Wohnungen
Wohnheime
Wohnheime
Mietwohnung – MFH mit großen Wohnungen
Vorwiegend geförderte oder gebundene Wohnungen
WE - MFH groß
WE - MFH klein
MW - EFH/ZFH
+2,8
+1,2
+0,2
+9,2
+3,0
+3,8
-0,2
+12,9
+2,2
-1,7
+0,6
+4,0
+3,2
+0,1
+0,1
+12,6
+2,4
+0,8
-0,1
+3,3
-1,0
+0,1
+0,1
-1,9
-1,1
-1,0
+0,2
-7,9
Wohnheime
-4,3
-2,1
-0,2
-9,3
Vorwiegend geförderte oder gebundene Whg.
-3,5
-1,2
-0,3
-7,8
nach von Wohneigentum - EFH/ZFH Wohneigentum - MFH mit großen Whg. Wohneigentum - MFH mit kleinen Whg. Mietwohnung - EFH/ZFH Mietwohnung - MFH mit großen Whg. Mietwohnung - MFH mit kleinen Whg. Genossenschaft oder Syndikat ohne Förderung
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WE - EFH/ZFH
von
MW - MFH klein
Genossenschaft / Syndikat ohne Förd.
Wohnheime
gefördert/ gebunden
+0,1
-0,7
-4,1
-7,4
-3,5
-3,5
-5,3
-6,9
-3,6
+1,4
-5,6
-7,0
-1,8
-3,4
-3,5
-6,1
-1,7
-2,0
-3,5
-3,6
+3,6
-1,3
-2,1
-0,1
-8,6
+37,9
-4,4
-3,2
Wohnheime
+0,5
-2,4
+28,7
+1,3
Vorwiegend geförderte oder gebundene Whg.
-0,3
-1,8
-3,2
+23,2
STADTFORSCHUNG UND STATISTIK 1|2022
Stadtforschung
Tabelle 6: Segregation von Familien in den Wohnsegmenten 2010 und 2020 2010
2020
Segregationsindex IS (Duncan) HH mit Kindern
0,47
0,42
Segregationsindex IS (Duncan) HH mit Kindern nur WE un MW
0,41
0,36
Bislang konnten die Haushaltstypen (und somit Lebenslagen) nur indirekt über die Altersverteilung abgebildet werden. Dem Amt für Bürgerservice und Informationsmanagement ist es jetzt jedoch möglich, diese Abwanderungen haushaltsspezifisch aufzuschlüsseln. So ist beim Wegzug ins Ausland der Anteil von Paarhaushalten ohne Kinder überdurchschnittlich hoch, bei den Wegzügen nach Deutschland und Baden-Württemberg sind dies die Einpersonenhaushalte und bei den Wegzügen ins Umland die Familien (Paarhaushalte mit Kindern und alleinerziehende Haushalte). Betrachtet man nur den Wanderungssaldo der Familien, wird die Suburbanisierung nochmal deutlicher. So zogen von 2011 bis 2020 2.040 Familien mehr ins Umland als von dort kamen. Die höchsten negativen Wanderungssalden finden sich Richtung Bad Krozingen, Gundelfingen, Emmendingen, Kirchzarten, Waldkirch und der March.
Suburbanisierung von Familien Unter dem Begriff Suburbanisierung wird seit jeher eine spezifische Wanderungsdynamik subsumiert, die in vielen Städten und urbanen Räumen auf der Welt beobachtet werden kann. Sie beschreibt die Tatsache, dass Haushalte in einer bestimmten Lebenslage beginnen, aus den Kernstädten ins nah gelegene Umland zu ziehen. Dort ist es diesen Haushalten möglich, mehr Wohnqualität zu erfahren und trotzdem den urbanen Lebensbezug zu erhalten (Stichworte: Berufspendeln, Einkaufen, Kultur etc.). Auch in Freiburg ist dieses Phänomen seit langem zu beobachten: Viele junge Menschen ziehen jedes Jahr nach Freiburg, um zu studieren oder eine Ausbildung zu beginnen. Von denen zieht zwar ein Großteil auch wieder weg, aber einige bleiben und finden Arbeit, gehen eine (Ehe-)Partnerschaft ein, gründen eine Familie und ziehen dann ins Umland. Diese Wanderungsdynamik lässt sich an den Außenwanderungssalden, aber auch an der durchschnittlichen Wohndauer in Freiburg festmachen: - Personen, die aus Freiburg ins Ausland wegziehen, wohnten hier durchschnittlich drei bis vier Jahre, - Personen, die aus Freiburg nach Deutschland wegziehen, wohnten hier durchschnittlich etwas mehr als sechs Jahre und - Personen, die aus Freiburg ins Umland ziehen, wohnten hier durchschnittlich acht bis zehn Jahre. Diese Werte sind in den letzten sechs Jahren relativ konstant geblieben.
Tabelle 7: Umlandgemeinden, mit denen Freiburg einen besonders hohen/niedrigen Familien-Außenwanderungssaldo aufweist 2011–2020 Top positiver Saldo
Top negativer Saldo
Titisee-Neustadt, Stadt
Bad Krozingen, Stadt
Schluchsee
Gundelfingen
Buchenbach
Emmendingen, Stadt
Merdingen
Kirchzarten
Münstertal/Schwarzwald
Waldkirch, Stadt
Reute
March
Unter Berücksichtigung der Wohnsegmente werden die Unterschiede zwischen Außenwegzug ins Umland und Außenzuzug aus dem Umland deutlich. So ziehen Familien vermehrt aus den Wohnsegmenten „Mietwohnungen groß“ und „Mietwohnungen klein“ sowie „Wohnheime“ und „Wohneigentum MFH groß“ weg. Umgekehrt gibt es anteilig mehr Zu- als Wegzüge in die Wohnsegmente „Wohneigentum EFH/ZFH“, „Miet-
Abbildung 7: Außenwegzüge von Haushaltstypen nach Außenraum 2011–2020 (Abweichung vom Durchschnitt in %-Punkte)
Abbildung 6: Durchschnittliche Wohndauer in Freiburg (in Jahren) von Erwachsenen vor einem Außenwegzug nach Außenräumen 11
+6,3 +4,8
10
+3,8
+3,1
+2,8
9 8
7 -0,3
-0,9
-1,0
-2,0
-1,6
-0,8 -2,0
-0,3
-1,5
-0,8
6 5 4
3 2
Umland Deutschland Ausland
1
-9,8
Umland EinpersonenHH
Baden-Württemberg PaarHH ohne Kind
PaarHH mit Kind
Deutschland Alleinerziehender HH
Ausland
0
2015
2016
2017
2018
2019
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2020
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Stadtforschung
Abbildung 8: Familien-Außenwanderungssaldo Freiburgs mit den Außenräumen 2011–2020
Abbildung 9: Verteilung der Umland-Außenwanderungen von Familien auf die Wohnsegmente (Differenz der Verteilungen von Außenzu- und wegzügen auf die Wohnsegmente in %-Punkte)
+259
+13
mehr Außenzuzug
mehr Außenwegzug WE - EFH/ZFH
1,1
WE - MFH groß
-359
0,8
WE - MFH klein
0,2
MW - EFH/ZFH
4,3
MW - MFH groß MW - MFH klein
2,2 3,9
Genossenschaft
0,7
Wohnheime
-2.040
Umland
Ba.-Wü.
Deutschland
Ausland
gefördert/gebunden
wohnung EFH/ZFH“, „Genossenschaften“ und „vorwiegend geförderte/gebundene Wohnungen“. Daran lässt sich erkennen, dass Familien wegziehen, wenn sie etwas „besseres“ im Umland finden, sie aber nach Freiburg kommen, wenn sie Ein- oder Zweifamilienhäuser beziehen oder im „geförderten/ gebundenen Wohnsegment“ sowie im „genossenschaftlichen Wohnsegment“ eine Wohnung ergattern können. Einen Zusammenhang zwischen der Suburbanisierung und den Pendlerverflechtungen mit den Umlandgemeinden kann ebenfalls festgestellt werden. So gibt es deutliche Zusammenhänge zwischen Zahl der Außenwegzüge und Zahl der Einpendler*innen (Korrelationskoeffizient r = 0,92) und zwischen Wanderungssaldo und Pendlersaldo (r = -0,83), aber auch anders herum zwischen Außenzuzügen und Zahl der Auspendler*innen (r = 0,88). Einen nur leichten Zusammenhang (r = 0,38) gibt es hingegen zwischen dem Außenwanderungssaldo und der ÖPNV-Anbindung. Tabelle 8: Korrelationen zwischen den Umland-Außenwanderungen von Familien und ausgewählten Kennziffern 2011–2020 Korrelationskoeffizient Korrelation von Zahl der Außenwegzüge von Familien und Zahl der Einpendler_innen
0,92
Korrelation von Zahl der Außenzuzüge von Familien und Zahl der Auspendler_innen
0,88
Korrelation von Wanderungssaldo von Familien und Pendlersaldo
-0,83
Korrelation von Wanderungssaldo von Familien und ÖPNV-Anbindungen
0,38
Es wird oft davon gesprochen, dass die Umlandgemeinden mittlerweile ähnlich hohe Miet- und Kaufpreise aufweisen wie Teile der Stadt Freiburg. Dies bestätigen zumindest die Angebotsmarktdaten. Aber gibt es einen Zusammenhang zu der hohen Zahl an Wegzügen, insbesondere von Familien mit hohem Wohnraumbedarf? Zusammenhänge sind erkennbar,
66
STADTFORSCHUNG UND STATISTIK 1|2022
0,6 0,9
aber nicht so stark wie bei den Pendlerverflechtungen: Der Korrelationskoeffizient beträgt r = 0,51 zwischen der Zahl der Außenwegzüge und der Höhe der Angebotsmiete und r = 0,50 zwischen der Zahl der Außenwegzüge und der Höhe der angebotenen Kaufpreise.
Zum Abschluss Um zu demonstrieren, wie neue Beobachtungsdimensionen, die durch die Verknüpfung bestehender Daten gewonnen wurden (Haushaltsbewegungen und Wohnsegmente), erweiterte Analysen erlauben, wurde hier exemplarisch die Verteilung der Familien auf die Wohnsegmente sowie deren Binnenwanderungen und Umlandwanderungen genauer betrachtet. Dadurch konnte nicht nur erstmalig das genaue Ausmaß der Suburbanisierung von Familienhaushalten beziffert werden, sondern auch gezeigt werden, dass Familien bestimmte Wohn- und Eigentumsformen präferieren. Dies lässt sich insbesondere an dem Verhältnis von Umlandabwanderung und Umlandzuwanderung erkennen. Wenn der Freiburger Wohnungsmarkt es zulässt, kehren Familien in die Stadt zurück – und zwar in die spezifischen Wohnsegmente Ein- und Zweifamilienhaus (Wohneigentum und Miete), Genossenschaften und geförderte Wohnungen.
1 2
Eine Familie in der Phase der Expansion bedeutet, das jüngste Kind ist nicht älter als sechs Jahre alt. Genauere Aussagen darüber, warum Wohnsegmentwechsel geschehen, können nur in Verbindung mit (Befragungs-)Daten zur Umzugsmotivation von Familien getroffen werden. Dies wäre eine Aufgabe für die Zukunft, die entsprechenden Daten miteinander in Bezug zu setzen.
Stadtforschung
Jakob Guzy
Besonders • Alltäglich Bericht einer Mixed-Methods-Studie zu den Lebensverhältnissen Alleinerziehender in Bielefeld Um die Informationslage zu Alleinerziehenden und ihren Kindern zu verbessern, führte die kommunale Statistikstelle in Kooperation mit dem Büro für Integrierte Sozialplanung und Prävention der Stadt Bielefeld von April 2019 bis Dezember 2020 die Mixed-Methods-Studie „Alleinerziehende in Bielefeld“ durch. Dabei wurden zunächst 33 ausführliche Interviews mit Alleinerziehenden qualitativ analysiert. Darauf aufbauend wurde eine Online-Befragung durchgeführt, an der 193 Alleinerziehende teilnahmen. Aus den Befunden des Projektes wurden Handlungsempfehlungen entwickelt, die in die Umsetzung sozialer Unterstützungsangebote für Alleinerziehende in Bielefeld eingeflossen sind. Dieser Beitrag beschreibt die Rahmenbedingungen der Studie und stellt die angewendete Methodik sowie ausgewählte Befunde dar.
Jakob Guzy M. A. Soziologie, seit 2015 wiss. Mitarbeiter der Statistikstelle der Stadt Bielefeld : jakob.guzy@bielefeld.de Schlüsselwörter Alleinerziehende – Mixed-Methods-Design – Umfrage – Kommunalstatistik – Förderprojekt
Ausgangsüberlegungen Ausgangspunkt für die projektbezogene Kooperation1 der kommunalen Statistikstelle mit dem Büro für Integrierte Sozialplanung und Prävention der Stadt Bielefeld war die Beobachtung, dass Alleinerziehende besonders oft von SGB II-Leistungen abhängig sind. Dabei wurde deutlich, dass Informationen über Alleinerziehende größtenteils auf den immer gleichen Quellen der Statistiken der Bundesagentur für Arbeit sowie den Daten des Einwohnermelderegisters basierten. So wertvoll und zweckdienlich diese Daten sind, um die Problemfelder grob zu identifizieren, so wenig bieten sie Einblicke in die konkreten Lebenswelten, in denen sich Familien mit einem einzelnen Elternteil heutzutage bewegen. Genau diese Einblicke wären jedoch wichtig, um zielgerichtet zu planen, Maßnahmen zu entwickeln und bestehende Konzepte überprüfen zu können. Welchen Einfluss haben beispielsweise die Nachbarschaft oder das Quartier, wie setzen Alleinerziehende ihre Prioritäten und welche Hilfen sind bei der Zielgruppe überhaupt bekannt? Vorhandene Studien zur Thematik sind häufig auf Finanzen und Kinderbetreuung beschränkt, vor allem aber berücksichtigen sie keine lokalen Gegebenheiten. Eine weitere Schwierigkeit ist, dass das überwiegend weiblich besetzte Alleinerziehend-Sein in Öffentlichkeit und Forschung oftmals noch unter der Perspektive der „unvollständige[n] Lebensform“ betrachtet wird (Schöningh et al. 1991). In dieser Sichtweise kennzeichnet die Entbehrung einer männlichen Bezugsperson einen vermeintlichen Mangel im Familiensystem (Brand 2006; Liebisch 2012). Dabei passt ein eindimensionales Leitbild der Normalfamilie Vater-Mutter-Kind(er) schon länger nicht mehr zur gesellschaftlichen Realität (Nestmann u. Stiehler 1998). Etwas mehr als ein Fünftel aller Familien in Deutschland und 17,4 % der Familien in Bielefeld sind alleinerziehend (DESTATIS 2020a; Stadt Bielefeld 2020). Lebens- und Erziehungsformen sind individuell gestaltbar und ergeben im Lebensverlauf mitunter Bastel- statt sogenannter Normalbiografien. Es ist auch gar nicht problematisch, wenn sich verschiedene Formen von Familie als gleichwertiger Ausdruck individueller Präferenzen entwickeln. Kritisch wird es jedoch, wenn eine einzelne Familienform mit normativem Alleinstellungsanspruch aufgeladen wird. Dann nämlich werden alternative Lebensmodelle abgewertet und Gestaltungsmöglichkeiten vorgegeben, die vielleicht nicht für alle Familien gleich gut funktionieren (Hammer 2002; Rinken 2010, Zagel 2018).
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Für Alleinerziehende bedeutet das häufig immer noch, dass ihre Lebenssituation nicht adäquat berücksichtigt wird. Beispiele finden sich täglich in der Organisation der Kinderbetreuung, starren Arbeitszeitmodellen oder entfallenden Steuerentlastungen, bei denen sich der rechtliche Rahmen an der traditionellen Kernfamilie orientiert und Alleinerziehende als Ausnahme von der Regel ausweist. Oftmals wird erwartet, dass Alleinerziehende diese Konflikte selbst lösen, anstatt bisherige Strukturen anzupassen (Zartler 2014). Besonders deutlich wurde dies im Laufe der Corona-Pandemie, in der berufstätige Alleinerziehende unter besonderem Druck standen, die Kinderbetreuung zu organisieren. Darüber, was all diese Facetten zur Lage der Alleinerziehenden in Bielefeld beitragen, war bislang zu wenig bekannt. Diese Wissenslücken wurden durch das Projekt geschlossen, indem Bielefelder Alleinerziehende sich explizit selbst äußern konnten: Zunächst im Rahmen ausführlicher qualitativer Interviews, darauf aufbauend über eine breiter streuende Online-Befragung. Die konkrete Umsetzung verfolgte drei Ziele: Erstens sollten Informationen zur Situation Alleinerziehender gewonnen werden, die nicht in anderen Quellen vorliegen, zweitens sollten inhaltliche Zusammenhänge empirisch belegt werden und drittens wurde der Zielgruppe die Möglichkeit eröffnet, individuelle Rückmeldungen zu geben. Sicherlich betreffen nicht alle hier beobachteten Phänomene exklusiv Einelternfamilien. Vielmehr entsprechen nicht wenige Erfahrungen denen anderer Familienformen, doch fehlt Alleinerziehenden häufig die Möglichkeit, Herausforderungen partnerschaftlich zu meistern. Aus diesem Gemenge (un)bekannter und (un)verständlicher Facetten ergab sich im Laufe des Projekts das titelgebende Motto: Alleinerziehende sind besonders (und) alltäglich, denn sie befinden sich in einer nahezu universellen Situation, unterliegen dabei aber speziellen Anforderungen.
Methodik Das Projekt wurde als Mixed-Methods-Befragung konzipiert, somit kamen sowohl qualitative als auch quantitative Methoden zum Einsatz. Zu Beginn wurden qualitative Interviews mit Alleinerziehenden geführt, um ein detailliertes Bild ihrer Lebenssituationen zu erhalten. Dabei gaben die Forscher*innen nur grob die Richtung vor, um offen für Impulse der Befragten zu bleiben. Mit quantitativen Methoden wurden anschließend innerhalb der ermittelten Themenfelder mit konkreten Fragen Informationen von einer größeren Anzahl von Befragten erhoben und statistisch ausgewertet. Es muss beachtet werden, dass die Studie zum Teil in der aufkommenden COVID-19-Pandemie durchgeführt wurde. Obwohl das Pandemiegeschehen nicht als Bestandteil dieser Studie vorgesehen war, hat diese Ausnahmesituation Alleinerziehende in Bielefeld stark beeinflusst. Im Fragebogen der quantitativen Studie wurde diesem Umstand Rechnung getragen, indem im ersten Abschnitt die Corona-Pandemie und deren persönliche Folgen explizit thematisiert wurden. Die Befragten wurden angehalten, die übrigen Fragen möglichst ungeachtet der Sonderlage zu beantworten. Gleichwohl ist davon auszugehen, dass die Corona-Pandemie einen schwer
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zu beziffernden Einfluss sowohl auf den qualitativen als auch auf den quantitativen Teil der Studie hatte. Neben den in aller Regel konstruktiven Kooperationen innerhalb der Stadtverwaltung sowie mit externen Institutionen bestand ein reger Austausch mit dem Schwesterprojekt „Endlich fragt mich jemand! Partizipative Datenerhebung bei und mit Alleinerziehenden in Bielefeld Stieghorst“, welches von der Diakonie für Bielefeld gGmbH und der Fachhochschule Bielefeld (Sozialwesen) durchgeführt wurde. Gemäß einer im Vorfeld formulierten Zielvereinbarung wurden im zweimonatlichen Rhythmus gemeinsame Treffen mit allen Projektmitarbeiter*innen durchgeführt. Neben dem Informationsaustausch zum Verlauf der Projekte entwickelte sich in diesem Rahmen ein wertvoller inhaltlicher Dialog, in dem Beobachtungen und Vorgehensweisen diskutiert wurden.
Qualitative Erhebung Da die Alleinerziehenden als Expert*innen des Themengebiets anerkannt wurden, sollten Informationen in einer direkten Gesprächssituation mit der Zielgruppe gewonnen werden. Nach inhaltlichen Recherche- und Vorarbeiten wurde dazu im Zeitraum von Juli bis August 2019 der Kontakt mit den ersten Alleinerziehenden aufgenommen. Um möglichst viele Alleinerziehende von der Teilnahme an dem Forschungsprojekt zu überzeugen, wurde eine Strategie gewählt, die den Aufbau persönlicher Beziehungen zu Fachpersonal innerhalb der Stadtverwaltung, der freien Träger, sonstiger Multiplikatoren sowie der Zielpersonen selbst fokussierte. Schwerpunkte waren dabei zum einen die systematische Sammlung unterschiedlicher Angebote sowie zum anderen der Aufbau eines tragfähigen Arbeitsbündnisses zwischen Trägern und Projektstelle. Insgesamt wurden über 40 Organisationen persönlich oder telefonisch kontaktiert. Parallel dazu wurden Informationsmaterialien in Form von gedruckten und digitalen Flyern sowie eine Homepage erstellt. Die Alleinerziehenden nahmen freiwillig an den Gesprächen teil und erhielten kein Honorar. Um sowohl eine klare Struktur als auch Flexibilität je nach Gesprächssituation sicherzustellen, wurden halbstrukturierte, leitfadenbasierte Interviews durchgeführt. Diese konnten persönlich oder telefonisch sowohl in Form von Einzel- als auch Gruppengesprächen stattfinden. Die Betreuung der Kinder wurde durch die Bereitstellung angemessener Räumlichkeiten und Spielsachen unterstützt. Folgende inhaltliche Schwerpunkte wurden als lose Rahmenpunkte der Gespräche verwendet: a. Biographie und Werdegang zu alleinerziehendem Elternteil, b. Ressourcen & Unterstützung, c. Probleme & Stressoren, d. Arbeitssituation, Vereinbarkeit von Familie und Beruf, e. Typischer Wochentag, f. Beispiel eines guten Angebots für Alleinerziehende, g. Defizite in der Stadt Bielefeld. Zusätzlich wurde den Interviews ein standardisierter Demografiebogen vorangestellt, um sozio-strukturelle Merkmale der Interviewpartner*innen zu erheben. Die Durchführung der Interviews orientierte sich an dem episodischen Interview, das
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offene Erzählaufforderungen mit präzisierenden Nachfragen verknüpft (Edwards u. Holland 2013; Flick 2011). Mit dieser Gesprächsgestaltung wurden tiefgreifende Schilderungen und Erklärungen hervorgebracht, welche die subjektiven Sichtweisen sowie Handlungslogiken der Interviewpartner*innen analysierbar machten. Die Dauer der Gespräche wurde auf 90 Minuten begrenzt. Insgesamt konnten 33 alleinerziehende Bielefelder*innen ausführlich zu ihrer Lebenssituation befragt werden. In wenigen Fällen konnte in Wiederholungsterminen Rückfragen und aktuelle Entwicklungen besprochen werden. Die 30 Frauen und drei Männer wiesen vielfältige Lebenswege auf, doch die Interviewsituationen und teils sensiblen Inhalte ließen nicht in allen Fällen das Ausfüllen des Demografiebogens zu. Hintergrundinformationen zu den interviewten Alleinerziehenden liegen deshalb nicht immer in strukturierter Weise vor. Für die Auswertung der Interviews wurde die Methode der Grounded Theory angewendet (Strauss u. Corbin 2010). Dabei werden die transkribierten Interviews kodiert sowie die wesentlichen Inhalte der Interviews zusammengefasst und analysiert. Im Verlauf der Erhebung wurden auf diese Weise die unterschiedlichen Aussagen der Alleinerziehenden, ihre individuellen Lebensumstände sowie ihre subjektiven Einstellungen und Erfahrungen zu übergreifenden Faktoren verdichtet. Diese aus der verarbeiteten Empirie hergeleiteten Faktoren wurden dabei kontinuierlich mit relevanter Literatur und anderen Studien über Alleinerziehende in Beziehung gesetzt, fallweise gegenübergestellt sowie von den beteiligten Wissenschaftler*innen kritisch diskutiert. Ab circa 25 analysierten Gesprächen zeichnete sich eine theoretische Sättigung ab, weitere Fälle trugen also keine wesentlichen neuen Erkenntnisse zu den entwickelten Zusammenhängen bei. Die Ergebnisse der qualitativen Interviews dienen einerseits als Grundlage für die quantitative Erhebung, andererseits stellen sie auch für sich genommen inhaltliche und empirische Evidenz dar.
Quantitative Erhebung Um die Ergebnisse des qualitativen Forschungsteils zahlenmäßig zu überprüfen, wurden in der zweiten Projektphase die wesentlichen Inhalte in ein quantitatives Forschungsdesign übertragen. Die Befragung der Alleinerziehenden wurde aus Kosten- und Zeitgründen als reine Online-Umfrage umgesetzt, wobei die potentiellen Teilnehmenden über das bereits akquirierte Netzwerk relevanter Organisationen und Multiplikatoren, über Werbemaßnahmen sowie über Social Media kontaktiert wurden. Da es sich somit um eine ungesteuerte Stichprobe in einem Querschnittsdesign handelte und die Teilnehmenden sich selbst als Alleinerziehende identifizierten, kann keine Repräsentativität für Alleinerziehende in Bielefeld angenommen werden. Vielmehr muss davon ausgegangen werden, dass, ähnlich wie in anderen Online-Umfragen, eher besser gebildete Personen und eher Menschen ohne Migrationshintergrund erreicht wurden. Personen ohne Internetzugang oder mit sprachlichen Barrieren sind dagegen unterrepräsentiert. Nichtsdestoweniger ist auch die Selbstauskunft auf diesem Wege empirisch wertvoll, da zu einigen
der befragten Themen schlichtweg keinerlei alternative Datenzugänge existieren. Der Fragebogen umfasste 61 Fragen, die sich in Abschnitte zur aktuellen Situation der Alleinerziehenden, den Umgang mit der Corona-Pandemie, der Lebenszufriedenheit, der Betreuungssituation der Kinder, Kenntnisse über Angebote für Alleinerziehende und demografische Aspekte aufteilten. Für die Antwortoptionen wurden teils selbst konstruierte, teils in anderen Untersuchungen bereits validierte Skalen verwendet. Die Teilnahme an der Befragung nahm etwa 15 Minuten in Anspruch. Nach einem Pretest des Fragebogens im August 2020 wurde die Umfrage im Zeitraum vom 01. September bis zum 16. Oktober 2020 verbreitet und durchgeführt. Von den insgesamt 303 Personen, die an der Umfrage teilgenommen haben, wurden 45 aus der Analyse ausgeschlossen, weil sie nicht alleinerziehend waren oder nicht in Bielefeld lebten. Weitere 65 Fälle wurden aufgrund fehlerhafter oder unvollständiger Angaben aus der Stichprobe ausgeschlossen. Insgesamt konnten somit 193 Alleinerziehende für die Auswertung der Online-Befragung herangezogen werden.
Befunde Zunächst wird die Sozialstruktur der Studienteilnehmer*innen beschrieben und mit denjenigen Informationen verglichen, die auf Basis des Einwohnermelderegisters der Stadt Bielefeld zur Verfügung stehen. Dazu werden in Tabelle 1 demografische Merkmale der Alleinerziehenden aus den verschiedenen Datenquellen gegenübergestellt. Die Teilnehmer*innen der Online-Befragung waren durchschnittlich 39,5 Jahre alt, die Altersspanne reichte von 25 bis 57 Jahren. Dabei fühlten sich 93,2 % dem weiblichen Geschlecht zugehörig und 6,3 % definierten sich als männlich. Die Staatsangehörigkeit dieser Alleinerziehenden war mit 92,7 % mehrheitlich deutsch und auch als Geburtsland wurde mehrheitlich Deutschland angegeben. Hier zeigt sich eine starke Abweichung zur Grundgesamtheit aller Bielefelder Alleinerziehenden. In der qualitativen Erhebung berichtete mehr als die Hälfte der Befragten von persönlichen Migrationserfahrungen, allerdings ist ein systematischer Vergleich aufgrund fehlender Informationen nicht möglich. Die Geschlechterverteilung und das Durchschnittsalter beider Erhebungen unterschieden sich nicht maßgeblich von den Informationen, die im Einwohnermelderegister vorliegen. Ähnliches gilt für die Haushaltsstrukturen der Alleinerziehenden. Über die Hälfte der online Befragten lebte mit einem Kind zusammen (57,5 %), knapp ein Drittel mit zwei Kindern (31,1 %), 6,7 % mit drei Kindern und in acht Haushalten lebten sogar vier Kinder mit ihrem Elternteil (4,1 %). Rechnerisch ergibt dies 1,56 Kinder pro Elternteil, wobei die Kinder im Durchschnitt 9,3 Jahre alt waren. Nach den Einwohnermelderegisterdaten fallen diese Werte mit durchschnittlich 1,51 Kindern, die im Mittel 9,2 Jahre alt sind, kaum geringer aus. Informationen zum Bildungshintergrund der Alleinerziehenden stellen einen Vorteil des Projekts dar (Abb. 1). Derartige Informationen liegen in anderen Quellen gar nicht vor (Einwohnermelderegister) oder umfassen nur einen geringen
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Tabelle 1: Vergleich von Sozialstrukturdaten der Erhebungen im Projekt „Alleinerziehende in Bielefeld“ sowie aller Alleinerziehenden in Bielefeld nach dem Einwohnermelderegister Merkmal
Qualitative Quantitative EinwohnerErhebung Erhebung melderegister
Anzahl Alleinerziehende
33
193
5.707
Frauen
90,9 %
93,2 %
90,3 %
Männer
9,1 %
6,3 %
9,7 %
deutsche Staatsangehörigkeit
-
92,7 %
72,0 %
keine deutsche Staatsangehörigkeit
-
7,3 %
28,0 %
Geburtsland Deutschland
-
86,0 %
59,4 %
Geburtsland Ausland
-
14,0 %
40,6 %
40,1
39,5
39,6
davon
Durchschnittsalter
Hinweis: Strukturdaten der qualitativen Erhebung z. T. nicht vorhanden. Quelle: Einwohnermelderegister der Stadt Bielefeld zum 30.06.2020 sowie Erhebung „Alleinerziehende in Bielefeld“ 2020, Presseamt/Statistikstelle der Stadt Bielefeld
Teil der Alleinerziehenden (beispielsweise Informationen zum Bildungshintergrund in Statistiken der Bundesagentur für Arbeit). Sowohl in den Interviews als auch in der Umfrage wurde deutlich, dass ein Großteil der befragten Alleinerziehenden über einen relativ hohen Bildungsabschluss verfügte. Insgesamt 19 der qualitativ Interviewten haben ein Studium oder eine Berufsausbildung abgeschlossen, während sechs Interviewte bislang noch keine Berufsausbildung vollendet oder die Angabe verweigert haben. Bei der Online-Umfrage gab mit 120 Nennungen die Mehrheit an, die Hochschulreife oder das Abitur erworben zu haben (63,5 %). 43 Alleinerziehende haben die Mittlere Reife (22,8 %) und 15 einen Hauptschulabschluss erreicht (7,9 %). Der Rest von elf Personen verfügte über einen sonstigen oder noch keinen Abschluss. In Bezug auf ihren höchsten beruflichen Abschluss haben die meisten Befragten eine Lehre bzw. eine Berufsausbildung (49,2 %) oder ein Studium (32,4 %) absolviert. Mit 13 Abschlüssen im Bereich Fachschule/Meister*in/Techniker*in (7,0 %) sowie fünf Promotionen (2,7 %) waren auch die jeweils höheren Abschlüsse vertreten, wohingegen 16 Alleinerziehende (8,7 %) keinen oder einen nicht genannten beruflichen Abschluss besaßen. Die Familienform des Alleinerziehens ist somit in allen Bildungslagen zu finden, wobei in der vorliegenden Stichprobe bessergebildete Menschen gegenüber der Durchschnittsbevölkerung überrepräsentiert sind.
Abbildung 1: Relative Häufigkeiten zum Bildungsstand Alleinerziehender in Bielefeld
Berufsabschluss
Schulabschluss 2,6 %
3,2 %
7,9 %
7,6 %
1,1%
2,7 % 22,8 %
49,2 %
32,4 %
63,5 % 7,0 % Hauptschulabschluss Realschulabschluss / Mittlere Reife (Fach)Hochschulreife / Abitur (noch) keinen Abschluss Sonstige
Lehre / (duale) Berufsausbildung Fachschule, Meister/in, Techniker/in Bachelor, Master, Diplom Promotion (noch) keinen Abschluss Sonstige
Quelle: Quantitative Erhebung „Alleinerziehende in Bielefeld“ 2020, Presseamt/Statistikstelle der Stadt Bielefeld
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Als ein wesentliches Problem im Alltag Alleinerziehender kann eine erhöhte Armutsgefährdung herausgestellt werden (Giesselmann et al. 2018; Kraus 2014; Nieuwenhuis u. Maldonado 2018). Die befragten Alleinerziehenden berichteten in den Interviews von unterschiedlichen materiellen Mangelsituationen, die im Verlauf der Studie weiter bestätigt wurden. Mehr als ein Drittel der Teilnehmer*innen der Online-Umfrage gab beispielsweise an, mit dem verfügbaren Einkommen unzufrieden zu sein (37,8 %) und fast ebenso viele Befragte kamen oftmals nur schlecht mit ihrem Einkommen zurecht (34,0 %). Neben diesen subjektiven Einschätzungen wurden die Alleinerziehenden nach dem ihnen monatlich zur Verfügung stehenden Nettoeinkommen gefragt. Durch die Berücksichtigung von Einspareffekten innerhalb eines Haushaltes kann damit das Nettoäquivalenzeinkommen berechnet werden, welches wiederum verwendet wird, um Armutsgefährdung statistisch zu definieren. Im Allgemeinen wird dazu die Schwelle von 60 % des Medians des Nettoäquivalenzeinkommens verwendet. Dieser Median betrug im Jahr 2020 für NordrheinWestfalen 1.871 € (Statistische Ämter des Bundes und der Länder 2021). Für alle Haushalte von Alleinerziehenden kann somit ein konkreter Wert berechnet werden, unter welchem sie als armutsgefährdet gelten. Die Analyse der Online-Befragung ergab eine Armutsgefährdungsquote von 71,6 % für die Alleinerziehenden, welche jedoch aufgrund methodischer Einschränkungen lediglich als grober Richtwert interpretiert werden sollte. Nicht nur im Vergleich zu den Zahlen des Mikrozensus, welche für das Jahr 2019 eine deutschlandweite Armutsgefährdungsquote von 42,7 % unter Alleinerziehenden ausgaben, ist dieses Ergebnis aus Bielefeld trotzdem besorgniserregend (DESTATIS 2020b). Weitere Befunde zu finanziellen Problembereichen Alleinerziehender sind in Abbildung 2 dargestellt. Fast die Hälfte der online Befragten gab an, aus monetären Gründen Schwierigkeiten bei der Freizeitgestaltung zu haben (48,7 %) und ein Drittel berichtete, dass ihnen der Kauf von alltäglichen Gegenständen unter 100 € schwerfiel (32,6 %). Häufig genannt wurden auch Schwierigkeiten beim Abzahlen von Schulden oder Hypotheken (25,4 %), dem Kauf von Lebensmitteln (14,5 %) oder der Bezahlung von Mietkosten, Heiz- oder Stromkosten (11,9 %). Ein sehr großer Anteil von 73,6 % der Alleinerziehenden gab schließlich an, Probleme bei der Deckung unerwartet anfallender Ausgaben von mindestens 1.000 € zu haben. Dieser Indikator für fehlende finanzielle Sicherung kann über den EU-SILC Survey mit Familien in ganz Deutschland verglichen werden. Für das Jahr 2019 meldeten hier lediglich 27,6 % aller Familienformen diese Problematik (EUROSTAT 2020). Die Zufriedenheit der Alleinerziehenden mit ihrer Lebenssituation variierte stark, wie unterschiedliche Rückmeldungen in der qualitativen und quantitativen Erhebung belegen (Abb. 3). Grundsätzlich gab mehr als die Hälfte der online befragten Alleinerziehenden an, mit ihrer allgemeinen Lebenssituation zufrieden zu sein (57,8 %), knapp ein Drittel bewertete ihre Lebenssituation als ausreichend (30,2 %) und nur 12,0 % sind mit der Situation unzufrieden. In den qualitativen Interviews zeigten sich immer wieder positive Aspekte des alleinigen Erziehens, wenn etwa von der besonders innigen Beziehung zu den eigenen Kindern und der Energie berichtet wurde, die diese freisetzt. Einige alleinerziehende Frauen und Männer
Abbildung 2: Relative Häufigkeiten zur Frage nach finanziellen Problembereichen im Alltag von Alleinerziehenden und ihren Kindern in Bielefeld (Mehrfachnennungen möglich) Unerwartet anfallende Ausgaben von mind. 1.000 €
73,6 %
Freizeitgestaltung
48,7 %
Kauf von alltäglichen Gegenständen unter 100 €
32,6 %
Schulden oder Hypotheken
25,4 %
Kauf von Lebensmitteln
14,5 %
Unerwartet anfallende Ausgaben von mindestens 1.000€
Freizeitgestaltung
Kauf von alltäglichen Gegenständen unter 100€
Schulden oder Hypotheken
Kauf von Lebensmitteln
Miet-, Heiz-, oder Stromkosten
11,9 %
Miet-, Heiz- oder Stromkosten
Sonstige Probleme
8,8 %
Sonstige Probleme
Keine Auswirkungen
8,3 %
Keine Auswirkungen
0
10
20
30 40 50 Anteil in Prozent
60
70
80
Quelle: Quantitative Erhebung „Alleinerziehende in Bielefeld“ 2020, Presseamt/Statistikstelle der Stadt Bielefeld
Abbildung 3: Relative Häufigkeiten zu den Fragen bereichsspezifischer Zufriedenheit Ganz allgemein gesagt: Wie zufrieden sind Sie mit ... ? … Ihrer Lebenssituation in Bielefeld?
12
... Ihrer Lebenssituation in Bielefeld?
30
… Ihrer Wohnsituation?
... Ihrer Wohnsituation?
23
… Ihrer Arbeitssituation?
24
... Ihrer Arbeitssituation?
… Ihrem verfügbaren Einkommen?
58
30
47
26
51
38
... Ihrem verfügbaren Einkommen?
... Ihrer Gesundheit? … Ihrer Gesundheit?
35
30
… Ihren persönlichen Beziehungen (z. B. Freunde, Kollegen, Bekannte)?
24
... Ihren persönlichen Beziehungen (z. B. Freunde, Kollegen, Bekannte)?
27
28
42
21
… Ihrer verfügbaren Zeit für Hobbys und Freizeitgestaltung?
55
69
... Ihrer verfügbaren Zeit für Hobbys und Freizeitgestaltung?
… der Unterstützung durch städtische Dienststellen und Ämter?
21
49
... der Unterstützung durch städtische Dienststellen und Ämter?
0
(sehr) unzufrieden
0,25 25
ausreichend
38 0,5 50 Anteil in Prozent
10
13 0,75 75
1 100
(sehr) zufrieden
Quelle: Quantitative Erhebung „Alleinerziehende in Bielefeld“ 2020, Presseamt/Statistikstelle der Stadt Bielefeld
beschrieben ihre Situation deutlich als selbstgewählten Ausdruck eines modernen (Patchwork-)Familienlebens. Gleichzeitig war der subjektiv empfundene Verlust von Lebensqualität durch die Rolle als Alleinerziehende*r ein häufig genanntes Problem in den Interviews, während im Online-Fragebogen bei der verfügbaren Zeit, der Unterstützung durch städtische Dienststellen und beim Einkommen am häufigsten Unzufriedenheit geäußert wurde. Die Analyse beider Erhebungsarten verdeutlichte, dass der standardisierte Fragebogen die facettenreiche und häufig ambivalente Situation Alleinerziehender in ihrer individuellen Komplexität nur bedingt abzubilden vermochte. Dies lässt sich am Thema Gesundheit illustrieren: So gaben zwar 42,4 % der Alleinerziehenden an, mit der eigenen Gesundheit zufrieden zu sein. Etwas mehr als ein Viertel der Befragten (27,7 %) bewertete sie aber lediglich als ausreichend und 29,8 % waren unzufrieden mit ihrer Gesundheit. Diese Heterogenität explizierte sich in den qualitativen Interviews, in denen wiederholt verstärkte physische und psychische gesundheitliche Belastungen im Alltag der Alleinerziehenden beschrieben wurden. Vor allem Alleinerziehende mit jüngeren Kindern gaben an, dass die Situation isolierter Verantwortung
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zu gesundheitlichen Problemen führe: „Ich habe nicht gewusst, wie ich alles schaffen sollte. Die Wäsche musste aus dem dritten Stock in den Waschkeller getragen werden. Mit dem Säugling im Tragegurt war das viel zu schwer.“ Gerade vor diesem Hintergrund stellt ein intaktes soziales Umfeld eine wichtige Ressource für Alleinerziehende dar (Rattay et al. 2017). Dieser Aspekt wurde mit mehreren Items gemessen, bei denen die Häufigkeit des Vorkommens einer Situation von „1 = niemals“ bis „5 = immer“ angegeben werden konnte. Jüngere Alleinerziehende von 25 bis 39 Jahren gaben im Vergleich zu älteren sowohl an, dass sie sich häufiger isoliert von anderen Menschen fühlen (Mittelwert 3,33 vs. 3,03; siehe Abb. 4) als auch, dass sie sich seltener mit anderen Alleinerziehenden austauschen können (2,37 vs. 2,64). Diese Unterschiede sind statistisch signifikant, was die Notwendigkeit von vernetzenden sozialen Angeboten unterstreicht. Gleichzeitig gaben ältere Alleinerziehende im Vergleich zu jüngeren an, dass sie weniger gut mit der Bewältigung ihres Alltags zurechtkamen (3,36 vs. 3,64 auf einer Skala von 1 = sehr schlecht bis 5 = sehr gut). Diese Unterschiede können Hinweise auf Erschöpfungserfahrungen wegen der höheren Dauer des Alleinerziehens im Lebensverlauf oder kumulierende gesundheitliche Probleme darstellen.
Abbildung 4: Signifikante Mittelwertsunterschiede im Gruppenvergleich jüngerer und älterer Alleinerziehender 5
Skalierung: 1 = niemals / sehr schlecht
Mittelwert
4
5 = immer / sehr gut 3
Altersgruppen:
2
25 bis 39 Jahre
1
2,37
2,64
3,33
3,03
3,64
3,36
40 bis 57 Jahre
Wie oft haben Sie die Wie häufig fühlen Sie sich Wie kommen Sie alles in Möglichkeit, sich mit isoliert von anderen allem mit der Bewältigung anderen Alleinerziehenden Menschen? Ihres Alltags zurecht? auszutauschen?
Quelle: Quantitative Erhebung „Alleinerziehende in Bielefeld“ 2020, Presseamt/Statistikstelle der Stadt Bielefeld
Die Bewältigung des Alltags stellt für Einelternfamilien verglichen mit Paarfamilien oftmals eine gesteigerte Herausforderung dar. Die Betreuung der Kinder steht dabei im Mittelpunkt und muss im Wesentlichen alleine organisiert werden, wobei sie – sofern möglich – durch externe Betreuungsangebote ergänzt wird. Durch die vorliegende Studie haben wir eine bessere Vorstellung davon, wie alleinerziehende Eltern in Bielefeld diese Situation meistern. Generell gab erwartungsgemäß mit 71,1 % der Großteil der Alleinerziehenden an, an sieben Tagen in der Woche die alleinige Sorge für ihre Kinder zu tragen. Jede*r fünfte Alleinerziehende betreute an sechs oder fünf Tagen ihre oder seine Kinder (20,9 %). Nur ein kleiner Anteil von unter 10 % trug die alleinige Sorge an vier oder weniger Tagen. Neben der eigenständigen Betreuung wa-
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ren Bildungs- und Betreuungseinrichtungen wie Kindertageseinrichtungen (34,2 %) sowie Schulen, Kinderhorte und Ganztagesbetreuungen (45,6 %) für viele Alleinerziehende eine Stütze, wobei die bestehenden Möglichkeiten abhängig vom Alter der Kinder sind. Unterstützung erhielten sie außerdem von nahestehenden Personen wie dem zweiten Elternteil (25,9 %), den Großeltern (23,3 %) oder anderen unbezahlten Unterstützer*innen aus dem privaten Umfeld (7,3 %). Nur sehr wenige Alleinerziehende nutzten Angebote von Tagesmüttern bzw. -vätern oder von bezahlten Hilfskräften (jeweils unter 5 %). Trotz dieser vielfältigen Möglichkeiten gab fast jede*r vierte Alleinerziehende an, auf keine externen Angebote zurückgreifen zu können und das Kind ausschließlich alleine zu betreuen (23,3 %). Gefühle des Desinteresses und der Stigmatisierung durch die Gesellschaft waren bei vielen Alleinerziehenden präsent. Eine Interviewte äußerte dazu: „Ich habe von anderen immer gehört: Du Arme! Aber das war ich nicht. Ich hatte das Gefühl, man gehört als Alleinerziehende nicht dazu, hat irgendeinen Mangel.“ Berichtet wurde von alltäglichen, fast beiläufigen Herabsetzungen, wenn Alleinerziehende auf vermeintliche Defizite in Bezug auf ihre Familienstruktur und vermutete Erziehungsleistung hingewiesen wurden. Dabei wurde hauptsächlich das Unwissen über die eigene Situation als Alleinerziehende*r als Ursache für Abwertungen empfunden. Die Alleinerziehenden selbst nahmen die Situation hingegen teils ganz anders wahr: So wurde etwa die Vertrauensbasis zwischen Elternteil und Kind als besonders stark und ausdrückliches Qualitätsmerkmal erfahren. Und auch, wenn die alleinige Erziehungsverantwortung mit einer Belastung einherginge, machte es Alleinerziehende „stolz, alles alleine gut organisiert zu kriegen“ und es sei „toll, meine Kinder nach meinen Werten zu erziehen“. Eine Berücksichtigung dieser Stärken kann helfen, von einer allzu defizitorientierten Sichtweise von Einelternfamilien abzurücken. Auch Gewalterfahrungen sind für Alleinerziehende keine Seltenheit, wie die qualitativen Interviews eindringlich verdeutlichten. Für einige der Befragten stellte die strikte Trennung vom zweiten Elternteil und Übernahme der Erziehungsverantwortung die einzige Möglichkeit dar, sich vor körperlichen Übergriffen im gemeinsamen Haushalt zu schützen. Mehr als ein Fünftel der Interviewten beschrieb in diesem Zusammenhang direkte physische Gewalt durch ehemalige Partner*innen. Auch von Erfahrungen psychischer, sexueller und wirtschaftlicher Gewalt wurde berichtet. Das in Vorgesprächen und in den Interviews gebildete Vertrauensverhältnis zu den Befragten erlaubte hier tiefere Einblicke in die sensible Thematik zu erhalten, als dies in einer Online-Befragung möglich wäre. Die vorgestellten Themen stellen nur Ausschnitte aus den Inhalten der Studie dar. Spezifischer auf Bielefelder Verhältnisse bezogen wurden beispielsweise auch Erfahrungen mit der kommunalen Organisation von Betreuungsplätzen, Kenntnisse und Nutzung lokaler Angebote oder in mehreren offenen Fragen individuelle Erfahrungen und Wünsche der Alleinerziehenden abgefragt. Weitergehende Informationen zur Studie sind im Abschlussbericht auf der Projekthomepage unter www.bielefeld.de/statistik erhältlich.
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Umsetzung von Handlungsempfehlungen und Ausblick Die empirischen Ergebnisse wurden in der Endphase der Studie aufbereitet und in einem Problemkatalog verdichtet, für den differenziert nach Themenfeldern mit den übrigen Kooperationsakteuren innerhalb und außerhalb der Stadtverwaltung Handlungsempfehlungen abgestimmt wurden. Als einer der Hauptaspekte wurde der Wunsch nach einer zentralen koordinierenden Stelle formuliert, welche die Information, Vernetzung und Unterstützung von Alleinerziehenden fördern soll. Hier besteht die Chance, durch eine fortlaufende Partizipation der Alleinerziehenden sowohl soziale Beziehungen zu stärken als auch eine gegenseitige Information zu erreichen (siehe auch Bräutigam et al. 2012). Mit dem Familienbüro der Stadt Bielefeld ist bereits eine zentrale Anlaufstelle eingerichtet worden, die auch eine Lotsenfunktion zu den vielfältigen Angeboten für Familien wahrnimmt. In beiden Befragungen ist jedoch klargeworden, dass die spezifischen Bedarfe von Alleinerziehenden eine besondere Beratungsstruktur erforderlich machen. Dies hat zwischenzeitlich die Diakonie für Bielefeld aufgegriffen und in einem Anschlussprojekt eine Lotsenstelle für Alleinerziehende eingerichtet. Die Lotsin berät Alleinerziehende niedrigschwellig und leitet sie
passgenau in das soziale Netz der Stadt Bielefeld weiter, um bedarfsgerechte Hilfestellung zur Bewältigung ihrer persönlichen Situation zu finden. Zusätzlich initiiert und unterstützt sie Angebote sowie Gruppenformate für Alleinerziehende. Dabei kann sie auf Räumlichkeiten des „Grünen Würfels“ zurückgreifen, einem Mitmach-Begegnungszentrums für Kinder, Jugendliche und Erwachsene, das auf einem zentralen Platz Bielefelds – dem Kesselbrink – verortet ist und sich zurzeit in der Erprobung durch das Sozialdezernat befindet. Generell stellen die im Projekt erhobenen qualitativen und quantitativen Daten darüber hinaus eine detaillierte Ergänzung der Bielefelder Sozialberichterstattung dar. Die bisweilen arbeitsintensive Durchführung dieses kooperativen Forschungsprojektes hatte trotz aller administrativen und pandemiebedingten Widrigkeiten somit bereits einen sichtbaren Ertrag für die Kommune. Eine Herausforderung wird nun sein, der Thematik nicht nur im Zyklus periodisch wiederkehrender Projektlaufzeiten Aufmerksamkeit zu schenken, sondern durch erfolgreiche Wissenstransfers die integrierenden Anstrengungen für Alleinerziehende mit verlässlicher Kontinuität zu gestalten.
1
Das Projekt „Alleinerziehende in Bielefeld“ wurde durch Zuwendungen des Landes Nordrhein-Westfalen gefördert.
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Stadtforschung
Matthias Schulze-Böing
Covid-19 und Sozialstruktur Einige Ergebnisse der Analyse von Daten der Stadt Offenbach am Main Die Corona-Pandemie hat auch für die Kommunalstatistik neue Herausforderung gebracht. In dem Beitrag werden Daten zur Corona-Inzidenz in der Stadt Offenbach nach verschiedenen Gesichtspunkten untersucht. Ein besonderer Fokus liegt dabei auf der Analyse der Infektionsdynamik nach der Staatsangehörigkeit. Es zeigt sich, dass Nicht-Deutsche eine zum Teil deutlich höhere Inzidenz aufweisen als der Durchschnitt der Bevölkerung, dass es aber zugleich große Unterschiede bei den einzelnen Nationalitäten gibt. Darüber hinaus wird untersucht, ob sich in den Daten Hinweise auf kulturelle Einflussfaktoren auf das Infektionsgeschehen gibt.
Dr. Matthias Schulze-Böing Diplom-Soziologe, Dr. rer.pol., bis Ende 2020 Leiter des Amtes für Arbeitsförderung, Statistik und Integration der Stadt Offenbach am Main, seither freiberuflich tätig sowie als Analyst für die Stadt Offenbach; Lehrauftrag an der Hochschule Fulda; Arbeit zu Themen der Sozialpolitik, der Migration und des Verwaltungsmanagements : info@schulzeboeing.de Schlüsselwörter Corona – Covid-19 – Sozialstruktur – Migration – Staatsangehörigkeit
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Vorbemerkung Die Corona-Pandemie hält Deutschland wie die Welt nach wie vor in Atem. Die Gesellschaft ist mit massiven Beeinträchtigungen in vielen Lebensbereichen konfrontiert. Die Politik bemüht sich auf allen Ebenen fieberhaft um die Eindämmung der Pandemie, um Prävention und um Sicherstellung der Gesundheitsversorgung der Bevölkerung. Dabei wird immer wieder deutlich, dass die Datenlage zum Pandemiegeschehen in vielerlei Hinsicht auch fast zwei Jahre nach Beginn der Krise noch immer nicht befriedigend ist. Dies betrifft nicht nur medizinische und epidemiologische Daten im engeren Sinne, sondern auch Daten zur sozialen Dimension der Pandemie, die gerade für eine langfristige Bekämpfung der Pandemie, ihrer Folgen sowie für zukünftige Herausforderungen sehr bedeutsam sein können. Die Landkreise und kreisfreien Städte stehen aufgrund ihrer Aufgaben in besonderem Maße im Brennpunkt der Entwicklung. Deshalb ist es auch auf dieser Ebene notwendig, die vorhandenen Möglichkeiten zur lokalen Datenaufschließung intensiv zu nutzen. Hier ist neben den Gesundheitsbehörden auch die Kommunalstatistik gefordert, etwa wenn es darum geht, Gesundheitsdaten mit soziodemographischen Daten zu verknüpfen und auf mögliche Zusammenhänge zu untersuchen. Im Folgenden werden im Rahmen eines kleinen Werkstattberichtes ausgewählte Daten zur Corona-Pandemie aus der Stadt Offenbach am Main vorgestellt. Offenbach war im Jahr 2021 zeitweise ein sogenannter „Hotspot“ des Infektionsgeschehens im Land Hessen, in bestimmten Phasen auch bundesweit. Das hat verständlicherweise in der Öffentlichkeit und in der Kommunalpolitik die Frage nach besonderen lokalen Risikofaktoren aufgeworfen. Von besonderem Interesse war dabei die Frage, ob die besondere Sozialstruktur der Stadt einen solchen Risikofaktor darstellt. Die Daten zur hier vorgestellten lokalen Analyse der Infektionsdynamik beziehen sich auf das erste Halbjahr 2021.
Lokale Rahmenbedingungen Offenbach am Main ist mit rund 140.000 Einwohnern1 die kleinste der fünf Großstädte des Landes Hessen in direkter Nachbarschaft zu Frankfurt am Main. Die Region Frankfurt/ Rhein-Main ist eine dynamische Wirtschaftsregion mit einer
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besonders starken internationalen Verflechtung. Ein besonderes Kennzeichen der Stadt Offenbach ist ihr besonders hoher Ausländeranteil mit 39,6 Prozent Ende 2020. Der Anteil der Einwohner mit Migrationshintergrund liegt bei 63,9 Prozent. Ein weiteres Merkmal ist die stark belastete Sozialstruktur. Der Anteil der Leistungsberechtigten nach dem Sozialgesetzbuch II an der Bevölkerung bis unter 65 Jahre (SGB-II-Quote) lag 2020 bei 14,3 Prozent gegenüber 8,1 Prozent in Hessen und 8,4 Prozent auf Bundesebene (Bundesagentur für Arbeit 2021).
Infektionstreiber Armut? Die „Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung“ (FAS) berichtete in einem Aufmacher am 16. Mai 2021 wie vor ihr bereits verschiedene andere Medien über Befunde, dass der CoronaVirus zwar alle in der Gesellschaft bedroht, aber dass es doch Schwerpunkte im Infektionsgeschehen gibt, die auf einen starken Einfluss der sozialen Lage auf das Infektionsgeschehen hinweisen. Der Gedanke an einen Zusammenhang zwischen Armut und Corona liegt durchaus nahe (Lewicki 2021: 3). Es ist aus vielen Untersuchungen bekannt, dass Arme häufiger krank sind und auch, dass sie statistisch gesehen eine niedrigere Lebenswartung haben (Kooperationsverbund Gesundheitliche Chancengleichheit 2010). Alles, was man über die Verbreitungswege des Corona-Virus bisher weiß, spricht ebenfalls für ein besonderes Erkrankungsrisiko bei Armen, sind diese doch aufgrund fehlender Bildung schlechter über die Risiken des Virus und mögliche Maßnahmen gegen eine Ansteckung informiert, leben häufiger in beengten Wohnungen, sind stärker auf öffentliche Verkehrsmittel verwiesen und arbeiten häufiger in Berufen und Branchen, die eine Verlagerung des Arbeitsplatzes ins Home-Office nicht zulassen. Weiterhin wird vermutet, u. a. vom Chef des Robert-KochInstituts (RKI) Lothar Wieler, dass Migranten besonders von Corona-Infektionen betroffen sind2. Regionale und lokale Untersuchungen, etwa in Baden-Württemberg und Köln zeigen in der Tat, dass die Covid-19-Inzidenz in einem signifikanten Zusammenhang mit dem Ausländeranteil in Kreisen bzw. in Stadtteilen steht. Bei Sozialindikatoren, etwa der Arbeitslosenquote und der Armutsquote, wurde in diesen Untersuchungen dagegen kein starker Zusammenhang mit der Covid-19-inzidenz gefunden (NZZ 2021). Christian Endt u. a. (2021) haben Daten aus 465 Stadtteilen in 10 Großstädten, darunter auch Berlin, analysiert und kommen zu anderen Ergebnissen. Sie stellen in diesen Städten zum Teil hohe Korrelationen der Corona-Inzidenz mit der Arbeitslosenquote und dem Ausländeranteil sowie eine starke negative Korrelation mit dem durchschnittlichen Haushaltseinkommen fest. Interpretiert wird dies allerdings so, dass es nicht der Ausländer-Status als solcher sei, sondern die durchschnittlich schlechtere soziale Situation von Menschen ohne deutschen Pass, die als Infektionstreiber anzusehen ist. In Wahrheit seien es also soziale Faktoren, nicht Kultur oder Herkunft, die zu einer ungleichen Verteilung des Erkrankungsrisikos führten. Zudem ist die Situation in den Städten wohl sehr unterschiedlich. Es gibt Städte wie Hamburg, bei denen es einen starken Zusammenhang von Indikatoren für soziale Probleme und
der Erkrankungsrate gibt, und Städte, bei denen dieser Zusammenhang nicht besteht oder sogar leicht negativ ist, etwa in Dresden. Die Auswahl der 10 untersuchten Städte ist nicht repräsentativ für die Städte Deutschlands. Auch ist bei der Betrachtung von innerstädtischen Räumen in verschiedenen Städten stets zu beachten, dass diese sehr unterschiedliche Größe haben können. Für Berlin wurden etwa die 11 politisch selbstständigen Bezirke betrachtet, die jeweils die Größe einer mittleren deutschen Großstadt haben, in Nürnberg die 87 statistischen Bezirke mit meist nur vierstelligen Einwohnerzahlen. Analysen zum Zusammenhang zwischen Sozialstrukturindikatoren, Armutsindikatoren und Corona-Inzidenz auf der Ebene von kreisfreien Städten brachten kein klares Bild. Es gibt Regionen, in denen es ausgeprägte Zusammenhänge zwischen Sozialindikatoren wie Arbeitslosenquote, SGB-II-Quote und durchschnittliches Haushaltseinkommen der Städte und der Corona-Inzidenz gibt, etwa Hessen und Baden-Württemberg. Aber insgesamt ist der Zusammenhang schwach. Auch zwischen dem Ausländeranteil an der Bevölkerung und der Corona-Inzidenz gibt es nur in einigen Bundesländern stärkere Zusammenhänge (Schulze-Böing 2021). Die These, dass Corona in besonderem Maße ärmere und sozial Benachteiligte Menschen trifft, lässt sich offenbar nicht eindeutig bestätigen.
Kulturelle und politische Faktoren Es liegt nahe, neben sozialen Faktoren auch kulturelle Faktoren in Betracht zu ziehen, kann man doch davon ausgehen, dass das soziale Verhalten und damit auch das infektionsrelevante Verhalten von solchen Faktoren zumindest in einem gewissen Umfang mit beeinflusst wird. In der ersten und zweiten Welle der Pandemie waren es, wie Presseberichten zu entnehmen war, mehrfach religiöse Feiern, die sich zu „Super-Spreading“Ereignissen mit vielen Infektionsfällen in der Folge entwickelt hatten. Auch die Bereitschaft, sich staatlichen oder kommunalen Weisungen zur Infektionsprävention zu unterwerfen, dürfte in einem gewissen Umfang durch kulturelle Normen und Werte beeinflusst sein. Richter et al. (2021) haben in einer Untersuchung zur „politischen Raumkultur“ zeigen können, dass es einen signifikanten Zusammenhang zwischen den Stimmanteilen der AfD und rechtsextremer Kleinparteien bei den Bundestagswahlen 2017 und der Inzidenz von Corona im Jahr 2020 gibt. In die gleiche Richtung zeigen die Ergebnisse auf der Ebene von kreisfreien Städten in Bezug auf den Zusammenhang von Stimmanteilen bei den Europawahlen 2019 und der Corona-Inzidenz im ersten Halbjahr 2021 (Schulze-Böing 2021). In dieser Untersuchung zeigte sich, dass es komplementär zu einer positiven Korrelation von AfD-Stimmanteilen und Corona-Inzidenz eine fast ebenso starke negative Korrelation von Corona-Inzidenz und Stimmanteilen von Bündnis90/Die Grünen gibt, während für andere Parteien keine erkennbaren Zusammenhänge mit der Infektionsdynamik erkennbar sind. Auch dieser zweite Aspekt könnte als Ausdruck einer „politischen Raumkultur“ gedeutet werden, die in mancher Hinsicht der durch hohe Stimmanteile für die AfD geprägten Kultur polar gegenübersteht. Insgesamt scheint die Forschung zu diesen Zusammenhängen noch in den Anfängen zu stehen. Darüber hinaus gibt
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Stadtforschung
es in den Datensätzen des RKI keine Daten zum sozialen Status. Auch zur Nationalität der Personen mit gemeldeter CoronaInfektion sind beim RKI keine Daten öffentlich zugänglich. In den weiteren Abschnitten werden einige ausgewählte Befunde aus der Stadt Offenbach, insbesondere zur Inzidenz differenziert nach Staatsangehörigkeiten, vorgestellt. Es handelt sich um einen Ausschnitt aus der fortlaufenden Beobachtung des lokalen Pandemiegeschehens durch den Autor.
Infektionsdynamik in der Stadt Offenbach Mit Beginn der zweiten Infektionswelle 2020 gehörte die Stadt Offenbach immer wieder zu den Kreisen mit der höchsten Corona-Inzidenz in Hessen, aber zeitweise auch in ganz Deutschland. Auch im Vergleich mit dem unmittelbaren regionalen Umfeld zeigte sich eine besonders ausgeprägte Infektionsdynamik.
Innerstädtische Verteilung der Corona-Inzidenz Die im Folgenden dargestellten Daten beziehen sich auf die ersten fünf Monate des Jahres 2021 und wurden durch Aus-
wertungen des Datenbanksystems SurvNet gewonnen, das vom RKI standardmäßig in den Gesundheitsbehörden installiert ist und zur Erfassung meldepflichtiger Infektionserkrankungen dient, darunter auch Corona/Covid-19. Die zeitliche Begrenzung ist durch den Wechsel des Datenbanksystems Ende Mai begründet, durch den für längere Zeit nur ein stark eingeschränkter Datenbestand zugänglich war. Die ersten fünf Monate decken jedoch einen ausreichend großen Zeitraum ab, um Strukturen zu erkennen. Der Zeitraum umfasst den Höhepunkt der zweiten Infektionswelle und die dritte Infektionswelle im Frühjahr 2021. Die soziodemographischen und Sozialdaten sind den Beständen der Kommunalstatistik und der Sozialplanung der Stadt entnommen, die überwiegend veröffentlicht sind. Es wurde jeweils der aktuellste verfügbare Datenstand zu Grunde gelegt. Die Stadt Offenbach ist in 19 Statistische Bezirke mit durchschnittlich knapp 7.400 Einwohnern gegliedert, in einer Spanne von 852 Einwohnern im kleinsten Bezirk und gut 16.000 im größten. Die Corona-Inzidenz pro 100.000 Einwohner (Inzidenz) im Betrachtungszeitraum lag für die Gesamtstadt bei 3.346, die durchschnittliche 7-Tage-Inzidenz bei 174,1. Die Werte der Gesamtinzidenz in den einzelnen Stadtbezirken erstrecken sich über eine Spanne zwischen 2.728 und 4.5093. Die SGB-II-
Abbildung 1: 7-Tage-Inzidenz in den Wochen von Januar bis Mai 2021 350
300
250
200
150
100
50
0
7-Tage-Inzidenz Stadt Offenbach
7-Tage-Inzidenz Hessen
7-Tage-Inzidenz Frankfurt
7-Tage-Inzidenz Kreis Offenbach Quelle: Robert-Koch-Institut, eigene Berechnungen
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Stadtforschung
Quoten und die Ausländeranteile der Bezirke können ebenfalls der nachfolgenden Tabelle entnommen werden. Während bei den statistischen Bezirken der Sozialindikator SGB-II-Quote und der Strukturindikator Ausländeranteil sehr hoch korreliert sind (R2 = 0,55 – Quadrat von Pearsons r), gibt es zwischen beiden und der Coronainzidenz anders als in den von Endt et al. (2021) untersuchten Städten in Offenbach am Main keine signifikanten Zusammenhänge. Die Korrelationswerte sind für beide Variablen niedrig (R2 = 0,14 für die SGB II-Quote und R2 = 0,08 für den Ausländeranteil). Auch andere getestete Variablen wie Wohndichte, Fluktuation oder Arbeitslosenquote brachten keine aussagefähigen Korrelationen mit der Inzidenz auf Bezirksebene. Es ist in diesem Zusammenhang darauf hinzuweisen, dass die Stadt Offenbach im Vergleich zu anderen Großstädten einen relativ niedrigen Grad der sozialen und ethnischen Segregation aufweist (Helbig u. Jähnen 2019). Interessante Differenzierungen ergeben sich jedoch bei einer näheren Analyse der Inzidenz bei den Nicht-Deutschen.
Daten zur Staatsangehörigkeit der Infektionsfälle Nicht-Deutsche waren, wie im folgenden Schaubild ersichtlich, überproportional von Corona-Infektionen betroffen, wobei sie die Diskrepanz zwischen Deutschen und Nicht-Deutschen von 2020 nach 2021 etwas verringert hat. Im gesamten Jahr 2020 gab es 4.310 gemeldete Infektionsfälle, in den ersten fünf Monaten des Jahres 2021 4.488 Fälle.
Abbildung 2: Covid-19, Infektionsfälle, Stadt Offenbach, Anteile in Prozent (Stand 25.05.2021)
Tabelle 1 Inzidenz (Fälle I-V/ 2021 pro 100 TEW)
SGB-IIQuote 2019 (in Prozent)
Ausländeranteil 2020 (in Prozent)
Hochschule für Gestaltung
3.489,6
16,1
54,0
Wilhelmschule
3.225,2
16,7
59,6
Messehalle
3.210,4
15,4
50,3
Kaiserlei
2.926,4
6,8
37,0
Statistischer Bezirk
Ledermuseum
2.727,6
11,0
41,9
Mathildenschule
4.152,0
17,6
55,6
Klinikum OF
3.332,1
14,3
44,2
Lauterborngeb.
4.508,6
15,3
37,1
Friedrichsweiher
3.128,3
12,4
45,3
Bachschule
4.067,2
11,0
41,5
Lichtenplatte
2.796,1
12,2
43,5
Bieberer Berg
2.844,0
11,9
29,0
Vorderw.-Rosenhöhe
3.324,2
12,8
37,6
Tempelsee
3.053,7
10,4
31,7
Bieber
2.976,3
12,8
25,9
Mühlheimer Str.
3.950,9
8,4
30,5
Waldheim
2.965,3
11,3
18,8
Bürgel
3.381,0
11,2
26,6
Rumpenheim
2.896,7
4,7
15,0
Gesamt
3.346,2
12,9
39,6
Mittelwert
3.313,4
12,2
38,2
494,8
3,2
11,9
Standardabweichung Multiples Bestimmtheitsmaß
0,14
Quelle: Stadt Offenbach; Amt für Arbeitsförderung (2020)
Quelle: Stadt Offenbach am Main
In der Altersschichtung der gemeldeten Infektionsfälle sind die höheren Jahrgänge bei den Nicht-Deutschen erwartungsgemäß geringer besetzt. Die Altersjahrgänge von 61 Jahren und höher haben in der deutschen Bevölkerung Ende 2020 einen Anteil von rund 25,3 Prozent, in der nicht-deutschen Bevölkerung dagegen von 12,4 Prozent. Bei den Deutschen ist der Anteil dieser Altersgruppe bei den Infizierten etwas geringer als bei der gesamten deutschen Bevölkerung, bei den Nicht-Deutschen weichen die Anteilswerte kaum voneinander ab. Zur Darstellung der relativen Betroffenheit durch CoronaInfektionen wurde als Kennziffer die Gesamtinzidenz der Zeit von Anfang 2021 bis 25.05.2021 gewählt. Diese drückt die Zahl der Infizierten der jeweiligen Gruppe hochgerechnet auf 100.000 Einwohner aus (nicht zu verwechseln mit der bekannten Kennziffer der „7-Tage-Inzidenz“, bei der die Fälle von sieben Tagen auf 100.000 Einwohner hochgerechnet werden). Auffällig ist in Bezug auf die Betroffenheit durch Corona-Infektionen die große Spanne der entsprechenden Werte. Sie reichen unter den einwohnerstärksten Gruppen der NichtDeutschen von 2.200 bis über 10.000. Die Betrachtung im Zeitverlauf für die Nationalitäten mit der höchsten Einwohnerstärke von jeweils deutlich über 2.000 Einwohnern zeichnet die Infektionswellen nach. Gibt es Hinweise auf den Hintergrund dieser ungleichen Betroffenheit durch die Pandemie? Auch hier liegt es nahe, soziale Faktoren zu prüfen. In der Tat gibt es einen sehr deutlichen Zusammenhang zwischen der hier als Schlüsselindikator betrachteten SGB-II-Quote und der Inzidenz bei den einzelnen
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Stadtforschung
Abbildung 3: Infizierte, Altersschichtung nach Nationalität (Staatsangehörigkeiten mit den höchsten Einwohner-Zahlen in Offenbach), Stand 25.05.2021
Quelle: Stadt Offenbach am Main
Abbildung 4: Offenbach am Main, Inzidenzen pro 100 TEW, 2021 gesamt (bis 25.05.)
Quelle: Stadt Offenbach am Main
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Stadtforschung
Nationalitäten. In der folgenden Tabelle sind die SGB-II-Quoten der einwohnerstärksten Nationalitäten mit den jeweiligen durchschnittlichen 7-Tage-Inzidenzen in der Zeit von Januar bis Mai 2021 ersichtlich. Es gibt erkennbar eine gewisse Hierarchie in der sozialen Vulnerabilität einzelner Gruppen von Nicht-Deutschen. Die SGB-II-Quote kann man, wie andere Sozialindikatoren auch, als Indikator für den Fortschritt bei der wirtschaftlichen und sozialen Integration einer Bevölkerungsgruppe mit Migrationshintergrund verstehen (Schulze-Böing 2018). Dabei gibt es keinen Zusammenhang mit der Zeit, in der einzelnen Gruppen die Struktur der Stadt prägen. Es gibt Gruppen, die man eher als „Newcomer“ bezeichnen kann, die eine eher geringe Vulnerabilität aufweisen, etwa einige Migrantengruppen, die nach der EU-Ost- und Südosterweiterung an Bedeutung gewonnen haben. Es gibt demgegenüber Gruppen mit einer hohen Vulnerabilität, die man (als Gruppe und statistisches Aggregat) eher zu den „Alteingesessenen“ rechnen kann, etwa die Menschen aus den Herkunftsländern der ersten „Gastarbeiter“-Generation. Überraschend ist der relativ niedrige Inzidenz-Wert bei der Gruppe der Bulgaren, deren Einwohnerstärke von 2010 bis 2020 um 276 Prozent angestiegen ist und die inzwischen zu den fünf einwohnerstärksten Ausländergruppen in Offenbach zählen. Diese Gruppe weist eine besonders hohe Armutsquote auf. Bei der großen Zahl der im letzten Jahrzehnt neu zuge-
Tabelle 2: SGB-II-Quoten und durchschnittliche 7-Tagesinzidenzen Durchschnittliche SGB II-Quote 2019 7-Tage-Inzidenz 2021 (Jan.–Mai) Afghanistan
49,2%
465,3
Marokko
29,8%
353,0
Türkei
19,7%
301,3
Serbien
12,8%
296,7
Italien
20,8%
265,2
Griechenland
13,5%
242,2
Pakistan
26,7%
221,0
Kroatien
4,5%
174,7
11,0%
163,9
6,5%
158,3
Gesamt
13,0%
154,7
Bulgarien
27,3%
139,1
Spanien
21,8%
138,5
Deutschland
11,5%
109,8
9,3%
102,9
Rumänien Polen
Portugal R2 = 0,51
Quelle: Stadt Offenbach am Main
Abbildung 5: Durchschnittliche 7-Tagesinzidenzwerte nach Monaten
Quelle: Stadt Offenbach am Main
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Stadtforschung
wanderten Bürgerinnen und Bürger aus Bulgarien ist zudem bekannt, dass sie nicht nur überdurchschnittlich armutsbetroffen sind, sondern auch sehr häufig in schlechten bis prekären Wohnverhältnissen leben, was man gemeinhin als besonderen Risikofaktor bei der Pandemie ansieht. Möglicherweise spielen bei der niedrigen Inzidenz auf der Basis gemeldeter Infektionen Verhaltensfaktoren wie Test- und Meldebereitschaft eine Rolle. Aber zu dieser Frage gibt es keine Daten. Auf jeden Fall deuten die Daten darauf hin, dass es auch in der Stadt Offenbach einen Zusammenhang zwischen der sozialen Situation und dem Corona-Risiko gibt, nur eben nicht in der sozialräumlichen Dimension, sondern in der von Bevölkerungsgruppen. Eine weitergehende Analyse würde allerdings Verknüpfungen etwa mit den Daten der Sozialbehörden erfordern, was durch den Datenschutz bisher ausgeschlossen ist.
In Bezug auf die Mortalität, d. h. den Anteil der im Zusammenhang mit Covid-19 Verstorbenen an allen Infizierten, zeigt sich bei den Nicht-Deutschen ein niedrigerer Wert als bei den Deutschen, wie der Tabelle 3 zu entnehmen ist. Dies ist aufgrund der schwächeren Besetzung der älteren Jahrgänge bei den Nicht-Deutschen nicht überraschend. Eine Zerlegung der Werte nach einzelnen Staatsangehörigkeiten würde aufgrund der niedrigen Zahlen bei den Verstorbenen jedoch wenig Sinn machen. Hinweise auf eine besondere gesundheitliche Vulnerabilität der Nicht-Deutschen, etwa in Form höherer Sterblichkeitsraten innerhalb einzelner Jahrgangsgruppen, gibt es zumindest für die Stadt Offenbach bisher nicht, wobei eine genauere Aufschlüsselung nach Altersgruppen aufgrund der niedrigen Gesamtzahl keinen allzu großen Informationswert hätte.
Tabelle 3: Covid-19-Mortalität nach Nationalität
Haben kulturelle Faktoren einen Einfluss auf das Infektionsgeschehen?
Mortalität (Anteil Verstorbene an Infizierten in Prozent)
Verstorbene
Gesamt
2020
2021 (Jan.–Mai)
2020
2021 (Jan.–Mai)
69
92
1,6
2,0
Deutschland
50
47
3,0
2,4
Nicht-Deutsch
19
45
0,7
1,7
Quelle: Stadt Offenbach am Main
Die Untersuchung der Infektionsdynamik auf der Ebene von Kreisen bzw. kreisfreien Städte (Schulze-Böing 2021; Richter et al. 2021) hat gezeigt, dass kulturelle Faktoren, die sich in Stimmanteilen für die Parteien AfD ausdrücken (bzw. polar entgegengesetzt für Bündnis90/Die Grünen) einen Einfluss auf das Infektionsgeschehen haben können. Die Prüfung der Infektionsdaten der Stadt Offenbach für diese Variablen auf der Ebene von statistischen Bezirken bringt jedoch kein Er-
Abbildung 6: Covid-19, Stadt Offenbach, 7-Tageinzidenz pro 100 TEW, Nationalität mit überwiegend muslimischer Religionszugehörigkeit (mit jeweils 500 oder mehr Einwohnern in der Stadt Offenbach) 1000
900
800
700
Beginn des Ramadan 2021
600
500
281,7
400
300
200
96,8
100
0
Gesamt
Muslimische Länder Quelle: Stadt Offenbach am Main
80
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gebnis. Es lässt sich für keine der bedeutenderen Parteien, die an der Bundestagswahl 2017 teilgenommen haben, auf dieser Ebene ein Zusammenhang von Stimmanteilen und der Corona-Inzident aufzeigen4. Inwieweit die Religionszugehörigkeit eine Rolle spielt, lässt sich mit den vorhandenen Daten nicht wirklich entscheiden. Es fällt aber auf, dass die Infizierten in der Gruppe muslimischer Länder5 zusammengenommen mit einer durchschnittlichen 7-Tage-Inzidenz in den ersten fünf Monaten 2021 von 371,1 eine annähernd doppelt so hohe Infektionsintensität aufweisen wie alle Nicht-Deutschen zusammengenommen mit 176,4 oder die Gesamtbevölkerung mit 158,9. Aus den Daten in Tabelle 2 ergibt sich auch unabhängig von der SGB-II-Quote ein deutlicher Zusammenhang zwischen Herkunft aus einem muslimischen Land und einer hohen Inzidenz. Es handelt sich zweifellos um einen sehr sensiblen Sachverhalt, den man nur sehr vorsichtig interpretieren sollte. Für die kommunale Praxis in der Pandemie kann dies jedoch ein sehr relevanter Befund sein, insofern er die besondere gesundheitliche Vulnerabilität einer Bevölkerungsgruppe sichtbar macht. Interessant war in der ersten Jahreshälfte 2021 in diesem Zusammenhang die Frage, ob der Beginn der muslimischen Fastenwochen des Ramadan mit ihrer Tradition häufiger Zusammenkünfte nicht nur in religiösen Einrichtungen, sondern auch in den Familien und damit verbunden natürlich besonderen Infektionsrisiken eine Auswirkung auf das Infektionsgeschehen hat. Es handelt sich hier keineswegs nur um eine religiöse Praxis, sondern auch um eine bei weniger religiösen Menschen verbreitete kulturelle Praxis. In der Tat zeigt die Inzidenzkurve bei den Staatsangehörigen der genannten vier muslimischen Länder in der zweiten Woche des Ramadan 2021, der am 12. April begann, steil nach oben. Die 7-Tage-Inzidenz dieser Bevölkerungsgruppe stieg während des Ramadan um bis zu 83 Prozent, während sie im gleichen Zeitraum für die Gesamtbevölkerung lediglich um 34 Prozent zunahm. Die Abbildung 6 zeigt diese Entwicklung. Ob es auch bei Gruppen mit Herkunft aus den christlichorthodoxen Ländern Griechenland, Serbien, Rumänien6, einen ähnlichen Effekt nach hohen Festen gibt, wurde anhand des Infektionsverlaufs dieser Gruppen nach dem orthodoxen Osterfest am 2. Mai 2021 überprüft, allerdings ohne dass ähnliche Auffälligkeiten festzustellen waren. Wie bereits festgestellt, handelt es sich hier um ein sensibles, aber für Kommunen durchaus relevantes Thema, wenn es darum geht, zielgenaue Präventions- und Informationsstrategien für die Bevölkerung zu entwickeln. In diesem Zusammenhang wäre es durchaus aussichtsreich, das Bild möglicher kultureller Einflussfaktoren um Betrachtungen zu vorherrschenden Familientypen im Sinne der Theorie des Anthropologen Emmanuel Todd zu erweitern. Wie dieser zeigt, haben vorherrschende Familientypen mit ihren jeweiligen Verwandtschaftssystemen und Verhaltensregulierungen eine prägende Wirkung auf die Kultur, das politische System, ja sogar auf die gesellschaftliche Bedeutung von Religion in den Ländern und Regionen, in den der Typ jeweils vorherrscht. Wie Todd zeigt, wirken diese tief im normativen Gefüge verankerten Verwandschaftslogiken auch in den Diasporagemeinden in Zielländern der transnationalen Migration fort (Schulze-Böing 2021). Es ist in diesem Konzept auch gar
nicht in erster Linie die Frage eines expliziten Bekenntnisses zu einer Religion, die entscheidend ist, sondern es ist ein durch den herrschenden Familientyp gestütztes System von Normen, das das Verhalten der Menschen sehr wirksam reguliert. Religion kann ein Medium sein, in dem sich ein Familientyp Ausdruck gibt. Er ist aber, folgt man Todd, auch dann wirksam und regelt das Verhalten der Menschen, wenn sich diese nicht explizit als religiös verstehen. Religion wäre dann eher so etwas wie eine Näherungsvariable für einen Familientyp, nicht umgekehrt. Für ein Pandemieregime ist diese Einsicht insofern relevant, als sie Hinweise darauf gibt, wo es Spannungsverhältnisse oder sogar Widersprüche von Werten bestimmter Gruppen und den Imperativen staatlicher Pandemiepolitik geben kann. So ist etwa das Kleinfamilienmodell, wie es Talcott Parsons (Parsons 2009: 128) als prägend für die Moderne verstanden hat, in stärkerem Maße kompatibel mit den Auflagen eines „Lockdown“ als das Modell der „kommunitären“ Großfamilie, wie es Todd (Todd 1998) als prägend für meisten muslimischen und Teile der mediterranen Gesellschaften beschrieben hat. Es ist zumindest eine plausible Vermutung, dass auch dies ein relevanter Faktor für die differentielle Wirkung einer Pandemie in der Gesellschaft hat. Allerdings gibt es dazu auf der lokalen Ebene (noch) keine Daten. Insgesamt scheint es mir aber geboten, kulturelle Faktoren bei der Analyse eines so tiefgreifenden Ereignisses wie der Covid-19-Pandemie nicht auszublenden oder gar zu tabuisieren.
Fazit Eine vertiefte Analyse von vorhandenen Daten der Gesundheitsbehörden und ihre Analyse im Zusammenhang mit Daten zur sozialen Sicherung und zur Bevölkerungsstruktur kann interessante und praxisrelevante Einblicke in das lokale Pandemiegeschehen geben. Solche Analysen können dazu beitragen, die Entwicklung vor Ort besser zu verstehen und kommunale Präventionsstrategien zielgenauer zu machen. So war es in der Stadt Offenbach für den Dialog mit migrantischen und religiösen Verbänden und Gemeinden für zivilgesellschaftliche Bündnisse zur Krisenbewältigung durchaus hilfreich, Befunde mit Daten belegen zu können und nicht nur auf anekdotische Evidenz angewiesen zu sein, die man von Seiten der migrantischen Verbände möglicherweise als Klischees mit Diskriminierungscharakter beargwöhnt hätte. Die Hypothese eines Zusammenhangs zwischen Infektionsrisiko und sozialer Lage lässt sich für die Stadt Offenbach in Bezug auf die sozialräumliche Dimension nicht bestätigen, wohl aber, zumindest für die nicht-deutsche Bevölkerung für bestimmte Gruppen. Die Analyse unterstützt zudem die Vermutung, dass neben sozialen auch kulturelle Faktoren eine Rolle spielen. Die Daten reichen hier aber nicht aus, um diesen Bereich in ausreichender Schärfe zu beleuchten. Deshalb sei vor vorschnellen Interpretationen gewarnt. Es wäre sehr zu wünschen, wenn auch auf regionaler, auf Landes- und auf Bundesebene mehr soziodemographische Daten zur Corona-Inzidenz zur Verfügung gestellt würden, um für die hier angesprochenen Fragen bessere regionale und interkommunale Vergleiche durchführen zu können.
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Nach der Fortschreibung der Stadt Offenbach. Die amtliche Einwohnerzahl aus der zensusbasierten Fortschreibung beträgt 130.892. In den hier vorgestellten Auswertungen werden zur Berechnung von Kennziffern zur Covid-19-Inzidenz stets die zensusbasierten Daten zugrunde gelegt. Sofern diese für bestimmte Betrachtungen nicht zur Verfügung stehen, wurden die Daten der Einwohnerfortschreibung mit einem entsprechenden Korrekturfaktor auf die niedrigeren amtlichen Einwohnerzahlen umgerechnet. Siehe etwa RTL: „RKI-Chef Wieler: Sehr viele Corona-Erkrankte haben einen Migrationshintergrund“ (https://www.rtl.de/cms/rki-chefwieler-sehr-viele-corona-erkrankte-haben-einen-migrationshintergrundhintergrund-4715462.html [Download 24.05.2021]) Wobei diese Werte die tatsächliche Inzidenz etwas unterschätzen, da es stets einige (eher wenige) Fälle gibt, die sich räumlich aufgrund fehlender oder unklarer Adressangaben nicht zuordnen lassen. Während es in Hessen bei der Betrachtung von kreisfreien Städten dagegen einen deutlich erkennbaren Zusammenhang gibt (SchulzeBöing 2021). Als „muslimisch“ werden hier die Länder Afghanistan, Marokko, Pakistan und Türkei bezeichnet, bei denen Muslime jeweils über 90 Prozent der Bevölkerung stellen (Wikipedia 2021a) Die Bürgerinnen und Bürger mit Staatsangehörigkeit Griechenland und Serbien weisen eine stark überdurchschnittliche, die mit Staatsangehörigkeit Rumänien eine leicht überdurchschnittliche Inzidenz auf (Schaubild 4). Als orthodoxe Länder werden hier Herkunftsländer mit mehr als 80 Prozent Orthodoxer in der Bevölkerung bezeichnet (Wikipedia 2021b).
Literatur Amt für Arbeitsförderung, Statistik und Integration (2020): Sozialbericht 2019 für die Stadt Offenbach am Main, Offenbach am Main Bundesagentur für Arbeit (2021): SGB II-Hilfequoten (Monats- und Jahreszahlen), Datenstand November 2021 Endt, Christian; Fischer, Linda; Grefe-Huge, Carla; Klack, Moritz; Tröger, Julius (2021): Das sind die Corona-Hotspots in den deutschen Städten; Zeit-Online vom 01.06.2021; (Download 04.06.2021) Helbig, Marcel; Jähnen, Stefanie (2019): Wo findet „Integration“ statt? Die sozialräumliche Verteilung von Zuwanderern in den deutschen Städten zwischen 2014 und 2017. WZBDiscussion Paper P 2019-003, Berlin Kooperationsverbund Gesundheitliche Chancengleichheit (2010): Soziale Lage und Gesundheit: Fakten und Daten https://www. gesundheitliche-chancengleichheit.de/ kooperationsverbund/hintergruende-datenmaterialien/soziale-lage-und-gesundheitdaten-fakten/ (Download 24.05.2021)
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Lewicki, Aleksandra (2021): Sind Menschen mit Migrationshintergrund stärker von Covid-19 betroffen? (Mediendienst Integration). Berlin NZZ (2021): Warum Corona Migranten und AfDWähler öfter trifft. Neue Zürcher Zeitung vom 16.05.2021 https://www.nzz.ch/international/ deutschland/warum-corona-migranten-undafd-waehler-oefter-trifft-ld.1624457 (Download 24.05.20219) Parsons, Talcott (2009): Das System moderner Gesellschaften. Weinheim und München Richter, Christoph; Wächter, Maximilian; Reinecke, Jost; Salheiser, Axel; Quent, Matthias; Wjst, Matthias (2021): Politische Raumkultur als Verstärker der Corona-Pandemie? Einflussfaktoren auf die regionale Inzidenzentwicklung in Deutschland in der ersten und zweiten Pandemiewelle 2020. In: ZRex – Zeitschrift für Rechtsextremismusforschung, Heft 2/2021, Online-Only-Beitrag, S. 1–39 https:// doi.org/10.322/zrex.v1i2.01A
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Schulze-Böing, Matthias (2018): Kann man Integration messen? Konzept und aktuelle Ergebnisse des Integrationsmonitorings der Stadt Offenbach. Statistik Aktuell Nr. 18, Offenbach am Main Schulze-Böing, Matthias (2021): Corona, Sozialstruktur und Kultur 2021, Ms., einsehbar unter: https://www.researchgate.net/publication/353658472_Corona_Sozialstruktur_ und_Kultur_2021 Todd, Emmanuel (1998): Das Schicksal der Immigranten: Deutschland - USA - Frankreich – Großbritannien, Frankfurt am Main Wikipedia (2021a): Liste der Länder nach muslimischer Bevölkerung https://de.wikipedia. org/wiki/Liste_der_L%C3%A4nder_nach_ muslimischer_Bev%C3%B6lkerung (Download am 23.12.2021). Wikipedia (2021b): Liste der Länder nach christlicher Bevölkerung Liste der Länder nach christlicher Bevölkerung – Wikipedia (Download am 23.12.2021)
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Gregor Arnold, Ricarda Schäfer-Etz
Folgen und Effekte der Corona-Pandemie in der Innenstadt Wiesbadens
Spätestens seit Ausbruch der Corona-Pandemie steht in vielen Gemeinden und Kommunen die Entwicklung der Innenstädte wieder ganz oben auf der Agenda. Das Forschungsprojekt Wiesbadener Innenstadt im Wandel des Amtes für Statistik und Stadtforschung zeigt, dass die Innenstadt Wiesbadens mit großen Herausforderungen konfrontiert ist, die seit Einsetzen der CoronaPandemie nicht neu, durch sie aber größer und präsenter geworden sind. Hierbei bewerten Passant/-innen, Einzelhändler/-innen und Gastronom/-innen die abgefragten Aspekte unterschiedlich, was verschiedene Sichtweisen und Bedürfnisse, insbesondere als Folge der Corona-Pandemie, zeigen. Es wird auch deutlich, dass lebendige Innenstädte zukünftig die konsequente Verknüpfung innenstädtischer Funktionen benötigen.
Dr. Gregor Arnold Dipl.-Geograph, Dr. phil., seit 2020 wissenschaftlicher Mitarbeiter im Amt für Statistik und Stadtforschung, Abteilung Stadtforschung und Umfragen der Landeshauptstadt Wiesbaden: Projektleiter des Forschungsprojektes „Wiesbadener Innenstadt im Wandel“. Themenschwerpunkte: Stadt- und Quartiersentwicklung, Leerstand und Innenstadt, transnationale Migration und Interkulturalität, Geographische Informationssysteme. : dr.gregor.arnold@wiesbaden.de Ricarda Schäfer-Etz Dipl.-Geographin, seit 2008 Mitarbeiterin im Amt für Statistik und Stadtforschung, Abteilung Stadtforschung und Umfragen der Landeshauptstadt Wiesbaden. Themenschwerpunkte: Stadtentwicklung, Stadtklima und Klimaanpassung, Umfragen zu unterschiedlichsten Themen der Stadt. : ricarda.schaefer-etz@wiesbaden.de Schlüsselwörter Innenstadt – Corona-Pandemie – Stadtentwicklung – Einzelhandel – Umsatzentwicklung
Corona als Treiber einer Innenstadtkrise – aber wie genau und in welchem Ausmaß? Städte sind schon immer Orte des Wandels und besonders innenstädtische Zentren unterliegen einer stetigen Veränderung. Nicht erst seit, aber spätestens mit dem Ausbruch der Corona-Pandemie im März 2020 wird deutschlandweit über die Lage, die Herausforderungen und die Zukunft der Innenstädte mit starkem gesellschaftlichem, wissenschaftlichem und politischem Interesse neu diskutiert. Einige wissenschaftliche Artikel argumentierten bereits kurzfristig nach Ausbruch der Pandemie in Ungewissheit1 bzw. zwangsläufig ohne empirische Überprüfungen und wirkten eher als Meinungen und Statements. Sie beschrieben ohne empirische Evidenz mögliche Entwicklungstrends für Innenstädte oder Raum- und Stadtentwicklung unter dem Einfluss der Corona-Pandemie und danach, fasst Siedentop (2021) in seinem Vortrag auf der Statistischen Woche 2021 im Panel des VDSt „Gestaltungswirkung und Veränderungspotential von Corona auf Stadt, Wirtschaft und Gesellschaft“ zusammen. Vielfach wurde der SARS-CoV-2 Erreger kurz nach Ausbruch als Bedrohung für Einzelhandel, Gastronomie und andere innenstädtische Funktionen wie Kultur oder Tourismus thematisiert und entsprechend als „Niedergang unserer Innenstädte“ (Bundesstiftung Baukultur, Deutschem Verband für Wohnungswesen, Städtebau und Raumordnung, Handelsverband Deutschland und urbanicom 2020) interpretiert: „Die Innenstädte stehen in Coronazeiten für wirtschaftliche Existenzgefährdung von Gastronomie und Einzelhandel, leere Innenstädte verlieren an Aufenthaltsqualität. Bürobeschäftigte sind im Homeoffice, Einzelhandel, Kultur und Gastronomie haben geschlossen oder deutlich weniger Besucherinnen und Besucher – die Restriktionen infolge der Pandemie beschleunigen vor allem den Strukturwandel der Innenstädte. Das „erzwungene Experiment“ der Digitalisierung durch Corona – insbesondere die massive Zunahme von Onlinehandel und Homeoffice – hat einen ohnehin stattfindenden Veränderungsprozess forciert. Innenstädte stehen damit vor einen gewaltigen Umbruch“ (Difu 2021: 3). Wenngleich durch die vielfältigen Veröffentlichungen die Debatte über derzeitige und zukünftige Entwicklungen der Innenstädte und die möglichen Folgen der Corona-Pandemie vorangetrieben wird, fehlt es bisher an empirischen Grundlagen und Aussagen. In Wiesbaden sollte genau diesen Unsicherheiten und noch offenen Fragen nachgegangen werden.
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Ein Ziel des Forschungsprojektes Wiesbadener Innenstadt im Wandel des Amtes für Statistik und Stadtforschung der Landeshauptstadt Wiesbaden war es, erste empirische Erkenntnisse zu den Coronafolgen und damit Bewertungsgrundlagen und Aussagen vorzulegen, wie diese möglichen Auswirkungen aussehen und in welchem Ausmaß und in welcher Qualität sie sich in der Wiesbadener Innenstadt niederschlagen. Der Artikel geht dem geschilderten Bedrohungsszenario für die Innenstädte und ihrer zukünftigen Entwicklung nach, er beleuchtet auf Basis der eigenen Empirie, wie die Coronafolgen durch die befragten Akteursgruppen bewertet werden. Auf Basis empirischer Untersuchungen in den Sommermonaten 2021 werden die ersten Folgen und Effekte der CoronaPandemie für Einzelhandel und Gastronomie sowie auch die Auswirkungen der pandemiebedingten Einschränkungen in der Wahrnehmung der Wiesbadener Innenstadt durch Passant/innen dargelegt. Entsprechend sind im dritten Abschnitt die Ergebnisse nach den genannten Akteursgruppen untergliedert. Gleichzeitig lassen sich diese Momentaufnahmen2 einfacher und besser herausstellen, sofern sie im Vergleich bzw. Kontrast zu Aussagen beleuchtet werden, mit denen die befragten Akteursgruppen die Wiesbadener Innenstadt hinsichtlich des Standortes oder Image und Attraktivität für die Zeit vor Corona bewerten oder beschreiben. Im vierten Abschnitt werden ihre Aussagen und Bewertungen zusammenfassend eingeordnet.
Forschungskonzeption, methodische Vorgehensweise und Untersuchungsgebiet Um die Ergebnisse einordnen zu können, werden zunächst die Konzeption des Forschungsprojektes Wiesbadener Innenstadt im Wandel, die angewandten Methoden sowie das Untersuchungsgebiet umrissen. Forschungskonzeption Für Wiesbaden wurde kurz vor Ausbruch der Corona-Pandemie ein Forschungsprojekt konzipiert, welches das Ziel hatte, den strukturellen Wandel der Innenstadt zu untersuchen. Mit Einsetzen der Corona-Pandemie wurde das Projekt inhaltlich, räumlich sowie methodisch erweitert und analytisch in eine retrospektive Datenanalyse (Baustein A) und empirische Stadtund Sozialforschungen (Baustein B) mit fünf Themenfeldern – unter anderem mit einem Fokus auf die Effekte und Folgen der Corona-Pandemie – untergliedert (Abb. 1). Die retrospektive Datenanalyse (Baustein A) wurde in einem ersten Bericht (Landeshauptstadt Wiesbaden 2021a; Arnold 2021) bereits veröffentlicht. Dieser betrachtete die demographischen und sozio-strukturellen Veränderungen, welche durch Wanderungsprozesse in Richtung der (Innen) Stadt (Reurbanisierung) ausgelöst wurden sowie den anhaltenden Strukturwandel im Einzelhandel, bedingt durch sich verändernde endogene und exogene Rahmenbedingungen. Die empirischen Untersuchungen im Sommer 2021 mittels quantitativer und qualitativer Methoden der Stadt- und Sozi-
Abbildung 1: Forschungskonzeption Wiesbadener Innenstadt im Wandel
Quelle: Arnold 2021: 82
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alforschung fokussierten die fünf Themenfelder Standort und Strukturwandel, Digitalisierung und Online-Handel, Image und Atmosphäre, die Effekte und Auswirkungen der CoronaPandemie und Zukunftsperspektiven für die Wiesbadener Innenstadt. Der hier vorliegende Artikel bespricht die zentralen Ergebnisse des Themenfeldes Corona-Pandemie mit ihren Effekten auf Einzelhandel, Gastronomie sowie Besucher/-innen der Wiesbadener Innenstadt.3 Methodische Vorgehensweise Die inhaltliche Vorbereitung, die methodische Konzeption sowie die Durchführung der empirischen Feldforschung in der Innenstadt Wiesbadens wurde in Kooperation mit dem Geographischen Institut der Johannes Gutenberg-Universität Mainz durchgeführt. Hierdurch haben sich für das Gesamtprojekt vielfältige Vorteile wie beispielsweise der breite Methodenmix (Abb. 1, Baustein B), ein umfassendes Untersuchungsgebiet (Abb. 2), eine ausgedehnte empirische Feldphase von 12 Wochen (Juni, Juli und August 2021) und damit letztlich eine breite Datenbasis ergeben. Von besonderer Bedeutung für den vorliegenden Artikel sind die beiden standardisierten Befragungen: Es wurden 1.592 Interviews mit Passant/-innen sowie 106 mit Einzelhändler/-innen geführt. Darüber hinaus wurden fast 130 leitfadengestützte, qualitative Interviews mit Unternehmer/-innen aus dem Gastgewerbe durchgeführt.
Abbildung 2: Untersuchungsgebiet „Wiesbadener Innenstadt“
Quelle: © Landeshauptstadt Wiesbaden, Tiefbau- und Vermessungsamt, überarbeitet vom Amt für Statistik und Stadtforschung
Untersuchungsgebiet Allgemeingültig kann unter Innenstadt ein zentraler Hauptgeschäftsbereich mit Fußgängerzonen und Einkaufsstraßen, Zonen der Altstadt sowie meist unmittelbar angrenzenden gemischt genutzten Quartieren und zentrumsnahen Wohnlagen verstanden werden. Auch städtebauliche Aspekte (historische Prägungen, Baustrukturen wie Grundriss- und Aufrissgestaltung, Gebäudebestand, Bau- und Wohndichte, funktionale Nutzungen, etc.) spielen für die Identifikation und Definition innenstädtischer Bereiche eine wichtige Rolle (Heineberg 2014: 177 ff.). Entsprechend dieser Charakteristiken setzt sich die Innenstadt Wiesbadens aus zwei wesentlichen Bereichen zusammen: Zum einen die City (in etwa Historisches Fünfeck, in Abbildung 3 durch eine rote gestrichelte Linie gekennzeichnet) mit Fußgängerzonen und zentraler Einkaufsstraße sowie Altstadt und zum anderen die umliegende Kernstadt. Hierunter fallen die außerhalb des Historischen Fünfecks liegenden zentrumsnahen Wohn- und Geschäftsquartiere mit Einkaufen, Versorgen und anderen Funktionsbereichen (Abb. 2).4
Effekte und Folgen der Corona-Pandemie auf ausgewählte Innenstadtakteure Wiesbadens In den folgenden Abschnitten werden die Ergebnisse der untersuchten Akteursgruppen zunächst isoliert dargestellt, um sie im vierten Abschnitt abschließend hinsichtlich der aufgeworfenen Fragestellung interpretieren zu können. Ergebnisse der Passantinnen- und Passanten-Befragung Die Wiesbadener Innenstadt wurde von den befragten Passant/-innen für die Zeit vor Ausbruch der Corona-Pandemie durchaus gut bewertet. Dies zeigen die Ergebnisse zum Themenfeld Image und Atmosphäre (Abb. 1, Baustein B), welches ausschließlich auf die Zeit vor der Corona-Pandemie fokussierte, um die Differenzen und entstehenden Effekte im Zuge der Corona-Pandemie besser bzw. eindeutiger identifizieren zu können. Da es sich dabei um eine retrospektive Abfrage für die Zeit vor der Pandemie handelt, ist es möglich, dass die Ergebnisse beispielsweise durch mediale Berichterstattung gerahmt und im Zeitverlauf durch vorfabrizierte Wertungen beeinflusst sind. Retrospektive Umfragen transportieren nicht selten idealisierte Zuschreibungen und Wahrnehmungen, was bei der Interpretation der folgenden Aussagen zu berücksichtigen ist. Zum Zeitpunkt der Umfrage fühlten sich die Passant/innen in der Wiesbadener Innenstadt mehrheitlich „gut und wohl“ (Abb. 3). Weiter zeigt die Wortwolke (Abb. 4), dass die Wahrnehmung der Passant/-innen von der Wiesbadener Innenstadt für die Zeit vor Ausbruch der Pandemie mit vorherrschend positiven Zuschreibungen und lebendigen Charakteristiken versehen und bewertet wurde. Die mit der Corona-Pandemie verbundenen Einschränkungen und Verbote haben diese retrospektiven, recht positiven Assoziationen beeinflusst. Die guten Bewertungen hinsichtlich Image und Atmosphäre der Wiesbadener Innenstadt werden seit Ausbruch der Corona-Pandemie von vielen Befragten nicht mehr gesehen bzw. durch eher negative Zuschreibungen ersetzt. Corona birgt umfassende Folgen in der Wahrneh-
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mung der Wiesbadener Innenstadt, denn auf die Frage „Was hat sich Ihrer Meinung nach seit Corona in der Wiesbadener Innenstadt verändert?“ haben 27 % der befragten Passant/innen angegeben, dass die Wiesbadener Innenstadt weniger belebt sei, es sei weniger los bzw. seien weniger Menschen in der Innenstadt unterwegs (Abb. 5). Auch die Thematik der leerstehenden Verkaufsflächen (20 % der Befragten) sowie die pandemiebedingten Schließungen von Einzelhandel, Gastronomie und Hotellerie als auch anderen Einrichtungen in den Lockdown-Phasen (15 % der Befragten) werden von den Befragten im Sommer 2021 angeführt. Hieran zeigt sich, dass sich gegenüber den positiven Einstufungen hinsichtlich Einkaufsatmosphäre und Image der Wiesbadener Innenstadt seit Ausbruch der Corona-Pandemie
Abbildung 3: Wohlfühlcharakter der Wiesbadener Innenstadt (in %), Sommer 2021
N = 1.592 Frage 6: Stimmen Sie folgender Aussage zu? „In der Wiesbadener Innenstadt fühle ich mich gut und wohl“
eher negative Entwicklungen in den Köpfen der Passant/-innen formiert haben. Allerdings ist es auch keine neue Erkenntnis, dass die Passant/-innenströme und Besucher/-innenfrequenzen deutschlandweit im Zuge der Pandemie in den Innenstädten abgenommen haben; dies ist bereits frühzeitig durch Messungen und Veröffentlichungen dargelegt worden (bspw. Stadt Leipzig 2021). Diese messbaren Veränderungen sind in Innenstädten erleb- und wahrnehmbar und prägen sich den Passant/-innen ein. Gleichermaßen sind die Nennungen in Bezug auf Leerstand und pandemiebedingte Schließungen nur schwer von der Hand zu weisen und müssen unter anderem aufgrund des Zeitpunkts der Feldforschung und vor dem Hintergrund der vielen Zeitungs- und Fachartikel, die vom Niedergang der Innenstädte berichteten (bspw. Hessedenz 2021), verstanden werden. Solche Szenarien in der medialen Berichterstattung, die den in der Einleitung angesprochenen Interpretationspfad einer Bedrohung für Einzelhandel und Gastronomie bedienen, haben sicherlich auch die Wahrnehmung der Befragten beeinflusst. Dennoch gilt, dass die hier genannten unbelebten, unattraktiven und mit Leerstand versehenen Straßenzüge oftmals im Zuge von Trading-Down-Prozessen in Innenstädten genannt werden, sodass – allein für die Wahrnehmung der Passant/-innen und ihrer damit verbundenen Bewertung der Folgen und Effekte der Corona-Pandemie – eher von Niedergang und Bedrohung der gewohnten innenstädtischen Strukturen und Muster gesprochen werden muss. Des Weiteren sind den Passant/-innen noch andere Veränderungen in der Wiesbadener Innenstadt seit Ausbruch der
Abbildung 5: Veränderungen in der Wiesbadener Innenstadt seit Ausbruch der Corona-Pandemie (in %), Sommer 2021
Quelle: Amt für Statistik und Stadtforschung
Abbildung 4: Wortwolke mit Zuschreibungen und Charakteristiken zur Wiesbadener Innenstadt, Sommer 2021
N = 1.592; n = 1.300 Frage 5: Wenn Sie an die Wiesbadener Innenstadt denken, welche drei Wörter fallen Ihnen dann ein? (dritte Nennung)
N = 1.560; n = 1.941 Frage 8: Was hat sich Ihrer Meinung nach seit Corona in der Wiesbadener Innenstadt verändert? (offene Frage)
Quelle: Amt für Statistik und Stadtforschung
Quelle: Amt für Statistik und Stadtforschung
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Corona-Pandemie aufgefallen (Abb. 5). Diese sind einerseits mit der Corona-Pandemie direkt verknüpft (Regeln / Maßnahmen / Masken) oder indirekte Folgen, wie beispielsweise die Veränderungen in den Interaktionen, dem gesellschaftlichen Umgang miteinander und den ausgedünnten alltäglichen sozialen Beziehungen im Stadtraum. Auch die Schließungen von Gastronomie und Hotellerie oder dass kaum sozio-kulturelles Leben in der Innenstadt stattfinden konnte, sind negative Effekte der Corona-Pandemie, die die gute Atmosphärenbewertung für die Zeit vor Corona – wie oben angesprochen – eintrüben. Ergebnisse der Einzelhändlerinnen- und EinzelhändlerBefragung Die Corona-Pandemie hat bei den meisten der 106 befragten Einzelhändler/-innen zu Veränderungen geführt, denn monatelange Kontaktbeschränkungen und strenge Auflagen für den Geschäftsbetrieb haben sich überwiegend negativ auf den Umsatz der Wiesbadener Händler/-innen ausgewirkt. Die Hälfte der Befragten (51 %) hatte mit einem Umsatzrückgang von mindestens 25 % umzugehen, darunter hatte sogar ein Viertel der Befragten mindestens die Hälfte an Umsatzeinbrüchen zu verzeichnen (Abb. 6). Dies ist ein Beleg für die Brisanz der finanziellen Coronafolgen zum Befragungszeitpunkt. Hierbei ist wichtig zu betonen, dass diese Aussagen überwiegend von inhabergeführten Einzelbetrieben getroffen wurden (74 % von 106 Befragten). Lediglich 12 % der Befragten gaben einen weitgehend unveränderten Umsatz zum Vorjahr an und 4 % konnten sogar eine Steigerung verzeichnen. Entsprechend dieser Umsatzeinbußen ist für viele Händler/innen durch die Corona-Pandemie ein „deutlicher“ (21 %) und für die Mehrheit ein „gewisser“ (54 %) Handlungsdruck für Veränderungen in Bezug auf das Geschäft entstanden. Dieser Veränderungsdruck war in verschiedenen Hinsichten spürbar,
am häufigsten sahen sich die Einzelhändler/-innen veranlasst, Personal zu entlassen (23 %, vgl. Abb. 7). Teilweise wurde die Schließzeit auch für Modernisierungen oder Umbau genutzt (14 %). Sortimentsveränderungen (Verkleinerung wie Vergrößerung) oder eine Verlagerung an einen anderen Standort innerhalb der Innenstadt waren ebenfalls genannte Optionen. Nur sehr wenige Händler/-innen gaben an, ihr Geschäft aus Wiesbaden raus zu verlagern oder ganz aufgeben zu wollen, was natürlich weitere negative Entwicklungen für die Angebotsstruktur und den Branchenmix mit sich bringen würde. Knapp ein Drittel (30 %) gab an, noch keine konkrete Maßnahme entschieden zu haben. Hier spiegelt sich zum Zeitpunkt der Befragung vermutlich ein Abwarten auf den weiteren Verlauf der Corona-Pandemie und die Entwicklungen nach den Kontaktbeschränkungen und dem Auslaufen der Fördermaßnahmen wider. Die jüngsten Entwicklungen nach den Befragungen in den Sommermonaten 2021, nämlich die vierte Infektionswelle und ein damit verbundenes zaghaftes Weihnachtsgeschäft und die fortgesetzten z. T. verschärften Bedingungen unter der neuen Omikron-Variante bilden voraussichtlich weitere negative Vorzeichen für Einzelhandel und andere Innenstadtakteur/-innen. Ergänzend wurden im Sommer 2021 die drängendsten Probleme des Einzelhandels und Wünsche der Betroffenen an die Stadt abgefragt. Auch durch die Corona-Pandemie begründet, hat ein großer Anteil der Wiesbadener Einzelhändler/-innen Problemfelder identifiziert (Abb. 8), für deren Bewältigung die Unterstützung der Stadt gewünscht oder gar benötigt wird. Von 26 % der Händler/-innen, die bei dieser Frage Angaben machten, wird am häufigsten nach Unterstützung für die Identifikation der Kund/-innen mit dem Wiesbadener Einzelhandel gesucht – eng verknüpft mit der Wahrnehmung, dass dies nur gelingt, wenn mehr Augenmerk auf die Attraktivität des Branchenmix gelegt wird.
Abbildung 6: Umsatzrückgang der befragten Händler im Geschäftsjahr 2020 gegenüber 2019 (in %), Sommer 2021
Abbildung 7: Geplante oder bereits durchgeführte Reaktionen des Einzelhandels auf die Corona-Pandemie (in %), Sommer 2021
N = 106 Frage 20: Nun zu möglichen, konkreten Auswirkungen der Corona-Pandemie: Hat ihr Geschäft im Vergleich zum Vorjahr 2019 im Geschäftsjahr 2020 einen Umsatzrückgang verzeichnet? (Bitte geben Sie ggf. die prozentuale Veränderung an. Falls kein ganzes Geschäftsjahr 2019 bzw. 2020 vorliegt, schätzen Sie bitte grob) Quelle: Amt für Statistik und Stadtforschung
N = 79; n = 112 Frage 22: Welche Veränderungsmaßnahmen planen Sie deshalb oder haben Sie bereits ausgeführt? (Bitte kreuzen Sie maximal 3 Antworten an) Quelle: Amt für Statistik und Stadtforschung
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Diese Wünsche können durch einige Zitate aus den offenen Nennungen illustriert werden:
gebührennachlass gewährt werden kann, kleine Feste auf den verschiedensten Plätzen.
Das Bewusstsein „wir kaufen daheim“ muss geschärft und propagiert werden.
Radio-Werbung für die Innenstadt, vielleicht in Kombi mit historischen Stadtführungen.
Es fehlt ein stringentes Vermarktungs-Konzept für die Stadt Wiesbaden als Einkaufserlebnis - warum soll ich nach Wiesbaden zum Einkaufen gehen? Die [Immobilien]Eigentümer stärker verpflichten, auf einen gesunden [Branchen]mix zu achten. Branchenmix wird immer unattraktiver: Viele Brillenläden, Nagelstudios, Billigläden. Kein inhabergeführtes Bekleidungshaus für Erwachsene mehr in der Innenstadt. Auch sind in Abbildung 8 erneut „Stadtbild“ und „Sauberkeit der Innenstadt“ sowie „Parkplätze“ ein Top-Thema – gleichauf mit vielfältigen Wünschen für die Unterstützung und Koordination von Werbung und Belebung durch die Stadt Wiesbaden (jeweils 23 %): Weiteres Erlassen der Kosten für die Nutzung des Bereichs vor dem Laden. Irrwitzige Maßgaben für die Breite von Bürgersteigen machen Außenwerbung / Außensitzplätze / Außenauslagen für viele Geschäfte völlig unmöglich. In der Innenstadt regelmäßig kleine Events veranstalten. (…) Mehr Familien mit Kindern in die Stadt locken, etwas für Kinder [organisieren] (Kinder-Schminken, Puppentheater, Veranstaltungen mit lokalen Bands, usw.). Gerne über die Zeitung mit Werbemaßnahmen, z.B. Nennung von Einzelhandelsgeschäften, bei denen nach Einkauf ein Park-
Abbildung 8: Drängendste Probleme (auch im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie) für die eine Lösung gesucht wird (in %), Sommer 2021
Mietpreise sind im Zuge der Corona-Pandemie ebenfalls zu einer zunehmenden Herausforderung geworden (Abb. 8). Folglich werden auch hier durch 22 % der Befragten einige konkrete Wünsche geäußert, die die Entwicklungen der hohen Gewerbemieten beeinflussen sollen: Mehr Investition im Bereich Immobilienkauf [in der] Innenstadt damit die Stadt gezielt zu vernünftigen Preisen an den kleinen Einzelhandel vermieten kann. Somit kann man natürlich auch den Branchenmix beeinflussen. Analyse der erzielbaren Mieten nach Lage [veröffentlichen], um die Mietverhandlungsposition zu untermauern. Die Miete ist eine große Belastung und kann kaum geleistet werden. Das ist schon vor Corona so gewesen, als Startup, und wird nach Corona auch eine große Belastung sein. Generell sollte der Mietspiegel gesenkt werden. Ergebnisse der Interviews mit Unternehmerinnen und Unternehmern aus dem Gastgewerbe Aus der Passant/-innen-Befragung konnte – neben wenigen Kritikpunkten – herausgearbeitet werden, dass die Wiesbadener Innenstadt für die Zeit vor Corona in vielerlei Hinsicht eine positive, gute Atmosphäre hatte. Ähnlich wurde dies durch den Einzelhandel, wenn auch in einigen Aspekten abgemildert, bestätigt. Gleichermaßen überzeugt sind die interviewten Gastronom/-innen, dass die Innenstadt eigentlich recht angenehm war und auch wirklich viel Leben da war. Also nicht nur am Wochenende, sondern auch unter der Woche, wenn die Leute hier einen Spaziergang gemacht haben oder flaniert sind, das würde ich schon so sagen. Die positiven Assoziationen mit der Wiesbadener Innenstadt und die vielen guten Erfahrungen wurden durch die pandemiebedingten Umstände und Schließungen jedoch umgekehrt, sie haben sich ins Negative entwickelt. Das Lebendige, das Flair Wiesbadens, die positiven Aspekte hinsichtlich Image und Atmosphäre wurden durch Corona beeinflusst. Corona ist tatsächlich was, was vermutlich der Attraktivität noch weiter schadet und auch den Betrieben geschadet hat, denn gerade in der Corona-Krise ist es so, dass viele Leute (…) im Internet bestellt haben und das ist für jeden vor Ort dann eher nachteilig.
N = 78; n = 137 Frage 23: Für welche Probleme, auch im Zusammenhang mit der CoronaPandemie, suchen Sie derzeit am drängendsten eine Lösung und wie kann Ihnen die Stadt Wiesbaden dabei helfen? (offene Frage) Quelle: Amt für Statistik und Stadtforschung
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Die interviewten Gastronom/-innen thematisieren nicht nur die pandemiebedingten negativen Effekte und Folgen bezogen auf den Stadtraum und die post-Corona-Entwicklungen in der Innenstadt hinsichtlich Image und Atmosphäre, sondern auch die damit verbundenen, individuellen Zwänge, die durch die Lockdowns, Schließungen und Kontaktverbote im besonderen Maße für das Gastgewerbe entstanden sind. Sie beklagen ausbleibende Bestellungen und die fehlenden Gäste und die damit verbundenen finanziellen Einbußen. Diese Verluste werden als Schwierigkeiten und stellenweise auch als Ängste empfunden. Der Abbau der Arbeitsplätze im Zuge der Pandemie trifft das Gastgewerbe doppelt hart, denn nach
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den stufenweisen Öffnungen ist es für viele Unternehmer/innen nun fast unmöglich, qualifiziertes Personal zu finden bzw. einzustellen: Als Gastronom hast du Existenzangst, natürlich, und außerdem haben wir Arbeitsplätze verloren. Personal ist nämlich eine der Geschichten, die uns zu schaffen machen, dass meine ganzen Mitarbeiter seit acht Monaten nicht da waren. Die ganzen Studenten [Mitarbeiter/-innen], die alles top konnten und jetzt hab ich neue Leute, die es nicht können. Ich hatte wirklich eine ganz tolle Truppe, (…) die waren super eingearbeitet, super, super Mitarbeiter und ich weine jedem Einzelnen hinterher. (…) Dann waren sie alle auf einen Schlag weg, mehr oder weniger, und jetzt arbeite ich mit mehreren neuen, die einfach von nix Ahnung haben, was sehr anstrengend ist. Also man braucht halt schon Mitarbeiter, die ein bisschen Gastronomieerfahrung haben, damit der Laden funktioniert. (…) Gutes Personal bekommst du aber nicht, also manche haben wirklich Angst nochmal in die Gastronomie zu gehen, weil sie genau wissen, vielleicht, in ein paar Monaten, dann wieder kein Job zu haben. Als ein weiterer Aspekt, den auch die Einzelhändler/-innen im Besonderen betont haben und der von den Gastronom/-innen gleichermaßen angesprochen wird, sind die seit Jahren steigenden Laden- und Lokalmieten in innenstädtischen Lagen, die in Corona-Zeiten und den pandemiebedingten Schließungen aufgrund ausbleibender Einnahmen von besonders prägnanter Wirkung sind: Die Mieten sind hoch, gleichzeitig brauchen die Vermieter auch das Geld, die können ja jetzt nicht sagen: „Wir schenken Ihnen die Miete“. Die Vermieter müssen sich auch irgendwie über Wasser halten. (…) Klar gibt es bestimmt vereinzelt irgendwelche kleinen Nachlässe oder dass vielleicht Neugründer sich leichter [günstiger] einmieten können, aber uns fehlen ja gerade jetzt [aufgrund der Schließungen] die Einnahmen.
Corona macht strukturellen Wandel in der Wiesbadener Innenstadtentwicklung abrupt sicht- und spürbar Die Bekämpfung der Pandemie und vor allem die Maßnahmen zum Schutz vor Ansteckung erfordern ohne Zweifel eine Vielzahl an Einschränkungen, sodass die Pandemie – wie in der Einleitung angesprochen – bereits früh als Treiber des latent und längst stattfindenden innenstädtischen Strukturwandels gehandelt wurde. Der Artikel belegt, dass sich durch Corona bereits bekannte Probleme nochmal verschärft haben. Demzufolge sprechen die dargelegten Ergebnisse gleichzeitig Entwicklungen an, die schon vor der Corona-Pandemie in der Wiesbadener Innenstadt sichtbar waren bzw. struktureller Natur sind (GMA 2020, 2021), aber sich nun durch die Krise abrupt und intensiver zeigen. Die im Sommer 2021 erhobenen Daten und Aussagen zeigen, wie die Corona-Pandemie für die befragten Akteursgruppen einen tiefgreifenden Einschnitt und vielschichtigen Wendepunkt in der Entwicklung und Attraktivität der Wiesbadener Innenstadt markiert und für die Unternehmer/-innen den Handlungsdruck weiter verstärkt, was speziell die Einbrüche im Einzelhandelsumsatz zeigen.
Die zentralen Ergebnisse, die einander mitunter bedingen, können wie folgt zusammengeführt werden: - Ein (zum Teil starker) Umsatzrückgang durch die Pandemie erhöht den Handlungsdruck im stationären Einzelhandel (Abb. 6, 7 und 8). Dieser Handlungsdruck wird sich durch die vierte Infektionswelle im Herbst und Winter 2021, das dadurch erneut ausgebliebene Weihnachtsgeschäft im stationären Handel sowie durch die neue OmikronVariante voraussichtlich weiter verschärfen. - Anhaltend hohe Mietpreise, die für Einzelhandel und Gastronomie auch schon vor Ausbruch der Pandemie spürbar waren, fördern die Filialisierung und setzen Unternehmer/innen durch den zusätzlichen Umsatzrückgang weiter unter Druck (Abb. 8). Filialisierung und wenig ausdifferenzierter Branchenmix führen zum Verlust individueller Einkaufserlebnisse und zu einer homogenen Einkaufslandschaft. - Sortimentsveränderungen sowie Geschäftsverlagerungen innerhalb der Innenstadt, raus aus der Innenstadt oder raus aus der Landeshauptstadt Wiesbaden sind geplante Veränderungen einiger Einzelhändler/-innen aufgrund der Corona-Pandemie (Abb. 7). Das Umsetzen dieser pandemiebedingten Überlegungen würde die Entwicklung in der Innenstadt weiter verändern und die Filialisierung womöglich vorantreiben. - Weitere Attraktivitätsverluste erlitt die Einkaufsinnenstadt durch den Verlust an Besucher/-innenfrequenzen und durch pandemiebedingte Schließungen bzw. (mitunter subjektiv vermehrt empfundenen) Leerstand (Abb. 5). Die Leerstandsentwicklungen müssen - gerade unter den weiter anhaltenden Pandemie-Entwicklungen und Einschränkungsmaßnahmen - auch zukünftig beobachtet werden. - Unbelebte Fußgängerzonen und Einkaufsstraßen führen zu mangelnder Aufenthaltsqualität im öffentlichen Raum die Innenstadt-Atmosphäre leidet unter der Pandemie, da persönliche Kontakte, Interaktionen und Kommunikation ausbleiben (Abb. 5). Die Kontaktverbote und der geringe Austausch zwischen den Besucher/-innen der Innenstadt führen zum Verlust individueller Erlebnisse, die Innenstadt verliert die Funktion als Begegnungs- und Kommunikationsort. - Aufgrund hoher Mieten wächst „Existenzangst“ in der Gastronomie. Hinzu kommen fehlendes qualifiziertes Personal und mangelnde Zukunftsperspektiven aufgrund der sich häufig ändernden Vorschriften und Schließungen. - Neben all diesen Entwicklungen, die durch die Pandemie angeschoben und zum Teil abrupt verschärft wurden, verstärkt Corona auch den Handlungsdruck im Bereich der Digitalisierung der Einzelhändler/-innen. Der Online-Handel hat im Zuge der Einlass- und Kontaktbeschränkungen und den pandemiebedingten Schließungen während den Lockdown-Phasen weiter an Fahrt aufgenommen. Diese Entwicklungen im Online-Handel werden durch die derzeitigen Infektionszahlen durch Omikron voraussichtlich anhalten. Entsprechend der Ergebnisse ist die Corona-Pandemie nicht Auslöser oder Grund der Defizite in den Innenstädten, sie setzt aber mit großer Wirkung an den sich ohnehin wandelnden
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Strukturen der Innenstädte an und legt quasi die Finger in die Wunde. Wie ein Katalysator beschleunigt sie die schon vor der Pandemie diskutierte Transformation der Innenstädte und vergrößert damit gleichzeitig die erörterten Schwierigkeiten, die sie wie unter einem Brennglas sichtbarer gemacht hat.
Ausblick: Wie weiter mit und nach Corona? Die Folgen und Effekte der Pandemie werden sich mit Nachhall auf die Innenstädte auswirken und diese weiter transformieren, wobei Corona weder Auslöser noch alleiniger Grund für die thematisierten Transformationsdynamiken ist. Die Pandemie hat die bestehenden strukturellen Defizite lediglich offengelegt oder sichtbarer gemacht. Somit sollen mit Bezug auf zukünftige Innenstadtentwicklungen zwei Perspektiven abschließend angesprochen werden. Das reine Gegensteuern, um bestenfalls wieder zurück zum Ausgangszustand vor der Corona-Pandemie zu gelangen, wird keine nachhaltige Lösung und aufgrund der bereits fortgeschrittenen Veränderungen auch nur schwer möglich sein. Zudem bleibt abzuwarten, welchen weiteren Verlauf die Corona-Pandemie nehmen wird bzw. wie lange sie noch anhält. Entsprechend der derzeit anhaltenden Einschränkungen und Maßnahmen unter Omikron ist eher davon auszugehen, dass dieser „return to normal“ (Siedentop 2021) unwahrscheinlich ist. Es bleibt folglich erstmal eine Herausforderung die Effekte und Folgen der Pandemie zu organisieren und durch konkrete coronaspezifische Maßnahmen und Programme zu minimieren. Dies wird in einigen Städten durch kurzfristige Programme der Wiederbelebung - so auch in Wiesbaden durch eine Vielzahl an RestartCity-Maßnahmen mit Aktionen zur Belebung und Attraktivitätssteigerung - umgesetzt, mit dem Ziel, den Menschen nach nunmehr zwei Jahren Distanz und Abwesenheit die Innenstädte wieder schnell näher zu bringen.
Weiter sollten jedoch längerfristige und weit in die Zukunft wirkende Maßnahmen identifiziert und Programme ausgelotet werden, um die ohnehin stattfindenden strukturellen Transformationsdynamiken zu lenken. Ein aktuelles Beispiel hierfür sind die Förderungen aus dem neuen Landesprogramm „Zukunft Innenstadt“ vom Hessischen Ministerium für Wirtschaft, Energie, Verkehr und Wohnen (2021). Dabei bleibt zu diskutieren, wie etwaige Förderprogramme weniger auf konventionellen Wachstum und Konsum ausgerichtet werden können, sodass der Wandel der Innenstädte jetzt mit nachhaltiger orientierten Maßnahmen und Zielen - auch unter den Aspekten des Klimawandels - begleitet wird. Dies ist gerade dahingehend von Bedeutung, um zukünftig eine wirkliche Krise der (Innen-)Städte zu vermeiden. Die Corona-Pandemie und die dargelegte Zäsur sowie Offenlegung der Defizite können daher vielmehr als ein Wachrütteln gesehen werden, um den ohnehin stattfindenden grundlegenden Wandel der Innenstädte in eine resiliente Zukunft zu lenken. 1
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Vorbildlich weisen die Autoren Anders, Kreutz und Krüger (2020: 58) genau auf diese Ungewissheit der Entwicklungen hin und benennen ihre Aussagen als „Abschätzungen“, da sie sich zum Zeitpunkt der Entstehung ihres Beitrags „empirisch noch nicht mit Zahlen und Fakten belegen [lassen]“. Es konnte zu den im Sommer 2021 erhobenen Daten nicht zusätzlich auf bereits vor Ausbruch der Pandemie erhobene Daten oder Messungen zurückgegriffen werden. Angesichts der noch laufenden, derzeitigen fünften Corona-Welle (Omikron) ist der Bedarf nach weiteren Befragungsergebnissen naheliegend, sodass die hier diskutierten Ergebnisse als „Momentaufnahmen“ einzustufen sind. Der vorliegende Artikel basiert auf der Stadtanalyse zum Baustein B des Forschungsprojektes Wiesbadener Innenstadt im Wandel, welche im Dezember 2021 vom Amt für Statistik und Stadtforschung der Landeshauptstadt Wiesbaden fertiggestellt wurde (2021b). In der bereits veröffentlichten Datenanalyse (Baustein A) (Landeshauptstadt Wiesbaden 2021a: 8 ff.) sind diese beiden Innenstadtbereiche des Untersuchungsgebietes mit ihren Funktionen und Zuständigkeiten detailliert charakterisiert.
Literatur Anders, S., S. Kreutz und Th. Krüger (2020): Corona und die Folgen für die Innenstädte. In: Informationen zur Raumentwicklung IzR 4/2020: 56–67. Arnold, G. (2021): Reurbanisierung und demographische Entwicklungen im Zuge des Wandels der Wiesbadener Innenstadt. In: Stadtforschung und Statistik 2/2021. Online: https://www.staedtestatistik.de/redaktionstadtforschung-und-statistik (27.09.2021) Bundesstiftung Baukultur, Deutschem Verband für Wohnungswesen, Städtebau und Raumordnung, Handelsverband Deutschland und urbanicom (2020): Stoppt den Niedergang unserer Innenstädte (gemeinsames Statement). Online: https://urbanicom.de/wp-content/uploads/2020/09/StatementInnenstadt_BSBK_ DV_HDE_urbanicom.pdf (12.12.2021) Difu – Deutsches Institut für Urbanistik (2021): OB-Barometer 2021. Online: https://repository.difu.de/jspui/bitstream/difu/581529/3/ OB-Barometer2021.pdf (05.10.2021) GMA – Gesellschaft für Markt- und Absatzforschung mbH (2020): Fortschreibung des Einzelhandelskonzept für die Landeshauptstadt Wiesbaden 2020. Köln. Online: https://www.
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Landeshauptstadt Wiesbaden, Amt für Statistik und Stadtforschung (2021b): Wiesbadener Innenstadt im Wandel, Teil B: Empirische Stadtforschung. Wiesbaden. Online: https://www. wiesbaden.de/medien-zentral/dok/leben/ stadtportrait/2021_12_22_Stadtanalyse-Ergebnisbericht-Innenstadt_final.pdf (18.01.2021) Siedentop, S. (2021): Raum und Stadtentwicklung nach Corona: Welche Art von ‘Transformation‘ ist zu erwarten? Vortrag auf der Statistischen Woche 2021 im Panel des VDSt „Gestaltungswirkung und Veränderungspotential von Corona auf Stadt, Wirtschaft und Gesellschaft“ (15.09.2021, 11:00–12:40 Uhr). Online: https://www.staedtestatistik.de/ newsarchiv/news-detail/praesentationender-statistischen-woche (01.02.2022) Stadt Leipzig, Amt für Statistik und Wahlen 2021: Zahlen und Fakten in der Corona-Pandemie: Infektionen, Arbeitsmarkt, Wirtschaft und Verkehr. Leipzig. Online: https://static. leipzig.de/fileadmin/mediendatenbank/ leipzig-de/Stadt/02.1_Dez1_Allgemeine_Verwaltung/12_Statistik_und_Wahlen/Statistik/ Zahlen-und-Fakten-in-der-Corona-Pandemie. pdf (25.10.2021)
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Stefan Siedentop
Corona und Stadtentwicklung: Ende der urbanen Renaissance?
Wie sich die Corona-Pandemie auf die Stadtentwicklung auswirken wird, ist eine in Wissenschaft und Gesellschaft viel diskutierte Frage. Kontrovers eingeschätzt wird dabei vor allem, ob die Pandemie zu einer ‚Krise des Urbanen‘ führen könnte, wenn sich die potenziell dezentralisierenden Effekte der Digitalisierung mit Wohnkostensteigerungen sowie mit pandemiebedingten Einschränkungen und Risikowahrnehmungen des Lebens in Großstädten überlagern. Mit Blick auf die verfügbare Forschungsliteratur wird hier die Einschätzung vertreten, dass Corona der urbanen Renaissance des 21. Jahrhunderts einen Dämpfer zufügen kann, nicht aber ihr Ende einleiten wird. Auch im digitalen, post-pandemischen Zeitalter werden große Städte ihre funktionale und symbolische Bedeutung bewahren.
Prof. Dr.-Ing. Stefan Siedentop seit 2013 Professor für Stadtentwicklung an der TU Dortmund und Wissenschaftlicher Direktor des ILS – Institut für Landesund Stadtentwicklungsforschung, Dortmund : stefan.siedentop@ils-forschung.de Schlüsselwörter Corona-Pandemie – Stadtentwicklung – Raumstruktur – Transformation – Suburbanisierung
Einleitung Bereits wenige Wochen nach Einsetzen der Corona-Pandemie hat eine globale Debatte über ihre Relevanz für die Stadtentwicklung eingesetzt. Eine Krise dieses Ausmaßes könne kaum folgenlos bleiben (Marshall 2021; Newman 2020), sie lege in jedem Fall systemische Defizite in Wirtschaft, Gesellschaft und Politik offen (Dörre 2020; Davoudi 2021), sei aber auch als Chance für die Herbeiführung einer nachhaltigen und resilienten Stadtentwicklung zu begreifen (Jakubowski 2020; Fischedick u. Schneidewind 2020; OECD 2020). Über die konkrete Art, die Tiefe und Dauer von möglichen Auswirkungen bestehen indes große Unsicherheiten. Kontrovers diskutiert wird dabei vor allem die Frage, ob die Pandemie zu einer ‚Krise des Urbanen‘ führen könnte, wenn sich die potenziell dezentralisierenden Effekte der Digitalisierung mit Wohnkostensteigerungen sowie mit den pandemiebedingten Einschränkungen und Risikowahrnehmungen des urbanen Lebens überlagern. Einige Stimmen sehen mit Corona sogar ein Ende der Urbanisierung gekommen (Höhne u. Michel 2021). Die zu diesem Thema bislang vorliegenden Beiträge eint, dass sie sich zwangsläufig in einem hoch spekulativen Raum bewegen, da empirische Evidenz über ökonomische, soziale, politische oder raumstrukturelle Auswirkungen noch nicht oder nur bedingt verfügbar ist. Stark vereinfacht lassen sich in der mittlerweile umfangreichen Literatur zwei Deutungen der Corona-Pandemie antreffen: Viele Stimmen sehen in ihr eine historische Zäsur mit enormer transformativer Kraft (Horx 2020; Rosa 2020; Newman 2020). Corona kann – so die Einschätzung – katalytische Effekte für die Etablierung neuer Märkte haben; die Pandemie kann technologischen und institutionellen Wandel beschleunigen, routinierte Handlungslogiken und habituelle Verhaltensmuster aufbrechen und veränderte politische Prioritätensetzungen nach sich ziehen. Im Kontext der Stadtentwicklung wurde in diesem Zusammenhang über weitreichende Veränderungen von Wohn- und Arbeitsmodellen, der Mobilitätspraktiken sowie der baulichen Umwelt als unmittelbare oder mittelbare Folge der Pandemie spekuliert (Espace Suisse 2021; Newman 2020; Florida et al. 2021). Nicht wenige Stimmen erwarten in diesem Zusammenhang auch raumwirtschaftliche und raumstrukturelle Auswirkungen (Moser et al. 2021; Florida u. Ozimek 2021). Demgegenüber steht eine Position, die ein schnelles „return to normal“ erwartet. Wenn die gesundheitlichen Risiken
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In diesem Beitrag wird die Fachdebatte über die längerfristigen Folgen der Pandemie für die Stadtentwicklung nachgezeichnet und bewertet. Im Mittelpunkt steht dabei die Frage, wie sich die mit dem Voranschreiten der Impfkampagnen abnehmen, Faktor der Ausbreitung des Virus angesehen, verbunden mit Krise und ihre längerfristigen Folgen auf die Bevölkerungsentwicklung großer Städte auswirken wird. werden sich – so diese Stimmen – alte Denkmuster, HandSpekulationen über eine mögliche ‚Stadtflucht‘ von Teilen Dies erfolgt und eingebettet in eine Diskussion des transformativen Potenzials der Pandemie, indem die lungsroutinen gewohnheitsgeleitetes Verhalten wieder der – insbesondere wohlhabenderen – Bevölkerung zugunsten weniger verdichteter Räume (Höhne u. Michel 2021). Der einstellen (Kunzmann 2020). So zeichne sich bereits ab, dass Plausibilität der beiden oben skizzierten – konträr zueinander stehenden – Deutungsversuche staatliche Konjunktur- und Strukturprogramme vor allem auf schubartige Bedeutungszuwachs des Homeoffice und des erörtert wird. Da statistische Daten, mit denen der Pandemie untersucht konventionelle Wachstumsund Konsumstimulation, wenigerdie Effekte Onlineshopping wird dabeivertiefend als begünstigend eingeschätzt auf nachhaltigkeitsorientierte Transformation abzielen (Blüh(Holliss 2021; Stanton u. Tiwari 2021; Moser et al. 2021). Auch werden könnten, bislang nur sehr eingeschränkt verfügbar sind, stützt sich dieser Beitrag allein auf wird vermutet, dass die Erfahrungen während der Pandemie dorn 2020; Hepburn et al. 2020). Die Pandemie könne zwar eine Sichtung der mittlerweile umfangreichen Literatur. bereits bestehende Trends wie die Digitalisierung verstärken, Veränderungen der Wohnungsnachfrage mit sich gebracht ihre transformative Kraft sei aber begrenzt (Dörre 2020). Für haben, so etwa den Wunsch nach mehr Wohnfläche, was sich für viele Haushalte nur im Umland der Großstädte realisieren die Stadtentwicklung legt diese Perspektive nahe, dass jenseits 2 kurzfristigen Transformation durch Corona von Trendanomalien, wie etwa der Einbruch des lässt (Eisfeld u. Just 2021). Durch COVID-19 verstärkte VerändeWirtschaftswachstums oder einer rückläufigen Zuwanderung, rungen der Arbeits- und Wohnungsmärkte könnten – so nicht keine grundlegenden Entwicklungsbrüche und schon gar Stimmen – einer Dezentralisierung Bevölkerung Die denkbaren Wirkungspfade einer durch ein Viruswenige wie SARS-CoV-2 ausgelösten oderder verstärkten keine Krise der Stadt zu erwarten sind (Reades u. Crookston Vorschub leisten (Gallent u. Madeddu 2021; Dolls u. Mehles Transformation können sehr unterschiedlicher Natur sein. Im Folgenden werden zwei hypothetische 2021; Wray 2021). 2021; Moser et al. 2021) und die großen Städte schwächen. Eng damit verbunden die vielfach aufgeworfene Fra- unterzogen In diesem Beitrag wird über die Wirkungspfade eineristvertiefenden Betrachtung (Abbildung 1).die DasFachdebatte sind – erstens – länge, in welchem Maße sich große Städte als ‚resilient‘ in der gerfristigen Folgen der Pandemie für die Stadtentwicklung Anpassungen des individuellen Verhaltens an die mit dem Virus verbundenen gesundheitlichen Corona-Krise erwiesen haben und ob die Krisenerfahrungen nachgezeichnet und bewertet. Im Mittelpunkt steht dabei Risiken. Ein zeitlich begrenztStärkung oder dauerhaft verändertes Mobilitäts-, oder Folgen zu einer politisch herbeigeführten ihrer Resilienz die Frage, wie sich die RaumaneignungsKrise und ihre längerfristigen führen können. Mit Resilienz wird hier die Fähigkeit einer Stadt auf die Bevölkerungsentwicklung großer Städte auswirken Standortverhalten kann in diesem Zusammenhang als personenbezogene Resilienz und emergente verstanden, ihre ökonomische Vitalität, ihr Bevölkerungs- und wird. Dies erfolgt eingebettet in eine Diskussion des transSelbstorganisation Aus der Summe unzähliger Einzelentscheidungen Humanpotenzial sowie verstanden die Siedlungs- werden. und Infrastrukturbeformativen Potenzials der Pandemie, indem die können Plausibilität stände nach externen Schocks wie Pandemien aufrecht zu der beiden oben skizzierten – konträr zueinander erhebliche raumstrukturelle Veränderungen resultieren. Zweitens könnte die Krise einen stehenden – Deutungsversuche erörtert wird. Da statistische Daten, mit erhalten (Glaeser 2021). institutionellen Wandel wird im gesellschaftlichen und politischen oder verstärken. Aus In diesem Zusammenhang die spezifische Vulnerabidenen die EffRaum ekte derauslösen Pandemie vertiefend untersucht werden lität großer Städte gegenüber Pandemien diskutiert (Hamidi könnten, bislang indem nur sehr eingeschränkt verfügbar Politik sind, stützt dieser Perspektive ergäbe sich eine Transformation „von oben“, die raumbezogene von et al. 2020; Blättgen u. Milbert 2021). Die höhere physische sich dieser Beitrag allein auf eine Sichtung der mittlerweile einer gestiegenen Legitimität und Akzeptanz ihres Handelns profitiert und – erfolgreicher als bislang und soziale Dichte in Städten wurde als ein begünstigender umfangreichen Literatur.
– eine an Zielen der Nachhaltigkeit orientierte Gestaltung des Raumes verfolgt. Eine solche über die Mittel räumlicher Planung herbeigeführte Transformation wird im Folgenden als institutionelle und umweltbezogen Resilienz diskutiert. Beide Transformationspfade stehen naturgemäß in enger wechselseitiger Abhängigkeit. Dabei kommt den Immobilienmärkten eine zentrale Bedeutung zu. Abbildung 1: Unterscheidung von Transformationspfaden
Abb. 1: Unterscheidung von Transformationspfaden 92
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Transformation durch Corona Die denkbaren Wirkungspfade einer durch ein Virus wie SARSCoV-2 ausgelösten oder verstärkten Transformation können sehr unterschiedlicher Natur sein. Im Folgenden werden zwei hypothetische Wirkungspfade einer vertiefenden Betrachtung unterzogen (Abbildung 1). Das sind – erstens – Anpassungen des individuellen Verhaltens an die mit dem Virus verbundenen gesundheitlichen Risiken. Ein zeitlich begrenzt oder dauerhaft verändertes Mobilitäts-, Raumaneignungs- oder Standortverhalten kann in diesem Zusammenhang als personenbezogene Resilienz und emergente Selbstorganisation verstanden werden. Aus der Summe unzähliger Einzelentscheidungen können erhebliche raumstrukturelle Veränderungen resultieren. Zweitens könnte die Krise einen institutionellen Wandel im gesellschaftlichen und politischen Raum auslösen oder verstärken. Aus dieser Perspektive ergäbe sich eine Transformation „von oben“, indem die raumbezogene Politik von einer gestiegenen Legitimität und Akzeptanz ihres Handelns profitiert und – erfolgreicher als bislang – eine an Zielen der Nachhaltigkeit orientierte Gestaltung des Raumes verfolgt. Eine solche über die Mittel räumlicher Planung herbeigeführte Transformation wird im Folgenden als institutionelle und umweltbezogene Resilienz diskutiert. Beide Transformationspfade stehen naturgemäß in enger wechselseitiger Abhängigkeit. Dabei kommt den Immobilienmärkten eine zentrale Bedeutung zu. Nachfolgend werden die beiden oben unterschiedenen Wirkungspfade einer genaueren Betrachtung unterzogen: die möglichen stadtbezogenen Wirkungen von individuellen Veränderungen des Verhaltens im Raum (Abschnitt 2.1) und die Bedeutung der Krise für die Ausgestaltung staatlichkommunaler Transformationsagenden (Abschnitt 2.2). Veränderungen des Raumnutzungsverhaltens Die Corona-Pandemie hat die Alltagsorganisation der Menschen und das soziale Zusammenleben, insbesondere während des in zahlreichen Ländern seit dem Frühjahr 2020 verordneten ‚Lockdowns‘, in extremer Weise „denormalisiert“ (Blühdorn 2020, S. 11). Die erzwungene Stilllegung von Einrichtungen der Bildungsinfrastruktur, die Schließung eines Großteils des Einzelhandels, der Gastronomie, von Angeboten des Breitensports sowie sozialen, kulturellen oder kirchlichen Einrichtungen, die zum Teil angeordneten Beschränkungen der individuellen alltäglichen Mobilität und das im Öffentlichen wie Privaten wirksame Gebot des ‚Social Distancing‘ haben individuelle Aktionsräume, Raumwahrnehmungen, soziale Interaktionsmuster und Mobilitätspraktiken phasenweise stark verändert. In vielen Studien wurden gravierende – zu erheblichen Teilen erzwungene – Modifikationen des Raumnutzungsverhaltens konstatiert. An dieser Stelle sei vor allem auf Veränderungen von Präferenzen des Arbeitens, Einkaufens und Wohnens hingewiesen, welche über Standortentscheidungen und Praktiken der Alltagsmobilität unmittelbare raumstrukturelle Relevanz entfalten können: - Feststellbar ist ein starker Zuwachs des Arbeitens zu Hause (Holliss 2021; Emmler u. Kohlrausch 2021; Brynjolfsson et al. 2020; Lord 2020), was möglicherweise mit einer
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stärkeren Nahraumorientierung von Versorgungs- und Freizeitaktivitäten (Florida et al. 2021; Espace Suisse 2021) verbunden ist. Evident sind starke Zuwächse beim Onlinehandel (OECD 2020a) und geringere Kundenfrequenzen in den Innenstädten (IW Köln 2020). Noch unklar sind die Auswirkungen auf die städtischen Büroflächenmärkte, aber ein moderater Rückgang der Flächennachfrage und geringere Büromieten erscheinen nicht unwahrscheinlich (Holliss 2021; Glaeser 2021; Voigtländer 2020).
Unklar ist dabei, ob die beobachteten Veränderungen lediglich als temporäre, situativ gebotene Anpassungen anzusehen sind oder ob sie langlebiger Natur sein könnten. Schon in einer frühen Phase der Pandemie wurde die Möglichkeit diskutiert, dass Verhaltensanpassungen auch nach dem Ende staatlicher Eindämmungsmaßnahmen (wie der Homeoffice-Pflicht) beibehalten werden (Florida et al. 2021). Nicht wenige Stimmen erwarten in diesem Zusammenhang dauerhafte Veränderungen des Wohnens und Arbeitens, die kumuliert zu einer Dezentralisierung und Entdichtung des Siedlungssystems führen könnten (Moser et al. 2021; Höhne u. Michel 2021; Just u. Plößl 2021). Dabei überlagern sich zwei Argumente: - Die während der Lockdown-Maßnahmen gemachten Alltagserfahrungen des Arbeitens, Lernens und Lebens in Privatwohnungen könnten zu einer erhöhten Wohnflächennachfrage führen, insbesondere von Familien (Stanton u. Tiwari 2021; Berlin Hyp 2020). Auch würde – so die Argumentation – das Bewusstsein für die Wohnqualität (z. B. in Bezug auf die Verfügbarkeit eines Balkons oder von privaten Grünflächen) steigen (JLL 2020). Da bezahlbare größere Wohnungen vor allem an den Rändern der Großstadtregionen zu finden seien, könnte Corona zu einer erweiterten Suburbanisierung beitragen, von der auch periphere Räume mit guter Verkehrserreichbarkeit profitieren (Moser et al. 2021; Dolls u. Mehles 2021). - Der erwartete dauerhafte Bedeutungsgewinn des Homeoffice würde die finanziellen und psychosozialen Kosten des Pendelns substanziell reduzieren (Lord 2020). Erwartet wird in diesem Zusammenhang eine Ausdehnung der Einzugsgebiete großer Städte (Moser et al. 2021; Büttner u. Breitkreuz 2020), da periphere Wohnstandorte relativ an Attraktivität gewinnen würden. Allerdings wurden in diesem Zusammenhang auch Gegenargumente vorgebracht. So gilt das Homeoffice-Potenzial als begrenzt (Irlacher u. Koch 2021). Selbst in einer stark dienstleistungsgeprägten Ökonomie wie Deutschland wird lediglich ein Drittel der Arbeitsplätze als Homeoffice-tauglich angesehen (OECD 2020b). Höhere Kraftstoffkosten in der Klimaschutzpolitik könnten die finanziellen Entlastungen der Pendler zumindest teilweise kompensieren. Florida et al. (2021) bezweifeln zudem grundsätzlich, dass periphere, ländlich geprägte Wohnstandorte vom Homeoffice-Boom in stärkerem Maße profitieren. Sie erwarten eher eine Orientierung auf infrastrukturell gut ausgestattete Umlandstandorte, da eine höhere Verweildauer am Wohnort mit einer höheren Nachfrage nach Versorgungsleistungen einhergehen könnte. Integrierte Quar-
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tiere („24-Stunden-Quartiere“), in denen Wohnen, Arbeiten, Versorgung, Gastronomie und Begegnung durch kurze Wege möglich sind, könnten an Akzeptanz gewinnen (Espace Suisse 2021). Noch ist es aber zu früh, der Pandemie strukturrelevante Wirkungen zu unterstellen, die sich in einer Gewichtsverschiebung zwischen urbanen und ländlichen Gebieten äußern. Institutioneller Wandel in Politik und Planung Ein zweiter Transformationspfad könnte in einem Motivations- und Legitimationsgewinn für die Anliegen nachhaltiger Entwicklung gesehen werden. Ein gängiges Narrativ in der Krise ist, dass diese die Defizite urbaner Infrastrukturen, das hohe Maß an sozialräumlicher Benachteiligung und die Nicht-Nachhaltigkeit urbaner Konsum- und Mobilitätsmuster in nie gekannter Deutlichkeit entblößt hat. Dies verschaffe einer transformativen Stadtplanung Auftrieb und könne einen Paradigmenwechsel zugunsten einer „inklusiveren“, „grüneren“ und „smarten“ Stadtentwicklung einleiten (OECD 2020). In diesem Zusammenhang wird dem disruptiven Charakter einer Krise wie Corona besondere Bedeutung beigemessen. So wird häufig angenommen, dass unvorhersehbare (Krisen-)Ereignisse ein bis dato dominantes ‚System‘ destabilisieren können. Dies erfolgt durch die Erschütterung von Gewissheiten und Überzeugungen, das Durchbrechen von Denkroutinen und habituellen Verhaltensmustern oder die Destabilisierung bislang pfadabhängiger Technologien und Infrastrukturen. Ein externes Ereignis wie eine Pandemie kann insofern geeignet sein, Nischeninnovationen, die bislang nur in geschützten lokalen Systemen Relevanz entfalten konnten, zum Durchbruch zu verhelfen. Es mangelt in der Literatur allerdings nicht an Stimmen, die bezweifeln, dass die Corona-Pandemie als ein solcher „game changer“ Pfadabhängigkeiten und Lock-inSituationen aufbrechen könne (Blühdorn 2020; Dörre 2020). Welche längerfristigen Folgen die Corona-Pandemie für die strategisch-inhaltliche Ausrichtung der Stadtplanung haben wird, ist derzeit noch unklar. Auch hier zeigen sich eher ambivalente Entwicklungen: So wird einerseits darauf verwiesen, dass Corona die Erforderlichkeit eines Umbaus von Infrastrukturen und öffentlichen Räumen unterstrichen hat (siehe die Forderungen nach „mehr Grün“ und „mehr Flächengerechtigkeit“ in Dosch u. Haury 2020). Das Virus fungiere insofern als Katalysator der Durchsetzung von bereits seit längerem
verfolgten Konzepten einer nachhaltigen Stadt (Bailey et al. 2020). Andererseits sind bislang anerkannte Leitbilder wie die „kompakte Stadt“ unter Rechtfertigungsdruck geraten. Insbesondere in der Anfangsphase der Pandemie gab es – wie oben ausgeführt – Stimmen, welche die höhere Bevölkerungs- und Siedlungsdichte in Großstädten als Faktor der Ausbreitung des Virus angesehen haben. Daraus leiteten sich Forderungen nach einer „Entdichtung“ und „Dezentralisierung“ des Siedlungssystems ab (Jabareen u. Eizenberg 2021). Auch hier bleibt vorerst abzuwarten, ob und inwiefern Corona Folgen für normative und institutionelle Orientierungen in Politik und Planung hat.
Ende der urbanen Renaissance?
Schon seit einigen Jahren wird konstatiert, dass die Wanderungsverluste der deutschen Kernstädte bei der Bevölkerung mit deutscher Staatsangehörigkeit wieder zunehmen (Osterhage u. Albrecht 2021; Henger u. Oberst 2019; Kholodlin 2017; Busch 2016). Dies konnte lange Zeit durch Wanderungsgewinne gegenüber dem Ausland überkompensiert werden, so dass die Großstädte bis 2019 mehrheitlich steigende Bevölkerungszahlen verbuchen konnten. Mit dem Einsetzen der Corona-Pandemie ist dies abrupt zum Ende gekommen (Kürbis 2021; Rink et al. 2021). Einige Großstädte mussten im ersten Corona-Jahr 2020 erstmals seit vielen Jahren Bevölkerungsverluste hinnehmen. Demgegenüber hat sich in jüngster Vergangenheit ein Trend eingestellt, wonach ländliche Regionen wieder Wanderungsgewinne verbuchen. Überraschenderweise trifft dies auch auf solche Räume zu, die eher als peripher und ökonomisch schwächer einzuschätzen sind (Osterhage u. Albrecht 2021). Zwar liegen aktuell noch keine vertiefenden Datenanalysen vor, aber einige Mutmaßungen über die Hintergründe dieser Entwicklung können dennoch angestellt werden: Erstens ist die internationale Zuwanderung aufgrund der teilweise geschlossenen Grenzen und einer allgemeinen ökonomischen Verunsicherung stark eingebrochen. Große Städte partizipieren traditionell weit überdurchschnittlich vom Standortwahlverhalten der internationalen Migranten und sie waren demzufolge auch überdurchschnittlich vom Einbruch der Zuwanderung betroffen. Zweitens hatte die teilweise Schließung
Tabelle 1: Überblick über aktuelle Studien zur Bevölkerungsentwicklung in deutschen Großstädten Studie
Beobachtungseinheiten
Zeitraum
Demografische Indikatoren
Hauptergebnis
Busch 2016
Kreise und kreisfreie Städte
2008–2014
Binnen- und Außenwanderungssalden
abnehmende Wanderungssalden in Städten mit angespanntem Wohnungs- markt
Henger u. Oberst 2019
71 kreisfreie Großstädte
1995–2017
Wanderungssalden
seit 2014 negative Binnenwanderungssalden bei Inländern
Kholodin 2017
7 größte Städte
1995–2014
Wanderungssalden
abnehmende Binnenwanderungsgewinne
Osterhage u. Albrecht 2021
nicht-ländliche Räume (Thünen)
2000–2019
Wanderungssalden
seit 2015 negative Binnenwanderungssalden bei Deutschen
Rink et al. 2021
15 größte Städte
2018–2020
Bevölkerungsentwicklung, neun Städte verzeichneten Bevölkerungsverluste Wanderungssalden in 2020, starker Einbruch der Zuwanderung
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Stadtforschung
von Hochschulen und die Umstellung auf Online-Lehre zur Folge, dass weniger jüngere Menschen zum Studium in die Universitätsstädte gezogen sind. Drittens hat die Pandemie auch die Mortalität ansteigen lassen (Kürbis 2021). Die Unsicherheit von Aussagen über die zukünftige Bevölkerungsentwicklung der Großstädte ist derzeit besonders hoch. Einiges spricht aber für ein Ende des langjährigen Wachstumstrends und das Einsetzen einer länger anhaltenden Stagnation. Während einige Entwicklungen wie der Einbruch der grenzüberschreitenden Zuwanderung oder der Studierendenzahlen eher kurzfristiger Natur sein dürften, scheinen die Wanderungsverluste bei der deutschen Bevölkerung ein vergleichsweise robuster Trend zu sein. Hier überlagern sich bereits länger sichtbare Entwicklungen der Immobilienmärkte mit Effekten durch die Corona-Pandemie.
Fazit Zusammenfassend lässt sich schlussfolgern, dass die Pandemie zweifelsohne transformative Kräfte entfalten kann, deren Art und Ausmaß aber bislang nur in Ansätzen abgeschätzt werden können. Jegliche Exploration einer „Post-Corona-Zukunft“ von Städten und Regionen ist mit einem hohen Maß an Unsicherheit und Ambivalenz konfrontiert. Dies liegt zu gleichen Teilen an der extremen Komplexität der Wirkungszusammenhänge und an widersprüchlichen Entwicklungen in den Ausprägungen und Folgen der Krise. Was bedeutet das für die Stadtentwicklung und ihren normativen Anspruch auf Nachhaltigkeit und Resilienz? Mit dem Slogan “building back better” wurde die Krise zu Beginn von vielen als ein Möglichkeitsfenster gesehen, den Übergang zur nachhaltigen Entwicklung zu beschleunigen. Die post-pandemische Stadt werde – so die Erwartung – gerechter, nachhaltiger und resilienter sein. Einige Monate später ist diese Erwartungshaltung einer gewissen Ernüchterung gewichen. Mit Blick auf die thematische Schwerpunktsetzung dieses Beitrages kann die Abwanderung von Menschen in ländlich geprägte Gebiete als Ausdruck individuellen Resilienzstrebens unter Pandemieerfahrungen gelten, in ihrer kumulativen Wirkung widerspricht eine solche Entwicklung aber den Anliegen einer nachhaltigen, ‚kompakten‘ Stadt der kurzen Wege. Eine schwerwiegende Krise der großen Städte, die sich in überdurchschnittlichen wirtschaftlichen Einbußen und Bevölkerungsverlusten äußert, ist im deutschen Kontext allerdings eher unwahrscheinlich. Zwar hat die Überhitzung der kernstädtischen Immobilienmärkte die Abwanderungsneigung von Bezieher*innen geringer und mittlerer Einkommen sowie von Haushalten mit höherer Wohnflächennachfrage deutlich
ansteigen lassen. Aber eine wirklich krisenhafte Zuspitzung dieser Entwicklung ist auch mit den Einflüssen der CoronaPandemie nicht anzunehmen. Es ist bemerkenswert, dass sich die großstädtischen Immobilienmärkte bislang vollkommen unbeeindruckt von Corona-bedingten wirtschaftlichen Unsicherheiten gezeigt haben, denn der Preisauftrieb ging auch in 2020 weiter (Kholodilin u. Michelsen 2021; Oberst 2021). Mit längerfristigem Blick kann argumentiert werden, dass agglomerationsfördernde Faktoren auch in einer postpandemischen Welt wirksam bleiben. Ein breit gefächertes Konsum- und Kulturangebot, die Erfahrung kultureller Diversität und ein differenzierter Wohnungsmarkt machen große Städte weiterhin anziehend, insbesondere für hochgebildete Arbeitskräfte und jüngere Menschen (Siedentop 2021). Auch in der digitalen Ära bleibt die persönliche Begegnung von Menschen eine Voraussetzung für den effektiven Transfer von nichtkodifiziertem Wissen (Wray 2021; Reades u. Crookston 2021; Leamer u. Storper 2001). Die Erleichterung von „Faceto-Face“-Interaktion durch räumliche Nähe ist deshalb eine weiterhin bedeutende agglomerative Kraft, paradoxerweise gerade in den kommunikationsintensivsten Industrien wie der IT-Branche. In der Wissensökonomie werden Städte ihre Bedeutung als Orte der Innovation, Kreativität und Transformation behaupten (Wray 2021). Ein Donut-Effekt, resultierend aus einer sprunghaft ansteigenden Abwanderungsneigung aus Großstädten, wie dies für US-amerikanische Stadtregionen aufgezeigt wurde (Ramani u. Bloom 2021), ist für Deutschland wenig plausibel. Denkbar erscheint dagegen das ebenfalls in den USA konstatierte Phänomen von „Zoom Towns“ (Sodja 2021; Florida u. Ozimek 2021) in Gestalt von weniger exklusiven, kleineren Städten in landschaftlich attraktiven Lagen, die für Erwerbstätige mit Homeoffice-Möglichkeit zunehmend attraktiv werden. Dies käme nicht unbedingt einer Renaissance des ländlichen Raumes gleich, aber kleinere Großstädte und Regiopole sowie suburbane Räume könnten in höherem Maße als bisher präferierte Zielgebiete einer umzugswilligeren Großstadtbevölkerung sein. In einem historischen Rückblick kommt Glaeser (2021; ähnlich auch Wray 2021) zu dem Ergebnis, dass Großstädte in der Geschichte der Menschheit eine bemerkenswerte Resilienz in Krisensituationen gezeigt haben, unabhängig davon, ob es sich um Kriegseinwirkungen, Naturkatastrophen oder Epidemien handelt. Die Corona-Pandemie wird der urbanen Renaissance des 21. Jahrhunderts möglicherweise einen Dämpfer zufügen, aber nicht ihr Ende einleiten. Hoch verdichtete Städte werden ihre enorme funktionale und symbolische Bedeutung als konstitutiver Teil von immer komplexer werdenden polyzentrischen Metropolregionen behaupten.
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Stadtforschung
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Statistik & Informationsmanagement
Lorenz Thomschke
Einfache Mietspiegel qualifizieren Alternative Daten zur Ermittlung ortsüblicher Vergleichsmieten In diesem Aufsatz untersuchen wir alternative Datengrundlagen zur Herleitung ortsüblicher Vergleichsmieten. Dafür vergleichen wir amtliche Daten aus dem Mikrozensus mit sogenannten Angebotsdaten und stellen fest, dass es einen starken räumlichen und strukturellen Zusammenhang der beiden Datenquellen gibt. Anschließend präsentieren wir ein Simulationsverfahren, mit dem auf Basis von Angebotsdaten auch Bestandsmieten generiert werden können. Damit steht ein Datensatz zur Verfügung, der für die Erstellung zumindest einfacher Mietspiegel in Betracht kommt. Auch ein Vergleich mit ausgewählten lokalen Mietspiegeln offenbart, dass die Niveauunterschiede der einzelnen Vergleichsmieten relativ gering sind. Vor diesem Hintergrund kommentieren wir auch die aktuellen Anforderungen, die an Mietspiegeldaten gestellt werden.
Dr. Lorenz Thomschke (M.Sc. Economics) Datenanalyst bei der VALUE AG seit 2020; Themenschwerpunkte: Automatisierte Wertermittlung, Mietregulierungen, Housing Economics : lorenz.thomschke@value-ag.de Schlüsselwörter Mietspiegel – Mikrozensus – Angebotsdaten – Mietspiegelreform – Datengenerierung
Hintergrund Ein sozialer Mietmarkt zielt darauf ab, den Schutz von Mieter:innen einerseits und das wirtschaftliche Interesse von Vermieter:innen andererseits angemessen auszugleichen. Aus diesem Grund gibt es in Deutschland einen Kündigungsschutz für Mieter:innen und im Gegenzug erhalten Vermieter:innen das Recht, die Miete bis zur ortsüblichen Vergleichsmiete anzuheben. Die ortsübliche Vergleichsmiete umfasst nach der gesetzlichen Definition sowohl Neuvertragsmieten wie auch geänderte Bestandsmieten und sie wird typischerweise über Mietspiegel abgebildet. Mietspiegel setzen damit die Rahmenbedingungen bei Mieterhöhungsverfahren und seit Einführung der sogenannten Mietpreisbremse auch bei der Festlegung von Neuvertragsmieten. Dabei wird im Gesetz jedoch zwischen einfachen und qualifizierten Mietspiegeln unterschieden: Während einfache Mietspiegel lediglich eine anerkannte Übersicht über die ortsübliche Vergleichsmiete sind, werden an qualifizierte Mietspiegel höhere Anforderungen gestellt, die meist zu einer höheren rechtlichen Beweiskraft führen. Die Erstellung qualifizierter Mietspiegel ist ungleich aufwendiger und kostspieliger als bei einfachen Mietspiegeln, da erstere laut Gesetz „anerkannten wissenschaftlichen Grundsätzen“ genügen und damit aus Mangel an geeigneten Datenquellen auf einer Primärdatenerhebung beruhen müssen. Für viele Kommunen dürfte ein qualifizierter Mietspiegel daher erstrebenswert, aber nicht erschwinglich sein und tatsächlich haben die meisten Kommunen bisher keinen oder nur einen einfachen Mietspiegel (BBSR 2020). Auch vermeintlich qualifizierte Mietspiegel lassen nach Schlittgen (2017) aber zuweilen ihre Qualifizierung vermissen und sind dann ebenso wenig ein Garant gegen juristische Auseinandersetzungen. Mit einem Mietspiegelreformgesetz (MsRG) soll deswegen künftig mehr Rechtssicherheit von Mietspiegeln erreicht werden, auch indem die Konzeption qualifizierter Mietspiegel mit einer Mietspiegelverordnung konkretisiert wird. Durch die Reform werden Kommunen mit mehr als 50.000 Einwohner künftig verpflichtet, einen Mietspiegel zu erstellen.1 Gleichzeitig wird die Primärdatenerhebung für qualifizierte Mietspiegel mit einem Zugriff auf amtliche Daten für Mietspiegelersteller:innen wesentlich erleichtert, und es wird eine Auskunftspflicht eingeführt. Für die Qualität der erhobenen Daten kann das ein entscheidender Zugewinn sein, die mit der Datenerhebung verbundenen Kosten dürften dadurch
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Statistik & Informationsmanagement
jedoch nur unwesentlich sinken. Viele Kommunen dürften sich weiterhin die Frage stellen, ob sie die Kosten für einen qualifizierten Mietspiegel aufbringen oder einen einfachen Mietspiegel erstellen, der auch in der neuen Mietspiegelverordnung weiterhin vorgesehen ist. Einfache Mietspiegel müssen nur in Grundzügen dokumentiert, von den Interessenparteien anerkannt und veröffentlicht werden. Anders als bei qualifizierten Mietspiegeln sind keine weiteren Anforderungen an die Erstellung geknüpft. Allerdings wird dann auch nicht notwendigerweise vermutet, dass die im Mietspiegel bezeichneten Entgelte die ortsübliche Vergleichsmiete wiedergeben. Laut dem Deutschen Mietschutzbund zeige die Erfahrung jedoch, „dass je nach den Gegebenheiten vor Ort auch ein einfacher Mietspiegel die zur Erfüllung seiner Informations und Befriedungsfunktion notwendige Akzeptanz bei Mietern und Vermietern finden kann.“2 In welchem Maße dürfte ganz wesentlich davon abhängen, welche Qualität ein einfacher Mietspiegel vorweisen kann. Es gibt jedenfalls keinen ersichtlichen Grund, einfache Mietspiegel per se mit schlechten Mietspiegeln gleichzusetzen. Mit der vorliegenden Studie möchten wir untersuchen, ob es geeignete Alternativen zur aufwendigen Datenerhebung von qualifizierten Mietspiegeln gibt und inwieweit die ortsübliche Vergleichsmiete mit diesen Alternativen treffend beschrieben werden kann. Bereits Rendtel, Sebastian und Frink (2021) haben einen alternativen Mietspiegel mit Daten des Mikrozensus für die Stadt Berlin erstellt. Diese Daten enthalten alle Mietverhältnisse, ohne dass geänderte Bestandsmieten separiert werden könnten. Den Autoren zufolge „ist (daher) zu erwarten, dass (…) die ortsübliche Vergleichsmiete eher zu niedrig geschätzt wird. Die Auswirkungen sind aber voraussichtlich eher gering (…).“ Gleichwohl konnte gezeigt werden, dass mit den Daten des Mikrozensus eine valide Schätzung der Mietpreisstruktur möglich ist. Diesen Ansatz greifen wir auf und erweitern den Untersuchungsrahmen auf alle Regionen Deutschlands. Zudem stellen wir ein Verfahren vor, mit dem eine potentielle Datengrundlage einfacher Mietspiegel auf Basis von sogenannten Angebotsdaten simuliert werden kann. Dafür prüfen wir auch mögliche Unterschiede zwischen Angebotsdaten und tatsächlichen Neuvertragsmieten.
Datengrundlagen Mirozensus Zusatzerhebung Wohnen Die Grundgesamtheit aller Neuvertragsmieten in Deutschland ist unbekannt. Es wird weder eine regelmäßige Befragung aller Mieter:innen oder Vermieter:innen durchgeführt, noch besteht Auskunftspflicht über neue Mietverträge. Mit dem Mikrozensus (MZ) gibt es jedoch eine Zufallsstichprobe, die Auskunft über Neuvertragsmieten gibt. Sie ist die größte jährliche und teilnahmepflichtige Haushaltsbefragung der amtlichen Statistik in Deutschland, mit der rund 1 % der Haushalte in Deutschland zu ihren Arbeits- und Lebensbedingungen befragt werden. Im Rahmen der Zusatzerhebung Wohnen werden die Haushalte auch nach ihrer Wohnsituation befragt, zuletzt im Jahr 2018. Sie erfolgt im Abstand von vier Jahren und erlaubt u. a. die Bestimmung von Nettokaltmiete, Wohnungsgröße,
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Beschaffenheit und Mietstatus. Haushalte, die innerhalb der letzten drei Jahre einen neuen Mietvertrag vereinbart haben, können ebenfalls separiert werden und deren vereinbarte Mieten werden im Folgenden als Neuvertragsmieten (NM) der Jahre 2015 bis 2018 bezeichnet. Der folgende regionale Vergleich mit Angebotsdaten basiert auf einer Sonderauswertung, mit der regionale Anpassungsschichten (RAS) untersucht werden. Aufgrund von Anonymisierungsverfahren können für Hessen allerdings keine regionalen Werte ausgewiesen werden.3 Angebotsmieten Die hier verwendeten Angebotsmieten (AM) stammen allesamt aus der VALUE Marktdatenbank, in der auf Internetportalen und digitalisierten Printmedien veröffentlichte Immobilieninserate ausgewertet werden. Da es sich bei den Bezugsquellen um Angaben von Marktakteuren handelt, die aus unterschiedlichen Beweggründen heraus an den Marktplätzen inserieren, kann nicht vollumfänglich von der Richtigkeit der gemachten Informationen ausgegangen werden. Daher werden bei den VALUE Marktdaten permanent stichprobenartige Kontrollen auf Plausibilität sowie automatisierte Qualitätssicherungsmechanismen durchgeführt und dokumentiert. Über die fortlaufende Recherche neuer Vermarktungstrends wird eine stabile Erhebung und somit die Bereitstellung einer aktuellen Stichprobe des öffentlich zugänglichen Immobilienangebotes angestrebt. Die Stichprobe berücksichtigt zahlreiche Immobilienmarktakteure (privat, gewerblich, öffentlich gefördert etc.) sowie eine Vielzahl öffentlich verfügbarer Quellen (Internet- und Printmedien) und sie ist zufällig im Hinblick auf die Erfassungszeitpunkte und -regionen. Die Datenaufbereitung und die Variablenableitung erfolgt durch Algorithmen auf Ebene einzelner Anzeigen. Diese Algorithmen werden fortlaufend im Rahmen von statistischen Zufallsstichproben durch geschultes Personal validiert, wobei die Validität der Daten und einzelner Variablen über eine Fehlerwahrscheinlichkeit festgestellt wird. Im Durchschnitt liegt die Fehlerquote einzelner Variablen bei ca. 1 %. Die Aufbereitung der Anzeigen zu Inseraten und Angeboten geschieht anschließend im Rahmen der Dublettenbereinigung. Nach der Ableitung von Variablen werden die einzelnen Anzeigen einer oder mehrerer Quellen miteinander verglichen und – sofern Sie ausreichend übereinstimmende Variablen aufweisen – zu einem Inserat bzw. Angebot zusammengefügt. Maßgeblich sind dabei einschlägige „harte“ Variablen (Straße, Fläche, Baujahr oder Preis) sowie weitere segmentspezifische Merkmale. Die Qualität der Duplettenbereinigung wird anhand einer statistischen Quote über falsche Dubletten (fälschlicherweise zusammengefügte Anzeigen) gemessen, die im Durchschnitt über alle Segmente ebenfalls bei etwa 1 % liegt. Die Dublettenbereinigung erfolgt im Querschnitt (über alle Internetquellen und Printmedien) und Längsschnitt (über den gesamten Angebotszeitraum). Immobilien, die über einen längeren Zeitraum im Angebot stehen, werden nur einmal in die Datenbank aufgenommen. Von Angebotsmieten zu Neuvertragsmieten Für den Vergleich mit den Neuvertragsmieten werden alle Angebotsmieten aus dem Segment „Wohnungen zur Miete“ berücksichtigt, deren Vermarktung zwischen dem 1. Januar
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2015 und dem 31. Dezember 2018 endete.4 Wir unterstellen zunächst, dass zwischen Vermarktungsende und Beginn des Mietverhältnisses typischerweise sechs Wochen liegen und berücksichtigen daher lediglich Inserate mit einem Vermarktungsende zwischen dem 15. November 2014 und dem 15. November 2018. Wir ignorieren zusätzlich alle Inserate, die als baufällig deklariert wurden sowie projektierte Objekte, um die kurzfristige Verfügbarkeit einer inserierten Wohnung sicherzustellen. Zudem werden nur Objekte aufgenommen,
deren Vermarktungsdauer unterhalb der mittleren regionalen Vermarktungsdauer liegt, um „Karteileichen“ und Dauerinserate sowie untypische bzw. nicht-vermarktbare Objekte auszuschließen. Insgesamt stehen damit rd. 1,8 Millionen Mietinserate aus der VALUE Marktdatenbank zur Verfügung, das entspricht rd. 29,1 % aller Hauptmieterhaushalte aus dem MZ mit Einzugsjahr 2015 oder später. Deutschlandweit liegt das arithmetische Mittel der Angebotsmieten – 0,1 €/m² oder –1,3 % unter dem
Abbildung 1: Angebotsmieten (AM) & Neuvertragsmieten (NM), Mittelwert (∆ AM ggü. NM)
© DESTATIS, 2021 & © VALUE Marktdaten
Abbildung 2: Angebotsmieten & Neuvertragsmieten in den RAS
© DESTATIS, 2021 & © VALUE Marktdaten
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Niveau der Neuvertragsmieten.5 Unter den Bundesländern ist der Abstand im Stadtstaat Bremen am größten. Hier unterschreiten die mittleren Angebotsmieten das Niveau der Neuvertragsmieten um 7,7 %. In den beiden anderen Stadtstaaten Berlin (1,1 %) und Hamburg (2,9 %) sind die Abstände jeweils positiv und kleiner. Den größten positiven Unterschied gibt es mit 6,2 % in Brandenburg. Insgesamt liegen die Angebotsmieten in 7 von 16 Bundesländern unter oder auf dem Niveau der Neuvertragsmieten (Abbildung 1). Auch auf Ebene der regionale Anpassungsschichten (RAS) korrelieren die beiden Mietniveaus (Abbildung 2). Die Abweichungen konzentrieren sich tendenziell auf den Südosten des Landes, ohne dass allerdings ein eindeutiges Muster erkennbar wäre (Abbildung 3). In 116 von 118 RAS mit Angaben zur Neuvertragsmiete betragen die Unterschiede maximal ± 10 %, in 88 RAS liegen die Abweichungen bei höchstens ± 5 %. Erklärungsansätze für mögliche Unterschiede Einzeldaten aus dem Mikrozensus liegen uns nicht vor und so muss sich der Vergleich auf deskriptive Auswertungen der beiden Datensätze beschränken.6 Gleichwohl lassen sich aus
Abbildung 3: Abweichungen Angebotsmieten & Neuvertragsmieten in den RAS in %
© DESTATIS, 2021 & © VALUE Marktdaten
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den Definitionen der verwendeten Daten bereits zwei zentrale Erklärungsansätze für mögliche Unterschiede ableiten. Angebotsdaten beschränken sich per Definition auf Wohnungen, die öffentlich inseriert wurden. Wohnungen, die wiedervermietet wurden, ohne dass sie auf einer öffentlichen Plattform angeboten wurden, werden demnach nicht erfasst. Dabei dürfte es sich vorrangig um Wohnungen handeln, die über interne Wartelisten kommunaler Wohnungsbauunternehmen, Genossenschaften oder der Bundesagentur für Arbeit vermarktet werden sowie Wohnungen, die „unter der Hand“ an Nachmieter:innen vergeben werden. Die durchschnittliche Nettokaltmiete aller Wohnungen von öffentlichen Einrichtungen oder Wohnungs- bzw. Baugenossenschaften ist laut Mikrozensus 2018 knapp 10 % günstiger als die jener Wohnungen, deren Eigentümer Privatpersonen oder privatwirtschaftliche Unternehmen sind. Inwieweit diese Unterschiede jedoch auf Neuvertragsmieten übertragbar sind, lässt sich den Zahlen nicht entnehmen. Die Unterschiede könnten sich bei Berücksichtigung von Lage und Baualtersstruktur auch relativieren, da Wohnungen von öffentlichen Einrichtungen oder Wohnungs- bzw. Baugenossenschaften in dieser Hinsicht meist andere Eigenschaften haben – bei einem einfachen Vergleich werden diese Effekte nicht herausgerechnet. Belastbare Untersuchungen zum detaillierten Grad der Niveauunterschiede sind uns nicht bekannt. Wir gehen jedoch davon aus, dass derartige Wohnungen in den Angebotsdaten unterrepräsentiert sein dürften und die Angebotsmieten ohne entsprechende Gewichtung im Vergleich zu den entsprechenden Neuvertragsmieten tendenziell höher ausfallen. Möblierte Wohnungen werden in den Angebotsdaten separat erfasst und bei der hier durchgeführten Analyse explizit ausgeschlossen. In der Regel können möblierte Wohnungen und zeitlich befristete Mietverhältnisse simultan betrachtet werden, da zeitlich befristete Mietverhältnisse typischerweise auch möbliert vermietet werden. Diese Wohnungen sind in den VALUE Marktdaten meist hochpreisiger als andere, nicht möblierte Wohnungen. Das wäre per se noch kein Ausschlussgrund. Aber bei Betrachtung der Jahre 2015 bis 2018 wird eine möblierte Wohnung, die wiederkehrend für drei Monate vermietet wird, richtigerweise 12-mal aufgeführt. Der Anteil möblierter Wohnungen und damit das allgemeine Mietpreisniveau wäre damit verzerrt. Im Mikrozensus wird hingegen nicht abgefragt, ob eine Wohnung möbliert vermietet wird. Die hier dargestellten Neuvertragsmieten enthalten demnach auch Angaben zu möblierten Wohnungen und deren mittleres Niveau dürfte dadurch vergleichsweise hoch sein. Angebotsmieten dürften wegen der vermutlich selektiven Auswahl öffentlich inserierter Wohnungen das Niveau der Neuvertragsmieten tendenziell überschätzen, umgekehrt dürfte der Ausschluss möblierter Wohnungen zu einem vergleichsweise niedrigeren Niveau führen. Wie hoch der jeweilige Effekt ist, lässt sich auf Basis der verfügbaren Angaben nicht ermitteln. Der hier durchgeführte Vergleich zielt nicht darauf ab, Angebotsmieten als repräsentatives Abbild von Neuvertragsmieten darzustellen; er zeigt aber, dass Angebotsmieten der regionalen Struktur von Neuvertragsmieten weitestgehend folgen und die Niveaus vielerorts vergleichbar sind – sofern die Angebotsdaten adäquat gefiltert wurden.
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Vergleichsmieten In Deutschland gibt es keine amtlichen Daten, die sich zur Herleitung der ortsüblichen Vergleichsmiete eignen und so müssen die entsprechenden Daten primär erhoben werden. Allen anderen uns bekannten Datenquellen fehlen einzelne Informationen, um die gesetzliche Definition einzuhalten. Aus diesem Grund sollen hier zunächst unterschiedliche Typen möglicher Vergleichsmieten voneinander abgegrenzt werden.
Abbildung 4: Bruttostichprobe als Anteil an Einwohnern nach MZO in %
Regionale Vergleichsmieten (VM) sind Mieten, die in der Region für Wohnraum in Mehrfamilienhäusern vergleichbarer Art, Größe und Lage vereinbart worden sind. Regionaltypische Vergleichsmieten (RVM) sind Mieten, die in der Region für Wohnraum in Mehrfamilienhäusern vergleichbarer Art, Größe und Lage vereinbart worden sind. Ausgenommen sind Haushalte, die Kosten der Unterkunft im Rahmen des ALG-II-Bezugs (Hartz IV) oder Kosten der Unterkunft im Rahmen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung erhalten. Lokaltypische Vergleichsmieten (LVM) sind simulierte Mieten, die in der Region für Wohnraum in Mehrfamilienhäusern vergleichbarer Art, Größe, Ausstattung und Lage einschließlich der energetischen Ausstattung in den letzten sechs Jahren vereinbart oder geändert worden sind. Ausgenommen sind Wohnungen, für die ein Wohnberechtigungsschein erforderlich ist und Wohnungen, die zeitlich befristet oder möbliert vermietet werden. Ortsübliche Vergleichsmieten (OVM) sind nach §558 (2) BGB Mieten, „die in der Gemeinde oder einer vergleichbaren Gemeinde für Wohnraum vergleichbarer Art, Größe, Ausstattung, Beschaffenheit und Lage einschließlich der energetischen Ausstattung und Beschaffenheit in den letzten sechs Jahren vereinbart oder, von Erhöhungen nach §560 abgesehen, geändert worden sind. Ausgenommen ist Wohnraum, bei dem die Miethöhe durch Gesetz oder im Zusammenhang mit einer Förderzusage festgelegt worden ist.“ Laut BBSR (2020) sollten möblierte oder teilmöblierte Wohnungen, Untermietverhältnisse sowie Wohnraum in Heimen und Gefälligkeitsmieten nicht bei der Mietspiegelerstellung berücksichtigt werden. Diese Wohnungen werden demnach für die Berechnung der OVM ausgeschlossen, auch in den LVM sind sie per Definition nicht enthalten. Bei VM und RVM werden sie hingegen nicht explizit ausgeschlossen. Ob unübliche Wohnungstypen wie Ein- und Zweifamilienhäuser, Penthouse-, Maisonettewohnungen oder Apartments im Mietspiegel berücksichtigt werden, obliegt den Mietspiegelerstellern und -erstellerinnen und die Entscheidung variiert von Mietspiegel zu Mietspiegel (Seite 104). Bei der LVM werden diese Wohnungstypen – mit Ausnahme von Wohnungen in Ein- und Zweifamilienhäuser – nicht ausgeschlossen, da sich uns nicht erschließt, warum diese Wohnungen „unüblich“ sein sollten. Auch bei RVM und VM werden sie berücksichtigt. Die OVM zielt auf Mieten ab, die in den letzten sechs bzw. ehemals vier Jahren neu vereinbart oder geändert worden sind. Dieser
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Bezugszeitraum lässt sich in den Daten des Mikrozensus nicht ableiten, sodass er bei VM und RVM entfällt, er findet jedoch auch Eingang in die LVM. Bei der Erhebung der Mietspiegeldaten dürfen Wohnungen, deren Miethöhe durch Gesetz oder im Zusammenhang mit einer Förderzusage festgelegt worden ist, nicht berücksichtigt werden. Diese Wohnungen können in der vom BBSR (2020) aufgeführten Granularität weder in den Daten des Mikrozensus noch in Angebotsdaten extrahiert werden. Deswegen werden bei der RVM hier hilfsweise Wohnungen ausgeschlossen, deren Haushalte Leistungen im Rahmen der Grundsicherung erhalten. Bei der LVM werden jene Wohnungen, für die ein Wohnberechtigungsschein erforderlich ist, nicht berücksichtigt. Keine der alternativen Vergleichsmieten trifft die Definition der OVM, ob sich daraus allerdings auch relevante Niveauunterschiede ergeben, wird nachfolgend analysiert.
Alternative Vergleichsmieten Regionaltypische Vergleichsmieten Die Daten zur Herleitung der RVM und der VM stammen aus der Zusatzerhebung Wohnen des Mikrozensus 2018. Dafür
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wurden Hauptmieterhaushalte in bewohnten Mietwohnungen in Gebäuden mit Wohnraum (ohne Wohnheime) vom Gebäudetyp Mehrfamilienhaus analysiert. Zur Berechnung der VM wurden keine weiteren Einschränkungen gemacht. Für die Berechnung der RVM werden Haushalte, die Kosten der Unterkunft im Rahmen des ALG-II-Bezugs (Hartz IV) oder Kosten der Unterkunft im Rahmen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung erhalten, nicht berücksichtigt. Diese Sonderauswertung wurde wiederum für alle regionale Anpassungsschichten beauftragt, wobei die Ergebnisse diesmal für alle Regionen zur Verfügung stehen. Lokaltypische Vergleichsmieten Durch das neue MsRG müssen Kommunen mit einer Einwohnerzahl von mehr als 50.000 künftig einen qualifizierten Mietspiegel erstellen. In Anlehnung daran haben wir anhand der aktuell verfügbaren Einwohnerzahlen der rund 10.000 Gemeinden in Deutschland Mietspiegelzonen (MZO) festgelegt. Kommunen mit mehr als 50.000 Einwohnern sind jeweils eine eigene Zone, alle anderen Kommunen werden zu RAS verschmolzen (Abbildung 4). Mithilfe einer quadratischen Funktion wird für jede MZO eine Bruttostichprobe der zu ziehenden Wohnungen W auf Basis der verfügbaren Einwohner E bestimmt, anschließend wird eine zufällige Auswahl an W(E) Wohnungen aus den Mietdaten gezogen. Damit stellen wir annäherungsweise sicher, dass für jede MZO eine Mindestanzahl von 500 Beobachtungen und bei größeren Kommunen von bis zu 1 % des Mietwohnungsbestandes gezogen wird (BBSR 2020).7 Bei der Ziehung werden nur jene Wohnungen berücksichtigt, deren Vermarktungsende vier (sechs) Jahre vor dem 31. Dezember 2018 lag, mit einer Wohnfläche zwischen 20 m² und 200 m² und Angaben zum Baujahr. Zudem werden vor der Zufallsauswahl die oben beschriebenen Filter angewendet (Seite 100). Für die weitere Simulation der LVM setzen wir den Zeitpunkt des Vermarktungsendes dem Zeitpunkt einer Mietanpassung bzw. dem Mietbeginn gleich. Dem so gewonnenen Datensatz wird außerdem eine weitere Variable mit einer Zufallszahl zwischen 0 und 9 Jahren angespielt, die für jede Wohnung die Mietdauer angibt. Wir unterstellen damit implizit eine mittlere Fluktuationsrate von 10 %. Simulation der lokaltypischen Vergleichsmiete Für jede Wohnung aus der Stichprobe schätzen wir zunächst das marktübliche Mietniveau. Dabei ermitteln wir unter Berücksichtigung objektspezifischer Eigenschaften auf Basis von Angebotsmieten und zugeordneten Nachbarschaftsinformationen einen Mietpreis, der sich an vergleichbaren Objekten in der Region orientiert.8 Die Schätzung basiert auf klassischen Kleinstquadratemethoden (OLS) der Regressionsanalyse und das verwendete Modell wird mithilfe einer Kreuzvalidierung optimiert. Die mittlere absolute Abweichung zwischen tatsächlichem Mietpreis und geschätztem Mietpreis liegt letztlich für 458.000 Testwohnungen aus der Kreuzvalidierung bei 7,6 %, die absolute Medianabweichung bei 6,7 %. Etwa 70 % der Fälle haben eine Abweichung von weniger als ±10 % und 97 % der Fälle eine Abweichung von weniger als ±20 %. Mit der zufällig generierten Mietdauer lässt sich auch die Bestandsmiete schätzen, was an einem Beispiel verdeutlicht
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werden soll. Für eine Wohnung aus der VALUE Marktdatenbank, deren Vermarktungsende am 1. Juli 2015 lag und für die eine Mietdauer von 4 Jahren simuliert wurde, datieren wir den Mietbeginn auf den 1. Juli 2011 und schätzen für diesen Zeitpunkt die objektspezifische Marktmiete (beispielsweise 6 €/m²). Außerdem unterstellen wir, dass zum Zeitpunkt der Erfassung (1. Juli 2015) eine Mietanpassung stattfand, sofern die Mietdauer länger als drei Jahre ist und die geschätzte Neuvertragsmiete vom 1. Juli 2011 unter dem aktuellen Marktmietniveau vom 1. Juli 2015 lag. Wenn das zutrifft, passen wir die ursprünglich geschätzte Marktmiete gemäß dem Verbraucherpreisindex an. In dem Beispiel liegt die am 1. Juli 2015 geänderte Bestandsmiete dann bei 6 €/m² × 105,6 % = 6,33 €/m². Eine Mietanpassung findet frühestens nach drei Jahren statt und bei Objekten mit einer Mietdauer von 0 Jahren entspricht die Bestandsmiete der aktuellen Marktmiete. Im Ergebnis liegt eine Nettostichprobe mit 622.300 Beobachtungen vor, die detaillierte Angaben zum Mietobjekt enthält, zum Zeitpunkt des Mietbeginns sowie einer möglichen Mietanpassung und zur Mietdauer. Jedem Objekt wird außerdem eine simulierte Bestands- bzw. Neuvertragsmiete zugewiesen, mit der eine Beschreibung der regionalen Miet-
Abbildung 5: ∆ LVM und RVM in den RAS in %
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preisstruktur möglich ist. Die Simulation der LVM lässt sich gleichermaßen für Wohnungen durchführen, deren Miete entweder in den letzten vier⁴ oder sechs⁶ Jahren geändert oder neu vereinbart wurde. Während die meisten Mietspiegel noch den vierjährigen Bezugszeitraum abbilden, fordert das Gesetz nunmehr den sechsjährigen Bezugszeitraum. Die Vorstellung der LVM erfolgt hier deswegen vorrangig anhand des Vierjahreszeitraumes. Vergleich zwischen lokaltypischen und regionalen Vergleichsmieten Deutschlandweit liegt das Niveau der LVM⁴ mit 6,6 €/m² rund -5,7 % unter dem Niveau der RVM (7 €/m²). Beim kartografischen Vergleich fällt auf, dass die hohen negativen Abweichungen zumeist in Küstenregionen auftauchen. Eine mögliche Erklärung für die hohen Unterschiede könnte daher sein, dass auch Ferienimmobilien im Mikrozensus abgefragt werden, wohingegen diese Wohnungen bei der Herleitung der LVM explizit ausgeschlossen werden. In 81 von 128 RAS unterschreitet die LVM das mittlere Niveau der RVM. Wir gehen davon aus, dass der fehlende Ausschluss von möblierten Wohnungen in den RVM das tendenziell niedrigere Niveau der LVM begründet. Insgesamt legt der Vergleich zwischen LVM und RVM jedoch einen starken Zusammenhang zwischen den beiden Vergleichsmieten nahe. Die Struktur der Abweichungen in Abbildung 5 lässt keine räumliche Struktur entdecken und auch die in Abbildung 6 dargestellten Zusammenhänge offenbaren keine systematischen Abweichungen.
Ortsübliche Vergleichsmieten Ortsübliche Vergleichsmieten werden in Deutschland typischerweise im Rahmen von Mietspiegeln abgebildet. Die Praxis der Mietspiegelerstellung weicht jedoch von Kommune zu Kommune ab und eine einheitliche Darstellung der ortsüblichen Vergleichsmieten ist kaum möglich. In einer umfassenden Bestandsaufnahme haben Sebastian und Memis (2021) die Mietspiegel der 200 größten deutschen Städte untersucht und damit dokumentiert, dass sich kommunale Mietspiegel in vielen, zum Teil weitreichenden Aspekten unterscheiden. Ein Niveauvergleich aller Mietspiegel ist daher wenig zielführend und wir beschränken uns für eine Gegenüberstellung ausgewählter Vergleichsmieten auf die Städte Berlin, Dresden, Frankfurt, Hamburg, Leipzig, München und Stuttgart.9 Die Mietspiegel für Stuttgart (2019) und Leipzig (2018) wurden von den jeweiligen Statistischen Ämtern erstellt und der Mietspiegel München (2019) von der LMU München, die Erstellung aller anderen Mietspiegel liegt in der Hand von Privatinstituten. Nur in den beiden Städten Berlin (2019) und Hamburg (2019) wird ein Tabellenmietspiegel erstellt, ansonsten sind es Regressionsmietspiegel. Die Datenerhebung variiert von Stadt zu Stadt (Kauermann, Windmann und Münnich 2020), und auch die „Ortsüblichkeit“ wird unterschiedlich ausgelegt. So werden Penthouse-Wohnungen beispielsweise in München (2019) und Frankfurt (2018) explizit ausgeschlossen, in Leipzig (2018) dagegen nicht. In München (2019) werden Wohnflächen unterhalb 20 m² und oberhalb 160 m² „eingefroren“, in Frankfurt fliegen Wohnungen unter 15 m² und oberhalb 150 m² ganz raus und in Dresden liegt die Obergrenze bei 144 m².10 Insgesamt wird die Herleitung der OVM offensichtlich sehr unterschiedlich gehandhabt.
Abbildung 6: LVM und LVM in den RAS
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Für den Vergleich wurde jeweils der Mietspiegel berücksichtigt, dessen Stichtag möglichst nahe am 31. Dezember 2018 liegt – dem Stichtag der Zusatzerhebung Wohnen des Mikrozensus. Das ausgewiesene arithmetische Mittel der einzelnen Mietspiegel wurde anschließend auf diesen Stichtag fortgeschrieben. Ein gängiges Verfahren bei der Fortschreibung von Mietspiegeln ist die Verwendung des Verbraucherpreisindex (VPI). Die Nettokaltmieten fließen dabei mit einem Gewicht von knapp 20 % in den Gesamtindex ein, das ist das höchste Gewicht im verwendeten Wägungsschema. Damit wird einerseits die Bedeutung von Nettokaltmieten für Privathaushalte deutlich. Gleichzeitig offenbart es aber auch, dass der im VPI verwendete Warenkorb zu etwa 80 % aus anderen Gütern besteht und der Gesamtindex kaum ein treffsicheres Maß für die relative Entwicklung der Nettokaltmieten sein dürfte. Zudem zielt der VPI auf gesamtdeutsche Preistrends ab und regionale Entwicklungen werden nivelliert. Neben dem VPI publiziert das Statistische Bundesamt auch den von anderen Waren losgelösten Index der Nettokaltmieten (INK). Der INK weist die monatliche Entwicklung der Nettokaltmieten auf Bundeslandebene aus und eignet sich daher aus unserer Sicht besser als der VPI, um regionale Trends der Nettokaltmieten aufzugreifen. Die Aussagekraft hinsichtlich der realen Mietentwicklung ist jedoch bei beiden Indizes eingeschränkt.11 Beide Indizes zielen auf Teuerungsraten ab, bei denen Qualitätsänderungen berücksichtigt werden. Auch im Fall von Nettokaltmieten wird der durch die Qualitätsunterschiede hervorgerufene Preisunterschied quantifiziert und bei der Indexermittlung herausgerechnet. Konkret werden Nettokaltmieten also beispielsweise um Modernisierungs- oder Sanierungsmaßnahmen bereinigt. Weder VPI noch INK messen demnach die tatsächlichen Entgelte, die für Wohnraum in einer Kommune gezahlt werden,
sondern vielmehr qualitätsbereinigte Teuerungsraten. Hinzu kommt, dass die Stichprobe der befragten Haushalte auf der Gebäude- und Wohnungszählung 2011 (GWZ) basiert. Sämtliche Haushalte, die in nach 2011 fertiggestellten Wohnungen leben, sind demnach nicht in der Preisstatistik enthalten. Als dritte Fortschreibungsvariante ziehen wir deswegen auch die Nettokaltmieten aus der Zusatzerhebung Wohnen heran. Diese Werte stehen lediglich für die Jahre 2010, 2014 und 2018 auf Bundeslandebene zur Verfügung und aus Mangel an Alternativen unterstellen wir, dass die jeweilige monatliche Veränderungsrate der Nettokaltmiete zwischen den beiden Jahren 2014 und 2018 konstant ist. Die Aussagekraft dieser Veränderungsrate ist aufgrund einer Umstellung auf eine neue Stichprobe ab dem Jahr 2016 allerdings ebenfalls eingeschränkt. Außerdem wurde die Art der Plausibilisierung von Nettokaltmieten zwischen Mikrozensus 2014 und 2018 angepasst und die Berechnung der Nettokaltmieten fußt auf einem überarbeiteten Verfahren. Die drastischen Unterschiede zwischen den drei Indizes in Abbildung 7 können nicht abschließend aufgeklärt werden, da uns keine amtliche Statistik zur Entwicklung der Nettokaltmieten ohne eingeschränkte Aussagekraft bekannt ist. Die Fortschreibung der OVM wird daher auf Basis aller drei Indizes gleichermaßen durchgeführt, um eine realistische Bandbreite möglicher Entwicklungen abzudecken. Das Verfahren ist dabei stets identisch und beispielhaft bei Verwendung des INK in Abbildung 8 dargestellt. In der Stadt München lag das mittlere Niveau der OVM im Januar 2018, dem Stichtag der damaligen Mietspiegelerhebung, beispielsweise bei 11,72 €/m². Der INK ist für Bayern zwischen Januar und Dezember 2018 um 1,44 % gestiegen, der VPI um 2,16 % und laut Mikrozensus haben die Nettokaltmieten in Bayern zwischen den Jahren 2014 und 2018 monatlich um 0,44 % und von Januar bis Dezember somit
Abbildung 7: Bundesweite Preisentwicklungen
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um 4,91 % zugelegt. Eine Fortschreibung der OVM in München vom Januar 2018 auf Basis des VPI ergibt somit eine OVM von 11,97 €/m² im Dezember 2018, bei Verwendung des INK liegt sie bei 11,89 €/m² und die unterstellte Entwicklung der Nettokaltmieten aus dem Mikrozensus führt zu einer OVM von 12,3 €/m². In den anderen Städten wurde die OVM analog auf den einheitlichen Stichtag gebracht.
In den meisten Fällen unterschreitet das Niveau der LVM jenes der RVM etwas (Abbildung 9). Den fehlenden Ausschluss von möblierten Wohnungen in den Daten des Mikrozensus vermuten wir als Hauptgrund dafür. Es liegt letztlich im Auge des Betrachters, ob die in Abbildung 9 vorgestellten Unterschiede zwischen den einzelnen Vergleichsmieten als hoch oder niedrig eingestuft werden. Allerdings wird auch deutlich, dass
Abbildung 8: Indexierung der OVM in ausgewählten Städten per INK
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Abbildung 9: Vergleichsmieten in ausgewählten Städten, Dezember 2018
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mit Angaben aus dem Mikrozensus und den simulierten Vergleichsmieten auf Basis von Angebotsdaten eine Datenbasis vorliegt, dessen mittleres Niveau eine starke Ähnlichkeit mit dem Niveau der vorgestellten OVM aufweist. Typischerweise liegen diese Unterschiede bei maximal ±5 %. Auffällig ist allenfalls, dass in den beiden Städten mit Tabellenmietspiegeln, Berlin und Hamburg, die größten Unterschiede zwischen den einzelnen Vergleichsmieten festgestellt werden.
Einordnung alternativer Vergleichsmieten In vielen Kommunen Deutschlands gibt es – trotz des zentralen Beitrags von Mietspiegeln zur Funktionsweise des Mietmarktes – weder einfache noch qualifizierte Mietspiegel. Als Hauptgrund dafür lassen sich fehlende Daten ausmachen, da es in Deutschland keine öffentlich zugängliche Datenbasis für Mietspiegel jedweder Art gibt. Im Ergebnis erstellen zahlreiche Kommunen keine oder nur einfache Mietspiegel, deren Grundlagen nur rudimentär dokumentiert werden müssen. Alle anderen Kommunen führen eine individuelle und kostspielige Primärdatenerhebung durch. Kein Mietspiegel gleicht in Deutschland somit dem anderen und ein kommunaler Vergleich der ortsüblichen Vergleichsmieten ist damit ebenso erschwert wie eine fachliche Prüfung der einzelnen Mietspiegel. Es ist beachtlich, dass bei rund 20 Millionen Mieterhaushalten kein Versuch für uns erkennbar ist, die Datengrundlage von Mietspiegeln auf ein amtliches Fundament zu stellen. Die gif-Mietspiegelkommission schreibt in ihrer Stellungnahme zum Mietspiegelreformgesetz zwar, dass „der Mietspiegel wie jede andere (amtliche) Statistik unabhängig von politischer Einflussnahme sein soll“, letztlich tut sie diesen Vorschlag bedauerlicherweise aber selbst als „völlig unrealistisch“ ab.12 Als amtliche Datengrundlage für Mietspiegel kommt nach unserem Erachten derzeit lediglich der MZ in Frage, mit dem sich ortsübliche Vergleichsmieten in ihrer aktuellen Definition allerdings nicht abbilden lassen. Klar ist auch, dass die Definition von Vergleichsmieten als politisches Instrument nicht allein an den verfügbaren Daten ausgerichtet werden darf. Vergleichsmieten enthalten aber nicht nur eine normative, sondern auch eine empirische Komponente, bei der eine valide Datenbasis mitgedacht werden muss. Der MZ käme beispielsweise als Datengrundlage für Mietspiegel in Betracht, wenn auf den – ohnehin willkürlich festgelegten – Betrachtungszeitraum in der Definition der ortsüblichen Vergleichsmieten sowie auf den – aus unserer Sicht ohnehin fragwürdigen – Aus-
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schluss möblierter Wohnungen verzichtet werden würde. Mit einer minimalen Erweiterung des Fragenkataloges in Hinblick auf Möblierung, Ausstattung und sozialer Förderung sowie einer Verknüpfung mit anderen amtlichen Daten könnte die Eignung des MZ als Datengrundlage für Mietspiegel zudem wesentlich verbessert werden. Das gilt auch, wenn man dem Vorschlag von Kühling, Sebastian und Siegloch (2021) folgen würde, das Vergleichsmietsystem allein an Neuvertragsmieten auszurichten. Weder in dem nun beschlossenen Mietspiegelreformgesetz noch in den dazugehörigen Stellungnahmen der Interessensverbände finden wir allerdings einen politischen Willen zu diesem Vorstoß. Eine amtliche Datenbasis für Mietspiegel wäre aus unserer Sicht der Königsweg, sie ist derzeit aber nicht absehbar. Aus diesem Grund haben wir eine alternative, flächendeckende Datenquelle auf Basis von Angebotsdaten für die Erstellung von Mietspiegeln vorgestellt. Angebotsdaten stehen zuweilen der Kritik, kein repräsentatives Abbild des Mietwohnungsmarktes zu sein (GdW 2021). Es zeigt sich jedoch, dass die Niveauunterschiede zwischen sinnvoll selektierten Angebotsmieten und tatsächlichen Neuvertragsmieten aus dem Mikrozensus relativ gering sind (Abbildung 2). Gleiches gilt für den Vergleich zwischen den hier untersuchten Vergleichsmieten (Abbildung 9), wenngleich das freilich kein Beweis gegen regionale oder strukturelle Unterschiede in den Datengrundlagen ist. Dennoch könnten die mit Angebotsdaten simulierten Vergleichsmieten eine geeignete Datengrundlage für die flächendeckende Erstellung zumindest einfacher Mietspiegel sein. Die Aktualität der verwendeten Angebotsdaten ermöglicht es zudem, damit erstellte Mietspiegel regelmäßig und weitestgehend automatisiert neu zu erstellen. Eine Fortschreibung nach zwei Jahren anhand eines geeigneten Preisindexes könnte allerdings zu einer höheren Kontinuität der ausgewiesenen Vergleichsmieten und damit zu einer höheren Akzeptanz der verwendeten Daten führen. Gleichwohl sei angemerkt, dass bei diesen Indizes eine Qualitätsbereinigung durchgeführt wird und derzeit keine neugebauten Wohnungen berücksichtigt werden. In angespannten Wohnungsmärkten mit geltender Mietpreisbremse sind das die einzigen Wohnungen, die bei Neuvermietung keiner Regulierung unterliegen. Wie hoch der Ausschluss dieser Wohnungen auf den Index der Nettokaltmieten und damit auf fortgeschriebene Mietspiegel wiegt, lässt sich nicht quantifizieren. Es zeigt aber auch, dass mitunter selbst qualifizierte Mietspiegel eben nur vermuten lassen, dass sie die ortsübliche Vergleichsmieten wiedergeben.
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Umfangreiche Informationen sowie Stellungnahmen zum Mietspiegelreformgesetz (MsRG), das inzwischen im Bundesgesetzblatt veröffentlicht worden ist und zum 1.7.2022 in Kraft tritt, und zur Mietspiegelverordnung (MsV) findet man beim BMJV: https://www.bmjv. de/SharedDocs/ Gesetzgebungsverfahren/DE/Mietspiegel.html. Vgl. Stellungnahme des Deutschen Mieterschutzbundes, Seite 3: https://www.bmjv.de/SharedDocs/Gesetzgebungsverfahren/Stellungnahmen/ 2020/Downloads/103020_Stellungnahme_DMB_RefE_ Mietspiegel.pdf;jsessionid=963AEA27241A414F94DE7DEBD3F8A CB0.1_cid324?blob=publicationFile&v=2. Die Sonderauswertung wurde auch für kreisfreie Städte und Landkreise bestellt. In zahlreichen Bundesländern wurden für diese räumliche Ebene allerdings keine Werte geliefert, weswegen dieser Ansatz wieder verworfen wurde. Für die Hochrechnung der Haushalte wurde der Standardhochrechnungsfaktor des Mikrozensus verwendet. Das Segment umfasst Mietwohnungen mit Angabe zur Nettokaltmiete, ohne Ausreißer, Ferienimmobilien, Wohngemeinschaften, möblierte und zeitlich befristet vermietete Wohnungen. In der Sonderauswertung des Mikrozensus wurden alle Werte auf eine Nachkommastelle gerundet. Zur besseren Vergleichbarkeit verfahren wir bei Angebotsdaten analog. Auch die Standardabweichungen der beiden Datensätze sind nicht vergleichbar, denn: „Bei der Berechnung der Standardabweichung wurde das Stichprobendesign des Mikrozensus (d.h. Schichtung und Klumpung) berücksichtigt, nicht aber die gebundene Hochrechnung. Durch die zusätzliche Berücksichtigung der gebundenen Hochrechnung könnten sich Veränderungen am Umfang der Standardabweichung ergeben. Aufgrund methodischer und inhaltlicher
Gegebenheiten ist bei den Merkmalen zur Wohnsituation von einer Reduktion der Varianz auszugehen, wenn auch die gebundene Hochrechnung bei der Berechnung berücksichtigt werden würde.“ (Sonderauswertung Mikrozensus 2018 für die Value AG 08/02/2021) 7 Der Mietwohnungsbestand ist nicht zu verwechseln mit dem mietspiegelrelevanten Wohnungsbestand, der bei der Mietspiegelerstellung im Vorhinein stets unbekannt ist. 8 Die verwendeten Daten werden nach den Qualitätsstandards der VALUE Marktdatenbank aufbereitet und plausibilisiert. 9 Für den Vergleich wurden die 10 größten Städte Deutschlands ausgewählt. In Köln und Düsseldorf gibt es jedoch keinen qualifizierten Mietspiegel, diese beiden Städte wurden aus der Liste entfernt. Das gilt auch für Dortmund, da wir online keine Dokumentation des Mietspiegels finden konnten. 10 Für Leipzig wurde uns das arithmetische Mittel per Mail mitgeteilt, für Stuttgart kann es einem Kurzbericht und für alle anderen Städte dem jeweils zitierten Methodenbericht entnommen werden. 11 Die folgenden Informationen können nur teilweise den Qualitätsberichten der einzelnen Indizes entnommen werden. Sie stammen vielmehr aus den Gesprächen, die wir im Rahmen der Recherche mit den Mitarbeiter:innen der Statistischen Ämter geführt haben. Dankenswerterweise wurden uns die zentralen Informationen mit der Erlaubnis zur Veröffentlichung per Mail übersandt. Sie werden auf Anfrage gerne übermittelt. 12 Vgl. Stellungnahme der gif-Mietspiegelkommission: https://www. bmjv.de/SharedDocs/Gesetzgebungsverfahren/Stellungnahmen/2020/ Downloads/110420_Stellungnahme_gif_RefE_Mietspiegel.pdf?blob=publicationFile&v=2.
Literatur BBSR, Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung (2020). „Hinweise zur Erstellung von Mietspiegeln“. In: Einzelpublikation. 3. aktualisierte Auflage 2020. Berlin, Mietspiegel (2019). Berliner Mietspiegel 2019 – Methodenbericht. Techn. Ber. F+B Forschung und Beratung für Wohnen, Immobilien und Umwelt GmbH im Auftrag der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Wohnen. URL: https://www.stadtentwicklung. berlin.de/wohnen/mietspiegel/de/download/ Mietspiegel2019_ Berlin_Ergebnisbericht.pdf (besucht am 23. 09. 2021). Frankfurt, Mietspiegel (2018). Die ortsüblichen Vergleichsmieten in Frankfurt a. M. 2018. Techn. Ber. Institut Wohnen und Umwelt GmbH Forschungseinrichtung des Landes Hessen und der Stadt Darmstadt im Auftrag der Stadt Frankfurt a. M. URL: https://frankfurt.de/-/ media/frankfurtde/service-und-rathaus/ verwaltung/aemter- und-institutionen/amtfuer-wohnungswesen/pdf/64_s1/64_s1_ frankfurter-mietspiegel-2018---gutachten_dokumentation.ashx (besucht am 23. 09. 2021). GdW, Bundesverband deutscher Wohnungsund Immobilienunternehmen e. V. (9. Feb. 2021). „Mietpreisstatistiken von OnlinePlattformen verzerren die Realität auf den Wohnungsmärkten“. In: Pressemeldung. URL: https://www. gdw.de/pressecenter/ pressemeldungen/neue-daten-zeigen-miet-
preis-statistiken-von-online- plattformenverzerren-die-realitaet-auf-den-wohnungsmaerkten/. Hamburg, Mietspiegel (2019). Hamburger Mietenspiegel 2019 – Methodenbericht. Techn. Ber. F+B Forschung und Beratung für Wohnen, Immobilien und Umwelt GmbH im Auftrag der Behörde für Stadtentwicklung und Wohnen, Amt für Wohnen, Stadterneuerung und Bodenordnung. URL: https://www.hamburg. de/contentblob/14026014/ 40365a29e21195c0bf6c0a90f372bb88/data/d-mietenspiegel-methodenbericht-2019.pdf (besucht am 23.09.2021). Kauermann, Göran, Michael Windmann und Ralf Münnich (2020). „Datenerhebung bei Mietspiegeln: Überblick und Einordnung aus Sicht der Statistik“. In: AStA Wirtschafts- und Sozialstatistisches Archiv 14.2, S. 145–162. Kühling, Jüergen, Steffen P. Sebastian und Sebastian Siegloch (15. Okt. 2021). „Neue Wege für die Wohnungspolitik“. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung. URL: https://zeitung.faz.net/ faz/wirtschaft/2021-10-15/neue- wege-fuerdie-wohnungspolitik/675543.html (besucht am 23.10.2021). Leipzig, Mietspiegel (2018). Leipziger Mietspiegel 2018 – Methodenbericht. Techn. Ber. Stadt Leipzig, Amt für Statistik und Wahlen. URL: https:// static.leipzig.de/fileadmin/mediendatenbank/ leipzig-de/Stadt/02. 5_Dez5_Jugend_Sozia-
les_Gesundheit_Schule/50_Sozialamt/Mietspiegel/Methodenbericht- zum- Mietspiegel-2018.pdf (besucht am 23.09.2021). München, Mietspiegel (2019). Mietspiegel für München 2019 – Statistik, Dokumentation und Analysen. Techn. Ber. Sozialreferat der Landeshauptstadt München 2019 in Zusammenarbeit mit Kantar TNS und dem Lehrstuhl für Statistik der Ludwig-Maximilians-Universität München 2019. URL: https ://2019.mietspiegel - muenchen .de / dokumentation/Dokumentation_ MS19.pdf (besucht am 23.09.2021). Rendtel, Ulrich, Steffen P. Sebastian und Michael Frink (2021). „Ist der Berliner Mietspiegel 2019 qualifiziert? Ein alternativer Mietspiegel mit Daten des Mikrozensus“. In: Stadtforschung und Statistik: Zeitschrift des Verbandes Deutscher Städtestatistiker 34.1, S. 72–91. Schlittgen, Rainer (2017). „Zur Qualifizierung von Mietspiegeln“. In: AStA Wirtschafts- und Sozialstatistisches Archiv 11.3, S. 147–156. Sebastian, Steffen P. und Halil I. Memis (2021). gif-Mietspiegelreport 2021. Auswertung der Mietspiegel der zweihundert größten Städte Deutschlands. Wiesbaden: gif-Mietspiegelkommission. Stuttgart, Mietspiegel (2019). Stuttgarter Mietspiegel 2019/2020 – Methodischer Überblick. Techn. Ber. Landeshauptstadt Stuttgart, Statistisches Amt.
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Sören Werner
Neue Beobachtungsdimensionen der Freiburger Kommunalstatistik Haushaltsbewegungen und Wohnsegmente Durch die Zusammenführung von bestehenden Daten hat die Statistikstelle der Stadt Freiburg zwei neue Beobachtungsdimensionen geschaffen, mit denen die Themen Wohnen und Umzugsverhalten besser abgebildet werden können. Es geht dabei um die Darstellung von Haushaltsbewegungen und die Bildung von Wohnsegmenten.
Aufgrund des Bedarfs, bessere Aussagen zum „Wohnungsmarkt“ treffen zu können werden jetzt über die Verknüpfung bestehender Daten neue Dimensionen eröffnet. Bislang wurden einfach die Bevölkerungsbewegungen und der Bevölkerungsbestand einerseits und der Gebäude- und Wohnungsbestand andererseits gegenüber gestellt. Diese zwei neuen „Datendimensionen“, die Darstellung von Haushaltsbewegungen und die Bildung von Wohnsegmenten, sollen im Folgenden kurz vorgestellt werden. In der Rubrik „Stadtforschung“ findet sich in diesem Heft eine damit vorgenommene inhaltliche Analyse der Wanderungen von Familien.
Haushaltsbewegungen
Sören M. Werner (M. A. Soziologie) Sachgebietsleiter Kommunalstatistik, Stadt Freiburg i. Brsg. : soeren.werner@stadt.freiburg.de Schlüsselwörter Bevölkerungsbestand – Bevölkerungsbewegungen – Haushaltsbewegungen – Gebäude- und Wohnungsstatistik – Wohnungsmarkt – Wohnsegmente
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Der Kommunalstatistik in Deutschland stehen für die Bevölkerungsstatistik im Wesentlichen zwei Datenquellen aus den Melderegistern zur Verfügung: der Bestandsabzug zu einem oder mehreren Stichtagen (in Freiburg 30.06. und 31.12.) und eine Sammlung aller Bevölkerungsbewegungen innerhalb eines Zeitraumes. Da jedoch die Haushaltszugehörigkeit und damit die Haushaltsstruktur nur durch die Ableitung bzw. Generierung über verschiedene Merkmale aller zu einem Stichtag in der Gemeinde lebenden Personen festgestellt werden kann, ist es nicht möglich, aus den einzelnen Bevölkerungsbewegungen die Haushaltszugehörigkeit zu erkennen. Wenn z.B. ein Ehepartner umzieht, fehlen im Bewegungsdatensatz die verknüpfenden Informationen zum anderen Ehepartner oder zu den Kindern. Deshalb können auf direktem Wege keine „Haushaltsbewegungen“ abgebildet werden. Wenn aber durch ein aufwändiges Verfahren die Bewegungsdaten mit den Bestandsdaten (und in Folge dessen mit den Informationen zu den Haushalten) verknüpft werden, ist es bis zu einem gewissen Grad möglich, die Haushaltszugehörigkeit der Bewegungen festzustellen. Genau dies wurde in Freiburg nun das erste Mal durchgeführt – der Fokus liegt auf der Binnen- und Außenwanderung anhand der Bevölkerungsbewegungen 2011-2020. Für die Jahre 2010 und 2013 liegen die Bevölkerungsbewegungen aufgrund der Umstellung des Einwohnerverfahrens von LEWIS auf KM.Ewo leider nicht in der erforderlichen Struktur vor. Es wurde so vorgegangen, dass für alle Zuzüge die zuziehende Person im Bestandsabzug nach dem Zuzug anhand der Melderegisternummer identifiziert und deren Haushaltszugehörigkeit ermittelt wird (Stellung der Person im Haushalt, Haushaltstyp und Anzahl der Haushaltsmitglieder). Anschlie-
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ßend wird geprüft, ob im gleichen Zeitraum alle anderen Haushaltsmitglieder einen „identischen“ Zuzug (insbesondere Zuzugsherkunft) aufweisen. Falls dies zutrifft und die Zahl der zuziehenden Haushaltsmitglieder gleich der Zahl der zum Stichtag ermittelten Mitglieder ist, gilt dies als der Zuzug eines vollständigen Haushalts und kann über die Bezugsperson abgebildet werden. Falls die Zuzugsherkunft unterschiedlich ist oder weniger Haushaltsmitglieder zuziehen als zum Stichtag ermittelt, gilt der Zuzug bzw. gelten die Zuzüge als Haushaltszusammenführung (darunter können auch Haushalte fallen, in denen eine Geburt stattgefunden hat). In diesem Fall können nur die Wanderungsinformationen der Bezugsperson dargestellt werden. Die Vorgehensweise für einen Wegzug ist fast identisch, nur dass hier der zurückliegende Stichtag für die Haushaltsinformationen herangezogen wird. Ein unvollständiger oder nicht identischer Wegzug aller Haushaltsmitglieder gilt dann als Haushaltsauflösung (darunter können auch Haushalte fallen, in denen sich ein Todesfall ereignete). Wichtige Eckpunkte und Hinweise zu diesem Verfahren: - als Referenzdaten für die Haushalte wurden alle Einwohnerbestandsabzüge zum 31.12. und 30.06. herangezogen (zwischen 2011 und 2020), - bei Wegzügen (Binnen und Außen) wurde mit dem zurückliegenden Stichtag referenziert, bei Zuzügen (Binnen und Außen) mit dem vorausliegenden Stichtag, - von insgesamt 696.568 Wanderungsbewegungen sind 64,7 % vollständige Haushaltsbewegungen gewesen, d. h. der vollständige Haushalt ist zu- oder weggezogen; bei 11,8 % der Fälle konnte eine Haushaltszusammenführung (nur Zuzüge), bei 13,3 % der Fälle eine Haushaltsauflösung (nur Wegzüge) festgestellt werden; hinzu kommen 10,2 % Sonderfälle bzw. Bewegungen ohne jegliche Informationen zum Haushalt, - die Summe der unterschiedlichen Bewegungen der Haushalte ist nicht vergleichbar mit der üblichen Wanderungsstatistik von Personen,
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aussagekräftige Informationen können nur aus den vollständigen Haushaltsbewegungen gezogen werden (d. h. bei allen Haushaltsmitgliedern ist Quelle, Ziel und Zeitpunkt der Wanderung identisch) und zu einem gewissen Grad für Haushaltszusammenführungen und Haushaltsauflösungen (hier ist für die Analyse die Wanderung der Bezugsperson maßgeblich), am häufigsten konnten vollständige Haushaltsbewegungen bei den Binnenzuzügen erkannt werden (72,2 %), am wenigsten bei den Außenwegzügen (60,1 %), Abweichungen zwischen Binnenzu- und -wegzügen liegen darin begründet, dass zum einen eine unterschiedliche Haushaltegenerierung an Quell- und Zieladresse (nämlich Stichtag vorher und Stichtag danach) stattgefunden haben kann und zum anderen, dass es relativ viele Personen gibt, die zwischen zwei Bestandsstichtagen erst von außen nach Freiburg zuziehen und im gleichen Zeitraum in Freiburg umziehen – hier fehlt dann die Information zum Binnenwegzug, mit mehr unterjährigen Bestandsabzügen als Referenzdaten für die Haushaltszugehörigkeit können die nicht zuordenbaren Bewegungen minimiert werden, da es in einem kleineren Zeitraum weniger Personen gibt, die zweimal umziehen, zu den problematischen Sonderfällen und nicht zuordenbaren gehören außerdem offensichtliche Korrekturbuchungen, die nicht entsprechend gekennzeichnet sind, sowie innergemeindliche Wohnstatuswechsel.
Wohnsegmente Die Grundidee der so genannten Wohnsegmente ist, Daten zum Gebäude- und Wohnungsbestand so anzureichern, dass mehr Aussagen hinsichtlich der Einordnung in den Wohnungsmarkt getroffen werden können als nur, dass es sich um große oder kleine, um neue oder alte Wohnungen etc. handelt. Dazu musste zunächst eine vollständige Gebäude-
Abbildung 1: Abgeleitete Haushaltsbewegungen differenziert nach Art der Zusammenführung von Bestand und Bewegungen 2011–2020 (in %) Außenzuzüge
63
Außenwegzüge
24
60
Binnenzuzüge
12
12
28
72
Binnenwegzüge
64
Gesamt
65 0%
10%
20%
30%
22
5
10
26
12 40%
50%
60%
10
13
70%
80%
Zuzug/Wegzug eines vollständigen HH
Haushaltszusammenführung
Haushaltsauflösung
keine Angaben zum Haushalt verfügbar
90%
100%
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und Wohnungsstatistik vorliegen. Dafür wurden sämtliche Lücken in der Bautätigkeitsstatistik seit 2010 geschlossen und Differenzen zwischen gemeldeten Personen und dem statistisch erfassten Wohnungsbestand beseitigt. Dies war Voraussetzung dafür, dass die Daten anschließend mit weiteren Daten verschnitten und letztendlich die Wohnsegmente für alle bewohnten Gebäude Freiburgs gebildet werden konnten. Als Basisinformation sei hier noch gesagt, dass insgesamt zwischen dem 01.01.2010 und dem 31.12.2020 in Freiburg 10.843 neue Wohnungen entstanden. Am 31.12.2020 gab es demnach 28.041 Adressen mit 28.617 bewohnten Gebäuden und 129.952 Wohnungen (Stand Juni 2021).
Als Wohnsegment wird hier eine spezifische Kombination von Gebäude- und Adressmerkmalen definiert, die letztlich eine besondere Wohnform konstituiert. Die Gebäudemerkmale stammen alle aus der statistischen Gebäudedatei, sie lauten: Gebäudeart, Baujahr des Gebäudes, durchschnittliche Größe der Wohnungen und. Anzahl der Wohnungen im Gebäude. Die Adressmerkmale sind ergänzende Daten, die nur auf der Ebene der Adresse vorliegen. Dazu gehören: Daten zum selbstgenutzten Wohneigentum (Grundsteuerdaten), Daten zu Adressen von Baugenossenschaften (eigene Recherche, Grundsteuerdaten), Daten zu geförderten/gebundenen und mietpreisgedämpften Wohnungen (Städtisches Amt für Liegenschaften und Wohnungswesen).
Tabelle 1: Übersicht über die Bildung der Wohnsegmente Stufe 1
Stufe 2
Einfamilienhaus (EFH)
Vorwiegend Wohneigentum (WE)
Mehrfamilienhaus (MFH) groß
Mehrfamilienhaus (MFH) klein
Einfamilienhaus (EFH)
Vorwiegend Mietwohnungen (MW)
Mehrfamilienhaus (MFH) groß
Mehrfamilienhaus (MFH) klein
Genossenschaften/ Syndikat (ohne Förderung)
Wohnheime
Stufe 3
Wohnsegment
vor 1962
WE EFH vor 1962
1962–1994
WE EFH von 1962 bis 1994
1995–2009
WE EFH von 1995 bis 2009
2009+
WE EFH nach 2009
vor 1962
WE MFH große Whg. vor 1962
1962–1994
WE MFH große Whg. von 1962 bis 1994
1995–2009
WE MFH große Whg. von 1995 bis 2009
2009+
WE MFH große Whg. nach 2009
vor 1962
WE MFH kleine Whg. vor 1962
1962–1994
WE MFH kleine Whg. von 1962 bis 1994
1995–2009
WE MFH kleine Whg. von 1995 bis 2009
2009+
WE MFH kleine Whg. nach 2009
vor 1962
MW EFH vor 1962
1962–1994
MW EFH von 1962 bis 1994
1995–2009
MW EFH von 1995 bis 2009
2009+
MW EFH nach 2009
vor 1962
MW MFH große Whg. vor 1962
1962–1994
MW MFH große Whg. von 1962 bis 1994
1995–2009
MW MFH große Whg. von 1995 bis 2009
2009+
MW MFH große Whg. nach 2009
vor 1962
MW MFH kleine Whg. vor 1962
1962–1994
MW MFH kleine Whg. von 1962 bis 1994
1995–2009
MW MFH kleine Whg. von 1995 bis 2009
2009+
MW MFH kleine Whg. nach 2009 Genossenschaften oder Syndikat (ohne Förderung)
Studierendenwohnheime
Studierendenwohnheime
Flüchtlingswohnheime
Flüchtlingswohnheime
Seniorenwohnheime/Pflegeheime
Seniorenwohnheime/Pflegeheime
Sonstige Wohnheime
Sonstige Wohnheime
Vorwiegend gefördert/gebunden
Vorwiegend geförderte oder gebunde Wohnungen
Nichtwohngebäude mit 1–2 Wohnungen
Nichtwohngebäude mit 1–2 Wohnungen sonstige/keine Angaben/keine Zuordnung möglich
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Insgesamt wurden daraus 31 Wohnsegmente gebildet, die aber in Gruppen zusammengefasst werden können. Die Differenzierung und Kategorisierung der einzelnen Merkmale erfolgte dabei aufgrund von statistischen Verteilungen und inhaltlich sinnvoller Grenzen: Das Baujahr orientiert sich an den IWU-Baualtersklassen, die durchschnittliche Größe der Wohnungen an der Durchschnittsgröße aller Wohnungen (ca. 70qm), die Trennung in Ein-/Zweifamilienhaus und Mehrfamilienhaus (groß = mehr als 12 Wohnungen) erfolgt aufgrund der üblichen Bauart von Gebäuden. „Vorwiegend Wohneigentum“ sind Adressen, an denen der Anteil von selbstgenutztem Wohneigentum mehr als 75 % der Wohnungen beträgt. Adressen mit Gebäuden bzw. Wohnungen in genossenschaftlichem Besitz fallen in das Wohnsegment „Genossenschaften“ – hier werden andere Besitzformen wie z. B. das „Mietshäuser-Syndikat“ ebenfalls hinzugezählt. Das Wohnsegment „Wohnheime“ ist selbsterklärend – hierzu gehören neben den Studierenden- und Flüchtlingswohnheimen die Seniorenwohnheime inkl. der Pflegewohnheime sowie sonstige Wohnheime wie z. B. Klöster oder Beschäftigtenwohnheime. Das Wohnsegment „Vorwiegend geförderte/ gebundene Wohnungen“ umfasst den gesamten geförderten und mietpreisgedämpften Sektor (inkl. Wohnungen mit Belegungsbindung oder Benennungsrechten) – hierunter fallen Adressen, an denen der Anteil dieser Wohnungen mehr als 50 % beträgt. Ein etwas unspezifisches Wohnsegment ist das der „Nichtwohngebäude mit 1-2 Wohnungen“. Hier sind hauptsächlich Geschäftshäuser in der Innenstadt oder Gewerbeadressen in Gewerbegebieten enthalten, die ein bis zwei Wohnungen aufweisen, aber zum überwiegenden Teil ein Nichtwohngebäude darstellen. In das Wohnsegment „Vorwiegend Mietwohnungen“ fallen alle Adressen mit Wohnungen, die nicht einem der anderen Wohnsegmente zugeordnet wurden. Zu beachten ist: Da die ergänzenden Daten nur auf der Adressebene, nicht auf der Gebäude- oder Wohnungsebene vorliegen, stellen die Wohnsegmente nur Adressen dar, die überwiegend dem einen oder anderen Wohnsegment zuordenbar sind. So werden alle zehn Wohnungen eines Gebäudes dem Wohnsegment „vorwiegend Wohneigentum“ zugeschlagen, wenn mehr als sieben Wohnungen selbstgenutztes Wohneigentum sind und andererseits dem „geförderten/ gebundenen Wohnsegment“, wenn mehr als fünf Wohnungen gefördert sind.
Die zusammengefassten Wohnsegmente der ersten Differenzierungsstufe ergeben am 31.12.2020 folgende Verteilung: - 9,8 % der Wohnungen fallen in das Wohnsegment „vorwiegend Wohneigentum“, - 65,5 % in das Wohnsegment „vorwiegend Mietwohnungen“, - 6,3 % in das Wohnsegment „Genossenschaften“, - 11,1 % in das Wohnsegment „Wohnheime“ und - 6,2 % in das Wohnsegment „überwiegend geförderte Wohnungen“.
Abbildung 2: Wohnungsbestand nach zusammengefassten Wohnsegmenten 2020 (in %) Vorwiegend Wohneigentum
10
Vorwiegend Mietwohnungen
66
Genossenschaft oder Syndikat
6
Wohnheime
11
Vorwiegend geförderte oder gebundene Whg. sonstige / keine Angabe
6
1
Zum Abschluss Die spezifische Datenzusammenführung der Bevölkerungsbestands- und Bevölkerungsbewegungsdaten ermöglicht es der Freiburger Statistikstelle, genauere Aussagen zu den Bewegungen von Haushalten zu tätigen. Diese im Prinzip simple, aber in der Umsetzung komplizierte Datenverknüpfung ist teils noch mit kleineren Unsicherheiten und Ungenauigkeiten behaftet. Aber wenn man sich auf die „sicheren“ Fälle konzentriert, eröffnen sich neue Beobachtungsdimensionen für die Bevölkerungsstatistik. Zudem ermöglicht die Verknüpfung von baulichen Begebenheiten mit Eigentums- und Wohnformen eine Kategorisierung von 31 Wohnsegmenten. Mit diesen lassen sich Bevölkerungsbewegungen auf einer zusätzlichen Ebene beobachten, die als Ergänzung oder als Erweiterung zur geografischen Lage genutzt werden können.
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Historie
Paul Otting
„Morgen wirst du vielleicht sterben.“ Zum Umgang mit hoher Kindersterblichkeit in der römischen Kaiserzeit (1.–3. Jh. n. Chr.) Die römische Antike ist nicht gerade für ihren liebevollen Umgang mit Kindern bekannt. Im Gegenteil wird die marginale Stellung von Kindern geradezu als Charakteristikum der graeco-römischen Welt stilisiert, wozu nicht zuletzt der scheinbar kaltherzige Umgang mit den natürlich hohen Sterblichkeitsraten beigetragen hat. Doch trifft das wirklich zu? Anhand von inschriftlichen und literarischen Quellen wird hier ein anderer Blick auf die römische Gesellschaft der Kaiserzeit und ihre Eltern-Kind-Beziehungen geworfen.
Als der amerikanische Baptisten-Prediger Price in Barabra Kingslovers Afrika-Epos „Die Giftholzbibel“ zusammen mit seiner Frau und seinen Töchtern Ende der 1960er Jahre in den Kongo zieht, um dort zu missionieren, findet sich die Familie in einem Strudel politischer Unruhen und kultureller Differenzen wieder. Täglich ringen sie mit dem harschen Alltag der Kleinstadt Kilanga, in der Hunger, Krankheit und Tod allzu präsent sind. Eine seiner Töchter berichtet von den Nachwehen einer verheerenden Epidemie, die gerade die Kleinsten und Schwächsten, die Kinder Kilangas, vielfach das Leben kostete: „Monate sind seitdem vergangen, und der Reverend hat mit allen Müttern gesprochen, die Kinder verloren haben. Manche sind schon wieder schwanger. […] Er versuchte ihnen zu erklären, daß die Taufe – die batiza – alles geändert haben würde. […] Unser Vater versucht, ihnen verständlich zu machen, daß die batiza kein Fetisch ist, sondern ein Vertrag mit Jesus Christus. Wenn die Kinder getauft worden wären, dann wären sie jetzt im Himmel. Und die Mütter sahen ihn schmaläugig an. Wenn meine Tochter im Himmel wäre, könnte sie dann noch immer auf mein Baby aufpassen, während ich auf meinem Maniokfeld arbeite? Könnte sie Wasser für mich holen? Hätte ein Sohn im Himmel Frauen, die für mich sorgen, wenn ich alt bin? Unser Vater versteht ihren ironischen und selbstbezogenen Ton als einen Mangel an echter Trauer. Seine wissenschaftliche Schlussfolgerung: Die Kongolesen hängen nicht so an ihren Kindern wie wir Amerikaner.“1
Paul Otting ist Doktorand und wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Abteilung für Alte Geschichte an der Ludwig-Maximilians-Universität München und forscht zur Todesstrafe in der Spätantike. : p.otting@campus.lmu.de Schlüsselwörter Kindheit – Antike – Rom – Historische Anthropologie – Emotionsgeschichte
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Die Episode aus dem Roman hebt einen denkwürdigen kulturanthropologischen Kontrast hervor: Der tiefen Trauer der Eltern steht der Glaube entgegen, dass die Häufigkeit solcher Tode zu einer gewissen Distanz, wenn nicht sogar zu Gleichmut ihnen gegenüber führe. Diese Annahme ist keinesfalls auf Fiktion begrenzt, sondern sogar bis in wissenschaftliche Kreise vorgedrungen. Die Figur des Missionars bürgt damit in gewisser Weise für eine moderne westliche Sicht auf Gesellschaften mit besonders hoher Kindersterblichkeit. Gerade vorindustriellen Gesellschaften – hier präziser: den antiken Zeitgenossen, um die es im Folgenden gehen soll – wurde lange eine ähnlich indifferente Haltung ihren toten Kindern gegenüber attestiert. Dazu trugen besonders die aus heutiger Sicht, dergemäß der Tod des eigenen Kindes zu den traumatischsten Erfahrungen schlechthin gehört, unverständlichen Beurteilungen antiker Autoren bei. Etwa soll der legendäre zweite König der Stadt Rom, Numa, laut seinem Biographen Plutarch ein Gesetz erlassen haben,
Historie
dass ein Kind unter drei Jahren nicht betrauert werden sollte. Der römische Redner Cicero weiß von Leuten zu berichten, die den Tod eines Säuglings nicht beklagen, denn dieser hätte ja noch nicht die Süße des Lebens (vitae suavitatem) gekostet. Worum also trauern? Und der Philosoph Seneca kondoliert zum Tod eines Säuglings mit dem wenig einfühlsamen Hinweis, er solle erinnert, nicht aber etwa betrauert werden. Weniger bekannt, aber nicht minder irreführend ist die bitter-böse Diatribe „Über die Trauer“ (De luctu) des Sophisten Lukian, der sich mit seinem Spott über Trauergesten schon unter seinen Zeitgenossen einen Namen gemacht hatte.2 Ähnlich dem Missionar, der die sarkastischen Erwiderungen der afrikanischen Mütter missinterpretierte, haben auch Althistoriker viel zu lange diese plakativen Aussagen antiker Autoren allzu wörtlich aufgefasst, die nicht nur die moderne Annahme befeuert haben, dass es keine enge emotionale Beziehung zwischen römischen Eltern und ihren Kindern gegeben habe – Indifferenz gegenüber dem Tod Neugeborener und kleiner Kinder wurde geradezu als Merkmal vormoderner Gesellschaften postuliert.3 Wie erklärt sich eine solche offensive Kompromisslosigkeit antiker, aber auch moderner Autoren? Und viel wichtiger: Wie steht es um die Beziehung zwischen römischen Eltern und Kindern? Ist die demonstrativ kaltherzige Ignoranz eines Seneca wirklich typisch für eine Gesellschaft mit hoher Kindersterblichkeitsrate? Wie ging man jenseits philosophischer Höhenkammliteratur eines Cicero mit sterbenden und verstorbenen Kindern um? Kann man sich kollektiv oder individuell an hohe Kindersterblichkeit „gewöhnen“? Bevor ich mich diesen Fragen weiter annähere, möchte ich erst einmal vergegenwärtigen, wie schwierig es sich für moderne Betrachter gestaltet, die Dimensionen der (Kinder-)Sterblichkeit in der Antike überhaupt zu erfassen.
Quellen zur Erforschung der antiken Demographie Während heute ein Blick in internationale Lageberichte wie etwa den Child Mortality Report der Vereinten Nationen genügt, um sich ein Bild über das weltweite Niveau von Kindersterblichkeit zu machen, stehen dem*der Althistoriker*in nur höchst fragmentarische und unzuverlässige Daten zur Verfügung. Eine beliebte Grundlage für demographische Analysen bieten etwa die abertausend Grabinschriften, die über die ganze Mittelmeerwelt verteilt sind. Man sollte meinen, dass sich anhand von Geburts- und Sterbedatum, Fundort- und zeit dieser Inschriftenträger statistische Aussagen über die Lebenswahrscheinlichkeit treffen ließen. Aber weit gefehlt. Eine Studie aus dem Jahr 2000 hat fast 30.000 Grabinschriften allein aus dem stadtrömischen Umfeld analysiert. Es konnte gezeigt werden, dass nur gute tausend davon Kleinkinder zwischen 0 und 4 Jahren betrauerten und noch weniger (etwa 130) auf Säuglinge bis zum ersten Lebensjahr entfielen. Auf Basis einer solch unvollständigen Datenlage lassen sich kaum Aussagen über die Kindersterblichkeitsrate treffen. Im Verhältnis zum Gesamtbefund wird Kindern also unterdurchschnittlich selten eine Inschrift gewidmet. Das spielt der alten These, dass sich der ökonomische (Inschriften waren eine kostspielige Angele-
genheit) und emotionale Aufwand für ein „Alltagsphänomen“ wie Kindstod schlicht nicht lohnte, durchaus in die Hände. Andererseits zeigen die gut tausend Inschriften, die wir haben, dass im Einzelfall der Tod nicht als irrelevant betrachtet wurde. Vielmehr noch: Diese Inschriften zeichnen sich durch eine außerordentliche Einfühlsamkeit und ungewöhnlichen Detailreichtum aus und weichen häufig von stereotypen Textelementen ab. Doch dazu unten mehr. Hier festzuhalten ist, dass Grabinschriften eine verlockend dokumentarische Aura haben, die sich aber bei genauer Betrachtung in individuell gestaltete Botschaften auf Stein auflöst. Der Althistoriker Keith Hopkins bemerkte mit Blick auf Grabinschriften daher: „We are dealing with the statistics of commemoration, and not with the statistics of mortality“.4 Hinzu kommt eine grundsätzliche Eigenheit der römischen Gesellschaft, nämlich die Unkenntnis das eigene Alter betreffend. Auffällig viele Grabinschriften machen Altersangaben, die sich durch fünf oder zehn teilen lassen. Solche Rundungen sind keinesfalls unüblich für die Vormoderne. Während wir heute eine konstante Vergegenwärtigung von Vergangenheit und Zukunft durch unsere mediale Umwelt oder durch offizielle Dokumente wie Pass oder Geburtsurkunde erfahren, erweckten zeitliche Unstimmigkeiten mangels solcher „Erinnerungshilfen“ in der Antike keinerlei Skepsis bei den Zeitgenossen. Im Gegenteil waren es die besonders jungen oder besonders alten Tode, die man gerne in Stein erinnerte. So ist das Material zusätzlich durch eine Überbetonung dieser „Lebensränder“ verzerrt, das Mittelfeld insgesamt schwer zu erschließen. Das macht die Grabinschriften kaum zu einer geeigneten Ausgangslage, um statistisch relevante Grundlagen zu extrapolieren.5 Etwas besser steht es um die aus dem römischen Ägypten erhaltenen Zensuszahlen, die sich auf abertausenden, teils zerfetzten, manchmal nur fingernagelgroßen Papyri erhalten haben und von akribisch arbeitenden Wissenschaftler*innen mühevoll zusammengepuzzelt wurden. Zwar wissen wir, dass seit dem 3. Jh. n. Chr. regelmäßige Volkszählungen auch in den anderen Provinzen des Reiches durchgeführt wurden, um die Steuererhebung zu unterstützen, doch sind die Ergebnisse dieser Zählungen leider meist verloren. Das günstige Klima Ägyptens hat dagegen so manchen Schatz im Sand bewahrt. Wir wissen daher, dass sich die steuerpflichtigen Einwohner Ägyptens alle vierzehn Jahre „vermessen“ lassen mussten; vom Bauern bis zum Arzt, vom Steinmetz bis zum Goldschmied. Man kann sich den Aufwand dieses Unterfangens angesichts unserer modernen statistischen Verfahren, digitaler Messinstrumente und Exceltabellen kaum noch vorstellen, den es kostete, jeden einzelnen Bürger der Provinz händisch zu erfassen. Moment: Jeden? Nicht ganz. Denn nur die steuerpflichtigen Einwohner Ägyptens waren meldepflichtig. Selbst wenn wir also annehmen würden, dass jeder Bauer aus dem Umland die tagelange gefährliche und beschwerliche Reise auf sich nahm (was zu bezweifeln ist), fehlen uns eine ganze Reihe Bewohner*innen, namentlich Frauen, Kinder, Sklav*innen und Männer über 62, für die die Kopfsteuer nicht mehr fällig wurde. Übertragen auf deutsche Gegenwartsverhältnisse wären das knapp 62,5 Millionen Bürgerinnen und Bürger (Stand 2020) – also weit mehr als die Hälfte! –, die in diesem ohnehin schon lückenhaften Material nicht berücksichtig werden – und da fehlen noch die Massen an Sklaven.6
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Historie
Altersangaben als kontextualisierender Code Antike Demographie besteht also zu einem guten Teil aus Rechenspielen, deren Erkenntnisse gleichsam spannend wie angreifbar sind. Sowohl Grabinschriften als auch die verfügbaren Zensuszahlen lassen aufgrund von Unvollständigkeit, ungleicher chronologischer und geographischer Verteilung sowie insgesamt einer zu geringen Anzahl keine sichere statistische Auswertung zu. Etwaige Rückschlüsse auf Mortalität und Fertilität unterliegen stets dem Verdacht, nicht repräsentativ zu sein, weshalb sich beide Quellengruppen auch nicht ohne weiteres überblenden lassen, um die jeweiligen Defizite auszugleichen. Die intuitiv „sehr hohe“ Kindersterblichkeit in der Antike kann daher kaum in belastbare Zahlen übertragen werden. Um dieser prekären Quellenlage abzuhelfen, sind viele Historiker*innen dazu übergangen, mathematische Modelle in ihre Überlegungen einzubinden. Diese können unter Berücksichtigung bestimmter Einschränkungen und Anpassungen die Leerstellen des schlaglichtartigen Befunds ein wenig ergänzen. Wie sich die Anwendung eines solchen Modells gestaltet und welche Informationen sich daraus gewinnen lassen, zeigt sich anschaulich am breit rezipierten CoaleDemeny-Modell, einer statistischen Analyse von Lebenserwartungen und Altersstrukturen im Europa des 19. und 20. Jahrhunderts.7 Das Coale-Demeny-Modell kann allerdings – das gleich vorweg – nur ein grobkörniges Bild der antiken Lebensverhältnisse vermitteln. Aussagen über die antike Gesellschaftsstruktur werden nämlich besonders dadurch gehemmt, dass das Modell zahlreichen Umwelteinflüssen kaum Rechnung trägt, sondern nur Wahrscheinlichkeiten unter der Voraussetzung einer stabilen Population generiert. Ereignisse wie Epidemien, Hungersnöte, Kriege oder Migration wurden dabei nicht berücksichtigt, obschon gerade diese Faktoren großen Einfluss auf die antike Demographie gehabt haben müssen. In Zeiten von Epidemien wie bspw. den Seuchen der Jahre 165-180 oder 540-550, der sogenannten Justinianischen Pest, erhöten sich die Sterberaten sicherlich drastisch. Hungersnöte waren jederzeit und überall möglich und ebenso beeinflussten klimatische Umstände das Lebensalter. Schon der römische Medizinschriftsteller Celsus warnte z.B. vor den lebensbedrohlichen Zuständen in den Städten und riet daher, öfter auf dem Land als in der ungesunden Stadt zu verweilen.8 Dass sich diese Faktoren aus heutiger Sicht leider kaum mehr quantifizieren lassen, liegt nicht einmal so sehr am Fehlen von Angaben in unseren Quellen. Im Gegenteil ist die antike Historiographie voll von Zahlen. Das Problem besteht eher darin, dass die meisten numerischen Werte mehr Teil einer sehr kontextsensiblen Kommunikation waren und nicht immer dazu dienten, tatsächliche Mengen zu benennen. Zahlen sind zum Unmut der realieninteressierten Historiker*innen häufig literarische Codes, die die antiken Zeitgenossen bestens zu lesen wussten. Das habe ich schon mit Blick auf die Überpräsenz besonders hoher oder niedriger Altersangaben auf Grabsteinen angedeutet. Noch deutlicher wird das mit Angaben zu Kriegstoten: Während man die Zahl der Verstorbenen auf der eigenen Seite untertrieb oder gar verschwieg, übertrieb man die Zahl der Opfer auf gegnerischer Seite gerne, um die eigene Kampfesstärke und den grenzenlosen Mut der römischen Sol-
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daten zu markieren. Ähnlich verdächtig sind die Opferzahlen von kaiserlichen Gewaltexzessen, wie angeblich unter den unbeliebten Kaisern Nero oder Caligula, mit denen man ihre Herrschaft als besonders blutig und tyrannisch brandmarken wollte. Wir müssen also jeder Zahlenangabe in den antiken Quellen mit äußerster Vorsicht begegnen und ihr nicht ohne genaue Prüfung des Kontexts Historizität zugestehen.
Ein Modell für die Altersstruktur der römischen Gesellschaft? Die umfangreichen Datensätze des Coale-Denemy-Modells verschaffen uns aber trotz ihrer Grenzen zumindest eine Vorstellung von den antiken Verhältnissen der Kindersterblichkeit. Die Tabellen bieten einen Einblick in die demographischen Eigenheiten verschiedener Länder auf Basis ihrer Sterberaten und Altersstrukturen. Theoretisch nach oben offene Stufen (levels) korrespondieren mit geographischen Mustern (patterns): Norden, Osten, Süden und Westen, die die demographischen Eigenheiten bestimmter Regionen spiegeln sollen. Die Stufen geben aufsteigend die Qualität der Lebensbedingungen, wie z.B. medizinische Versorgung und Infrastruktur, an. Die Lebenserwartung steigt also mit jeder Stufe (um 2,5 Jahre), wobei sie mit der jeweiligen durchschnittlichen Lebenserwartung einer Region auf Stufe 1 beginnt.9 Auf antike Lebensumstände lässt sich das westliche Modell besonders gut anwenden, denn es beruht allein auf Durchschnittswerten der anderen patterns und setzt keine weiteren Informationen zu einer Gesellschaft voraus. Sich innerhalb eines Musters für eine Stufe zu entscheiden, ist deutlich schwieriger, da sich die Lebensbedingungen im Europa der Neuzeit, die dem Coale-Denemy-Modell zu Grunde liegen, nicht nonchalant auf antike Verhältnisse übertragen lassen.
Tabelle1: Lebenserwartung nach Coale-Demeny, Model West Female, Level 3 Alter (x)
fernere Lebenserwartung e(x)
relative Anzahl der über x-jährigen l(x)
25
100.000
1
34,85
69.444
5
40,06
54.456
10
37,5
51.156
15
34,23
48.732
20
31,31
45.734
25
28,7
42.231
30
26,14
38.614
0
35
23,65
34.886
40
21,13
31.208
50
15,63
24.389
60
10,44
16.712
70
6,45
7.934
80
3,6
1.644
90
1,8
59
Historie
Am ehesten werden diese vermutlich durch Stufe drei oder vier abgebildet (zum Vergleich: England um 1800 ist auf Stufe 11), aber auch das sind nur Schätzungen.10 Die hier etwas vereinfachte Tabelle beginnt bei einer durchschnittlichen Lebenserwartung von 25 Jahren, die sich auch in den ägyptischen Zensuszahlen spiegelt. Die geschätzte Lebenserwartung wird in Relation zu verschiedenen Altersstufen e(x) angegeben: Wer auf die Welt kommt, wird ca. 25 Jahre alt, wer das sechzigste Lebensjahr erreicht, hat noch gute zehn Jahre zu leben. Für uns besonders interessant ist die dritte Spalte, die die Anzahl derjenigen angibt, die über das entsprechende Alter hinaus leben: l(x). Sie beginnt bei einer imaginären Zahl von 100.000 Geburten, um den relativen Anteil kenntlich zu machen. Die Rückschlüsse, die sich auf der Grundlage dieser Tabelle für Kindersterblichkeit in der römischen Antike ziehen lassen, sind schockierend: Nahezu ein Drittel der Neugeborenen überlebt das erste Lebensjahr nicht und nur circa die Hälfte wurde zehn Jahre alt. Für ein Kind war also die Wahrscheinlichkeit groß, einen seiner Spielkameraden zu verlieren. Für Eltern bedeutete die Geburt eines gesunden Kindes keine Garantie, dass es erwachsen wird. Damit übertrifft das Modell die aus den Grabinschriften geschätzte Sterberate unter Kindern in der Antike um ein Vielfaches. Wie gingen römische Eltern also mit dieser Realität um? Gab es Platz für Trauer in einer Gesellschaft, die eine besonders hohe Kindersterblichkeit verzeichnete? Lassen sich die Gefühle von Eltern über die lange zeitliche Distanz hinweg ergründen?11
Überlieferte elterliche Gefühlswelten Das Internet hat unserer heutigen Gesellschaft eine Öffnung des privaten Lebens erlaubt, die beinahe an Exhibitionismus grenzt. Auf Instagram und Facebook werden „echte“ Gefühle auf eine Art und Weise dargestellt, wie andere sie erwarten und sehen möchten; nicht zwingend, wie sie sind. Gleichsam schwierig bis fast unmöglich ist es, die Emotionen anderer Gesellschaften zu studieren, denn selbst wenn Gefühle ähnlich sein können, hat jede Sozialgemeinschaft eigene, kulturell determinierte Parameter geschaffen, mit diesen umzugehen und nach außen zu treten. Greifbar sind aber eben diese kulturell determinierten Konventionen des Ausdrucks. Dort, wo sie gebrochen werden, lässt sich vielleicht ein Hauch von unverfälschten Gefühlen spüren.12 Öffentliche Trauer war idealerweise streng an Geschlecht und Status orientiert. Der bereits zitierte Plutarch hielt es für unschicklich für einen Mann von Ehre, seine Gefühle überhaupt nach außen zu tragen, und insbesondere Trauer war Frauen überlassen. Auch Seneca stand in stoischer Manier für eine klare Rollenverteilung ein: Rechtlich war es Frauen ohnehin untersagt, länger als ein Jahr zu trauern, wohingegen Männer von derartigen Regeln ausgenommen waren, weil sie sowieso nicht trauern sollten. Offensichtlich rechtfertigte der Tod im gesellschaftlichen Konsens keine allzu große Anteilnahme unter Männern.13 Die offiziellen Pflichten staatstragender Männer sollten nicht von einem privaten Trauerfall überschattet werden. Solche Ideale wurden in Anekdoten über berühmte Männer transportiert: Julius Caesar soll wenige Tage nach dem Tod
seiner Tochter wieder im Felde gestanden haben. Der römische Priester Pulvillus erfuhr während eines Ritus vom Tod seines Sohnes und sei unbehelligt fortgefahren. Aemilius Paullus feierte seinen Triumph über den makedonischen König unmittelbar nach und vor dem Tod zweier Söhne. Später habe er in einer Rede festgehalten, dass besser er leide als das römische Volk. Die zitierten Fälle sind bemerkenswert, denn sie schildern nie den Verlust eines Partners oder Freundes, sondern immer den von Söhnen und Töchtern. Das lässt den Schluss zu, dass mit dem Tod der eigenen Kinder bewusst Umstände gewählt wurden, die die innere Fassung besonders strapaziert hätten, um die Standhaftigkeit des Vaters oder der Mutter zu betonen.14 Kaum größer scheint die Diskrepanz zwischen Ideal und Wirklichkeit zu sein. Den einleitend zitierten Fällen, die Trauer um kleine Kinder als unnötig und überzogen abtun, steht eine breite Palette an Material gegenüber, das vom Gegenteil zeugt. Dass auch Männer der Oberschicht bitter über den Verlust von Kindern klagten, zeigt nur beispielhaft die Kondolenz Senecas an seinen Freund Marullus. Dieser wurde von so tiefer Trauer über den Tod seines kleinen Sohnes erfasst, dass Seneca sich genötigt fühlte, ihm eine ‚Trostschrift’ zu widmen. Doch hält der Philosoph es in Anbetracht von Marullus’ Verhalten für unnötig, Takt walten zu lassen – man müsse ihn vielmehr für seine mangelnde Standhaftigkeit tadeln, schreibt er. „Du erwartest Trost? Rechne mit Vorwürfen! Auf so klägliche Weise erträgst Du den Tod Deines Sohnes? Was würdest Du tun, wenn du einen Freund verloren hättest? Gestorben ist Dein Sohn, als kleines Kind und ohne sichere Zukunft; nur eine winzige Zeitspanne ist mit ihm vergangen.“ Zweifellos diente Seneca die Trauer seines Freundes als Vehikel für seine stoische Philosophie. Ob seine Schrift je als Brief gedacht war, ist zweifelhaft. Dennoch deutet die von ihm aufgezeigte Intensität darauf hin, dass Marullus ehrlich betroffen vom Tod seines Sohnes war.15 In diesen Kontext fügt sich ferner der Fall des Atedius Melior, dem Statius in seinem Gedichtband Silvae eine Elegie widmete: Melior blickt Ende des ersten Jahrhunderts auf den Scherbenhaufen seines Lebens: Er lebt allein, hat weder Eltern noch Kinder, sein bester Freund ist tot und unlängst ist ihm auch noch sein Papagei entflohen. Zu allem Überfluss ist nun sein geliebter Adoptivsohn Glaucias im Alter von zwölf Jahren verstorben. Die Trauer um ihn scheint unerträglich für Melior, der sich bei Einäscherung des Jungen gleich selbst in die Flammen werfen möchte, sodass Statius eingreifen muss. Der Dichter bedient sich bei seiner Beschreibung der Beisetzung aller Gemeinplätze, die sonst wehklagenden Müttern zugeschrieben werden: Melior wirft sich zu Boden, reißt sich die Kleider vom Leibe und presst sein Gesicht zum Abschied an die erkalteten Lippen des Jungen. Dennoch unterliegt seiner Elegie kein spöttischer Unterton – im Gegenteil zeigt sich Statius bewegt von der Verwundbarkeit seines Freundes. Die Bestattung fällt ungewöhnlich üppig aus.16 Wie oben angedeutet, hält sich die Vorstellung von der marginalen Stellung von Kindern gerade angesichts der verhältnismäßig wenigen Grabinschriften, die ihnen gewidmet wurden. Gerade kleine Kinder seien nicht traditionsgemäß
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beigesetzt worden, oft sogar „nur“ rund um das eigene Haus beerdigt, sprich „verscharrt“, worden.17 Natürlich unterschieden sich die Bestattungsriten von Erwachsenen und Kindern! Waren Letztere noch nicht vollständig in die Gesellschaft eingeführt, konnten sie auch in eigenen spezifischen Zeremoniellen wieder aus ihr herausgeführt werden, die sich nicht an denen von Erwachsenen messen oder orientieren mussten. Darin zeichnet sich jedoch keine weniger wichtige soziale Rolle ab.18 Tausende Grabinschriften zeugen im Gegenteil vom engen emotionalen Band zwischen Eltern und Kindern. Es braucht wenig Phantasie, um sich etwa das große Leid eines Vaters hinter diesen Zeilen vorzustellen: „Hier liegt [mein] kleines Mädchen Mania. Nur wenige Jahre konnt’ ich sie lieben. Ihr Vater betrauert sie so lange, bis er selbst nur noch in Klagen aufgeht. Denn der Vater hatte sie einst zu den Rändern des göttlichen Lichts getragen. Daher konnte er allzu liebevoll seine große Hoffnung und Erwartung festhalten. Die Flucht, die vor ihrer Zeit kam, verbarg sich in der tiefen Finsternis. Nicht geboren zu werden, wäre für die Arme um einiges nützlicher gewesen. Sie lebte zwei Jahre und dreizehn Tage.“19 Das eigene Kind zu überleben, gehörte auch in der Antike zu den schlimmsten Schicksalsschlägen, die einen ereilen konnten. Vergleicht man diese Epitaphien mit den philosophischen Texten, wie z. B. den einleitend zitierten Passagen von Seneca und Cicero oder Lukians Spottschrift auf die Trauergesten, zeichnen sich völlig unterschiedliche Ideen von Kindern ab: Während die einen ein sehr negatives und distanziertes Verhältnis zu Kindern andeuten, ja mitunter erwarten, sind Inschriften viel persönlicher und emotional aufgeladen. Das Kind ist darin Ursache von Sorgen und Ängsten, aber auch – wie Mania – von Hoffnungen und Erwartungen. Diese diametralen Betrachtungsweisen erklären sich am ehesten durch die Gattung selbst. Die Literatur war von und für eine kleine Elite verfasst, die Kinder besonders in Hinblick auf ihre Entwicklung zu römischen Bürgern beurteilte. Seneca betont in seinem Brief an Marullus die unsichere Zukunft des Kindes – niemand weiß, ob aus ihm überhaupt ein erwachsener Bürger geworden wäre, also warum trauern? Solche Aussagen spiegeln eine idealisierte Kollektivhaltung wider. Inschriften hingegen waren weniger exklusiv, sondern sind individuelle Ventile der ganz eigenen Trauer gewesen und luden jeden Vorbeigehenden dazu ein, Teil der Trauergemeinschaft zu werden. Sie boten auf diese Weise Platz für zutiefst persönliche Aspekte.20 Beide Gattungen machen in eigener Weise die Bedeutung von Kindern für alle Schichten der Gesellschaft deutlich: Während die männlichen Nachkommen der Belletage in Zukunft wichtige Ämter bekleiden würden, waren Kinder in ärmeren Verhältnissen Garant für das Überleben der Familie im Alter. Diese ambivalente Stellung – gleichzeitig unbedeutend in einer Gesellschaft, die von erwachsenen Männern dominiert wurde und dennoch essentiell für die Zukunft aller – ist ausschlaggebend für den zwiespältigen Diskurs, in dem Kinder als Paria und zugleich als Projektionsfläche von Erwartungen erscheinen, oder um eine treffende Formulierung von Christian Laes zu entleihen: Sie waren „Outsiders within“. Das bedeutete aber nicht, dass der Tod eines Kindes etwas Normales gewesen ist. Auch in Rom war man sich gewahr, dass Menschen im
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Regelfall in generationsmäßiger Abfolge sterben, oder andersherum mit Senecas Worten: non citamur ex censu (wir sterben nicht in Reihenfolge).21
Fazit In einer Gesellschaft wie der römischen, in der nur jedes zweite Neugeborene das zehnte Lebensjahr erreichen sollte, schwebte der Tod des eigenen Kindes gewissermaßen wie ein Damoklesschwert permanent über den Familien – er war zu erwarten und allgegenwärtig. Es ist in Anbetracht unserer modernen westlichen Welt, die eine besonders niedrige Kindersterblichkeit verzeichnet, kaum vorstellbar, wie Eltern mit dieser Realität umgegangen sein müssen. Aus dieser Diskrepanz heraus ist die Versuchung groß, den überwältigenden Befund zu internalisieren und nachempfinden zu wollen, wie man selbst mit dem Tod der eigenen Kinder umgehen würde. Die emotionale Reaktion darauf kann zu dem Schluss führen, dass Eltern in der Antike nicht dieselbe Zuneigung und Liebe für ihre Kinder empfunden haben können wie wir. Aber auch römische Eltern haben idealerweise keine Mühen gescheut, ihre Kinder zu behüten und ihr Wohlergehen zu gewährleisten. Verstarb ein Kind, zeigen literarische und inschriftliche Zeugnisse das Bild von römischen Eltern-KindBeziehungen, die ebenso fürsorglich und emotional aufgeladen waren, wie es in unserer Gesellschaft der Fall ist. Tausende Grabinschriften monumentalisieren die Zuneigung und enttäuschte Hoffnung von Eltern und lassen keinen Zweifel daran, dass der Tod ihres Kindes von großer Bedeutsamkeit war und großes Leid bescherte. Aus diesen Ängsten heraus mag sich vielleicht eine gewisse Distanz ergeben haben. Diese aber mit Indifferenz gleichzusetzen, spräche den Römer*innen vorschnell menschliche Gefühle ab. Vielmehr hat sich durch die hohe Sterblichkeit vielleicht eine eigentümliche Mentalität im Umgang mit dem Verlust von Kindern herausgebildet, die sich in Marc Aurels Haltung verdeutlicht: Einerseits erinnert er den*die Leser*in pragmatisch an die Vergänglichkeit des menschlichen Lebens, zum anderen zeigt er sich besorgt und verletzlich, wenn er rät, man müsse sich, wenn man sein Kind küsse, im Stillen sagen: „Morgen wirst du vielleicht sterben.“22
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Kingslover, B. (2012), Die Giftholzbibel, S. 320 f. Plut. Numa 12; Cic. Tusc. 1.93; Sen. dial. 6.21., Lukian, Luct. 1. Etwa Stone, L. (1977), The Family, Sex and Marriage in England, 15001800, London, S. 65; Garnsey, P. (1991), Child rearing in Ancient Italy, in: The Family in Ancient Italy from Antiquity to the Present, New Haven/London, S. 48–65., hier S. 50 f. King, M. (2000), Commemorations of infants on Roman funerary inscriptions, in: The Epigraphy of Death. Studies in the History and Society of Greece and Rome, Liverpool, 117–154; Schorn, S. (2009), Tears of the Bereaved: Plutarch’s Consolatio ad uxorem in Context, in: Tears in the Graeco-Roman World, Berlin/New York, 335–365. Hopkins, K. (1987), Graveyard for Historians, in: La mort, le morts, et l’au-delà dans le monde romain. Actes du colloque de Caen, Caen, S. 113–126, hier S. 124. Duncan-Jones, R. P. (1990), Structure and Scale in the Roman Economy, Cambridge, S. 101f.; zur Rundung von Altersangaben Clauss, M. (1973), Probleme der Lebensalterstatistiken aufgrund römischer Grabinschriften, in: Chiron 3, S. 395–418. Hopkins, K. (1980), Brother-Sister Marriage in Roman Egypt, in: Comparative Studies in Society and History 22.3, S. 303–354, hier S. 320
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stellt daher die ägyptischen Zensuszahlen grundlegend in Frage. Zum ägyptischen Zensus s. die klassische Studie von R. Bagnall (2008), The Demography of Roman Egypt, Cambridge. 7 Das Modell gehört auch in Ermangelung einer geeigneten Alternative zu den weitgehend akzeptierten Modellen, wenn es um die Analyse von Mortalität im Altertum geht. Ursprünglich bezogen sich diese Angaben auf einen rein europäischen Kontext. Zur Erhebung der Daten und Auswertung s. Coale, A. J./Denemy, P. (1983), Regional Model Life Tables and Stable Populations, New York S. 9–28. 8 Celsus, de med. 1.1; vgl. dazu auch Shaw, B. (1984), Latin Funerary Epigraphy and Family Life in the Later Roman Empire, in: Historia 33.4, S. 457–497, hier S. 488. Gefahr besonders für Kinder: Celsus, de med. 1.2.20. Scheidel, W. (2003), Germs for Rome, in: Rome the Cosmopolis, Cambridge, S. 158–176 macht v. a. Malaria als entscheidenden Einflussfaktor auf erhöhte Sterberaten aus. Shaw, B. (2001), The seasonal birthing cycle of Roman women, in: Debating Roman Demography, Leiden, S. 83–110, hier 95–97 macht v. a. die Monate Juli bis September für die erhöhte Kindersterblichkeit verantwortlich. Er argumentiert, dass die Sterblichkeitsrate im Spätsommer bis zu 50 % höher war, als im Frühjahr und dafür bereits in der Antike ein Bewusstsein bestanden hatte. S. o. Celsus. 9 Die geschätzte Lebenserwartung kritisiert Woods, R. (2007), Ancient and early modern mortality: experience and understanding, in: Economic History Review 60.2, S. 373–399. Dagegen: Parkin, T. (2010), Life Cycle, in: A Cultural History of Childhood and Families in Antiquity (Bd. 1), Oxford, S. 97–114, hier S. 112 und Laes, C. (2006), Children in the Roman Empire. Outsiders Within, Cambridge, S. 27, die beide festhalten, dass selbst in optimierten Modellen, die eine Lebenserwartung von 25 ansetzen, die Sterblichkeit unter dem zehnten Lebensjahr sehr hoch liegt, nämlich bei über 20 %. 10 Parkin, T. (1992), Demography and Roman Society, Baltimore, S. 79– 81; s. a. Laes 2006 (wie Anm. 9), S. 24 f., der im wesentlichen Parkin folgt. Scheidel, W. (2007), Demography, in: The Cambridge Economic History of the Greco-Roman World, Cambridge, S. 38–86, hier S. 40 schließt sich ebenso dem West-Modell an. 11 Zum missverständlichen Begriff der Emotionsgeschichte und der Frage, ob und inwiefern Emotionen überhaupt mit historischen Analyseinstrumenten erfasst werden können, s. die Einleitng v. Chaniotis,
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A. (2012), Unveiling Emotions in the Greek World, Stuttgart, S. 11–36, hier 15–19. Chaniotis 2012 (wie Anm. 11), S. 94; Laes, C. (2011), Grieving for Lost Children, Pagan and Christian, in: A Companion to Families in the Greek and Roman Worlds, Oxford, S. 315–329, hier S. 313. Plut. Mor. 107D-F. Zum Ideal der kurzen Trauer: Graver, M. (2017), The performance of grief: Cicero, Stoicism, and the public eye, in: Emotions in the Classical World, Stuttgart 2017, S. 195–207, hier S. 195 f. Sen. dial. 7.3; zu den „Trauerregeln” siehe Plut. Numa 12; ferner Sen. epist. 63.13; Cic. fam. 9.20.3; Cic. Tusc. 3.62; Hope, V. (2009), Roman death: the dying and the dead in Ancient Rome, London, S. 125; Mustakallio, M. (2013), Grief and mourning in Roman context, in: Unveiling Emotions II. Emotions in Greece and Rome: Texts, Images, Material Culture, Stuttgart, S. 237–250, hier S. 237. Caesar u. Pulvillus: Sen. dial. 6.13-14; Pulvillus u. Aemilius Paullus: Val. Max. 5.10.2. Es galt das richtige Maß zu finden. Vgl. für Schmähungen bei zu viel Trauer: Nero: Tac. Ann. 15.23; Caligula: Sen. dial. 11.17.4-6; vgl. auch SHA, Hadr. 14.5-6, der „wie eine Frau” um seinen Liebhaber Antinoos geweint haben soll. Sen. epist. 99.1-3 Stat. Silv. 2.1. dazu van Dam 1984, S. 69–72; Laes 2006 (wie Anm. 9), S. 250–272. Erker, D. S. (2011), Gender and Roman Funeral Ritual, in: Memory and Mourning. Studies on Roman Death, Oxford, S. 40–60. Bernstein, N. W. (2005), Mourning the Puer Delicatus. Status Inconsistency and the Ethical Value of Fostering in Statius, „Silvae“ 2.1, in: AJPh 126.2 (2005), S. 257–280, hier S. 276 f. Etwa Hope 2009 (wie Anm. 13), S. 137 f.; Golden, M. (1988), Did the Ancients Care When Their Children Died?, in: G & R 35, S. 152–163, hier S. 156; zur Bestattung v.a. Carroll, M. (2018), Infancy and Earliest Childhood in the Roman World. A Fragment of Time, Oxford, S. 151 f. vgl. Golden 1988 (wie Anm. 17), S. 156; Mustakallio 2013 (wie Anm. 13), S. 239;), Rawson, B. (1986), The Family in Ancient Rome. New Perspectives, London, S. 277–280. AE 1966, 527. Laes 2006 (wie Anm. 9), S. 106. Sen. epist. 12.6; vgl. auch Laes 2006 (wie Anm. 9), 280–290. M. Aur. 11.34 f.
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