St+St 2/2023

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Inhalt

Heft 2 | 2023

Schwerpunkt

Moderation: Gabriele Sturm

2 Innenstädte und Einzelhandel unter Druck – Forschungsergebnisse zu den Auswirkungen der COVID-19-Pandemie und des Online-Handels Sascha Anders, Andrea Jonas, Elisabeth Kopischke

13 Sinkende Einzelhandelsmieten in Innenstädten – Ausdruck der Krise oder Chance für Wiederbelebung? Kati Volgmann, Frank Osterhage

21 Der Einzelhandel im Stadtzentrum von Leverkusen – Strukturelle Veränderungen von 1960 bis 2020 Gert Nicolini

29 Ergebnisse der Bürgerumfrage „Leben in Wiesbaden“ zur Attraktivität der Innenstadt nach Corona GregorArnold

35 Wie „in“ sind die Innenstädte als Wohnstandorte? Demogra sche Entwicklungen und Mietwohnungsmärkte in deutschen Innenstädten Jürgen Göddecke-Stellmann, Cornelia Müller, Alexander Schürt

44 Wohnen im inneren Stadtgebiet –Wer Kommt? Wer geht? Ergebnisse der Stuttgarter Wanderungsmotivbefragung Lutz Deutz, Tobias Held

Stadtforschung

54 Grenzenlos mobil? Nah- und Fernwanderungen seit 1991 auf Basis der Wanderungsver echtungen zwischen den Stadt- und Landkreisen

David J. Hölzel, Antonia Milbert

63 Sind Geschlechterdisproportionen unter jungen Erwachsenen noch ein relevantes raumplanerisches und demographisches Thema?

Tim Leibert, Klaus Friedrich

71 Neues Bürgergeld – In ation „frisst“ Erhöhung der Regelsätze auf Andrea Schultz

78 Überschuldung privater Haushalte in den 15 größten Städten Deutschlands – Hintergründe, Ursachen und Tendenzen 2017–2022

Werner Münzenmaier

Statistik und Informationsmanagement

87 Die Mietspiegelerhebung der Stadt Koblenz 2022 nach dem Mietspiegelreformgesetz (MsRG)

Daniela Schüller

Historie

95 Von der Wissenschaftsstadt zur Smart City – 25 Jahre Wissenschaftsstadt Darmstadt Günther Bachmann

100 Erinnerungen und Erfahrungen aus der (Kommunal-)Statistik von aus dem Berufsalltag ausgeschiedenen VDSt-Mitgliedern Hans-Walter Hülser, Gabriele Sturm

Entdeckt

103 Binnenwanderungsgewinne der inneren Stadt von 2011 bis 2021

Antonia Milbert, Elisabeth Stürmer, Dorothee Winkler

STADTFORSCHUNG UND STATISTIK 2|20231

Innenstädte und Einzelhandel unter Druck Forschungsergebnisse zu den Auswirkungen der

COVID-19-Pandemie und des Online-Handels

Bereits seit einigen Jahren erfahren deutsche Innenstädte einen Struktur- und Funktionswandel. Die COVID-19-Pandemie wirkt zusätzlich als Trendverstärker und hat bestehende Prozesse intensiviert. Anhand von sechs Fallbeispielen analysiert der Beitrag systematisch die Auswirkungen der Pandemie und des gestiegenen Online-Handels auf Innenstädte. Basierend auf einer 2022 durchgeführten Befragung von Bürgerinnen und Bürgern sowie von Gewerbetreibenden erfolgt eine Betrachtung der Nachfrager- und Anbieterseite. Diese quantitativen Erhebungsmethoden werden anschließend durch qualitative Expertinnen- und Experteninterviews abgerundet.

Einleitung

Innenstädte sind der baulich-funktionale Ausdruck der gesellschaftlichen Verhältnisse und Wertesysteme, die sich in einem ständigen Wandel be nden und dabei von politischen, sozioökonomischen und technisch-baulichen Rahmenbedingungen sowie von planerischen und regulativen Eingri en und Vorgaben beein usst werden (Häußermann et al. 2008: 8–21). Die Auseinandersetzung mit der Entwicklung der europäischen Innenstädte zeigt, dass dem Handel dabei stets eine bedeutende Rolle zukam. Städte wurden häu g an Handelsrouten errichtet, der Markt- und Handelsplatz ist stets in der Mitte einer Stadt zu nden. Andere bedeutende Institutionen siedelten sich in der Nähe des Marktplatzes an, wie zum Beispiel die Kirchen, Theater und Rathäuser. Gleichzeitig waren und sind Innenstädte aber auch Wohn- und Arbeitsort, Letzteres historisch eher für das Kleingewerbe und das Handwerk, im Zuge des Wandels hin zu einer Industrie- und Dienstleistungsgesellschaft vor allem aber auch ein Ort der Büroarbeit. Dieser historisch gewachsene Nutzungsmix der europäischen Städte führte dazu, dass Innenstädte immer auch die Bühne und der überragende Identitätsraum der Stadtgesellschaft waren und nach wie vor sind. Hier tri t man sich, um sich auszutauschen, einzukaufen, zu feiern oder auch um Kon ikte auszutragen (Anders/Krüger 2018: 158).

Dr. Sascha Anders

Dr.-Ing., wissenschaftlicher Angestellter, HafenCity Universität Hamburg (HCU), Arbeitsgebiet: Projektentwicklung und Projektmanagement in der Stadtplanung : sascha.anders@hcu-hamburg.de

Dr. Andrea Jonas

Projektleiterin im Referat „Stadtentwicklung“, Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung (BBSR) im Bundesamt für Bauwesen und Raumordnung (BBR)

: andrea.jonas@bbr.bund.de

Dipl. Geogr. Elisabeth Kopischke

Junker+Kruse Stadtforschung Planung, Dortmund

: kopischke@junker-kruse.de

Schlüsselwörter:

Befragung – Einkaufsverhalten – Online-Handel –Nutzungsmischung – Pandemie

Da der Einzelhandel den Hauptbesuchsanlass für die Innenstadt darstellt, war auch lange Zeit die Leitfunktion des Einzelhandels für die Entwicklung der Zentren unbestritten (Anders et al. 2020: 59; CIMA 2022: 7; 31–33; ). Allerdings wird schon seit längerer Zeit über die negativen Wirkungen der Fachmarktzentren auf der sogenannten „grünen Wiese“ und den zunehmenden Online-Handel diskutiert. Diese Konkurrenzsituation hat sich an vielen Standorten bereits erheblich auf den Geschäftsbesatz in den Zentren ausgewirkt. Deshalb gingen bis zu Beginn der COVID-19-Pandemie die bisherigen Einschätzungen meist davon aus, dass

- der stationäre Einzelhandel weiterhin eine große Bedeutung für die Entwicklung der Innenstädte besitzen wird, er sich aber in der Struktur und den Angebotsformen erheblich verändern wird,

- gastronomische Konzepte und weitere Funktionen insbesondere in den oberen Geschossen eine größere Bedeutung bekommen werden (Mischnutzung) und

- größere Städte und Zentren sowie boomende Regionen von der Digitalisierung durch neue Vertriebskonzepte,

2 STADTFORSCHUNG UND STATISTIK 2|2023 Schwerpunkt Innenstadt – Facetten einer Bestandsaufnahme

innovative Angebotsformen sowie neue Mixed-Use-Konzepte eher positiv beein usst werden.

Zugleich ist bereits vor der Pandemie deutlich geworden, dass Nebenlagen, Stadtteilzentren und Kleinstädte – insbesondere im ländlichen Raum mit negativer Entwicklungsdynamik –deutlich unter Druck geraten. An vielen Standorten war dies schon seit längerer Zeit bereits durch hohe Leerstandsquoten und ein Downgrading der Erdgeschossnutzungen sichtbar. Das Bundesministerium für Wohnen, Stadtentwicklung und Bauwesen (BMWSB) und das Bundesinstitut für Bau, Stadt- und Raumforschung (BBSR) haben 2021 daher das ExWoSt-Forschungsprojekt „Auswirkungen der COVID-19-Pandemie und des Online-Handels auf den Einzelhandel in Städten, Gemeinden und Regionen, insbesondere in den Zentren“ gestartet (BBSR 2021). Wir skizzieren in diesem Beitrag die ersten empirischen Ergebnisse dieser Studie und diskutieren an, welche Perspektiven die unterschiedlichen Nutzungen in den Innenstädten besitzen, welche Akteure in Zukunft (noch stärker) gefragt sein werden und welche Möglichkeiten dabei die ö entliche Hand besitzt, auf die Vitalität der Innenstädte einzuwirken.

Neben einem Fokus auf den Einzelhandel geht die Untersuchung davon aus, dass die Attraktivität von gewachsenen Zentren nicht nur durch den Handel, sondern traditionell aus einem Nutzungsgemisch aus Handel, Gastronomie, Kleingewerbe, Handwerk, Kultur, Bildung und Wohnen geprägt ist. Kreativität und Innovationen sowie die gestalterische Qualität von Architektur und Städtebau, ö entliche Räume und diverse Mobilitätsmöglichkeiten sind weitere Merkmale von Innenstädten (BMVBS 2011).

Methodik

Zu Beginn der Forschungsstudie wurde zunächst eine systematische Analyse der Ausgangssituation vor der Pandemie anhand der Sichtung und Bewertung bestehender Studien und Verö entlichungen vorgenommen.

Darauf aufbauend erfolgte eine Analyse der aktuellen Angebotssituation und Entwicklung des stationären und des Online-Handels sowie eine Betrachtung der Veränderungen auf der Nachfrageseite. Empirische Grundlage der Studie sind Bestandsaufnahmen der Erdgeschossnutzungen in sechs ausgewählten Fallstudienstädten (Innenstädte und ausgewählte Fachmarktstandorte), außerdem eine Befragung von Bürgerinnen und Bürgern sowie Gewerbetreibenden. Für die Einordnung und Abgrenzungen der Innenstädte (im Sinne zentraler Versorgungsbereiche) sowie der Fachmarktstandorte wurde auf die jeweils gültigen Einzelhandelskonzepte der Fallstudienstädte zurückgegri en.

Um die Entwicklung von Angebot und Nachfrage durch die Pandemie abbilden zu können, wurden die Erhebungen durch Begehung zu bislang zwei Zeitpunkten, das heißt im Sommer 2022 und im Sommer 2023, durchgeführt (Längsschnittdesign). Außerdem konnte für die Bewertung der Angebotsstrukturen in den Fallstudienstädten auf ältere Bestandsdaten der Erdgeschossnutzungen zurückgegri en werden. Aktuell (Stand Juni 2023) ist die zweite Datenerfassung noch nicht abgeschlossen, die nachfolgenden Ergebnisse haben deshalb die Erhebungen aus 2022 als Grundlage.

Für die Auswahl der sechs Fallstudienstädte wurden die Kriterien Stadtgröße (siedlungsstrukturelle Kreistypen nach BBSR), Raumtypisierung wachsend/schrumpfend nach BBSR und die regionale Verteilung innerhalb des Bundesgebietes zu Grunde gelegt (Tab. 1). Zusätzlich sollte die Auswahl Innenstädte mit und ohne Shopping-Center abbilden, einige Fallstudien sollten auch bedeutende städtebaulich nicht integrierte Fachmarktzentren enthalten.

StadtUntersuchungsstandorte

BerlinHauptzentrum Steglitz-Zehlendorf: Schloßstraße (inkl. Shopping-Center)

Ortsteilzentrum Tempelhof-Schöneberg, Bundesallee/Rheinstraße

Bernburg (Saale) Innenstadt

Fachmarktzentrum An der Kalistraße (PEP)

BochumInnenstadt (inkl. Shopping-Center) Einkaufszentrum Ruhrpark

HildesheimInnenstadt (inkl. Shopping-Center) Fachmarktzentrum Bavenstedter Straße

IlmenauInnenstadt

Landau in der Pfalz Innenstadt

Ost/ West Bundeslandsiedlungsstruktureller Kreistyp nach BBSR

Raumtypisierung wachsend/ schrumpfend nach BBSR

vorhandene Datensätze

OstBerlinkreisfreie Großstadt überdurchschnittlich wachsend 2022, 2021, 2015, 2008

OstSachsenAnhalt

ländlicher Kreis mit Verdichtungsansätzen

überdurchschnittlich schrumpfend 2022, 2016, 2006

WestNRWkreisfreie Großstadt keine eindeutige Entwicklungsrichtung

2022, 2010, 2006

WestNiedersachsen städtischer Kreiswachsend2022, 2015, 2008

OstThüringendünn besiedelter ländlicher Kreis schrumpfend2022, 2019, 2011

WestRheinlandPfalz städtischer Kreiswachsend2022, 2017/20, 2009, 2000

Quelle: eigene Darstellung

STADTFORSCHUNG UND STATISTIK 2|20233 Schwerpunkt Innenstadt – Facetten einer Bestandsaufnahme
Tab. 1: Fallstudien

In den Fallstudienstädten wurden in den Innenstädten und Fachmarktzentren sämtliche Erdgeschossnutzungen durch eine Begehung vor Ort erhoben, das heißt: stationärer Einzelhandel, Gastronomie, Gastgewerbe, verschiedene Dienstleistungen, Kultur- und Bildungseinrichtungen, ö entliche Verwaltungen, Handwerk, Wohnen, temporäre Nutzungen und Leerstand. In den Shopping-Centern wurden zusätzlich auch die Nutzungen in den oberen Geschossen aufgenommen.

Für die Online-Befragung der Bürgerinnen und Bürger und Gewerbetreibenden fand eine breite Ansprache über die örtliche Presse, die sozialen Medien, (teilweise) über Handzettel, E-Mail sowie Verteiler verschiedener Stakeholder und die ö entliche Verwaltung statt. So konnten in den OnlineBefragungen im Zeitraum von Juli bis September 2022 knapp

2.000 Bürgerinnen und Bürger (der jeweiligen Fallstudienstadt und teilweise darüber hinaus) und rund 230 Gewerbetreibende (vorrangig an den untersuchten innerstädtischen Standorten) zur Innenstadt, zum Einkaufsverhalten und zu den Wirkungen der COVID-19-Pandemie befragt werden. Von den Gewerbetreibenden haben sich 38 Prozent dem Einzelhandel zugeordnet, 26 Prozent dem Dienstleistungssektor und jeweils zehn Prozent den Branchen Gastronomie und Handwerk. Bei den Bürgerbefragungen waren alle Altersklassen vertreten, rund 20 Prozent der Befragten waren jünger als 30 Jahre, 68 Prozent zwischen 30 und 60 Jahren alt und 12 Prozent älter. Rund zwei Drittel der Befragten (64 %) waren weiblich.

Empirische Ergebnisse aus sechs Fallstudien

Für die Auswertung der empirischen Forschungsergebnisse erfolgt in diesem Beitrag eine Querschnittsauswertung über alle sechs Fallstudienstädte hinweg. Exemplarisch werden einzelne kommunale Beispiele hervorgehoben. Zunächst wird die Bestandssituation in den Innenstädten mit Hilfe der Erhebungsdaten zur Erdgeschossnutzung beschrieben. Daran anschließend erfolgt eine kurze Darstellung der wesentlichen Ergebnisse aus den Online-Befragungen.

Ausgangslage und Nutzungsmischung in Innenstädten

In den aktuellen Diskussionen um den Wandel von Innenstädten wird oftmals eine stärkere Nutzungsmischung zur Stärkung und Attraktivitätssteigerung der Zentren angestrebt (BBSR 2022). Die Forderung nach mehr Nutzungsmischung ist aus unserer Sicht richtig (Deutscher Städtetag 2021). Die Integration dieser Nutzungen in neue Mixed-Use-Konzepte trägt unbestritten dazu bei, die Attraktivität der Innenstädte zu erhöhen. Unsere Erhebungen zeigen aber auch, dass die Innenstädte nicht so monostrukturiert sind, wie vielfach behauptet wird. Bezogen auf die Anzahl der Erdgeschossnutzungen in den sechs untersuchten Innenstädten ist der Einzelhandel mit rund 36 Prozent zwar am häu gsten vertreten, aber wesentlich weniger dominant, als man hätte erwarten können (Abb.1). Dienstleistungen (25%) und Gastgewerbe (14 %) stellen weitere Hauptnutzungsarten dar. Insbesondere in kleineren Städten und in den Randbereichen der Innenstädte spielt auch das Wohnen eine größere Rolle. Bezogen auf das gesamte Zentrum beträgt der Anteil des Wohnens an allen Nutzungen immerhin elf Prozent. Handwerk und temporäre Nutzungen in Innenstädten fallen hingegen mit jeweils 1 bis 2 Prozent derzeit kaum ins Gewicht. Kunst und Kultur sowie ö entlichen Verwaltungen nehmen mit ebenfalls 1 bis 2 Prozent zwar einen geringen Anteil an den Nutzungen insgesamt ein, haben aber wegen ihrer starken Ausstrahlungskraft häu g eine hohe funktionale Bedeutung. Andere Untersuchungen, die auch die Flächenanteile der jeweiligen Nutzungen berücksichtigen, zeigen zwar eine größere Dominanz der Einzelhandelsnutzungen in den Erdgeschossen, allerdings sind die Obergeschosse – die im Rahmen der Untersuchung nicht erhoben wurden – im Wesentlichen durch Büronutzungen und verschiedene Dienstleistungen bzw. teilweise auch Wohnen geprägt. Einzelhandel ist dort kaum (noch) vorhanden.

Anders sieht es in den Fachmarktzentren außerhalb der Innenstädte aus, die sehr viel stärker durch den Einzelhandel dominiert werden. Im Durchschnitt der sechs untersuchten Städte liegt die Einzelhandelsnutzung hier bei einem Anteil von rund 67 Prozent, das Gastgewerbe kommt auf 12 Prozent und Dienstleistungen auf zehn Prozent.

4 STADTFORSCHUNG UND STATISTIK 2|2023 Schwerpunkt Innenstadt – Facetten einer Bestandsaufnahme
Abb. 1: Nutzungsmix der sechs Fallstudien – Innenstädte und Sonderstandorte Quelle: eigene Erhebung, März/April 2022, Innenstädte (N=4.176), Sonderstandorte (N=239)

Eine hohe Aufmerksamkeit bei der Betrachtung der aktuellen Situation der Innenstädte kommt dem Ladenleerstand zu. Gemessen an allen Erdgeschossnutzungen liegt dieser in den untersuchten Fallstudien im Durchschnitt bei acht Prozent und entspricht in etwa dem bundesweiten Durchschnitt von fünf bis zehn Prozent (EHI 2022:9). In den untersuchten Fachmarktzentren sind hingegen kaum Leerstände (1%) erhoben worden.

Allerdings hat der Leerstand in der Tendenz in den letzten Jahren und Jahrzehnten erkennbar zugenommen. Betrachtet man nur den Einzelhandel, liegt die Leerstandsquote mittlerweile sogar bei durchschnittlich rund 25 Prozent. Insbesondere mit dem Beginn der Pandemie scheint sich diese Entwicklung noch einmal verstärkt zu haben. Die Fallstudienanalysen in Bernburg (Saale) und der Berliner Schlossstraße zeigen aber auch, dass sich die Leerstände vor allem in den Bereichen verstärkt haben, die schon in den letzten Jahren durch funktionale Schwächen geprägt waren. Sie konzentrieren sich also (bislang) weniger auf die zentralen Einkaufsbereiche der Zent-

ren, sondern sind vor allem in Nebenlagen zu nden, teilweise auch in den oberen Geschossen von Shopping-Centern.

Entsprechend hat sich in den meisten Fallstudien die Verkaufs äche im jeweiligen Betrachtungszeitraum verringert, auch die Anzahl der Einzelhandelsbetriebe ist rückläu g. Lediglich in der Berliner Schlossstraße und in der Innenstadt von Hildesheim haben die Einzelhandels ächen durch die Neuerö nung von zwei Shopping-Centern (Berlin-Boulevard und Arnekengalerie) im Betrachtungszeitraum erheblich zugenommen. In den dezentral gelegenen Fachmarktzentren ist die Angebotssituation hingegen wesentlich stabiler.

Sehr häu g sind die Herausforderungen und Chancen für die innenstädtische gewerbliche Nutzung in den unterschiedlichen Städten vergleichbar. In der Regel sind die Haupteinkaufsbereiche vor allem durch Einzelhandel geprägt, der wiederum in den größeren Städten von Filialisten dominiert wird. Die Nebenlagen der Innenstädte sind in der Regel auch in den Erdgeschosszonen sehr viel stärker durchmischt. Dort haben sich häu g inhabergeführter Einzelhandel, Handwerk,

Tab. 2: Entwicklung des Einzelhandels im Zeitverlauf – Verkaufs äche und Anzahl der Betriebe

 Positive Entwicklung  Negative Entwicklung

 Stagnierende/nicht eindeutige Entwicklung

Quelle: eigene Zusammenstellung/Erhebung

STADTFORSCHUNG UND STATISTIK 2|20235 Schwerpunkt Innenstadt – Facetten einer Bestandsaufnahme
Stadt Standort JahrVerkaufs äche Betriebe Leerstandsquote Handelsnutzungen in m2 EntwicklungAnzahlEntwicklungin %Entwicklung Berlin Rheinstraße/Bundesallee 2008 2015 2021 2022 20.500 20.500 20.500 21.500  182 185 138 124  12,1 11,9 6,1 11,4  Schloßstraße 2008 2015 2021 2022 102.000 99.700 112.700 121.200  301 285 285 261  9,9 7,2 17,2 18,7  Bernburg (Saale) Innenstadt 2006 2016 2022 13.000 15.400 12.900  130 138 104  10,3 23,3 21,8  PEP Bernburg 2006 2016 2022 22.400 24.200 19.300  10 10 9  44,4 37,5 0,0  Bochum Innenstadt 2006 2010 2022 94.400 100.000 81.000  506 475 388  11,5 14,4 11,8  SO Ruhrpark 2006 2010 2022 64.100 60.800 62.900  95 92 126  0,0 3,3 3,8  Hildesheim Innenstadt 2008 2015 2022 62.189 79.000 71.400  379 381 287  k. A. k. A. 18,2 k. A. SO Bavenstadter Straße 2008 2015 2022 38.700 37.400 36.300  23 26 22  k. A. k. A. 4,3 k. A. Ilmenau Innenstadt 2011 2019 2022 22.900 20.200 18.500  134 109 88  10,1 16,8 15,4  Landau in der PfalzInnenstadt 2000 2009 2020 2022 51.000 47.500 43.400 35.000  280 290 259 230  9,3 7,9 8,2 17,6 

Gastronomie, unterschiedliche Dienstleistungen und je nach Stadtgröße auch kulturelle und kreative Nutzungen angesiedelt. Unterschiedliche sozio-ökonomische Rahmenbedingungen in der Region, die Stadtgröße und der Umgang mit neuen Einzelhandelsansiedlungen in der Vergangenheit können aber auch dazu führen, dass sich die räumlichen und funktionalen Voraussetzungen in den jeweiligen Innenstädten sehr stark unterscheiden. Das prägt auch die Nutzungsvielfalt in den jeweiligen Innenstädten.

Landau in der Pfalz zählt zum Beispiel zu den sich dynamisch entwickelnden Mittelzentren. Die Innenstadt ist durch einen historischen Altstadtkern gekennzeichnet und besitzt eine hohe Ausstrahlungskraft. Der Kommune ist es gelungen, Konkurrenzstandorte auf der grünen Wiese zu vermeiden und den Einzelhandel auf das Zentrum zu konzentrieren. Dies trug bislang dazu bei, dass die Leerstände vergleichsweise gering waren (Tab. 2). Obwohl im Allgemeinen die Leerstände während und nach der Pandemie zugenommen haben, ist zu beobachten, dass die Passantenfrequenzen in der Innenstadt nach der Pandemie wieder deutlich zugenommen haben und das vorpandemische Niveau im Grunde wieder erreicht werden konnte. Unsere Erhebungen zeigen aber auch, dass der Einzelhandelsbestand trotzdem abgenommen hat. Das ist im

Fall von Landau in der Pfalz allerdings zu einem großen Teil auf die Schließung eines Kaufhof-Standortes und den Wegfall von zwei weiteren großen Einzelhandelsbetrieben zurückzuführen. Mittlerweile haben neue Entwicklung (u.a. im Bereich Ufersche Höfe) stattgefunden, so dass die Situation trotz der allgemein schwierigen Rahmenbedingungen in Landau in der Pfalz als verhältnismäßig stabil betrachtet werden kann. Die Einzelhandelsnutzung nimmt in Landau in der Pfalz aber auch im Vergleich zum Durchschnitt aller sechs betrachten Fallstudienstädte mit rund 31 Prozent eine verhältnismäßig geringe Rolle am innerstädtischen Nutzungsmix ein. Daneben besitzt das Wohnen in der Innenstadt eine verhältnismäßig große Bedeutung (Abb. 2).

Bochum besitzt im Gegensatz dazu als Oberzentrum einen wesentlich größeren Einzugsbereich, der deutlich über die eigenen Stadtgrenzen hinausgeht (Abb. 3). Gleichzeitig ist die Ruhrgebietsstadt von zahlreichen Konkurrenzstandorten umgeben, die die Entwicklung der innerstädtischen Versorgungsfunktion erschweren. Außerdem ist die ökonomische Entwicklungsdynamik in Bochum eher durchschnittlich. Neben der Innenstadt ist der „Ruhrpark“ als Einkaufs- und Freizeitdestination im Ruhrgebiet anerkannt und besitzt eine weitreichende Versorgungsfunktion. Dies hat schon lange

Quelle: Junker + Kruse, Unternehmenserhebung März/April 2022; Kartengrundlage: © OpenStreetMap-Mitwirkende CC BY-SA 2.0 (www.openstreetmap.org/copyright)

6 STADTFORSCHUNG UND STATISTIK 2|2023 Schwerpunkt Innenstadt – Facetten einer Bestandsaufnahme
Abb. 2: Bestandsaufnahme Landau in der Pfalz – Innenstadt

Abb. 3: Bestandsaufnahme Bochum – Innenstadt und Sonderstandort Ruhrpark

Quelle: Junker + Kruse, Unternehmenserhebung März/April 2022; Kartengrundlage: © OpenStreetMap-Mitwirkende CC BY-SA 2.0 (www.openstreetmap.org/copyright)

STADTFORSCHUNG UND STATISTIK 2|20237 Schwerpunkt Innenstadt – Facetten einer Bestandsaufnahme

vor der Pandemie dazu geführt, dass sich sowohl die Anzahl der Einzelhandelsbetriebe als auch die Verkaufs ächen in der Innenstadt rückläu g entwickelten. Entsprechend lag auch die Leerstandsquote in der Innenstadt bereits vor der Pandemie mit rund 14 Prozent auf einem leicht überdurchschnittlichen Niveau. Demgegenüber ist das Einkaufszentrum „Ruhrpark“ durch eine wesentlich höhere Stabilität gekennzeichnet. Umstrukturierungen und Modernisierungen des Standortes und des Geschäftsbesatzes haben dazu beigetragen, dass sich der „Ruhrpark“ als Einkaufs- und Freizeitdestination behaupten konnte. Entsprechend gering sind dort die Leerstandsquoten (Tab. 2), obwohl der Einzelhandel mit rund 79 Prozent dort vergleichsweise stark vertreten ist.

Nachfrageseite – Der Blick von Bürgerinnen und Bürgern auf Innenstädte

Bedeutung der Innenstadt

Der Blick der Bürgerinnen und Bürger bestätigt über alle sechs Fallstudien hinweg, dass Einzelhandel und Gastronomie nach wie vor eine große Bedeutung für die Innenstadt besitzen (Abb. 4). Auf die Frage, was für die Bürgerinnen und Bürger attraktive Innenstädte ausmachen, werden von 81 Prozent der Befragten gastronomische Betriebe genannt, 77 Prozent nennen den Einzelhandel. Unsere Befragungsergebnisse verdeutlichen zudem, dass auch anderen Aspekten wie „Sauberkeit und Sicherheit“ (76 %) „Attraktive ö entliche Räume“ (71 %), „attraktives Stadtbild/Architektur“ (66 %) und „Kulturangeboten“ (51%) eine große Bedeutung beigemessen wird. Auch das Thema Erreichbarkeit wird mit seinen unterschiedlichen Schwerpunkten als wichtiges Merkmal für die Attraktivität der Innenstädte genannt. Weniger wichtig sind aus Sicht der befragten Personen „Spiel- und Sportmöglichkeiten für Kinder und Erwachsene“ (31%) und „eine große Anzahl an Wohnungen“ in der Innenstadt (15%).

Eine vergleichbare Tendenz ergibt sich bei der Frage nach dem Besuchsgrund für die Innenstadt (Abb. 5). Für die meisten Befragten ist der Hauptgrund für den Weg in die Innenstadt nach wie vor das Einkaufen (84%), gefolgt von gastronomi-

schen Angeboten (Café, Restaurant, Imbiss, Bar, Kneipe; 72 %). Außerdem sind Stadtfeste, besondere Events und Märkte für Viele ein Grund, die Innenstadt aufzusuchen (52%). Dienstleistungsangebote wie Banken/Sparkassen, Arztbesuche und ö entliche Verwaltungen stellen ebenso wie die Nutzung kultureller Angebote oder das Spazieren gehen/Verweilen weitere wichtige Gründe dar (zwischen 49 und 35%). Gravierende Abweichungen zeigen sich zwischen den sechs untersuchten Städten kaum.

Quelle: eigene Befragung. Frage: Was macht für Sie grundsätzlich eine attraktive Innenstadt aus? Geschlossene Frage mit vorgegebenen Antwortkategorien. Mehrfachnennungen möglich. N=1.980, 14.034 Nennungen. Alle sechs Fallstudienstädte aggregiert. Kategorien unter 15 Prozent nicht abgebildet.

Quelle: eigene Befragung, Frage: Zu welchem Zweck besuchen Sie hauptsächlich die Innenstadt von …? Geschlossene Fragen mit Antwortkategorien. Mehrfachnennungen möglich. N=1.731, 10.689 Nennungen. Alle sechs Fallstudienstädte aggregiert. Kategorien unter 15 Prozent nicht abgebildet.

Einkaufsverhalten

Die Bedeutung des Online-Handels spielt in fast allen Warensortimenten eine große Rolle (Abb. 6). Die befragten Personen geben bei der Wahl des Einkaufsortes gerade auch bei den typischen Innenstadtsortimenten wie Bekleidung/Fashion, Schuhe, Sportartikel und Unterhaltungsartikel an, diese zu einem großen Anteil im Internet einzukaufen. Für den OnlineEinkauf wird zu mehr als einem Drittel (70 %) auf Internetplattformen großer Anbieter, wie Amazon, Zalando, Otto oder auf die eigenen Plattformen großer Filialisten zurückgegri en. Lokale Plattformen oder Online-Einkaufsmöglichkeiten kleiner Geschäfte werden von 27 Prozent der Befragten genutzt.

Zwischen den sechs Fallstudien zeigen sich aber auch einige Unterschiede: Die hohe urbane Dichte in Berlin und die große Bedeutung der polyzentralen Berliner Stadtteilzentren führen dazu, dass viele Befragte an anderen Standorten innerhalb der Stadt (außerhalb des untersuchten Zentrums) einkaufen. Der Anteil des Online-Einkaufs liegt in den größeren Städten Berlin und Bochum unterhalb des Durchschnitts der Fallstudienstädte, während er in den kleineren Städten Bernburg (Saale) und Ilmenau tendenziell über dem Durchschnitt liegt.

Ein uss der COVID-19-Pandemie auf das Einkaufsverhalten

Die COVID-19-Pandemie hatte deutliche Auswirkungen auf den stationären Einzelhandel und das Konsumverhalten. Sie führte zu rückläu gen Passantenfrequenzen in Innenstädten und zu einem stärkeren Anstieg des Online-Einkaufs. Mittler-

8 STADTFORSCHUNG UND STATISTIK 2|2023 Schwerpunkt Innenstadt – Facetten einer Bestandsaufnahme
Abb. 4: Online-Befragung – Attraktivität der Innenstädte Abb. 5: Online-Befragung – Besuchsgrund Innenstadt

Abb.

Quelle: eigene Befragung: Frage: Wo Kaufen Sie …? Geschlossene Frage mit vorgegebenen Antwortkategorien. P ichtfrage mit bis zu 3 Antworten pro Warengruppe. N=1.980, 36.967 Nennungen

Abb.

Quelle: eigene Befragung: Frage: Hat sich das Einkaufsverhalten durch die Corona-Pandemie verändert? N=1.749

weile ist der Online-Anteil am gesamten Einzelhandelsumsatz über alle Branchen auf rund 13 Prozent angestiegen, gerade in den innenstadttypischen Branchen Bekleidung und Unterhaltungselektronik liegen die Anteile mit rund 43 bzw. 40 Prozent sogar noch deutlich über diesem Durchschnitt (HDE 2023: 10; 14). Auch wenn die aktuellen Trends zeigen, dass die Passantenfrequenzen in den großen deutschen Städten mittlerweile

wieder das vorpandemische Niveau erreicht haben, konnten die Erhebungen in den Fallstudienstädten bestätigen, dass die Anzahl der Geschäfte weiter abgenommen hat.

Wie sich das Einkaufsverhalten der Nutzerinnen und Nutzer weiter verändern wird, das heißt, ob der Trend zum OnlineEinkauf sich weiter verfestigt, kann zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht abschließend beurteilt werden. Unsere Befragung

STADTFORSCHUNG UND STATISTIK 2|20239 Schwerpunkt Innenstadt – Facetten einer Bestandsaufnahme
6: Online-Befragung – Einkaufsorte ausgewählter Warengruppen 7: Online-Befragung – Einkaufsverhalten und Corona-Pandemie

kann aber einige Hinweise zur Veränderung der Konsumgewohnheiten geben (Abb. 7). So haben knapp die Hälfte der Befragten angegeben („tri t zu“ und „tri t teils zu“), seltener als vor der Pandemie die Innenstadt aufzusuchen. Andererseits geben 72 Prozent an, seit der Pandemie gezielt lokale Geschäfte und das lokale Gewerbe in der Innenstadt zu unterstützen.

Der Service von Click & Collect spielt bislang eine vergleichsweise geringe Rolle (22% „tri t zu“ und „tri t eher zu“). Bei der Zustellung der online bestellten Ware dominiert bei den befragten Personen deutlich der Wunsch, die Ware direkt nach Hause zugestellt zu bekommen (62%), Packstationen (20 %) oder Paketshops (8%) spielen eine deutlich geringere Rolle. Für die Rückgabe online bestellter Waren hingegen sind Paketshop/Post lialen der meist genannte Wunschort (44 %), die eigene Wohnung wird von 25 Prozent der Befragten genannt, Packstationen von 23 Prozent.

Die Pandemie hat nicht nur die Konsumgewohnheiten verändert, auch der Arbeitsalltag hat sich durch die Kontaktbeschränkungen und die Beschleunigung der Digitalisierung weiterentwickelt. Es arbeiten mittlerweile mehr Menschen in Deutschland von zu Hause, aus dem sogenannten Homeo ce, als vor der Pandemie. In der Befragung geben dies 30 Prozent an. Von diesen 30 Prozent geben wiederum rund 25 Prozent der Befragten an, dadurch mehr Angebote in Wohnortnähe (Einzelhandel, Gastronomie, Co-Working etc.) zu nutzen, das sind bezogen auf die Grundgesamtheit immerhin ca. acht Prozent der Befragten. Wir gehen allerdings davon aus, dass davon wiederum ein Großteil eher einen bis maximal drei zusätzliche Tage im Homeo ce verbringt (und nicht fünf). Das bedeutet für die Quartierszentren, dass durch das vermehrte Homeo ce zwar ein positiver E ekt zu erwarten ist, er dürfte aber auf einem recht geringen Niveau verbleiben. In den Großstädten (Berlin, Bochum und Hildesheim) liegen die Homeo ce-Anteile allerdings etwas höher, hier könnten sich positive E ekte durch das Homeo ce eher einstellen. Insgesamt bestätigen die Befragungsergebnisse, dass die Vielfachkrisen der vergangenen Jahre die Veränderungen in den Innenstädten beschleunigt haben. Geschäftsleerstände und rückläu ge Betriebszahlen sind in allen untersuchten Fallstudien erkennbar, allerdings in geringerem Maße als zu Beginn der Pandemie von vielen Expertinnen und Experten befürchtet. Nach wie vor – dies belegen die durchgeführten Befragungen – erfahren der Handel und das Einkaufen in Innenstädten und Zentren einen hohen Stellenwert, der zunehmend durch andere Nutzungen ergänzt wird. Zudem belegen bundesweite Untersuchungen die hohen Frequenzzahlen. Es scheint also ein Bedürfnis zu geben, sich in den Zentren zu tre en, auch abseits von Einzelhandel und Gastronomie.

Angebotsseite – Der Blick der Gewerbetreibenden auf die Innenstädte

Digitalisierung und Online-Handel

Die Gewerbebefragung zeigt, dass die Digitalisierung im stationären Gewerbe (noch) nicht sehr weit vorangeschritten und unterschiedlich stark ausgeprägt ist. Zwar geben circa 99 Prozent der Gewerbetreibenden an, dass ihr Unternehmen

im Internet au ndbar ist, die Qualität des digitalen Auftritts unterscheidet sich jedoch deutlich. Rund 30 Prozent der Unternehmen haben eine eigene Homepage, allerdings besitzen nur rund acht Prozent einen Webshop und nur rund drei Prozent vertreiben ihre Produkte und/oder Dienstleistungen über überregionale Internetplattformen (wie Google/Amazon). Lediglich rund 20 Prozent der Unternehmen bieten die Möglichkeit von Click & Collect an und nur circa zehn Prozent können auf ein digitales Warenwirtschaftssystem zurückgreifen.

Wenn von den Gewerbetreibenden ein Online-Marktplatz genutzt wird, ist zu beobachten, dass das Gros der Befragten (92 %) hier auf überregionale Plattformen (Amazon, Ebay, etc.) setzt. Regionale Plattformen besitzen eine untergeordnete Bedeutung.

Zu Beginn der Pandemie Anfang 2020 haben die meisten Unternehmen ihre wirtschaftliche Situation recht zuversichtlich eingeschätzt (Abb. 8). Der überwiegende Teil der befragten Unternehmen hat seine eigene Umsatzentwicklung bis 2019 als ausgeglichen bzw. leicht positiv beschrieben. Das hat sich erwartungsgemäß mit dem Beginn der Pandemie grundlegend geändert. Seitdem haben sich für rund 80 Prozent der an der Befragung teilgenommenen Unternehmen die Umsätze in der Tendenz eher negativ entwickelt. Auch der in vielen Betrieben beginnende Online-Verkauf konnte die Umsatzrückgänge nicht kompensieren.

Der Großteil der Unternehmen (rund 80 %) gibt als Grund für den Umsatzrückgang die Kontaktbeschränkungen durch die Pandemie an. Der Anteil der Unternehmen, die ihre Umsatzrückgänge auf die allgemeine Online-Konkurrenz zurückführen, ist mit rund 15 Prozent wesentlich geringer. Trotzdem wird auch in diesen Zahlen die wachsende Bedeutung des Online-Handels sichtbar.

Bei den befragten Unternehmen herrschte im Frühsommer 2022 nach wie vor eine sehr unsichere Stimmung. Hier wirken neben der Pandemie auch die Energiekrise, die In ation und der Ukraine-Krieg. Entsprechend werden auch die Zukunftschancen – unabhängig vom Standort – eher als schwierig, bestenfalls als durchschnittlich, eingeschätzt. Passend dazu wird als Durchschnittsnote über alle Geschäftsbereiche und Fallstudiengebiete hinweg von den knapp 230 befragten Unternehmen lediglich die Schulnote 3 vergeben. Entsprechend fallen auch die Antworten zu Investitionen in naher Zukunft aus. Hier gibt lediglich rund die Hälfte der Unternehmen an, in naher Zukunft bedeutende Investitionen tätigen zu wollen.

Das Themenfeld Verkehr und Logistik nimmt bei den befragten Gewerbetreibenden einen besonderen Stellenwert ein. Damit ist zum einen die Erreichbarkeit durch die Kundinnen und Kunden und zum anderen die Belieferung mit Waren gemeint. Besonders für Einzelhandel, verschiedene Dienstleistungs- und Handwerksbetriebe kann eine gute Parkplatzsituation ein entscheidender Standortfaktor sein, die Verbesserung der Stellplatzsituation wird von vielen Gewerbetreibenden deshalb häu g als Verbesserungsvorschlag genannt. Das gilt insbesondere für die innenstädtischen Gewerbebetriebe, deren Anlieferung (teilweise auch in einer Fußgängerzone) bei fehlenden Lieferzonen eine wesentlich größere Herausforderung darstellt.

10 STADTFORSCHUNG UND STATISTIK 2|2023 Schwerpunkt Innenstadt – Facetten einer Bestandsaufnahme

Quelle: eigene Befragung, Frage: Haben sich gegenüber der Zeit vor der Corona-Pandemie Ihre Umsätze verändert?

Bitte geben Sie eine Tendenz an. Jährliche Umsatzentwicklung bis 2019 und seit 2020 (alle Umsätze, stationär und digital zusammen). N

Fazit und Ausblick

Insgesamt bestätigen unsere Befragungsergebnisse in vielen Bereichen die Ergebnisse anderer Untersuchungen und die Aussagen verschiedener Expertinnen und Experten, die im Rahmen der Untersuchung kontaktiert worden sind. Der Einzelhandel und das Gastronomiegewerbe, aber auch alle anderen zentrena nen Nutzungen sind durch die trendbeschleunigende Wirkung der COVID-19-Pandemie in eine Krise geraten, die sie allerdings deutlich besser meistern konnten, als es von vielen Expertinnen und Experten zu Beginn der Pandemie vorhergesagt wurde. Aktuell führen jedoch In ation, Energiekrise, Ukraine-Krieg, Zinswende und Fachkräftemangel dazu, dass sich die latente Krisensituation der Innenstädte zu verstetigen scheint. Gerade die Befragungsergebnisse der Gewerbetreibenden machen deutlich, dass sich viele Betriebe in einer schwierigen Situation be nden und die Zukunftsaussichten als unsicher eingeschätzt werden.

Die Innenstädte haben sich in der Vergangenheit ständig verändert, sie werden es auch in Zukunft tun. Es deutet sich an, dass in vielen kleinen und mittelgroßen Städten die Zentrenfunktion insbesondere durch den Rückgang des typischen innenstadtrelevanten Einzelhandels (u. a. Bekleidung, Schuhe) geschwächt wird. Entsprechend dürften sich auch die B-Lagen und Randlagen der größeren Städte in naher Zukunft deutlich verändern. In vielen Shopping-Centern werden bereits heute deutliche Umstrukturierungsprozesse sichtbar. Wir gehen aber

davon aus, dass für viele Innenstädte die aktuelle Krise ebenso eine Chance sein kann, auch (oder gerade weil) sich der stationäre Handel und das innenstädtische Nutzungsgefüge weiter verändern werden: Die Einzelhandels ächen werden in der Tendenz kleiner werden, die Mischung der unterschiedlichen Nutzungen wird sich weiter verstärken und neue (auch kreative) Konzepte besitzen das Potenzial, die Innenstädte im positiven Sinn zu verändern und zu stabilisieren. Durch die neue Aufmerksamkeit für die Innenstädte ergibt sich auch die Chance, den Blick nicht nur auf die Haupteinkaufsbereiche zu richten, sondern das Potenzial der Nebenlagen und der oberen Geschosse stärker in den Blick zu nehmen. Hier ergeben sich durch geringere Mieten unter Umständen auch große Chancen für neue Nutzungen oder für Nutzungen, die in den letzten Jahren wegen der hohen Mieten und anderen Standortanforderungen eher Standorte außerhalb der Innenstädte präferiert haben. Unsere Befragungen machen zudem deutlich, dass der stationäre Einzelhandel und die Gastronomie nach wie vor die wesentlichen Gründe zum Besuch der Innenstädte sind und als wesentlicher Treiber für eine attraktive Innenstadt angesehen werden. Das dürfte für viele attraktive Innenstädte auch in Zukunft so bleiben.

Schon jetzt zeigen viele Beispiele, dass neue Akteure in den Fokus geraten und die Innenstädte mitgestalten. Das „Kreativhaus Eimsbüttel“, das „Neue Amt Altona“ oder die Genossenschaften „fux“ und der „Gröninger Hof“ in Hamburg, der „Klunkerkranich“ in Berlin, das „Core“ in Oldenburg oder das

STADTFORSCHUNG UND STATISTIK 2|202311 Schwerpunkt Innenstadt – Facetten einer Bestandsaufnahme
Abb. 8: Online-Befragung – jährliche Umsatzentwicklung vor (2019) und seit Beginn der Pandemie (2020)
Fallstudienstädte
4% 4% 11% 19% 16% -7% -4% -4% -7% -20% -10% 0% 10% 20% > + 30 % pro Jahr + 20 bis + 30 % pro Jahr + 10 bis + 20 % pro Jahr < + 10 % pro Jahr Keine Veränderung < - 10 % pro Jahr - 10 bis - 20 % pro Jahr - 20 bis - 30 % pro Jahr > - 30 % pro Jahr Zunahme Abnahme Umsatzentwicklung bis 2019 3% 5% 7% 10% 15% -9% -9% -11% -12% -20% -10% 0% 10% 20% > + 30 % pro Jahr + 20 bis + 30 % pro Jahr + 10 bis + 20 % pro Jahr < + 10 % pro Jahr Keine Veränderung < - 10 % pro Jahr - 10 bis - 20 % pro Jahr - 20 bis - 30 % pro Jahr > - 30 % pro Jahr Abnahme Umsatzentwicklungab 2020 Zunahme
= 139. Alle sechs
aggregiert.

„Grätzl-Hotel“ und das Gewerbe „Hut und Stiel“ in Wien sind nur einige wenige Beispiele für diese neuen Entwicklungsansätze. Auch die Mobilitätswende bietet ein großes Potential, die Innenstädte in ihrer Vielfältigkeit wieder mehr als Versorgungs-, Arbeits-, Aufenthalts- und Lebensorte zu begreifen als es in den vergangenen Jahren vielerorts in Deutschland der Fall gewesen ist. Paris und Barcelona sind dafür vielleicht gute Beispiele.

Schließlich unterstreichen die Zwischenergebnisse unserer Untersuchung auch, dass die europäische Innenstadt in vielen Bereichen robuster ist als von vielen Fachleuten

zu Beginn der COVID-19-Pandemie befürchtet wurde. Dazu trägt auch das Bedürfnis der Stadtbewohner bei, einen Ort des physischen Zusammenkommens zu haben. Es zeigt sich, dass die Innenstadt nach wie vor der prägende städtische Raum, die Bühne und der Repräsentationsraum der Stadtgesellschaft ist. Deshalb wird es in Zukunft wichtig sein, den stationären Einzelhandel als Frequenzbringer weiter zu unterstützen und den anstehenden Entwicklungsprozess zu gestalten. In welcher Form, mit welchen Akteuren und mit welchen nanziellen Ressourcen, das wird noch „verhandelt“ werden müssen.

Literatur

Anders, Sascha; Kreutz, Stefan; Krüger, Thomas (2020): Corona und die Folgen für die Innenstädte. In: Informationen zur Raumentwicklung (IzR), Themenheft: Corona und die Stadtentwicklung – Neue Perspektiven in der Krise? Jg. 47 (4), S. 56–67

Anders, Sascha; Krüger, Thomas (2018): Neue Herausforderungen für die Zentren. Wie sich Innenstadt und Stadtteilzentren in Hamburg weiterentwickeln könnten. In: Hamburgische Architektenkammer (Hrsg.) (2018): Architektur in Hamburg. Jahrbuch 2018/2019, S. 158–163.

BBSR – Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung (Hrsg.) (2022): Innenstädte transformieren! Schriftenreihe Informationen zur Raumentwicklung (IzR), Jg. 49 (2). Bonn. BBSR (2021): Forschungsprojekt: Auswirkungen der COVID-19-Pandemie und des OnlineHandels auf den Einzelhandel in Städten, Gemeinden und Regionen, insbesondere in den Zentren; https://www.bbsr.bund.de/ BBSR/DE/forschung/programme/exwost/ Studien/2021/innenstadt-online-handel/01start.html

BMVBS – Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (Hrsg.) (2011): Weißbuch Innenstadt. Bonn/Berlin.

CIMA 2022: Cima.Monitor. Deutschlandstudie Innenstadt. Kennzi ern, Trends und Erwartungen. München.

Deutscher Städtetag (2021): Zukunft der Innenstadt. Entwurf eines Diskussionspapiers. Berlin/Köln. Häußermann, Hartmut; Läpple, Dieter; Siebel, Walter (2008). Stadtpolitik. Frankfurt am Main. HDE – Handelsverband Deutschland (Hrsg.) (2023): Online-Monitor 2023. Berlin.

12 STADTFORSCHUNG UND STATISTIK 2|2023 Schwerpunkt Innenstadt – Facetten einer Bestandsaufnahme

Sinkende Einzelhandelsmieten in Innenstädten Ausdruck der Krise oder Chance für Wiederbelebung?

Die typische Fußgängerzone war lange Zeit durch Kauf- und Warenhäuser, später dann durch innerstädtische Einkaufszentren geprägt. Um solche Fixpunkte gruppierten sich viele andere Einzelhandelsbetriebe. Nutzungen wie Wohnen wurden dagegen in andere Bereiche der Stadt verlagert. Solche Strukturen funktionieren heute immer weniger. Der Beitrag zeigt, dass es konkrete Anzeichen für eine nachlassende Attraktivität der Innenstädte gibt und dass Marktanpassungsprozesse, sinkende Einzelhandelsmieten und zunehmende Leerstände nicht nur in Großstädten, sondern auch in Mittel- und Kleinstädten zu beobachten sind. Es stellt sich die Frage, ob sinkende Mieten nicht nur als Ausdruck der Krise, sondern auch als Chance für die Wiederbelebung der Innenstädte angesehen werden können und ob neue Nutzungen zu einer Nutzungsmischung führen.

Die Innenstädte haben durch den anhaltenden und umfassenden Strukturwandel erhebliche Funktionsverluste erlitten. Die Auswirkungen des veränderten Kaufverhaltens, aber auch die zunehmende Homogenität der innerstädtischen Angebote tre en die Innenstädte und Stadtteilzentren besonders intensiv. Die krisenhafte Entwicklung des innerstädtischen Einzelhandels kann bereits seit Jahren beobachtet werden, sie hat sich mit der Pandemie jedoch verschärft. Die Zahl der Insolvenzen hat zuletzt deutlich zugenommen und es ist davon auszugehen, dass sich diese Entwicklung in den kommenden Monaten fortsetzen wird. Geringeren Umsätzen stehen höhere Kosten gegenüber, so dass sich der ohnehin hohe Druck auf die Einzelhändler*innen weiter verschärft hat. Viele Gewerbemieter*innen haben Schwierigkeiten, ihre Mieten zu zahlen, so dass den Innenstädten ein hoher Leerstand droht, der Vermietende und Mietende gleichermaßen tri t und die Politik nach Lösungen zur Revitalisierung der Innenstädte suchen lässt.

Lagerente, Digitalisierung und Wandel der Innenstädte

Dr. Kati Volgmann

seit 2009 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Landes- und Stadtentwicklungsforschung gGmbH in Dortmund : kati.volgmann@ils-forschung.de

Frank Osterhage

seit 2002 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Landes- und Stadtentwicklungsforschung gGmbH in Dortmund : frank.osterhage@ils-forschung.de

Schlüsselwörter:

Einzelhandelsmieten – Leerstand – Innenstadt –Wiederbelebung – Nutzungsmischung

In den vergangenen Jahrzehnten hat der Einzelhandel in vielen Innenstädten eine prägende und zuweilen dominante Rolle eingenommen. Um die räumliche Verteilung von Nutzungen in Städten und insbesondere in ihren Zentren zu erklären, wird in der Stadtforschung auf Bodenrentenmodelle zurückgegri en (Alonso 1964). Solche Modelle beruhen auf zwei grundlegenden Prinzipien. Zum einen bezeichnet der Begri der Lagerente (auch Boden- oder Grundrente) den Nettogewinn, den eine Fläche allein aufgrund eines bestimmten Standortes abwirft, unabhängig vom Einsatz weiterer Faktoren wie dem Sach- oder Humankapital. Zum anderen wird von Bodenpreisüberbietungen durch konkurrierende Nutzungen ausgegangen, die eine Nachfrage nach Flächen auslösen. Entscheidend für die Höhe der Lagerente ist nach den Modellen in erster Linie die Entfernung zum Stadtzentrum. Die hohe Erreichbarkeit von zentralen Lagen verspricht demnach für viele Nutzungen besondere Vorteile. In den einfachen Formen der Bodenrentenmodelle ordnen sich die Nutzungen gemäß ihrer Zahlungskraft ringförmig um das Stadtzentrum an (Heineberg 2022: 120 .). Werden weitere Ein ussgrößen wie die Qualität der Verkehrsanbindung oder des Wohnumfeldes berücksich-

STADTFORSCHUNG UND STATISTIK 2|202313 Schwerpunkt Innenstadt – Facetten einer Bestandsaufnahme

tigt, ergeben sich komplexere räumliche Strukturen. Zudem di erenzieren einige Modellerweiterungen zwischen den Geschossen in einem Gebäude. Der Einzelhandel wird in den Modellen häu g als die Nutzung dargestellt, die im Stadtzentrum die höchste Zahlungskraft aufweist (Abb. 1).

Abbildung 1: Einzelhandel als zentrale Nutzung in Bodenrentenmodellen

auch der Preis. In Bezug auf die Auswahl muss festgestellt werden, dass kein noch so großer Geschäftsbereich mit der nahezu grenzenlosen Größe des im Internet vorhandenen Angebots mithalten kann. Auch die Gewissheit, gesuchte Waren tatsächlich zu nden und zu erhalten, ist im Internet in der Regel größer als bei einem physischen Einkaufsort. Zudem entfällt für die Kund*innen die Last der Raumüberwindung, was den Online-Einkauf in vielen Fällen so schnell und bequem macht. Carmora leitet daraus die Schlussfolgerung ab, dass das Zentralitätsparadigma durch eine konsequente Ausrichtung auf die „place quality“ (Carmora 2022: 30) abgelöst wird.

Quelle: nach Heineberg 2022: 122

Für viele Einzelhandelsbetriebe ist es demnach o ensichtlich trotz hoher Bodenpreise besonders vorteilhaft, sich an möglichst zentralen Standorten anzusiedeln. Untersuchungen zum Kaufverhalten und zur Einkaufsstättenwahl, ein klassisches Feld der geographischen Handelsforschung, decken die Gründe hierfür auf (Popp 2020). Im Bereich des stationären Einzelhandels spielt vor allem die Abwägung zwischen Distanz und Attraktivität eine zentrale Rolle, wobei die Attraktivität unterschiedliche Aspekte wie Auswahl, Preis oder Service umfasst (Hu 1964; Kagermeier 1991). Die Konzentration von Handelsangeboten, die über den alltäglichen Bedarf hinausgehen, hat Menschen lange Zeit in die Innenstädte gelockt. Sie verbinden den Besuch des Stadtzentrums mit der Erwartung, die gesuchten Waren in einer gewissen Auswahl vorzu nden, gegebenenfalls verschiedene Optionen miteinander zu vergleichen und sich für die am besten erachtete Alternative zu entscheiden. Hinzu kommt der Mehrwert, der sich durch die Möglichkeit ergibt, verschiedene Einkäufe oder weitere Erledigungen an einem Ort zu koppeln. Attraktivität wird somit nicht nur über Größe und Vielfalt des einzelnen Betriebs, sondern des gesamten Geschäftsbereichs mit seinen zentrenbildenden Nutzungen erzielt (Popp 2020).

Mit der zunehmenden Verbreitung des Onlinehandels sind die skizzierten Wirkungszusammenhänge ins Wanken geraten. Die Frage der Einkaufsstättenwahl wird um die Wahl des Einkaufskanals erweitert (Neiberger et al. 2020). Vor diesem Hintergrund identi ziert Carmona (2022) mit dem sogenannten SUN-Modell neun relevante Faktoren für die Entscheidung der Kund*innen im digitalen Zeitalter. Vier von diesen Punkten werden als maßgeblich dafür angesehen, dass der Onlinehandel eine disruptive Wirkung auf die Handelslandschaft entfalten konnte: Bequemlichkeit, Auswahl, Gewissheit und

Damit werden wesentliche Mechanismen infrage gestellt, die bei Einzelhandelsnutzungen bisher zur Herausbildung einer besonders hohen Lagerente in Innenstädten beigetragen haben. In bestimmten Situationen und beim Einkauf bestimmter Waren ist der Einkauf über das Internet für viele Menschen mittlerweile attraktiver. Das Wachstum der Verkaufs ächen, das in der Vergangenheit durch die Konkurrenz zwischen Betriebsformen und Kommunen angeheizt wurde, ist zum Erliegen gekommen (HDE 2022). Für innerstädtische Einzelhandelslagen zeichnet sich bereits seit einigen Jahren ein Verkaufs ächenüberhang und somit eine Verkleinerung der Verkaufs ächen ab (Stepper 2016). Gleichzeitig hat die Nachfrage des Onlinehandels nach Logistik ächen an verkehrsgünstig gelegenen Standorten außerhalb der Zentren spürbar zugenommen (CBRE 2021). Nach der Logik der Bodenrentenmodelle müssten die Mieten in den Innenstädten aufgrund dieser Entwicklungen sinken und andere Nutzungen könnten nach dem Prinzip der Bodenpreisüberbietungen zum Zuge kommen. In diesem Zusammenhang wird die Ho nung geäußert, dass es wieder zu einer stärkeren Vielfalt an Nutzungen kommen kann (Mensing et al. 2020).

Anknüpfend an solche Überlegungen ergeben sich folgende Fragestellungen, die in diesem Beitrag durch die Kombination verschiedener Datenquellen erörtert werden:

- Gibt es empirische Belege für eine nachlassende Anziehungskraft von Innenstädten als Einzelhandelsstandorte?

- Ist ein spürbarer Rückgang der Einzelhandelsmieten in Innenstädten in unterschiedlichen Lage- und Stadttypen zu beobachten?

- Inwieweit lässt sich anhand des aktuellen Wandels bereits eine Chance für eine neue Nutzungsmischung erkennen?

Nachlassende Anziehungskraft von Innenstädten

Die typische Fußgängerzone war lange Zeit durch Kauf- und Warenhäuser, später dann durch innerstädtische Einkaufszentren geprägt. Um solche Fixpunkte gruppierten sich viele andere Einzelhandelsbetriebe. Nutzungen wie Wohnen wurden dagegen in andere Bereiche der Stadt verlagert. Solche Strukturen funktionieren heute immer weniger. Die Attraktivität der Innenstädte als Handelsstandort hat vielerorts abgenommen. Dieser Attraktivitätsverlust wird durch die Passant*innenfrequenzen1 in Abbildung 2 unterstrichen. Für ausgewählte zentrale Einkaufsstraßen in Dortmund, Köln, Bielefeld und Wuppertal wird die Indexentwicklung (2. Halbjahr 2019 = 100) für die Halbjahre zwischen 2019 bis 2022 darge -

14 STADTFORSCHUNG UND STATISTIK 2|2023 Schwerpunkt Innenstadt – Facetten einer Bestandsaufnahme

stellt. Ausschläge nach unten zeigen die Monate im Lockdown 2020 und 2021. Nach den Lockdowns sind wieder punktuell höhere Passant*innenfrequenzen zu beobachten, die jedoch bis auf die Poststraße in Wuppertal nicht das Niveau vor der Pandemie erreichen.

Die Passant*innenfrequenzen können ein Indikator sein, wie sich Lagequalitäten verändern. Sind die Frequenzen am Westenhellweg Mitte und Ost in Dortmund an den Samstagen im Jahr 2020 auf einem vergleichbaren Niveau, geht die Spanne in den Halbjahren 2022 deutlich auseinander. Es kommt zu einer Abnahme der Lagequalität für den östlichen Westenhellweg. Ähnliche Trends zeigen sich bei den Frequenzen der beiden Bielefelder Einkaufsstraßen. Die Stresemannstraße als Einkaufsstraße mit Autoverkehr hat an Samstagen im Jahr 2022 deutlich weniger Passant*innen als die klassische Fußgängerzone in A-Lage Bahnhofstraße. Vor allem der NonFood-Handel ist von den niedrigen Frequenzen betro en und wird dauerhaft um rund -20% zurückgehen (HDE 23.05.2022).

Sinkender Preisindex für Einzelhandelsimmobilien

Der bereits vor Ausbruch der Coronapandemie begonnene Abwärtstrend bei den Mietpreisen für Einzelhandelsimmobilien setzt sich ab 2020 bis zum ersten Quartal 2023 fort (Abb. 3). Die Zahlen des Verbands deutscher Pfandbriefbanken (vdpPreisindex) belegen einen Rückgang der Neuvertragsmieten für Einzelhandelsimmobilien ab dem dritten Quartal 2018 bis

2023. Der Strukturwandel zu Lasten des stationären Einzelhandels, der durch die Lockdowns an Dynamik gewonnen hat, hält an. Mittlerweile sind es nicht nur die steigenden Marktanteile des Onlinehandels, die dem stationären Einzelhandel zu scha en machen. Hinzu kommen die vielfältigen Herausforderungen durch steigende Zinsen, In ation oder steigende Energiepreise, die das Konsumverhalten beein ussen und die Preise für Einzelhandelsimmobilien belasten.

Mietpreisrückgänge in unterschiedlichen Lage- und Stadttypen

Datengrundlage für die Analyse der Einzelhandelsmieten ist der IVD-Gewerbepreisspiegel2 des Immobilienverbands Deutschland, der für knapp 100 Städte (Groß-, Mittel- und Kleinstädte) in Nordrhein-Westfalen die bei Neuvermietungen erzielten Nettokaltmieten ausweist. Im Durchschnitt sind die Einzelhandelsmieten in den zentralen Lagen (A-Lagen) zwischen 2019 und 2022 um -11,3% für kleine Ladenlokale (ca. 60 qm) gesunken. In den Nebenlagen abseits der großen Einkaufsstraßen (B-Lage) liegen die Mietrückgänge hingegen nur bei -3,7%.

Zwischen den Städten zeigen sich au ällige Unterschiede und Trendverschiebungen auch zwischen den Einkaufslagen. Die Ausgangsmieten 2019 liegen in den A-Lagen der Großstädte um ein Vielfaches höher als für die B-Lagen und die Mittel- sowie Kleinstädte (Abb. 4). Diese Größenverhältnisse müssen bei der Bewertung der Entwicklung berücksichtigt

Abbildung 2: Indexentwicklung der Passant*innenfrequenz an Samstagen zwischen 9:00 bis 20:00 Uhr 2019–2022 (2. Halbjahr 2019 = 100; Daten bis 22.9.2022)

STADTFORSCHUNG UND STATISTIK 2|202315 Schwerpunkt Innenstadt – Facetten einer Bestandsaufnahme
eigene Darstellung, Datenquelle: hystreet.com

werden. Im Durchschnitt sinken die Einzelhandelsmieten in den Großstädten sowohl in den A- als auch in den B-Lagen in beiden Zeiträumen. Allerdings fallen die Mietpreisrückgänge in den A-Lagen bei großen und kleinen Flächen deutlich höher

aus als in den Nebenlagen. Letztere sind im Mittel weitgehend stabil. Marktanpassungsprozesse haben bereits vor der Pandemie eingesetzt und das Mietniveau nach unten korrigiert. Au ällig ist dagegen die Mietpreisentwicklung in den großen

Abbildung 3: Entwicklung des Preisindex für Einzelhandelsimmobilien bei Neuvertragsmieten in Deutschland nach Objekttyp 2016–2023 – Veränderung gegenüber dem Vorjahresquartal in Prozent

eigene Darstellung, Datenquelle: Deutsche Bundesbank, vdpResearch GmbH

Abbildung 4: Vergleich der jährlichen prozentualen Entwicklung der Einzelhandelsmieten (erzielte Nettokaltmiete) für kleine (ca. 60 qm) und große Laden ächen (ca. 150qm) di erenziert nach Stadtgröße und Innenstadtlage für 96 nordrhein-westfälische Städte, Referenz dazu Einzelhandelsmietpreise für 2019

eigene Darstellung, Datenquelle: IVD-Gewerbepreisspiegel

16 STADTFORSCHUNG UND STATISTIK 2|2023 Schwerpunkt Innenstadt – Facetten einer Bestandsaufnahme

Mittelstädten. Bereits 2021 sinken die Mieten in den zentralen Einkaufsstraßen und diese Entwicklung verstärkt sich im darau olgenden Jahr, auch für die Nebenlagen. Diese Städte durchlaufen im letzten Jahr o enbar einen starken Transformationsprozess. In den Kleinstädten und kleineren Mittelstädten sind ebenfalls leichte Mietpreiskorrekturen nach unten zu beobachten, obwohl der Transformationsprozess in diesen Lagen bereits vor der Pandemie eingesetzt hat. Es zeigt sich, dass in allen Lage- und Stadttypen Mietpreisanpassungen nach unten stattgefunden haben, die für die A-Lagen deutlich höher ausfallen.

Von insgesamt 96 Städten in Nordrhein-Westfalen, die aufgrund der Datenlage analysiert werden können, weisen insgesamt 60 Städte Mietpreisrückgänge auf (Abb. 5). Davon entfallen 20 auf die Großstädte, 19 auf kleine Mittelstädte, 16 auf große Mittelstädte und fünf auf Kleinstädte. Damit sind Mittelstädte mindestens genauso von Mietpreisrückgängen betro en wie Großstädte. Die höchsten relativen Mietpreisrückgänge weisen nicht etwa die A-Lagen der Großstädte auf, sondern nden sich in größeren und kleineren Mittelstädten wie etwa Minden (-44 %), Wesseling (-42%) oder Würselen (-40 %). Absolut betrachtet liegen die höchsten Mietpreisrückgänge bei -60 EUR/qm für die Innenstadt Köln, -25 EUR/qm für Bochum und -23 EUR/qm für Krefeld (Abb. 5). Der Rückgang in den Großstädten ist in der Tendenz umso höher, je höher das Preisniveau vor Pandemie-Beginn lag (Haufe Online Redaktion 2021). Parallel zu den Verlusten in den A-Lagen sind auch Mietpreiskorrekturen in den Nebenlagen zu beobachten. Statistisch lässt sich ein Zusammenhang zwischen den beiden Lagetypen feststellen (Korrelationskoe zient r = 0,6). Es gibt aber auch einige Ausnahmen mit steigenden oder stabilen Mieten in beiden Lagen, wie in Münster, Herne oder Gelsenkirchen. Grund dafür könnte in Münster der geringe Leerstand und damit ein stabiler Handelsstandort sein. In Gelsenkirchen sind die Mieten für A-Lagen erstmals seit 2017 und in Herne seit 2019 wieder gestiegen. In den Nebenlagen der beiden Ruhrgebietsstädte sind bereits seit längerer Zeit leichte Preissteigerungen zu beobachten. Allerdings liegen die Mietpreise deutlich unter dem Durchschnitt der Großstädte, so dass diese positive Entwicklung nicht überinterpretiert werden darf.

Leerstände in Nebenlagen und innerstädtischen Einkaufszentren

Neben der Mietpreisentwicklung bilden leerstehende innerstädtische Ladenlokale einen wichtigen Indikator für die Beurteilung der Situation auf dem Immobilienmarkt. Steigender Leerstand gilt als Frühwarnindikator, dass die Innenstadtlagen in Schie age geraten. Für Dortmund ist im Frühjahr 2022 und 2023 der Leerstand von Ladenlokalen in Erdgeschosslagen der Innenstadt erhoben worden. Insgesamt hat der Leerstand in Dortmund zugenommen. Stehen im Jahr 2022 76 Ladenlokale leer, sind es im Jahr 2023 bereits 96. Die räumliche Verteilung auf die einzelnen Lagen der Innenstadt ist dabei sehr unterschiedlich (Abb. 6). Au ällig ist die große Zahl an Leerständen in der Thier-Galerie, einem innerstädtischen Einkaufszentrum in A-Lage. Im Jahr 2022 werden 32 leerstehende Ladenlokale gezählt, im darau olgenden Jahr

Abbildung 5: Streudiagramm für die relative Entwicklung der Einzelhandelsmieten (erzielte Nettokaltmiete) für kleine Flächen (ca. 60qm) in A- und B-Lagen, mit Kennzeichnung der Stadtgröße für 96 nordrhein-westfälische Städte 2019–2022

schließen mehr Ladenlokale als neu erö net wurden, so dass sich die Zahl auf 36 erhöht. Sieht man von den Leerständen in den innerstädtischen Shopping-Centern ab, ist die A-Lage weniger von Leerständen betro en.

In den B-Lagen der Dortmunder Innenstadt nden sich punktuell teilweise räumlich konzentrierte Leerstände. Trading-down-Prozesse durch Filialisten, Billigläden und Qualitätsverluste aufgrund mangelnder Sortimentsabdeckungen und abnehmenden Branchenmixes haben spürbar eingesetzt. Im nördlichen Teil der Dortmunder Innenstadt (Brückstraßenviertel) und auf dem Ostenhellweg – Verlängerung des Westenhellwegs und zentrale Shopping-Achse der Dortmunder City – prägen mittlerweile Handyshops, Fast-Food-Anbieter und Nischenläden mit häu gem Wechsel der Mietparteien das Bild. Zwar sind die Passant*innenfrequenzen auf dem Ostenhellweg nach wie vor hoch, die Unterschiede in den Frequenzen zu den klassischen A-Lagen werden jedoch immer deutlicher. Die Pandemie, Insolvenzen und Verkleinerungen der Filialnetze von Handelsunternehmen werden als Gründe angeführt.

STADTFORSCHUNG UND STATISTIK 2|202317 Schwerpunkt Innenstadt – Facetten einer Bestandsaufnahme
eigene Darstellung, Datenquelle: IVD-Gewerbepreisspiegel

Neue Nutzungen in leerstehenden Ladenlokalen

Nicht alle Leerstände verfestigen sich. Ein Teil der Laden ächen, die in Dortmund 2022 noch leer standen, stehen im Frühjahr 2023 nicht mehr leer. Rund zwölf neue Nutzungen sind innerhalb eines Jahres hinzugekommen. In das Gebäude eines ehemaligen Juweliergeschäfts an der Haupteinkaufsstraße ist z.B. der Projektor Innovationsraum – ein Pilotprojekt der Stadt Dortmund – eingezogen, ein neuer Ort für kleine Ausstellungen, Seminare, Workshops und Events. Unweit der Haupteinkaufsstraße haben sich eine bekannte Restaurantkette und ein Hörgeräteakustiker angesiedelt. In den Nebenlagen der Dortmunder Innenstadt ist ein häu ger Wechsel von Schließungen und Neuerö nungen von Geschäften mit niedrigerem Preisniveau zu beobachten. Nach der Aufgabe von Bekleidungsgeschäften im niedrigen Preissegment siedeln sich kurz darauf neue Einzelhändler*innen wie ein Süßwaren-Outlet, ein weiteres Bekleidungsgeschäft im niedrigen Preissegment, ein Imbiss, ein Handy-Shop und ein Kiosk an. Tendenziell schließen mehr Bekleidungsgeschäfte, als neue hinzukommen. Darüber hinaus sind in einer Nebenlage kulturelle Zwischennutzungen in einem ehemaligen Reisebüro und einem Friseursalon temporär untergebracht. Das von der

Landesarbeitsgemeinschaft Kunst und Medien NordrheinWestfalen initiierte Fotofestival Global Me und SIS+BROs nutzt temporär leerstehende Ladenlokale für Ausstellungen.

Fazit: Sinkende Mieten als Chance für Wiederbelebung

Die Zunahme der Leerstände in den Innenstädten, wie z. B. in Dortmund, ist vor dem Hintergrund der gegenwärtig hohen Anzahl von Insolvenzen großer Filialisten keine Überraschung. Ob es zu dauerhaften Leerständen kommen wird, kann zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht abschließend beantwortet werden. Studien gehen aber davon aus, dass sich die A-Lagen wieder erholen können (Immobilienverband Deutschland (IVD) 03.05.2021; imakomm AKADEMIE GmbH 2021). Nur in diesen Lagen werden vermutlich dauerhaft noch hohe Passant*innenfrequenzen erreicht werden. Die Top-Einkaufslagen in den Großstädten können sich, so wird vermutet, einer Zunahme der Leerstände entziehen, weil sich Einkaufsstraßen verkürzen und das angrenzende Mietgefälle steiler wird.

Für die Nebenlagen der Innenstädte lassen sich auf Grundlage der Ergebnisse zu Mietpreisen und Leerständen andere Einschätzungen tre en. Hier könnten höhere Leerstandsquo -

Abbildung 6: Entwicklung der Leerstände für ebenerdige Laden ächen in der Dortmunder Innenstadt (Vergleich Frühjahr 2022 und 2023)

eigene Darstellung, Datenquelle: eigene Erhebung

18 STADTFORSCHUNG UND STATISTIK 2|2023 Schwerpunkt Innenstadt – Facetten einer Bestandsaufnahme

ten zu strukturellen, also dauerhaften Leerständen und unabhängig von der Stadtgröße zu einer Konzentration auf das „Zentrum im Zentrum” führen (Immobilienverband Deutschland (IVD) 03.05.2021: 11).

Wenn sich A-Lagen und Randlagen verkürzen, beein usst das Lagequalitäten und damit sowohl die „Nachfrage- als auch die Angebotsbedingungen auf dem Immobilienmarkt“ (Vornholz 2021: 5). Es ist davon auszugehen, dass die Mietpreise in Nebenlagen weiter sinken bzw. auf niedrigem Niveau verweilen. Dies entspricht auch dem theoretischen Ansatz des Bodenrentenmodells, wonach die Mieten sinken, weil bestimmte Standorte nicht mehr bestimmte Erträge abwerfen. Sinkende Mieten beein ussen dann die Immobilienwerte (Website Fundresearch). Der Standort spielt dabei eine Schlüsselrolle bei der Bestimmung der Gewinnspanne. Nur Immobilien mit hohen Besucherfrequenzen erzielen tendenziell höhere Gewinne. Generell scheint es aber bislang noch keine Anzeichen dafür zu geben, dass Lageprämien für zentrale Lagen entwertet worden sind (Oberst und Voigtländer 2023).

Leerstehende Ladenlokale können, wie an einigen Standorten in Dortmund zu sehen, eine Chance sein, neue vertikale Nutzungsmischungen und experimentelle Konzepte (z. B. kulturelle Zwischennutzungen, Projektor-Innovationsraum) in die Innenstadt zu holen. Wenn die Mieten erschwinglicher bzw. individuelle Mietvertragsanpassungen angeboten werden, besteht durchaus die Chance, neue Geschäftsmodelle oder Startups anzuziehen. Kleinere unabhängige Einzelhändler*innen und lokale Unternehmen könnten die Gelegenheit nutzen, in die Innenstädte zurückzukehren oder sich dort niederzulassen. Neben den klassischen Einzelhändlerinnen und Einzelhändlern gilt es vor allem eine Angebotsvielfalt und Nutzungsmischung für Innenstädte zu entwickeln. Das bedeutet, dass weitere Nutzungen und Konzepte wie kulturelle und soziale Einrichtungen, Pop-up-Stores, Kunstgalerien in den Leerständen entstehen und das Stadtleben bereichern. Bislang konnten wir für Dortmund nur in Teilen vielfältige und qualitativ hochwertige Nachnutzungen sehen, auch weil die Stichprobe sehr klein war. Auch für alternative Nutzungen, die nicht die A-Lage, sondern preisgünstigere Standorte in Nebenlagen suchen, wo die Konkurrenz zu anderen Mieter*innen geringer ist, muss in den Innenstädten Platz sein. In diesen Lagen ist die Möglichkeit der Ansiedlung kleinerer Geschäfte und neuer Nutzungen größer, da die Mieten günstiger sind.

Die Wiederbelebung von Innenstädten hängt aber nicht allein von den Mieten ab. Weitere Faktoren wie kombinierte Nutzungen, ein breites Angebot an Dienstleistungen, eine gute Verkehrsanbindung oder die Scha ung von Aufenthaltsqualitäten sind ebenfalls entscheidend.

Die strategische Flächenplanung in der Innenstadt wird dabei zu einem wichtigen Faktor. Potenzielle Umnutzungen, z. B. neue Wohnnutzungen oder produzierendes Gewerbe, müssen geprüft werden, wobei das Bauordnungsrecht derzeit eher hinderlich ist (Immobilienverband Deutschland (IVD) 03.05.2021). So kommt es darauf an, ob sich die angestrebte Umnutzung im Rahmen der im Bebauungsplan festgelegten Gebietsausweisung bewegt oder ob Befreiungen von diesen Festsetzungen möglich sind (§§ 30f. BauGB). Zudem wird von Eigentümer*innen eine hohe Bereitschaft gefordert, Umbaumaßnahmen durchzuführen und auf etwaige Mieteinnahmen zu verzichten. Damit steigt der Druck auf die Eigentümer*innen, die eigenen Immobilien zu sanieren oder zu modernisieren.

Der Beitrag entstand im Rahmen des Kooperationsprojekts „Entwicklung von Gewerbemieten in Innenstadtlagen im Zuge der Coronapandemie“ (2021–2023) mit dem Ministerium für Heimat, Kommunales, Bau und Digitalisierung des Landes Nordrhein-Westfalen (MHKBD).

1 Mit den Daten von hystreet.com kann die Entwicklung der Passant*innenfrequenzen in deutschen Innenstädten abgebildet werden. Das Unternehmen zählt in deutschen Städten Passant*innen mittels Laserscannern, welche rund um die Uhr in Betrieb sind. Im Gegensatz zu den Kund*innenfrequenzen bzw. Besucher*innenströme, die die Anzahl der Personen in Geschäften und deren Bewegungsrichtung abbilden, geben die Passant*innenfrequenzen lediglich die potenzielle Laufkundschaft auf einer Straße an.

2 Der IVD-Gewerbepreisspiegel erfasst den Immobilienmarkt für 350 bis 380 Städte in Deutschland (für Nordrhein-Westfalen sind es ca. 100 Städte). Grundlage der Analyse bilden die Marktpreise für Ladenmieten für die Jahre 2016, 2017, 2018, 2019, 2021. Fachleute (i. d. R. Immobilienmakler*innen) geben Auskunft über die erzielten Nettokaltmieten bei Neuvermietungen (keine Mieten im Bestand). Es handelt sich dabei um Schwerpunktpreise (Median), also nicht den rechnerischen Mittelwert der Preisspanne.

STADTFORSCHUNG UND STATISTIK 2|202319 Schwerpunkt Innenstadt – Facetten einer Bestandsaufnahme

Literatur

§§ 30f. BauGB: Baugesetzbuch in der Fassung der Bekanntmachung vom 23. September 2004 (BGBl. I S. 2414), das zuletzt durch Artikel 2 des Gesetzes vom 30. Juni 2017 (BGBl. I S. 2193) geändert worden ist.

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HDE – Handelsverband Deutschland (23.05.2022): Umsätze und Frequenzen im Einzelhandel bleiben weiterhin hinter Vorkrisenniveau zurück. Online verfügbar unter https://einzelhandel.de/presse/ aktuellemeldungen/13789-umsaetze-undfrequenzen-im-einzelhandel-bleiben-weiter-

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20 STADTFORSCHUNG UND STATISTIK 2|2023 Schwerpunkt Innenstadt – Facetten einer Bestandsaufnahme

Der Einzelhandel im Stadtzentrum von Leverkusen

Strukturelle Veränderungen von 1960 bis 2020

Seit Ende der 1960er-Jahre wurde das Zentrum der Stadt Leverkusen (im Stadtteil Wiesdorf) innerhalb nur weniger Jahrzehnte zunächst neu gescha en und dann fortlaufend umgebaut, was zu weitreichenden formalen und funktionalen Strukturveränderungen – vor allem im Einzelhandel – führte. In der gewählten Zeitspanne werden die Folgen der genannten raumgestaltenden Veränderungen im Standortgefüge des Einzelhandels erkennbar. Für die Beschreibung der Situation vor der Neugestaltung des Stadtzentrums wurde das Jahr 1960 gewählt. Die Zeit um 1985 spiegelt das Bild insbesondere mit den beiden ersten Einkaufszentren wider. Das Jahr 2010 zeigt den Zustand nach dem Bau der „Rathaus-Galerie“. Zehn Jahre nach deren Erö nung werden weitere (nicht intendierte) Auswirkungen auf die lokalräumliche Bedeutung und Struktur des Ladeneinzelhandels deutlich.

Inhaltliche und methodische Vorbemerkungen

Der Beitrag informiert über den Strukturwandel im Standortgefüge des Einzelhandels im Leverkusener Stadtteil Wiesdorf, dem Zentrum der Stadt, und zwar für die Zeit von 1960 bis 2020; er beschreibt also einen Zeitraum von insgesamt 60 Jahren.

Mit neuen modernen Gebäudekomplexen sollte die erst 1930 als Zusammenschluss mehrerer Gemeinden gegründete Stadt eine Mitte für ihre damals bereits mehr als 100.000 Einwohner erhalten. So waren seit Ende der 1960er-Jahre im Stadtzentrum von Leverkusen innerhalb eines Zeitraumes von nur wenigen Jahrzehnten mehrmals städtebaulich markante Entwicklungen zu beobachten, die zu weitreichenden formalen und funktionalen Strukturveränderungen – vor allem im Einzelhandel – führten. Dazu zählt zunächst die „City“, insbesondere der Bau von zwei Einkaufszentren, die 1969 bzw. 1972 erö net wurden. Dahinter stand seinerzeit „die Idee der Stadtplanung, ein bis dahin nicht vorhandenes, gesamtstadtorientiertes Zentrum zu scha en“ (Nicolini 1983, S. 11) und so der damals noch „unfertigen“ Stadt einen kommerziellen Mittelpunkt zu geben. Mit der späteren Erö nung der „Rathaus-Galerie“ (2010) sollte zwischenzeitlich verloren gegangene Kaufkraft zurückgewonnen, die Attraktivität der Stadt gesteigert und die Positionierung Leverkusens als Mittelzentrum zwischen den Metropolen Köln und Düsseldorf gestärkt und damit gesichert werden.

Dipl.-Volkswirt, 1983 bis 2011 Leiter der Statistikstelle der Stadt Leverkusen

: gert@nicolinionline.de

Schlüsselwörter:

Branchenstruktur – Einzelhandel – Leverkusen –Standortstruktur – Strukturwandel

In der hier gewählten Zeitspanne werden die Folgen der genannten raumgestaltenden Veränderungen im Standortgefüge des Einzelhandels im Stadtteil Wiesdorf erkennbar. Für die Beschreibung der Situation vor der Neugestaltung des Stadtzentrums wurde das Jahr 1960 gewählt. Die Zeit um 1985 spiegelt das Bild insbesondere mit den beiden ersten Einkaufszentren wider. Das Jahr 2010 zeigt den Zustand nach dem Bau der „Rathaus-Galerie“. Zehn Jahre nach deren Erö nung werden – u.a. auch dadurch bedingte – weitere Auswirkungen auf die lokalräumliche Bedeutung und Struktur des Ladeneinzelhandels deutlich.

Die hier vorgestellte Untersuchung zeigt beispielhaft, welchen Beitrag die Stadtgeographie im Kontext von Kommunalstatistik und Stadtforschung zur Beobachtung der Entwicklung bzw. des Wandels im Raumgefüge städtischer Strukturen leisten kann. Es handelt sich dabei zwar methodisch um keine neuen Aspekte, es wird aber anschaulich, was mit traditionell deskriptiven Methoden gezeigt werden kann.

STADTFORSCHUNG UND STATISTIK 2|202321 Schwerpunkt Innenstadt – Facetten einer Bestandsaufnahme

Grundlage der Analyse sind die Bestandsaufnahmen der Branchen- und Standortstruktur des Einzelhandels im Stadtzentrum, inklusive Kartierung. Die Bestandsaufnahme für 1960 beruhte auf einer sekundärstatistischen Auswertung verschiedener Quellen, zu denen u.a. Adress- und Telefonbücher zählten. Zum Stand Juni 1981 hatte der Verfasser eine ächendeckende Bestandsaufnahme für den Stadtteilbereich vorgenommen. Die Daten der anschließenden kontinuierlichen Fortschreibung der Veränderungen wurden im Rahmen regelmäßiger Begehungen gesammelt und auch für die Feststellung der Bestände für 1985, 2010 und 2020 – jeweils zum Jahresende – genutzt.

Der Begri „Einzelhandel“ wird hier in Anlehnung an die De nition im Rahmen der deutschen „amtlichen“ Statistik in einem eher engeren Sinne verstanden. Danach gehören zum Einzelhandel „alle Unternehmen, deren wirtschaftliche Tätigkeit überwiegend darin besteht, Waren in eigenem Namen für eigene oder fremde Rechnung vorwiegend an private Haushalte zu verkaufen“ (IT.NRW, S. 415). Insbesondere Dienstleistungen jeglicher Art (z.B. Reisebüros, das gesamte Gastgewerbe, Reinigungen, Frisöre, Kosmetikstudios, Büros und Versicherungsagenturen) zählen demgemäß nicht zum Einzelhandel. Die Untersuchung greift auf die „klassische“ Unterscheidung zwischen Einzelhandelsbetrieben zur Deckung des periodischen und des aperiodischen Bedarfs zurück, orientiert sich also am Bescha ungsrhythmus der Waren bzw. Sortimente. Sie erfasst nur den stationären, ladenorientierten Einzelhandel – ohne den ambulanten Handel, den Versandhandel und den Shop-Zonen-Handel in einzelhandelsfremden Branchen (z. B. Tankstellen).

Bei der Zuordnung der Einzelhandelsstandorte zum Stadtzentrum stand die vorherrschende zentrumsorientierte Lage im Vordergrund; Geschäfte im übrigen Bereich des Stadtteils Wiesdorf wurden nicht einbezogen. Zum Stadtzentrum werden die Straßenabschnitte mit einem jeweils dichten, zusammenhängenden Einzelhandels- bzw. Ladenlokalbesatz gezählt.

Im Folgenden werden einige ausgewählte Aspekte der Entwicklung des Einzelhandels im Stadtzentrum in seiner standortrelevanten Bedeutung vorgestellt. Dabei wird das Stadtzentrum insgesamt betrachtet, aber auch kleinräumige Aspekte aufgegri en.

Die Entwicklung der Standortnutzung im Stadtzentrum insgesamt

Die Zahl der Einzelhandelsgeschäfte im Stadtzentrum lag 1960 bei 142. Bis 1985 stieg sie um 51 bzw. um 35,9 Prozent auf 193 und in den folgenden Jahren bis 2010 nochmals um 66 bzw. um 34,2 Prozent auf 259. Im gesamten Zeitraum der 50 Jahre zwischen 1960 und 2010 war sie also um 117 gestiegen; dies entspricht einer Zunahme in Höhe von 82,4 Prozent.

In der Zeit von 2010 bis 2020 war dann allerdings wieder ein Rückgang der Zahl der Einzelhandelsgeschäfte zu beobachten, und zwar deutlich von 259 um 54 – also um mehr als ein Fünftel – auf 205.

Bestand/Entwicklung

Bestand

Einzelhandelsgeschäfte

1960198520102020

142193259205

Entwicklung absolut .+ 51+ 66- 54

Entwicklung in % .+ 35,9+ 34,2- 20,8

Die deutliche Zunahme in den beiden Zeiträumen von 1960 bis 1985 und von 1985 bis 2010 ist einerseits auf den Bau bzw. die Fertigstellung der Einkaufszentren in der „City“ 1969 und 1972 und andererseits auf die Erö nung der „Rathaus-Galerie“ 2010 mit jeweils zahlreichen neuen Geschäften zurückzuführen. Eine derartig kompakte, umfassende Zunahme der Einzelhandelsstandorte hat es nach 2010 nicht mehr gegeben.

Die negative Entwicklung im Vergleich der Jahre 2010 und 2020 wurde vor allem durch einen deutlich gestiegenen Leerstand (+ 35) verursacht; darüber hinaus gab es zahlreiche Fälle, in denen auf eine Einzelhandelsnutzung nach deren Aufgabe eine andere Dienstleistung folgte.

Die Ursache für den starken Rückgang der Einzelhandelsbetriebe in der Zeit von 2010 bis 2020 kann mit der hier gewählten Erfassungsmethode nicht schlüssig beschrieben werden; es können aber einige wahrscheinlich mitentscheidende Gründe bzw. Ein ussfaktoren genannt werden.

Zwischen dem lokalen Einzelhandelsangebot und der diesbezüglichen Nachfrage hat sich o ensichtlich eine Differenz entwickelt. Die örtliche einzelhandelsrelevante Kaufkraft war im Hinblick auf die Inanspruchnahme des Angebotes im Stadtzentrum in quantitativer und qualitativer Hinsicht wohl zu gering. Dies kann u.a. an der Konkurrenz anderer Einkaufszentren bzw. -möglichkeiten – auch im benachbarten Umland –, an der allgemein zu beobachtenden Verlagerung der Einkaufsgewohnheiten weg vom Ladeneinzelhandel hin zum online-Markt und auch an den schon 2020 greifenden Einschränkungen durch die pandemiebedingten vorübergehenden Schließungen der Geschäfte und deren Folgen, z. B. Geschäftsaufgaben, im Zusammenhang mit der Verbreitung des Corona-Virus liegen.

22 STADTFORSCHUNG UND STATISTIK 2|2023 Schwerpunkt Innenstadt – Facetten einer Bestandsaufnahme
Tab. 1: Die Entwicklung der Zahl der Einzelhandelsgeschäfte im Stadtzentrum im zeitlichen Vergleich. Abb. 1: Einzelhandelsgeschäfte im Stadtzentrum, 1960, 1985, 2010 und 2020

Auf der anderen Seite wird die negative Entwicklung – eventuell zusätzlich – auch auf betriebswirtschaftlich relevante Faktoren zurückzuführen sein. Umsatzeinbußen können mit existenzbedrohenden bzw. -entscheidenden Folgen zur Betriebsaufgabe führen, vor allem dann, wenn die Kostenseite der Unternehmen die Wirtschaftlichkeit nicht mehr deckt. Dazu zählen z.B. auch mietvertragliche Gründe, die zu hohen Bewirtschaftungskosten führen können.

Die beiden Einkaufszentren litten spätestens seit der Erö nung der „Rathaus-Galerie“ unter erheblichen Problemen, die sich negativ auf die Standortattraktivität auswirkten. Die „Rathaus-Galerie“, „das einstige Vorzeige-Projekt“, wirkte schon nach einigen Jahren „als sei es auf dem absteigenden Ast“. Insbesondere das Einkaufszentrum an der Friedrich-Ebert-

Straße war schon länger eine „Konsum-Einöde“ (Kölner StadtAnzeiger vom 30.12.2020).

Die Branchenstruktur hat sich im Vergleich der Jahre 1960, 1985, 2010 und 2020 deutlich verändert:

Besonders au allend ist die Entwicklung bei den Bekleidungsgeschäften: Von 1960 bis 1985 hatte deren Zahl von 25 auf 47 – und damit auf fast das Doppelte – zugenommen; anschließend war sie bis 2010 noch einmal um 23 auf 70 gestiegen, nahm danach aber bis 2020 wieder um 17 auf 53 ab. Ihre Anteile elen jeweils zweistellig aus: Von 17,6 Prozent (1960) über 24,4 Prozent (1985) erreichten sie 27 Prozent (2010) und lagen 2020 bei 25,9 Prozent; sie machten also seit 1985 trotz unterschiedlicher Veränderungsraten stets rund ein Viertel aller Geschäfte aus.

STADTFORSCHUNG UND STATISTIK 2|202323 Schwerpunkt Innenstadt – Facetten einer Bestandsaufnahme
Branche Einzelhandelsgeschäfte 1960 1985 2010 2020 abs.in %abs.in %abs.in %abs.in % Waren verschiedener Art 21,484,1135,0146,8 Lebensmittel, Süßwaren 2014,1115,7155,8167,8 Bäckerei, Konditorei 107,073,6114,273,4 Metzgerei 96,321,010,410,5 Tabak, Zeitschriften 64,2126,2114,2115,4 Apotheken 32,163,172,762,9 med. u. orthopäd. Artikel 10,721,041,552,4 kosmetische Artikel 64,284,1155,894,4 Textilien (ohne Bekleid.) 21,410,520,810,5 Bekleidung 2517,64724,47027,05325,9 Schuhe 85,6105,2145,4146,8 Lederwaren 21,421,020,831,5 Möbel, Leuchten 32,152,672,742,0 Haushaltsgegenstände 42,831,651,910,5 Gardinen, Teppiche 85,663,110,410,5 elektr. Haushaltsgeräte 85,694,731,221,0 Bau- u. Heimwerkerbed. 21,442,1- - -Schreib- u. Papierwaren 42,821,020,821,0 Bücher, Fachzeitschr. 32,142,131,210,5 Kunstgegenstände - -31,610,410,5 Blumen, P anzen 64,263,141,510,5 zoologischer Bedarf 10,721,010,4-feinmech. u. Fotoerzeug. 32,142,141,531,5 optische Erzeugnisse 21,473,662,373,4 Computer u. Zubehör - -10,572,762,9 Uhren u. Schmuck 32,152,6176,6125,9 Spielwaren - -10,531,210,5 Sportartikel, -kleidung 10,721,041,531,5 Gebrauchtwaren - -31,610,410,5 Sonstiges - -105,2259,7199,3 insgesamt 142100,0193100,0259100,0205100,0
Tab. 2: Die Einzelhandelsgeschäfte im Stadtzentrum nach Branchen im zeitlichen Vergleich

Am zweithäu gsten wurden 1960 Lebensmittelgeschäfte gezählt, die mit 20 Standorten seinerzeit einen Anteil von 14,1 Prozent ausmachten, danach aber zahlenmäßig an Bedeutung verloren. Beispielsweise weisen Bäckereien bzw. Konditoreien seit 1960 schwankende Zahlen und Anteile auf. Metzgereien hingegen gab es 1960 noch neun, aber schon 1985 nur noch zwei und bereits 2010 waren sie auf nur eine geschrumpft.

Die Zahl der Geschäfte mit einem medizinischen bzw. orthopädischen Angebot war kontinuierlich von einem auf fünf gestiegen; die Zahl der Apotheken reduzierte sich zwischen 2010 und 2020 um eine von sieben auf sechs. Au allend ist der zahlenmäßige Rückgang der Drogerien im selben Zeitraum von 15 auf 9. Der Einzelhandel mit Schuhen konnte sich dagegen mit jeweils 14 Geschäften behaupten. Die Branchen Gardinen und Teppiche, elektrische Haushaltsgeräte sowie Blumen und P anzen verzeichneten seit 1985 relativ deutliche Rückgänge. Während die Zahl der Uhren- und Schmuckgeschäfte zunächst bis 2010 relativ deutlich zugenommen hatte, war die Entwicklung dort bis 2020 wieder rückläu g.

Die Zahl der unter Sonstiges zusammengefassten Geschäfte, zu denen insbesondere die Anbieter von Telekommunikationsgeräten (z.B. Mobilfunkgeräte) zählen, nahm erwartungsgemäß zwischen 1960 und 2010 deutlich zu; obwohl zwischen 2010 und 2020 wieder eine gegenteilige Entwicklung zu beobachten war, errechnen sich für diese Gruppe für beide Jahre mit jeweils knapp 10 Prozent nach den Bekleidungsgeschäften die zweithäu gsten Anteile.

Im Vergleich der Jahre 1960 und 2020 haben die Anteilswerte vor allem bei den Branchen Waren verschiedener Art (+ 5,4%-Punkte), Bekleidung (+ 8,3%-Punkte) und sonstiger Sortimente (+ 9,3%-Punkte) deutlich zugenommen, während insbesondere bei der Lebensmittel- und Süßwarenbranche (- 6,3%-Punkte), den Metzgereien (- 5,8%-Punkte) und den Geschäften der Gardinen- und Teppichbranche (- 5,1 %-Punkte) rückläu ge Anteilswerte zu beobachten waren.

Die Zentren der meisten Städte sind hinsichtlich ihrer Funktion als Einzelhandelsschwerpunkt durch das Überwiegen des Anteils der Geschäfte zur Deckung des aperiodischen, langfristigen Bedarfs gekennzeichnet. Für die Betriebe der entsprechenden Branchen ist eine wirtschaftlich lohnende Betätigung meist nur in den Zentren mit ausreichend hoher Kundenfrequenz möglich. Die Tabelle 3 zeigt, dass auch im Leverkusener Stadtzentrum die Zahl der Einzelhandelsgeschäfte zur Deckung des aperiodischen Bedarfs überwiegt. In der Zeit von 1960 bis 2010 hatte sie und ihr Anteil deutlich zugenommen; trotz eines jeweils zahlenmäßigen Rückgangs der Geschäfte blieben die Anteile des periodischen und ape -

riodischen Sektors anschließend im Vergleich der Jahre 2010 und 2020 gleich hoch.

Im Jahre 1960 dienten immerhin noch 43 Prozent aller Einzelhandelsgeschäfte im Stadtzentrum der Deckung des periodischen Bedarfs. Inzwischen zählt nur noch rund jedes vierte Geschäft zum periodischen Sektor. Das Verhältnis der Geschäfte für periodischen zu aperiodischen Bedarf hat sich zumindest seit 2010 kaum mehr verändert.

Insgesamt ließ sich für den Zeitraum von 1960 bis 2020 eine Zunahme der Filialbetriebe beobachten. Insbesondere seit der Ansiedlung von Firmen in den Einkaufszentren, vor allem auch in der „Rathaus-Galerie“, wurden selbstständig tätige Einzelhändler durch die Dominanz von Filialbetrieben zunehmend verdrängt. Wie in anderen Städten war auch im Zentrum von Leverkusen ein beachtlicher Verlust der Individualität des Einzelhandelsangebotes und damit verbunden die Schwächung einer stadteigenen Geschäftsstruktur verbunden. Im Erscheinungsbild des zentralen Einkaufsbereiches hat sich auch in Leverkusen die Gleichförmigkeit bzw. die ktive Austauschbarkeit mit vielen anderen Innenstädten verbreitet.

Unter den 142 Einzelhandelsgeschäften, die 1960 im Stadtzentrum ansässig waren, hatten sechs Firmen (4,2 %) auch 2020 ihren Sitz noch am selben Standort, darunter zwei Apotheken. Bezogen auf die 205 Einzelhandelsgeschäfte, die 2020 gezählt wurden, machte der entsprechende Anteil 2,9 Prozent aus. Unter den 2010 erfassten 259 Geschäften traf die Standortkontinuität 2020 auf 115 Geschäfte zu. Demnach wurde mehr als die Hälfte der 2010 gezählten Firmen zehn Jahre später nicht mehr am selben Standort angetro en. Die Branchenkontinuität el – wie zu erwarten – höher aus als die Firmenkontinuität. So lag die Zahl der Geschäftslokale mit jeweils derselben Branche im Vergleich der Jahre 1960 und 2020 bei 11 (7,7% bzw. 5,4%) und der Jahre 2010 und 2020 bei 143 (55,2% bzw. 69,8%).

Die Abbildung 2 zeigt die Entwicklung der Zahl der Einzelhandelsgeschäfte im Jahresrhythmus. Die 2010 deutlich gestiegene Zahl auf 259 Geschäfte ist auf die damalige Erö nung der „Rathaus-Galerie“ mit 97 Einzelhandelsgeschäften zurückzuführen; für den 31. Dezember 2010 wurde die höchste Zahl an Geschäften im Zeitraum von 1985 bis 2020 festgestellt. Schon ab 2011 zeigt die diesbezügliche Kurve der Graphik aber wieder eine tendenzielle Abnahme, die dann 2020 relativ deutlich ausel; insgesamt errechnet sich für diesen Zeitraum ein Rückgang in Höhe von 54 durch den Einzelhandel genutzter Ladenlokale (- 20,8 %), also um mehr als ein Fünftel, auf 205. Somit gab es Ende 2020 trotz der hohen Zahl an Erö nungen von Geschäften in der „Rathaus-Galerie“ 2010 nur noch 12 mehr als 1985.

Tab. 3: Die Einzelhandelsgeschäfte im Stadtzentrum nach dem Bescha ungsrhythmus des Angebotes im zeitlichen Vergleich

24 STADTFORSCHUNG UND STATISTIK 2|2023 Schwerpunkt Innenstadt – Facetten einer Bestandsaufnahme
Bedarf Einzelhandelsgeschäfte 1960 1985 2010 2020 absolutin %absolutin %absolutin %absolutin % periodisch 6143,05428,06625,55325,9 aperiodisch 8157,013972,019374,515274,1 insgesamt 142100,0193100,0259100,0205100,0

Abb. 2: Einzelhandelsgeschäfte im Stadtzentrum, 1985 bis 2020

Im Zeitraum der 35 Jahre von 1986 bis 2020 wurden 759 Geschäftserö nungen und 747 Geschäftsaufgaben gezählt, insgesamt also ein Plus von 12. Die Zahl der Ladenlokalerweiterungen lag bei 26, diejenige der -verkleinerungen bei 17. Allein in der Zeit von 2011 bis 2020 erfolgten 168 Erö nungen, 222 Schließungen, 11 Erweiterungen und zwei Verkleinerungen. Darüber hinaus gab es zwischen 1986 und 2020 insgesamt 83 Geschäftsverlegungen, darunter 20 in der Zeit zwischen 2011 und 2020.

Unter den 759 Geschäftserö nungen machten die im Februar 2010 in der „Rathaus-Galerie“ erö neten 97 Einzelhandelsgeschäfte erwartungsgemäß einen bemerkenswerten Anteil in Höhe von immerhin 12,8 Prozent aus. Die Zahlen machen deutlich, dass dem Bau des größten Shopping-Centers in der Stadt eine mengenmäßig beachtliche Bedeutung zukam.

Am 31. Dezember 2020 standen im Stadtzentrum 60 der potenziell durch den Einzelhandel nutzbaren Ladenlokale leer; dies entsprach einer Leerstandsquote in Höhe von 22,6 Prozent. Somit stand mehr als jedes fünfte Geschäftslokal leer. Zehn Jahre zuvor wurden 25 (8,8%) und 1985 nur acht Leerstände (4,0%) gezählt, sodass sich für 2020 im Vergleich zu 1985 und 2010 eine jeweils deutlich gestiegene Zahl der Leerstände errechnet.

Von den 60 Ladenlokalen, die Ende 2020 nicht belegt waren, standen acht weniger als drei Monate, zehn zwischen drei und sechs Monate, 14 zwischen sieben und 28 Monate, 12 zwischen 29 und 49 Monate, und 16 immerhin 50 Monate und länger leer. Fast die Hälfte der Ladenlokale (28) stand seit mehr als zwei Jahren leer; zehn Lokale waren seit mehr als acht Jahren nicht belegt.

Die Abbildungen 3 und 4 zeigen die jeweiligen Jahresprole der Geschäftserö nungen und -aufgaben.

STADTFORSCHUNG UND STATISTIK 2|202325 Schwerpunkt Innenstadt – Facetten einer Bestandsaufnahme
Abb. 3: Geschäftserö nungen im Stadtzentrum, 1986 bis 2020, nach Jahren Abb. 4: Geschäftsaufgaben im Stadtzentrum, 1986 bis 2020, nach Jahren

Die Entwicklung der Standortnutzung in kleinräumiger Di erenzierung

Von besonderer Relevanz für stadtgeographische Forschungen ist die Entwicklung der Standortstruktur des Einzelhandels im Rahmen einer kleinräumigen Analyse; für Leverkusen wurden im Rahmen der hier beschriebenen Untersuchung dabei die Standorte nach Straßenabschnitten und in der Unterscheidung nach drei Zentrenbereichen – Kernzone, Randbereich und Hauptstraße – betrachtet.

Die nachstehenden vier Karten zeigen die jeweilige Standortstruktur im Stadtzentrum für die Jahre 1960, 1985, 2010 und 2020; dabei wird zwischen dem Warenangebot zur Deckung des periodischen und des aperiodischen Bedarfs unterschieden.

In der Karte 1, die den Stand von 1960 wiedergibt, ist die seinerzeit noch deutlich ausgeprägte kreuzförmige Lokalisation der Einzelhandelsgeschäfte zu erkennen. Dominant ist der west-östlich verlaufende Straßenzug der Hauptstraße, die damals noch namentlich über die Breidenbachstraße bzw. die Nobelstraße hinaus bis zum Friedrich-Ebert-Platz reichte. Die Querachsen wurden durch die Nobelstraße im Norden und die Breidenbachstraße im Süden gebildet. Das Standortbild

Karte 1: Die Lokalisation des Einzelhandels im Stadtzentrum 1960

spiegelt die historisch gewachsene Bebauung wider, die etwa mit dem Beginn des 20. Jahrhunderts entlang der genannten Straßen einsetzte.

Bis 1985 wurde die kreuzförmige Standortstruktur durch die jeweils platzförmige Gestaltung der Einkaufszentren am Wiesdorfer Platz und an der Friedrich-Ebert-Straße sowie durch den Verbindungsriegel am Friedrich-Ebert-Platz ergänzt und trat deshalb in den Hintergrund. Deutlich erkennbar war nun die Schwerpunktverlagerung der Geschäfte auf die Standorte östlich der Linie von Nobel- und Breidenbachstraße. In den Randbereichen des Stadtzentrums waren zum Teil rückläuge Standortnutzungen zu beobachten. Au allend ist der jeweils hohe Anteil der Geschäfte mit Warenangeboten zur Deckung des aperiodischen Bedarfs in den „neuen“ Einkaufsbereichen – mit ein Grund für den im Zeitraum von 1960 bis 1985 deutlich gestiegenen Anteil entsprechender Geschäfte im Stadtzentrum insgesamt.

Das Standortbild des Einzelhandels im Jahre 2010 wird erwartungsgemäß durch die „Rathaus-Galerie“ am FriedrichEbert-Platz dominiert. Die Kartierung der im Februar des Jahres dort erö neten 97 Einzelhandelsgeschäfte weist nun den eindeutigen Schwerpunkt im Nordosten des Stadtzentrums

Karte 3: Die Lokalisation des Einzelhandels im Stadtzentrum 2010

Karte 2: Die Lokalisation des Einzelhandels im Stadtzentrum 1985

Karte 4: Die Lokalisation des Einzelhandels im Stadtzentrum 2020

26 STADTFORSCHUNG UND STATISTIK 2|2023 Schwerpunkt Innenstadt – Facetten einer Bestandsaufnahme

Tab. 4: Die Einzelhandelsgeschäfte in den Zentrenbereichen im zeitlichen Vergleich

aus. Zusammen mit den Einkaufszentren am Wiesdorfer Platz, im südwestlichen Teil des Friedrich-Ebert-Platzes und an der Friedrich-Ebert-Straße war eine nahezu rechtwinklig geformte, ächig orientierte Konzentration der Betriebe entstanden.

Au ällig sind auch die neu hinzugekommenen Geschäfte im „Gesundheitshaus“ am Ludwig-Erhard-Platz, während in den Randbereichen – z.B. an der Hauptstraße – weniger Geschäfte gezählt wurden. Schon damals gab es westlich von Kaiser- und Moskauer Straße keinen Einzelhandel mehr.

In der Karte 4, die den Stand von 2020 widerspiegelt, ist zwar das Bild der Standortstruktur von 2010 grundsätzlich noch erkennbar, deutlich wird aber der zwischenzeitlich erfolgte zahlenmäßige Rückgang der Geschäfte; dies ließ sich in allen Zentrenbereichen beobachten, vor allem auch in der „Rathaus-Galerie“. Am Ludwig-Erhard-Platz gab es nun keine Einzelhandelsgeschäfte mehr.

In Tabelle 4 ist die Entwicklung der Einzelhandelsgeschäfte in der Unterscheidung der hier gewählten drei Zentrenbereiche dargestellt.

Die Zahlen verdeutlichen die charakteristischen Veränderungen in der räumlichen Verteilung der Einzelhandelsgeschäfte. Während die Geschäfte 1960 noch fast gleichmäßig auf die drei Zentrenbereiche verteilt waren, hatten sich die diesbezüglichen Anteile schon bis 1985 erheblich verschoben. Bereits 1985 war mehr als die Hälfte der Einzelhandelsgeschäfte in der Kernzone angesiedelt; 2010 und 2020 waren es rund vier von fünf Geschäften, die dort ihren Standort hatten. Sowohl in der Randzone als auch in der Hauptstraße war im Vergleich der hier gewählten Zeitpunkte ein recht deutlicher Rückgang der Anteile der Geschäfte zu beobachten. Zwar hatte die Zahl der Geschäfte in der Randzone von 1960 bis 1985 noch leicht zugenommen, ihr Anteil war aber schon seinerzeit von 32,4 auf 26,4 Prozent gesunken und hatte auch

anschließend bis 2010 auf 14,3 Prozent und bis 2020 auf 11,7 Prozent abgenommen. Noch gravierender war die rückläuge Entwicklung in der Hauptstraße: Hier sank die Zahl der Geschäfte von 1960 bis 2020 von 48 auf 16.

Die Di erenzierung der Geschäfte nach dem Beschaffungsrhythmus ihres Warenangebotes zeigt für den Zeitraum von 1960 bis 2020 ebenfalls unterschiedliche Anteilswerte und Entwicklungen (Tab. 5).

In der Kernzone hatte der Anteil der Geschäfte zur Deckung des periodischen Bedarfs zwischen 1960 und 2010 abgenommen und war anschließend bis 2020 etwa gleich hoch geblieben. Ende 2010 und Ende 2020 zählten hier drei von vier Geschäften zum Kreis der Anbieter von Gebrauchsgütern. In der Randzone war der Anteil der Geschäfte mit einem Angebot periodischer Güter zunächst von 39,1 auf 29,4 Prozent (1985) gesunken und danach wieder auf 32,4 Prozent (2010) und sogar auf 41,7 Prozent (2020) gestiegen. In der Hauptstraße wurde im Vergleich der Jahre 1960 und 2020 im periodischen Angebotssektor ein Rückgang von 45,8 auf 18,8 Prozent beobachtet. Hinsichtlich des Leerstands ist festzustellen, dass es 1985 von insgesamt 13 nur in vier Straßen(-abschnitten) Leerstände gab. 2010 war dies schon in sieben und 2020 sogar in zehn Fällen zu beobachten gewesen. Eine jeweils deutliche Zunahme des Leerstands wurde am Friedrich-Ebert-Platz, an der Friedrich-Ebert-Straße und am Wiesdorfer Platz festgestellt; dort lag die Leerstandsquote 2020 bei 15,1 Prozent, bei 55 Prozent und bei 35 Prozent. Am Ludwig-Erhard-Platz standen alle fünf potenziell durch den Einzelhandel nutzbaren Ladenlokale leer. Veränderungen in der lokalen Standortstruktur sind neben Geschäftsö nungen und -schließungen auch durch die Zahl und die Richtung von Geschäftsverlegungen geprägt. In der Zeit von 1986 bis 2020 gab es im Stadtzentrum Leverkusen im Ladeneinzelhandel immerhin 83 Verlegungen, die

STADTFORSCHUNG UND STATISTIK 2|202327 Schwerpunkt Innenstadt – Facetten einer Bestandsaufnahme
Zentrenbereich Einzelhandelsgeschäfte 1960 1985 2010 2020 absolutin %absolutin %absolutin %absolutin % Kernzone 4833,810453,920478,816580,5 Randzone 4632,45126,43714,32411,7 Hauptstraße 4833,83819,7186,9167,8 insgesamt 142100,0193100,0259100,0205100,0
Zentrenbereich Anteil der Geschäfte in % 1960 1985 2010 2020 Bescha ungsrhythmus period.aperiod.period.aperiod.period.aperiod.period.aperiod. Kernzone 43,856,327,972,124,076,024,275,8 Randzone 39,160,929,470,632,467,641,758,3 Hauptstraße 45,854,226,373,727,872,218,881,3 insgesamt 43,057,028,072,025,574,525,974,1
Tab. 5: Die Anteilswerte der Einzelhandelsgeschäfte in den Zentrenbereichen nach dem Bescha ungsrhythmus im zeitlichen Vergleich

im Stadtzentrum von 1986 bis 2020

dorfer Platz und im Frühjahr 2010 die „Rathaus-Galerie“ am Friedrich-Ebert-Platz erö net.

Die mit der jeweiligen Umgestaltung verbundene Erweiterung des Stadtzentrums führte bis 2010 zu einer Stärkung der östlichen Bereiche. Die Vermutung, dass mit der Vollendung der ersten Baumaßnahmen Anfang der 1970er-Jahre „die Verlagerung des zentralen Versorgungsbereiches innerhalb des Stadtteils Wiesdorf abgeschlossen wurde“ (Nicolini 1983, S. 308), bewahrheitete sich allerdings nicht. Der Trend setzte sich fort und wurde durch die Dominanz der „Rathaus-Galerie“ mit 97 Einzelhandelsgeschäften in einem bemerkenswerten Ausmaß verstärkt. In der Kernzone des Zentrums hatte sich die Zahl der Einzelhandelsgeschäfte in der Zeit von 1985 bis 2010 von 104 auf 204 quasi verdoppelt; nahezu vier von fünf Geschäften im Stadtzentrum hatten inzwischen hier ihren Standort. Der Einzelhandelsbesatz in den Randgebieten dünnte sich weiter aus.

Tab. 6: Die Geschäftsverlegungen im Einzelhandel in den Zentrenbereichen von 1986 bis 2020

aus der … in die … insgesamt KernzoneRandzoneHauptstr.

Kernzone503-53

Randzone711119

Hauptstraße31711

insgesamt6015883

überwiegend an einen weiter östlich – zentraler – gelegenen Standort erfolgten. Insgesamt konnte eine Konzentration auf die Kernzone beobachtet werden. Die deutlich meisten Geschäftsverlegungen (50 bzw. 60,2 %) fanden während des Gesamtzeitraumes von 1986 bis 2020 innerhalb der Kernzone statt. Auch in den beiden anderen Zentrenbereichen machten die zoneninternen Verlegungen den jeweils größten Anteil aus. Mit 60 Geschäftsverlegungen hatten 72,3 Prozent als Ziel die Kernzone. Aus der Kernzone heraus erfolgten nur drei Umzüge, und zwar in die Randzone. In zehn Fällen wurden Geschäfte aus der Randzone bzw. der Hauptstraße in die Kernzone verlegt.

Zusammenfassung

Im Stadtzentrum von Leverkusen im Stadtteil Wiesdorf führten im Zeitraum von Ende der 1960er-Jahre bis Anfang 2010 zwei umfangreiche Bauprojekte zu bedeutsamen Veränderungen im dortigen Stadtbild. Mit den damals modernen Gebäuden sollte die erst 1930 als Zusammenschluss mehrerer Gemeinden gegründete Stadt eine neue Stadtmitte für ihre damals bereits mehr als 100.000 Einwohner erhalten. Von dieser Umgestaltung war vor allem die Standortstruktur im Einzelhandel betro en.

Jeweils im Herbst 1969 und 1972 wurden – ergänzt durch Investitionen in die technische und in die soziale Infrastruktur – als Ergebnis des „City“-Konzeptes zunächst die beiden Einkaufszentren an der Friedrich-Ebert-Straße und am Wies-

Seit der Erö nung der „Rathaus-Galerie“ machten sich allerdings funktionale Schwächen dort und in den unmittelbar benachbart liegenden Zentrenbereichen bemerkbar; dies spiegelte sich in der zahlenmäßigen Entwicklung der Einzelhandelsgeschäfte. Das lokale Verhältnis von Angebot und Nachfrage geriet in eine Schie age. Einige Geschäfte hatten o ensichtlich die standortbezogene lokale Marktfähigkeit verloren. Zwischen 2010 und 2020 kam es im Stadtzentrum zunehmend zur Aufgabe von Geschäftslokalen, für die sich oft keine einzelhandelsorientierte Lösung mehr zu rechnen schien. Zahlreiche Lokale blieben lange Zeit leer stehen. So ging die Zahl der Einzelhandelsgeschäfte deutlich von 259 auf 205, also um rund ein Fünftel, zurück. Diese Entwicklung beeinträchtigt augenscheinlich die Attraktivität des stadtzentralen Einzelhandelsstandortes. Vermietungs- oder gar Verkaufserfolge scheiterten seit Anfang 2020 vermutlich auch an der sich ausbreitenden Corona-Pandemie, die – neben dem Gaststättengewerbe – besonders den Einzelhandel in eine erhebliche wirtschaftliche Bedrängnis brachte und als Folge zu Betriebsaufgaben führte.

Das Ergebnis der hier beispielhaft vorgestellten Untersuchung zeigt, wie mit der einfachen (stadt-)geographischen Methode der – insbesondere langfristigen – Beobachtung und deren Dokumentation stadtentwicklungsplanerische und damit kommunalpolitische Entscheidungsaspekte und deren Auswirkungen verdeutlicht werden können.

Literatur

Föhrer, M.; Kruse S. (2006): Städtebauliche Wirkungsanalyse eines geplanten Einkaufscenters in Leverkusen – Stadtmitte Wiesdorf – unter besonderer Berücksichtigung zu erwartender Auswirkungen auf die zentralen Versorgungsbereiche sowohl in Leverkusen als auch in der Region. Dortmund

IT.NRW – Information und Technik Nordrhein-Westfalen als Statistisches Landesamt (2018): Statistisches Jahrbuch 2018. Düsseldorf.

Nicolini, Gert (1983): Der Wandel des Stadtzentrums von Leverkusen. Eine Untersuchung über den Ein uß einer stadtplanerischen Maßnahme (Duisburger geographische Arbeiten, H. 4). Köln.

Nicolini, Gert (2021): Der Einzelhandel im Stadtzentrum von Leverkusen. Strukturelle Veränderungen im Standortgefüge von 1960 bis 2020. Leverkusen (www.stadtgeschichte-leverkusen.de; keine Print-Version).

Ris, Klaus M. (1957): Leverkusen – Großgemeinde – Agglomeration – Stadt (Forschungen zur deutschen Landeskunde, Bd. 99). Remagen.

Rother, Frank (1969): Leverkusen. Stadtgeographische Untersuchung einer jungen Industriestadt (Beiträge zur Stadtforschung, H. 5). Leverkusen.

28 STADTFORSCHUNG UND STATISTIK 2|2023 Schwerpunkt Innenstadt – Facetten einer Bestandsaufnahme
Karte 5: Die Geschäftsverlegungen im Einzelhandel

Ergebnisse der Bürgerumfrage „Leben in Wiesbaden“ zur Attraktivität der Innenstadt nach Corona

Wie wird die Wiesbadener Innenstadt in ihrer Attraktivität wahrgenommen? Wie hat sich die Attraktivität der Innenstadt vor dem Hintergrund der Corona-Pandemie verändert? Auf diese Fragen und auch zu den Besuchshäu gkeiten der befragten Wiesbadenerinnen und Wiesbadener im Rahmen der Bürgerumfrage „Leben in Wiesbaden“ im Herbst 2022 gibt der Beitrag Antworten. Insgesamt 21 Prozent der 4 282 befragten Bürgerinnen und Bürger sind zufrieden mit der Attraktivität der Wiesbadener Innenstadt, 43 Prozent geben allerdings an, eher unzufrieden zu sein. Bedingt durch die schwierige Situation im Rahmen der Corona-Pandemie sehen rund die Hälfte der Befragten (52 %) die Auswirkungen der Pandemie auf die Innenstadt als negativ an. Dahingehend ist es für 67 Prozent der teilnehmenden Bürgerinnen und Bürger eine vordringliche Priorität, die Attraktivität der Wiesbadener Innenstadt zu fördern.

Einleitung

Die Entwicklungen und die Zukunft der deutschen Innenstädte sind nicht erst seit der Corona-Pandemie ein wichtiges und zentrales Thema, sondern werden deutschlandweit schon länger in Gesellschaft, Politik, Forschung und von den Akteurinnen und Akteuren vor Ort diskutiert.

Das Amt für Statistik und Stadtforschung der Landeshauptstadt Wiesbaden untersuchte im Rahmen des Forschungsprojektes „Wiesbadener Innenstadt im Wandel“ diverse Aspekte der Innenstadtentwicklung. Mittels unterschiedlicher Erhebungsmethoden wie Begehungen und Beobachtungen, Einzelhandelsbefragung, durch leitfadengestützte Interviews mit Gastronominnen und Gastronomen, Passantinnen- und Passantenbefragung sowie Frequenzzählungen und anhand von funktionalen Kartierungen der Erdgeschosszone inklusive Fotodokumentation wurde die Wiesbadener Innenstadt in den letzten Jahren aus vielen Perspektiven betrachtet und beleuchtet (Landeshauptstadt Wiesbaden, Amt für Statistik und Stadtforschung 2021, 2022a, 2022b, 2022c, 2022d; Arnold 2021; Arnold & Schäfer-Etz 2022).

Nun, im Herbst 2022 wurden durch die Bürgerumfrage „Leben in Wiesbaden“ auch die Bürgerinnen und Bürger zu ihrer Innenstadt befragt (Landeshauptstadt Wiesbaden, Amt für Statistik und Stadtforschung 2023a, 2023b): Wie wird die Wiesbadener Innenstadt in ihrer Attraktivität wahrgenommen und wie hat sie sich vor dem Hintergrund der CoronaPandemie verändert? Auch Besuchshäu gkeiten und Gründe des Fernbleibens aus der Innenstadt sind Gegenstand dieser Bürgerumfrage gewesen.

Dr. phil. Dipl.-Geogr. Gregor Arnold ist wissenschaftlicher Mitarbeiter im Amt für Statistik und Stadtforschung, Abteilung Stadtforschung und Umfragen der Landeshauptstadt Wiesbaden. Seit 2020 arbeitet er über die Entwicklung und Wandel der Wiesbadener Innenstadt, derzeit im Rahmen der Begleitforschung des Bundesförderprogramms „Zukunftsfähige Innenstädte und Zentren (ZIZ)“.

Themenschwerpunkte: Stadt- und Quartiersentwicklung, Leerstand und Innenstadt, transnationale Migration und Interkulturalität sowie Geographische Informationssysteme (GIS).

: dr.gregor.arnold@wiesbaden.de

Schlüsselwörter:

Innenstadt – Attraktivität – Besuchshäu gkeiten –Corona-Pandemie – Bürgerumfrage „Leben in Wiesbaden“

Der Artikel thematisiert die Befunde der Bürgerumfrage und analysiert die Wahrnehmung der Attraktivität der Wiesbadener Innenstadt anhand von Personenmerkmalen wie Alter, Wohndauer in Wiesbaden oder Wohnstandort bzw. dessen Entfernung zur Innenstadt. Aufgrund der methodisch vergleichbaren Konzeption der wiederkehrenden Bürgerumfrage (Abschnitt 2) lassen sich Veränderungen in der Problemwahrnehmung der Bürgerinnen und Bürger hinsichtlich der Attraktivität der Innenstadt herausarbeiten und u.a. vor dem Hintergrund der Corona-Pandemie bewerten.

STADTFORSCHUNG UND STATISTIK 2|202329 Schwerpunkt Innenstadt – Facetten einer Bestandsaufnahme

Methodische Aspekte der Bürgerumfrage „Leben in Wiesbaden“

Die Bürgerumfrage „Leben in Wiesbaden“ fand im Herbst 2022 zum vierten Mal statt. Erstmals wurde die Befragung 2014 durchgeführt, 2020 setzte sie u. a. aufgrund der CoronaPandemie aus (Landeshauptstadt Wiesbaden, Amt für Statistik und Stadtforschung 2023b: 7).

Insgesamt 14 000 zufällig aus dem Einwohnermelderegister ausgewählte Wiesbadenerinnen und Wiesbadener im Alter von 18 bis 90 Jahren erhielten eine Einladung, an der Befragung teilzunehmen. Im Jahr 2022 konnten 4 282 auswertbare Interviews erzielt werden. Die erhobenen Informationen liefern ein repräsentatives Bild der volljährigen Wiesbadener Bevölkerung. Einen Überblick über die Konzeption der Erhebung gibt Tabelle 1.

Bürgerbefragungen können an vielen Stellen Einblicke liefern, über die die amtliche Statistik und Verwaltungsregister keine Informationen liefern. Dies betri t insbesondere subjektive Bewertungen. Einen informativen Zusatzgewinn erzielt die Befragung vor allem dadurch, dass sie neben einem aktuellen Stimmungsbild eine mittel- bis längerfristige Trendbeobachtung über die Zeit ermöglicht. Dies wird durch die „modulare“ Konzeption gewährleistet. Durch die methodisch vergleichbaren Konzeptionen der Bürgerumfragen in den letzten Jahren lassen sich Veränderungen in der Problemwahrnehmung der Bürgerinnen und Bürger feststellen sowie längerfristige Entwicklungstrends beobachten. Neben

vielen wiederkehrenden Frageformulierungen, die mit den Erhebungen seit 2014 vergleichbar sind, werden systematisch neue Fragen zu aktuellen Entwicklungen und Themen ergänzt, während andere Fragen der Vorjahre ausgesetzt werden. Das Kernprogramm umfasst Einschätzungen zur städtischen Lebensqualität und die Zufriedenheit mit verschiedenen Aspekten der kommunalen Infrastruktur sowie kommunalpolitische Aufgabenprioritäten aus Sicht der Bürgerinnen und Bürger.

Im Jahr 2022 wurde das Kernprogramm mit Fragen u. a. zu Auswirkungen der Corona-Pandemie und persönlichen Sorgen sowie mit Frageaspekten zur Wiesbadener Innenstadt ergänzt. Die Wahrnehmung der Attraktivität der Wiesbadener Innenstadt wurde erstmals 2018 abgefragt und auch 2022 erneut aufgegri en. Die Frageaspekte zu den Besuchshäu gkeiten und den Gründen des Fernbleibens aus der Innenstadt sind erstmals 2022 dem Fragenkatalog hinzugefügt worden, sodass die Bürgerumfrage im Herbst 2022 folgende Themen berücksichtigt (Landeshauptstadt Wiesbaden, Amt für Statistik und Stadtforschung 2023b: 7f):

- Lebensqualität in Wiesbaden, kommunalpolitische Aufgaben

- Persönliche Lebenssituation, Wohlbe nden und Sorgen, Auswirkungen von Corona

-Wiesbadener Hilfesystem „Gewalt gegen Frauen“

- Junge Erwachsene: Lebenssituation, Sorgen und Beurteilung Wiesbadens

- Wohnkosten, Wohnsituation, Wohnumgebung

-Verkehr, Mobilität, Innenstadt, Klimaschutz

-Soziodemographische Merkmale

Tab. 1: Erhebungskonzept der Bürgerumfrage „Leben in Wiesbaden 2022“

Konzeption Vergleichbare Befragung der Wiesbadener Bürgerschaft zu verschiedenen kommunalen Themen alle zwei Jahre, um langfristige Trends und aktuelle Themen beobachten zu können

Bisherige Erhebungsjahre 2022, 2018, 2016, 2014

Grundgesamtheit Wiesbadener Bürgerinnen und Bürger im Alter von 18 bis 90 Jahren mit Hauptwohnsitz in Wiesbaden und einer Wohndauer in Wiesbaden von mind. sechs Monaten (rund 232.000 Personen in 2022)

Stichprobengrundlage

Stichprobenumfang

Einwohnermelderegister zum Stand 31. Juli 2022

Zufallsstichprobe geschichtet nach Ortsbezirken

14.000 Bürgerinnen und Bürger wurden angeschrieben

Befragungsmethode Schriftliche Hybrid-Befragung (Online/Papier)

Einladungsmodus (neu in 2022) in 2 Teilstichproben:

-Personen bis 49 Jahren: Einladung zur Online-Befragung („Online First“; 7.067 Personen)

- Personen ab 50 Jahren: Einladung zur Online-Befragung plus Papierfragebogen („Papier/Hybrid“, 6.933 Personen)

Realisierte Interviews

4.282 insgesamt, davon

2.088 Papierfragebögen (48,8%) und

2.194 Online-Teilnahmen (51,2%)

 1,8% der Grundgesamtheit

Beteiligungsquote

30,6% (2018: 29,5%, 2016: 28,1%, 2014: 34,6%):

20,6% in der Teilstichprobe „Online-First“

39,8% in der Teilstichprobe „Papier/Hybrid“

Befragungszeitraum Mitte September bis Ende Oktober 2022

Befragungsinhalte ca. 2/3 des Fragebogens Trend-/Wiederholungsfragen

ca. 1/3 neu formulierte Fragen

Quelle: Landeshauptstadt Wiesbaden, Amt für Statistik und Stadtforschung 2023b: 7

30 STADTFORSCHUNG UND STATISTIK 2|2023 Schwerpunkt Innenstadt – Facetten einer Bestandsaufnahme

Detaillierte Aspekte zur Methode, zum Konzept und zur Beteiligung an der Bürgerumfrage „Leben in Wiesbaden“ aus dem Jahr 2022 werden an anderer Stelle umfassend behandelt (Landeshauptstadt Wiesbaden, Amt für Statistik und Stadtforschung 2023b).

Attraktivität, Besuchshäu gkeiten und Fernbleiben aus Wiesbadens Innenstadt

Bereits im Zuge des Forschungsprojektes „Wiesbadener Innenstadt im Wandel“ (Februar 2020 bis Dezember 2022) wurden der anhaltende Strukturwandel und die seit der Corona-Pandemie verstärkte und beschleunigte Transformation der Innenstadt aufgearbeitet. Diese Entwicklungen spiegeln sich nun in der durch die befragten Bürgerinnen und Bürger Wiesbadens bewerteten Attraktivität ihrer Innenstadt wider: Waren es im Jahr 2018 noch 31 Prozent von damals 4 127 Befragten, die „(sehr) zufrieden“ mit der Attraktivität der Wiesbadener Innenstadt waren, sind es 2022 bei 4 282 Befragten über 10 Prozentpunkte weniger. Gleichzeitig wächst der Anteil der „(sehr) unzufriedenen“ Bürgerinnen und Bürger mit der Attraktivität ihrer Innenstadt von im Jahr 2018 29 Prozent auf 43 Prozent im Jahr 2022 (Abb. 1). Wir halten also fest: Die Zufriedenheit mit der Attraktivität der Wiesbadener Innenstadt hat zuletzt abgenommen.

Die Passanten- und Passantinnenfrequenzen waren während der Jahre 2020, 2021 und 2022 in der Wiesbadener Innenstadt pandemiebedingt deutlich - und in den Lockdownphasen zum Teil drastisch - unter dem Vor-Corona-Niveau von 2019 (Landeshauptstadt Wiesbaden, Amt für Statistik und Stadtforschung 2021b). Angaben zu den Besuchshäu gkeiten der Wiesbadener Innenstadt konnte durch die Umfrage eingeholt werden: 9 Prozent sind „(fast) täglich“ in der Innenstadt unterwegs, 18 Prozent „mehrmals pro Woche“ und 28 Prozent sind es „mehrmals pro Monat“. Dementsprechend wird Wiesbadens Innenstadt von 39 Prozent der 4 282 befragten Bürgerinnen und Bürger „seltener“ besucht, 4 Prozent der Befragten besuchen ihre Innenstadt „nie“ (Abb. 2).

In den Abbildungen 3 und 4 werden die Besuchshäu gkeiten di erenzierter betrachtet: Während beispielsweise das Geschlecht keinen Ein uss auf die Besuchshäugkeit der Innenstadt hat, zeigen sich deutliche Unterschiede nach Alter der Befragten (Abb. 3) und Wohndauer in Wiesbaden (Abb. 4), wobei Lebensalter und Wohndauer miteinander korrelieren.

Abb. 2: Besuchshäu gkeiten der Wiesbadener Innenstadt

Abb.

Quelle: Landeshauptstadt Wiesbaden, Amt für Statistik und Stadtforschung, Bürgerumfrage „Leben in Wiesbaden 2022“, n = 4 282 Befragte

der Attraktivität der Wiesbadener Innenstadt

Quelle: Landeshauptstadt Wiesbaden, Amt für Statistik und Stadtforschung; Bürgerumfrage „Leben in Wiesbaden 2018“, n=4.127 Befragte; Bürgerumfrage „Leben in Wiesbaden 2022“, n=4.282 Befragte

Abb. 3: Häu gkeit der Besuche der Wiesbadener Innenstadt nach Alter

Quelle: Landeshauptstadt Wiesbaden, Amt für Statistik und Stadtforschung, Bürgerumfrage „Leben in Wiesbaden 2022“, n=4.282 Befragte

STADTFORSCHUNG UND STATISTIK 2|202331 Schwerpunkt Innenstadt – Facetten einer Bestandsaufnahme
1: Wahrnehmung

Mit zunehmendem Alter wird die Innenstadt seltener besucht. Es nehmen sowohl die Prozentzahlen der Antwortitems „(fast) täglich“, „mehrmals pro Woche“ und „mehrmals pro Monat“ ab, als auch die prozentualen Ausprägungen bei „seltener“ zu. Mehr als 40 Prozent aller Befragten im Alter von 50 Jahren

Abb. 4: Häu gkeit der Besuche der Wiesbadener Innenstadt nach Wohndauer

und älter sind „seltener“ in der Innenstadt unterwegs, ca. ein Viertel dieser Altersklasse ist es „mehrmals pro Monat“. Entsprechend ähnlich verhält es sich mit der Betrachtung der Wohndauer der befragten Bürgerinnen und Bürger: Wer in Wiesbaden geboren ist, besucht die Innenstadt nicht nur „seltener“, sondern auch weniger oft „täglich“, „mehrmals pro Woche“ oder „mehrmals pro Monat“ als jene Menschen, die nach Wiesbaden zugezogen sind (Abb. 4).

Damit einhergehend nimmt auch mit fortlaufender Wohndauer die Besuchshäu gkeit der Innenstadt ab. Wohingegen 12 Prozent der erst kürzlich zugezogenen Wiesbadenerinnen und Wiesbadener „(fast) täglich“ in die Innenstadt gehen, sind es bei jenen, die länger als 31 Jahre in Wiesbaden wohnen, nur noch 8 Prozent. Eine Abnahme der Besuchshäu gkeit mit zunehmender Wohndauer zeigt sich in den weiteren Antwortitems gleichermaßen und könnte mit den sich ändernden Lebenssituationen bei fortschreitendem Alter zusammenhängen, wie beispielsweise Eigentumsbildung, der damit meist einhergehende Wohnstandortwechsel ins Grüne und entsprechend der Entfernung zur Innenstadt (Abb. 5).

Quelle: Landeshauptstadt Wiesbaden, Amt für Statistik und Stadtforschung, Bürgerumfrage „Leben in Wiesbaden 2022“, n=4.282 Befragte

Abb. 5: Häu gkeit der Besuche der Wiesbadener Innenstadt nach Entfernung

Mehr als 50 Prozent der befragten Wiesbadenerinnen und Wiesbadener, die im innerstädtischen Zentrum (City) wohnen, geben an, „(fast) täglich“ oder „mehrmals pro Woche“ in der Innenstadt unterwegs zu sein. Ein weiteres Viertel dieser Cityanwohnerinnen und -anwohner sind „mehrmals pro Monat“ in der Innenstadt zu Besuch. Mit zunehmender Entfernung nimmt die Besuchshäu gkeit ab: Wer also am Stadtrand wohnt, besucht nur „seltener“ die Innenstadt (54%). Insgesamt 7 Prozent der am Stadtrand wohnenden befragten Wiesbadenerinnen und Wiesbadener besuchen die Innenstadt „nie“. Besonders die Entfernung zum Zentrum scheint ein zentrales Merkmal für die Häu gkeit von Innenstadtbesuchen zu sein und wirkt damit auch indirekt auf die Gründe für seltene Besuche und Fernbleiben aus der Innenstadt ein (Abb. 6).

Quelle: Landeshauptstadt Wiesbaden, Amt für Statistik und Stadtforschung, Bürgerumfrage „Leben in Wiesbaden 2022“, n=4.282 Befragte

Der Online-Einkauf nimmt mit der Entfernung zur Innenstadt zwar leicht ab – Cityanwohnerinnen und

32 STADTFORSCHUNG UND STATISTIK 2|2023 Schwerpunkt Innenstadt – Facetten einer Bestandsaufnahme

-anwohner kaufen (interessanterweise) also öfters online ein als die Befragten an den Stadträndern - allerdings gehen die am Stadtrand Wohnenden mit knapp 60 Prozent andernorts, also außerhalb der Innenstadt einkaufen. Dies sind in Wiesbaden im Wesentlichen Bürgerinnen und Bürger aus den Ortsbezirken Amöneburg, Kastel und Kostheim, da sie in direkter Nähe zur rheinlandpfälzischen Nachbar- und Landeshauptstadt Mainz wohnen. Der Weg über den Rhein in die Mainzer Innenstadt ist für diese Anwohnerinnen und Anwohner kürzer als in die Wiesbadener Innenstadt. Weiter spiegeln sich bei den Stadtrandanwohnerinnen und -anwohnern die Notwendigkeit einer guten Parksituation und Erreichbarkeit der Innenstadt (32 %) sowie die Anbindung an den ÖPNV (18 %) im Vergleich zu den Cityanwohnerinnen und -anwohner wider. Demgegenüber ist es durchaus überraschend, dass bei den Aspekten „Einkaufsangebote/-vielfalt der Innenstadt sprechen mich nicht an“, „in der Innenstadt ist mir zu viel los / zu viel Trubel“ oder „keinen konkreten Anlass die Innenstadt aufzusuchen“ sowie „ich fühle mich in der Innenstadt nicht wohl / sicher“ die Prozentpunkte der Cityanwohnerinnen und -anwohner deutlich überwiegen. Dies ist ein weiteres Argument dafür, dass es nicht allein die wahrgenommene Attraktivität der Innenstadt ist, sondern besonders die Entfernung ein ausschlaggebendes Kriterium für Innenstadtbesuche zu sein scheint. Allerdings zeigt sich auf die Frage des Ein usses der CoronaPandemie auf die Attraktivität der Innenstadt ein klares Bild (Abb. 7). Für 52 Prozent der befragten Bürgerinnen und Bürger hat die CoronaPandemie „eher“ und „sehr negative“, längerfristige Auswirkungen auf die Attraktivität der Innenstadt. Insgesamt 21 Prozent können diese Frage nicht beurteilen und machten keine Angaben.

Abb. 6: Gründe für seltene Besuche und Fernbleiben aus der Wiesbadener Innenstadt nach Wohnstandort

Quelle: Landeshauptstadt Wiesbaden, Amt für Statistik und Stadtforschung, Bürgerumfrage „Leben in Wiesbaden 2022“, n=1.821 Befragte

Abb. 7: Längerfristige Auswirkungen der Corona-Pandemie auf die Attraktivität der Wiesbadener Innenstadt

Quelle: Landeshauptstadt Wiesbaden, Amt für Statistik und Stadtforschung, Bürgerumfrage „Leben in Wiesbaden 2022“, n=4.282 Befragte

Abb. 8: Priorität, die Attraktivität der Wiesbadener Innenstadt zu fördern

Quelle: Landeshauptstadt Wiesbaden, Amt für Statistik und Stadtforschung, Bürgerumfrage „Leben in Wiesbaden 2022“, n=4.282 Befragte

STADTFORSCHUNG UND STATISTIK 2|202333 Schwerpunkt Innenstadt – Facetten einer Bestandsaufnahme

Zusammenfassung und Ausblick

Die Attraktivitätsverluste der Wiesbadener Innenstadt sind bereits über das in der Einleitung angesprochene Forschungsprojekt „Wiesbadener Innenstadt im Wandel“ angeklungen und konnten nun gegen Ende 2022 durch die im Rahmen der Bürgerumfrage „Leben in Wiesbaden“ zusammengetragenen Befunde aus Sicht der Bürgerinnen und Bürger bestätigt werden. Die Corona-Pandemie hat zu der Wahrnehmung der Attraktivität der Wiesbadener Innenstadt weiter negativ beigetragen, entsprechend priorisieren mehr als zwei Drittel (67%) der 4 282 befragten Bürgerinnen und Bürger Wiesbadens eine „vordringliche“ Förderung der Attraktivität ihrer Innenstadt (Abb. 8).

In der Attraktivitätsförderung ist die Stadt Wiesbaden durch Pläne, Programme und konkrete Maßnahmen vielfach aktiv und engagiert sich, dem in Abbildung 8 formulierten Wunsch ihrer Bürgerinnen und Bürger nachzukommen, um eine zukunftsfähige und lebendige Innenstadt zu gestalten. Neben dem langfristig angelegten „Masterplan Innenstadt für die Landeshauptstadt Wiesbaden“ (GMA - Gesellschaft für Markt- und Absatzforschung mbH 2021) mit seinen Leitlinien und Handlungsmaximen und den auf die innerstädtischen Quartiere bezogenen Maßnahmen mit dem Gesamtziel, die Innenstadt als attraktives und vielfältiges Zentrum zu erhalten und weiterzuentwickeln, nimmt Wiesbaden derzeit am Landesprogramm „Zukunft Innenstadt“ teil. Hier ist es formuliertes Ziel, „die Kommunen dabei zu unterstützen, zusammen mit

den Akteuren vor Ort kreative und nachhaltige Lösungsansätze zu entwickeln, um ihre Innenstädte neu zu denken und zu gestalten“ (Hessisches Ministerium für Wirtschaft, Energie, Verkehr und Wohnen). Darüber hinaus wurden der Landeshauptstadt Hessens Mittel aus dem Bundesprogramm „Zukunftsfähige Innenstädte und Zentren (ZIZ)“ zugesagt. Entsprechend soll auch in Wiesbaden „auf experimentelle Art und Weise (…) bis August 2025 getestet werden, wie die Wiesbadener Innenstadt attraktiver und widerstandsfähiger werden kann. (…) Dieses Programm unterstützt Städte bei den aktuellen Herausforderungen und bei der Bewältigung struktureller Problemlagen der Innenstädte, indem es einen modellhaften Charakter, innovative Konzepte und Handlungsstrategien fördert“, heißt es vom Pressereferat der Landeshauptstadt Wiesbaden.

Vor dem Hintergrund der präsentierten Ergebnisse der stadtweiten Umfrage „Leben in Wiesbaden“ zur Wahrnehmung der Attraktivität der Innenstadt und den längerfristigen negativen Auswirkungen der Corona-Pandemie aus Sicht der Bürgerinnen und Bürger hat die Stadt Wiesbaden mit der Teilnahme an den beiden Förderprogrammen bereits mehrere Schritte eingeleitet und Aktionen umgesetzt, um die Förderung der Attraktivität im Zuge des Wandels der Wiesbadener Innenstadt zu beschleunigen. Nun besteht die Herausforderung darin, dass die für die Zukunft geplanten Maßnahmen im Kontext der Förderprojekte zur Steigerung der Attraktivität ihre konkrete Umsetzung nden und vor Ort die de nierten Aufwertungsziele erreicht werden.

Literatur

Arnold, G. (2021): Reurbanisierung und demographische Entwicklungen im Zuge des Wandels der Wiesbadener Innenstadt. In: Stadtforschung und Statistik 2/2021: 81–90. Online: https://www.ssoar.info/ssoar/handle/ document/75070 (05.05.2023)

Arnold, G. und R. Schäfer-Etz (2022): Folgen und E ekte der Corona-Pandemie in der Innenstadt Wiesbadens. In: Stadtforschung und Statistik 1/2022: 83–90. (derzeit nur Printversion erhältlich)

GMA – Gesellschaft für Markt- und Absatzforschung mbH (2021): Masterplan Innenstadt für die Landeshauptstadt Wiesbaden. Köln. Online: https://dein.wiesbaden.de/wiesbaden/de/ exPrjList/51485/project/394;jsess ionid=1064F07325AE8BE21CB64A74C98E9 49A.liveWorker2?0--body-content-listPanel1-furtherInformationContainer-attachmentsContainer-attachments-1-attachment.link (05.05.2023)

Hessisches Ministerium für Wirtschaft, Energie, Verkehr und Wohnen (2023): Das Landesprogramm Zukunft Innenstadt. Online: https:// nachhaltige-stadtentwicklung-hessen.de/ zukunft-innenstadt/das-foerderprogramm. html (05.05.2023)

Landeshauptstadt Wiesbaden, Amt für Statistik und Stadtforschung (2021): Wiesbadener Innenstadt im Wandel, Teil A: Datenanalyse.

Wiesbaden. Online: https://www.wiesbaden. de/medien-zentral/dok/leben/stadtportrait/2021_03_23_Innenstadt-im-WandelTeil-A.pdf (05.05.2023)

Landeshauptstadt Wiesbaden, Amt für Statistik und Stadtforschung (2022a): Wiesbadener Innenstadt im Wandel, Teil B: Empirische Stadtforschung. Wiesbaden. Online: https:// www.wiesbaden.de/medien-zentral/dok/leben/stadtportrait/2021_12_22_StadtanalyseErgebnisbericht-Innenstadt_ nal-mit-neuemImpressum.pdf (05.05.2023)

Landeshauptstadt Wiesbaden, Amt für Statistik und Stadtforschung (2022b): Wiesbadener Innenstadt im Wandel - Passantenfrequenzen am Standort „Kirchgasse Mitte“. Wiesbaden. Online: https://www.wiesbaden.de/medienzentral/dok/leben/stadtportrait/kurz-und-buendig_VOe_Passantenfrequenzen-2019-2022. pdf (05.05.2023)

Landeshauptstadt Wiesbaden, Amt für Statistik und Stadtforschung (2022c): Wiesbadener Innenstadt im Wandel - Verkehrsmittelwahl der Innenstadtbesucher/-innen. Wiesbaden. Online: https://www.wiesbaden.de/medienzentral/dok/leben/stadtportrait/VOe-Kurzund-Buendig-Verkehr.pdf (05.05.2023)

Landeshauptstadt Wiesbaden, Amt für Statistik und Stadtforschung (2022d): Kartenband zur Wiesbadener Innenstadt. Wiesbaden. Online:

https://www.wiesbaden.de/medien-zentral/ dok/leben/stadtportrait/FINAL-2023_01_05Kartenband_Internet-A3-quer-mit-Deckblatt. pdf (05.05.2023)

Landeshauptstadt Wiesbaden, Amt für Statistik und Stadtforschung (2023a): Leben in Wiesbaden 2022 – Wiesbadener Innenstadt. Wiesbaden. Online: https://www.wiesbaden. de/medien-zentral/dok/leben/stadtportrait/VOe-Kurz-und-Buendig-Innenstadt.pdf (05.05.2023)

Landeshauptstadt Wiesbaden, Amt für Statistik und Stadtforschung (2023b): Leben in Wiesbaden 2022 – Konzept und Beteiligung an der Bürgerumfrage. Wiesbaden. Online: https://www.wiesbaden.de/medien-zentral/ dok/leben/stadtportrait/2023_03_02-FINALSA_LIW_Konzept-Beteiligung-2022.pdf (05.05.2023)

Landeshauptstadt Wiesbaden, Pressereferat (2023): Neues Bundesförderprogramm „Zukunftsfähige Innenstädte und Zentren“ startet, Pressemitteilung vom 12. April 2023. Wiesbaden. Online: https://www.wiesbaden. de/medien/rathausnachrichten/PM_Zielseite.php?showpm=true&pmurl=https://www. wiesbaden.de/guiapplications/newsdesk/ publications/Landeshauptstadt_Wiesbaden/141010100000443388.php (05.05.2023)

34 STADTFORSCHUNG UND STATISTIK 2|2023 Schwerpunkt Innenstadt – Facetten einer Bestandsaufnahme

Wie „in“ sind die Innenstädte als Wohnstandorte?

Demogra sche Entwicklungen und Mietwohnungsmärkte in deutschen Innenstädten

Mit der 2021 verabschiedeten Innenstadtstrategie haben die Bundesregierung und verschiedene stadtpolitische Akteure Perspektiven für die zukünftige Innenstadtentwicklung vorgelegt. Diese politische Sicht auf die Innenstadt soll aus stadtvergleichender Perspektive um eine empirische Sicht ergänzt werden, die Daten der Innerstädtischen Raumbeobachtung (IRB) und der Wohnungsmarktbeobachtung des BBSR nutzt. Bezug genommen wird auf Eckwerte der Innenstadtentwicklung: langfristige Tendenzen der Bevölkerungsentwicklung, bevölkerungsstrukturelle Veränderungen und Mietwohnungsangebote.

Einführung

Die politische Selbstbeschreibung der europäischen Stadt, wie sie in der Neuen Leipzig Charta formuliert ist, sieht in der Stadt nicht nur eine dicht bebaute Siedlung, sondern ein multifunktionales Gebilde, das ein (einzigartiges) kulturelles, soziales, ökologisches und wirtschaftliches Zusammenspiel ermöglicht (Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat 2020: 2). Dabei wird die Bedeutung der Innenstadt besonders hervorgehoben. „Die meisten Städte sind geprägt von einzigartigen, historisch gewachsenen Innenstädten von außergewöhnlicher kultureller Bedeutung. Sie prägen das städtische Kulturerbe Europas und die Identität ihrer Einwohnerinnen und Einwohner“ (ebd.).

Jürgen Göddecke-Stellmann

Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung (BBSR) im Bundesamt für Bauwesen und Raumordnung (BBR), Bonn. Aufgabenschwerpunkte: kleinräumige Stadtbeobachtung, Monitoring der Städtebauförderung : juergen.goeddecke@bbr.bund.de

Cornelia Müller

Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung (BBSR) im Bundesamt für Bauwesen und Raumordnung (BBR), Bonn. Aufgabenschwerpunkte: kleinräumige Stadtbeobachtung, wissenschaftliche Begleitung von Projekten zur Stadtentwicklung

: cornelia.mueller@bbr.bund.de

Alexander Schürt

Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung (BBSR) im Bundesamt für Bauwesen und Raumordnung (BBR), Bonn. Aufgabenschwerpunkte: Wohnungs- und Immobilienmarktbeobachtung, Mieten- und Preisanalysen

: alexander.schuert@bbr.bund.de

Schlüsselwörter:

Demogra e – Innenstadt – Innerstädtische Raumbeobachtung – kleinräumiger Städtevergleich –Wohnungsmarktbeobachtung

Gleichwohl betrachtet die Politik die Entwicklung der Innenstädte mit Sorge. Insbesondere ihre Funktion als Handelsstandort und zentraler Versorgungsbereich ist in den letzten Jahren durch den Strukturwandel des Handels geprägt und wird als gefährdet angesehen. Die stark gestiegenen Umsätze beim Onlinehandel zeigen an, wie sich die Gewichte zwischen dem klassischen stationären Handel und dem Onlinehandel verschoben haben (BBSR 2022: 29 .). Die attestierten Funktionsverluste sind durch die Auswirkungen der Corona-Pandemie noch verstärkt worden. So sehen viele Oberbürgermeisterinnen und Oberbürgermeister in der Verödung der Innenstädte eine Gefahr (Hollbach-Grömig/Kühl 2023).1 Auch auf bundespolitischer Ebene hat dieser Bedeutungswandel oder -verlust entsprechende Reaktionen hervorgerufen. So wurde ein Beirat zur Entwicklung der Innenstädte einberufen und im Jahr 2021 eine Innenstadtstrategie verabschiedet (Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat 2021). Auch der Deutsche Städtetag hat sich mit einem Positionspapier in die politische Debatte eingebracht (Deutscher Städtetag 2021).

Diese starke Fokussierung auf die Funktion „Handelsstandort“ beleuchtet aber nur einen Aspekt der Innenstadtentwicklung. Im Kontrast dazu soll im Folgenden eine ergänzende Position eingenommen werden und die Innenstadt in ihrer Funktion als Wohnstandort betrachtet werden. Denn die Innenstadt weist für das Wohnen spezi sche Standortvorteile auf. Die mit der Zentralität verbundene gute Erreichbarkeit, die vielfältigen kulturellen und gastronomischen Angebote und die Nähe zu Arbeitsplätzen zeichnen innerstädtische Wohnlagen aus (Arnold 2021). Nicht unterschlagen werden soll, dass auch Belastungen und Nachteile gegeben sind. Dazu

STADTFORSCHUNG UND STATISTIK 2|202335 Schwerpunkt Innenstadt – Facetten einer Bestandsaufnahme
Jürgen Göddecke-Stellmann, Cornelia Müller, Alexander Schürt

zählen die hohe bauliche Verdichtung mit vielfach geringen Grünanteilen, Umweltbelastungen durch Lärm und Abgase, die höhere Aktivitätsdichte, das höhere Mieten- und Kaufpreisniveau und weitere Faktoren. In der Abwägung aller Vor- und Nachteile überwiegen für bestimmte Gruppen die Vorteile der Innenstadt als Wohnstandort. Gerade Personen und Haushalte, die die urbane Lebensweise bevorzugen, nden in der Innenstadt genau die Lebensbedingungen vor, die für sie Stadt ausmachen.2

Dieser Beitrag bietet zunächst einen Überblick, wie sich die Zahl der Innenstadtbewohnerinnen und -bewohner entwickelt und sich somit die Bedeutung des Wohnens in der Innenstadt verändert hat. Im langfristigen Zeitvergleich ist seit 1992 für ausgewählte ost- und westdeutsche Städte die Einwohnerentwicklung di erenziert nach innerstädtischen Lagetypen darstellbar. Dieser erste Eindruck wird anschließend vertieft, indem für den Zeitraum ab 2011 verschiedene Aspekte der Bewohnerstrukturen aufgezeigt werden. Um das gewonnene Bild zu ergänzen, werden schließlich Strukturen und Veränderungen der Mietwohnungsangebote dargestellt.

Bevölkerungsentwicklung im langfristigen Zeitvergleich

Die anschließenden Auswertungen beruhen auf dem historischen Datensatz der IRB. Im langfristigen Vergleich soll die Bevölkerungsentwicklung in den beteiligten IRB-Städten untersucht werden, um einen ersten Eindruck darüber zu gewin-

nen, wie sich die Innenstädte als Wohnstandort im Vergleich zu den beiden anderen IRB-Lagetypen Innenstadtrand und Stadtrand entwickelt haben. Für neun ostdeutsche Städte (inkl. Berlin) und 23 westdeutsche Städte liegen die Bevölkerungsbestandsdaten als Zeitreihe vor.3 Es zeigen sich vor allem in den ostdeutschen IRB-Städten starke Bevölkerungsverluste in der Innenstadt und am Innenstadtrand (Abb. 1). Ab 2000 stabilisiert sich die Entwicklung und geht in eine Wachstumsphase über, die bis 2019 anhält, wobei die Dynamik in der Innenstadt der ostdeutschen Städte deutlicher ausgeprägt ist als am Innenstadtrand. Als Hintergrund für diese Entwicklung kann die in den frühen 1990er Jahren noch meist marode Baustruktur in den ostdeutschen Städten angesehen werden, die das Wohnen im Altbaubestand der Städte in weiten Teilen unattraktiv oder gar unmöglich machte. Von den nach und nach einsetzenden Sanierungserfolgen pro tierten insbesondere die Innenstädte, die so schrittweise wieder zu gefragten Wohnstandorten wurden.

Dieses Erklärungsmuster greift in den westdeutschen Städten nicht, da hier die städtebauliche Entwicklungsgeschichte eine gänzlich andere war. Bei insgesamt rückläu ger Bevölkerungsentwicklung verzeichneten die Innenstädte einen erheblichen Bevölkerungsrückgang bis in die frühen 2000er Jahre. Erst danach setzte eine allmähliche Stabilisierung ein, die ab circa 2010 in eine länger anhaltende Phase des Bevölkerungswachstums überging. Insgesamt leben in den 23 westdeutschen Städten ab 2016 wieder mehr Einwohnerinnen und Einwohner in der Innenstadt als zu Beginn der Zeitreihe (1992). Hierin spiegelt sich der zum Teil große Zuzugsdruck wider, der

Datengrundlagen

Innerstädtische Raumbeobachtung (IRB)

Die IRB ist ein kommunalstatistisches Kooperationsprojekt, an dem sich mehr als 50 Städte beteiligen. Überwiegend handelt es sich um Großstädte mit mehr als 250.000 Einwohnerinnen und Einwohnern. Aber auch Städte unterhalb dieser Größenordnung beteiligen sich an dem Projekt. BBSR und die IRB-Städte kooperieren auf Basis einer gemeinsam ausgehandelten „Geschäftsgrundlage“ (Böltken/Gatzweiler/ Meyer 2007). Dazu zählt im Wesentlichen ein mit den Städten abgestimmter Datenkatalog, der mehr als 400 Merkmale umfasst, und ein kleinräumiger Raumbezug, der sich an den statistischen Gliederungen der Städte anlehnt. In einem durchschnittlichen IRB-Stadtteil leben etwa 8.000 Einwohnerinnen und Einwohner. Für rund 3.000 Stadtteile liegen zu den erfassten Variablen Zeitreihen seit 2002 vor, so dass Entwicklungstrends gut abgebildet werden können.

Historischer IRB-Datensatz

Die Wurzeln der IRB reichen bis in die späten 1980er Jahre zurück (Göddecke-Stellmann/Lauerbach/Winkler 2021). Die Geschichte der IRB umfasst zwei Projektphasen. Die erste Phase reichte bis zum Ende der 1990er Jahre. Nach einer mehrjährigen Pause verständigten sich IRBStädte und das BBR auf eine Wiederaufnahme des Projektes. Das BBR fungiert seither als „Geschäftsstelle“ des Projektes. Die wesentlichen Grundlagen (Merkmalskatalog, Raumbezug) sind erhalten geblieben, um eine „Anschlussfähigkeit“ zwischen der ersten und zweiten Phase der IRB herzustellen. Um die entstandene Datenlücke zwischen den beiden Phasen zu schließen, verständigten sich Städte und BBR auf die Bereitstellung eines sogenannten historischen Datensatzes, der auf wenige Eckmerkmale begrenzt war. Auf diese Weise ist es gelungen, zu diesen Eckmerkmalen Zeitreihen aufzubauen, die bei den westdeutschen Städten teils bis 1980 und bei den ostdeutschen Städten bis 1992 zurückreichen.

Angebotsmieten

Die vom BBSR ausgewerteten Angebotsmieten basieren auf Inseraten von Immobilienplattformen und von Zeitungen für Wiedervermietungen von Wohnungen. Sie spiegeln das Angebot wider, auf das Wohnungssuchende tre en, wenn sie im Internet nach einer Mietwohnung suchen. Die verwendeten Daten umfassen nettokalte Angebotsmieten, also ohne kalte und warme Nebenkosten. Als Quelle werden die Datenbanken der IDN ImmoDaten GmbH mit Inseraten aus über 120 Immobilienportalen und Zeitungen verwendet, die das BBSR aufbereitet und daraus durchschnittliche Angebotsmieten berechnet. Mit dieser Quelle werden nicht alle Wohnungsangebote erfasst. Inserate aus lokalen Zeitungen, Mieter- oder Unternehmenspublikationen oder von Aushängen können nicht mit ein ießen. Wohnungsvermittlungen über Kunden- und Wartelisten von Wohnungsunternehmen oder Maklerinnen und Maklern können ebenfalls nicht berücksichtigt werden. Daher sind gerade Wohnungen im günstigen Mietsegment mit dieser Datenquelle unterrepräsentiert. Mieten aus bestehenden Mietverhältnissen lassen sich mit dieser Datengrundlage ebenfalls nicht darstellen.

36 STADTFORSCHUNG UND STATISTIK 2|2023 Schwerpunkt Innenstadt – Facetten einer Bestandsaufnahme

vor allem durch den Zuzug aus dem Ausland in die Großstädte getragen war (Göddecke-Stellmann/Lauerbach 2017).

Betrachtet man die Veränderung des Bevölkerungsbestandes der Innenstädte zwischen 1992 und 2021 für einzelne Städte, werden bei den westdeutschen Städten Di erenzierungen sichtbar, die in dieser Form bei den ostdeutschen Städten so nicht zu beobachten sind. In Ostdeutschland sind bisweilen starke Bevölkerungsgewinne zu registrieren.4 Eine Ausnahme bildet Chemnitz mit einem Bevölkerungsverlust im gesamten Betrachtungszeitraum. Bei den westdeutschen Städten kommt es vor allem bei den Städten des Ruhrgebiets zu (moderaten) Bevölkerungsverlusten in der Innenstadt. Auch Köln, Hamburg und Lübeck verzeichnen im Vergleich zum Bevölkerungsbestand von 1992 einen Verlust bis zum Jahr 2021. Anderseits haben einige westdeutsche Städte Bevölkerung in der Innenstadt hinzugewonnen. So liegt der prozentuale Zuwachs der Innenstadtbevölkerung in den Städten Düsseldorf, Frankfurt a.M., Hannover, Karlsruhe, Koblenz, Ludwigshafen, O enbach, Saarbrücken und Wiesbaden bei 5 Prozent und mehr.

Trotz des leichten Bevölkerungszuwachses in den westdeutschen Innenstädten ist der Bevölkerungsanteil an der Gesamtbevölkerung geringfügig zurückgegangen, d.h. von 15,4 Prozent im Jahr 1992 auf 14,7 Prozent im Jahr 2021. Insgesamt leben in den Innenstädten der hier betrachteten 23 westdeutschen Städte rund 1,6 Mio. Menschen. Bei den ostdeutschen Städten ist der Bevölkerungsanteil der Innenstädte dagegen leicht gestiegen, von 15,6 Prozent (1992) auf 15,8 Prozent im Jahr 2021. In den ostdeutschen Städten lebten im Jahr 2021 insgesamt etwa 993.000 Einwohnerinnen und Einwohner.

Bevölkerungsstruktur

Nach der Darstellung der langfristigen Bevölkerungsentwicklung der Innenstädte wird nun der Blick auf die Gegenwart gerichtet. Die Wohnstandortwahl von Menschen innerhalb von Städten wird von verschiedenen Faktoren wie bspw. der Verfügbarkeit geeigneter und leistbarer Wohnungen, individuellen Wohn- und Wohnstandortpräferenzen oder der infrastrukturellen Anbindung beein usst. Im Folgenden wird die Sozialstruktur der Innenstadtbevölkerung in Bezug auf Alter, Haushaltsgröße, Nationalität und soziale Lage beschrieben.

Alter

Unterschiedliche Altersklassen leben zumeist nicht gleichverteilt innerhalb von Städten. Am stärksten segregiert leben die 18- bis unter 30-Jährigen, oft aufgrund von individuellen Präferenzen, sowie die Hochaltrigen ab 85 Jahren, meist bedingt durch die Lage von P egeeinrichtungen. Die erstgenannte Gruppe, die hauptsächlich Menschen in Ausbildung oder Berufseinsteigerinnen und Berufseinsteiger umfasst, ist in den Innenstädten deutlich überrepräsentiert. In den IRB-Städten sind etwa 15,8 Prozent der Einwohnerinnen und Einwohner zwischen 18 und 29 Jahre alt, in den Innenstädten ist es mit 20,5 Prozent etwa jede fünfte dort wohnhafte Person. Für junge Menschen bietet das Wohnen in der Innenstadt viele der oben genannten Vorteile wie die kurzen Wege zur Ausbildungs- oder Arbeitsstätte. Auch die urbanen Qualitäten werden geschätzt.

Die Bevölkerung in Innenstädten ist im Durchschnitt insgesamt jünger als die in äußeren Stadtbezirken. Während das Durchschnittsalter 2021 am Innenstadtrand bei 42,2 Jahren

Abbildung 1: Indizierte Bevölkerungsentwicklungen in IRB-Städten nach Lagetyp und Ost/West 1992 bis 2021

Quelle: Innerstädtische Raumbeobachtungen des BBSR; Datengrundlage: Kommunalstatistiken der IRB-Städte

STADTFORSCHUNG UND STATISTIK 2|202337 Schwerpunkt Innenstadt – Facetten einer Bestandsaufnahme

und am Stadtrand bei 44,0 Jahren lag, war die Bevölkerung in Innenstädten durchschnittlich 41,1 Jahre alt. Dieses Muster ndet sich in fast allen Städten wieder (Abb. 2). Im Detail gibt es jedoch Unterschiede im Durchschnittsalter nach Lage zwischen den Städten. In Ingolstadt, Potsdam und Freiburg beträgt die Spannweite des Durchschnittsalters unter 1 Jahr, d. h. ältere und jüngere Menschen leben sehr durchmischt in allen Lagen. Die größten innerstädtischen Unterschiede sind in Weimar und Halle (Saale) mit einer Spannweite von 10 Jahren zu nden. Auch in Aachen, Rostock und Leipzig liegen Spannweiten von über 7 Jahren vor. Die Gründe für diese erheblichen Unterschiede sind vermutlich einerseits, dass unter anderem Studierende in diesen Städten besonders die innerstädtischen Lagen bevorzugen, und andererseits, dass viele ostdeutsche Städte generell stärker von der demogra schen Alterung betro en sind. Außerdem nden sich in diesen Städten städtebauliche Besonderheiten wie Großwohnsiedlungen in Randlagen, in denen teilweise eine sehr homogene Altersstruktur zu nden ist.

Die Unterschiede im Durchschnittsalter nach Lage sind in den letzten Jahren konstant. Der Grund dafür ist, dass demogra sche Prozesse einer gewissen Trägheit unterliegen und sich Veränderungen in der Altersstruktur einer Bevölkerung in der Regel erst mittel- bis langfristig zeigen. Das zeigt sich auch darin, dass es nur geringe Unterschiede nach Lage gibt, wenn man die Bevölkerungsentwicklung di erenziert nach Altersklassen von 2011 bis 2021 betrachtet. In den Innenstädten fällt im Vergleich zu den anderen Lagen Folgendes auf (Abb. 3):

- Die Zahl der Menschen in den jüngsten Altersklassen der unter 18-Jährigen bzw. der 18- bis unter 30-Jährigen wuchs überdurchschnittlich stark um 17 bzw. 6 Prozent.

- Unterdurchschnittlich el in den Innenstädten dagegen das Wachstum der Hochaltrigen ab 85 Jahren aus. Es betrug von 2011 bis 2021 dennoch, von einem niedrigen Ausgangsniveau kommend, immerhin 15 Prozent.

Bei der in den Innenstädten am geringsten wachsenden Altersklasse, den 65- bis unter 85-Jährigen, ist in den kommenden Jahren ein deutliches Wachstum zu erwarten, da die Kohorte der sogenannten „Babyboomer“ in diese Altersklasse übergehen wird. Die Alterung der Bevölkerung wird somit auch in den Innenstädten ihre Bedeutung entfalten und zu zahlreichen Herausforderungen in vielen Bereichen der Stadtentwicklung führen. Einerseits muss auch in den Innenstädten die Zahl altersgerecht ausgebauter Wohnungen steigen, andererseits muss sich die ö entliche Infrastruktur in vielen Bereichen an eine wachsende Bevölkerung mit geringerer Mobilität anpassen. Gleichzeitig weist der Anstieg der Kinder und Jugendlichen auf ein Mehr an Familien in Innenstädten hin. Diese haben wiederum andere Bedarfe im Vergleich zur alternden Bevölkerung, beispielsweise wohnortnahe Kinderbetreuungsmöglichkeiten und Schulen.

Haushalte

Die meisten in der Innenstadt lebenden Haushalte sind SingleHaushalte (61 %) (Abb. 4).5 Die Innenstädte weisen für diese Gruppe mehrere Vorteile auf, wie z. B. geeignete Wohnungsgrößen und -zuschnitte sowie durch die zentrale Lage eine gute Erreichbarkeit. Bei nur 15 Prozent der Haushalte in Innenstädten handelte es sich 2020 um Haushalte mit 3 Personen oder mehr. Seit 2011 verzeichneten interessanterweise jedoch insbesondere die Haushalte mit 4 bzw. 5 Personen und mehr

Quelle: Innerstädtische Raumbeobachtungen des BBSR; Datengrundlage: Kommunalstatistiken der IRB-Städte

38 STADTFORSCHUNG UND STATISTIK 2|2023 Schwerpunkt Innenstadt – Facetten einer Bestandsaufnahme
Abbildung 2: Durchschnittsalter in IRB-Städten nach Lagetyp 2021

das größte Wachstum. Auch wenn es sich dabei absolut betrachtet um eine noch kleine Gruppe handelt, bringen diese Haushalte wiederum spezi sche Anforderungen an das Wohnen mit sich. Gleichzeitig ergeben sich durch die kinderreichen Familien ggf. Anpassungsbedarfe bei der Bildungsinfrastruktur wie Kitas und Schulen. Insgesamt ist aber die durchschnittliche Anzahl der Kinder im Haushalt in den Innenstädten am geringsten und nimmt zum Stadtrand hin zu.

Nationalität

Ähnlich wie Menschen verschiedener Altersklassen leben auch Menschen unterschiedlicher Nationalitäten nicht gleichverteilt im Stadtgebiet. Im Gegensatz zur niedrigen demogra schen Segregation ist die ethnische Segregation, d. h. die Konzentration von Menschen bestimmter Nationalitäten in einzelnen Quartieren in der Stadt, deutlich höher. Seit 2016 nimmt die ethnische Segregation durch die gestiegene Zuwanderung aus dem Ausland zu. Die Großstädte sind wichtige räumliche Ankerpunkte der Zuwanderung, da sie für Ankommende die Möglichkeit bieten, an soziale Strukturen anzuschließen.

Abbildung 3: Indizierte Bevölkerungsentwicklung in IRB-Städten nach Lagetyp und Altersklassen 2011 bis 2021

Quelle: Innerstädtische Raumbeobachtungen des BBSR; Datengrundlage: Kommunalstatistiken der IRB-Städte

Abbildung 4: Anteile der Haushaltsgröße in IRB-Städten nach Lagetyp 2020

Quelle: Innerstädtische Raumbeobachtungen des BBSR; Datengrundlage: Kommunalstatistiken der IRB-Städte

STADTFORSCHUNG UND STATISTIK 2|202339 Schwerpunkt Innenstadt – Facetten einer Bestandsaufnahme

Insgesamt ist die Anzahl von Personen mit nichtdeutscher Staatsangehörigkeit in den Innenstädten von 2011 bis 2021 gestiegen, absolut und relativ betrachtet jedoch am wenigsten im Vergleich zu den anderen städtischen Lagen (Abb. 5). Gleichzeitig ist die Fluktuation der Bewohnerschaft in Quartieren der Innenstadt größer als in weniger zentralen Lagen.

Räumlich ungleich verteilt lebt die deutsche Bevölkerung, deren Anteil an der Gesamtbevölkerung in Richtung Stadtrand deutlich zunimmt (Abb. 5). In den Innenstädten sind etwa zwei Drittel der Bevölkerung Deutsche, weitere knapp 10 Prozent sind Doppelstaater, d.h. sie besitzen neben der deutschen noch eine weitere Staatsangehörigkeit. Das verbleibende Viertel der in der zentralen Lage wohnenden Bevölkerung hat keine deutsche Staatsbürgerschaft. Alle hier aufgeführten Nationalitäten haben in den Innenstädten einen höheren Bevölkerungsanteil als am Innenstadtrand und dem Stadtrand. Die größten Gruppen sind hierbei Menschen aus Osteuropa und Asien mit Anteilen von 8 bzw. 6 Prozent an der Innenstadtbevölkerung. Anzumerken ist jedoch, dass es erhebliche Unterschiede zwischen den Städten gibt, einerseits in der Verteilung der deutschen und ausländischen Bevölkerung, andererseits aber auch bzgl. der häu gsten Nationalitätengruppen.

Soziale Di erenzierung

Neben der demogra schen und ethnischen gibt es in den Städten auch eine räumlich sichtbare soziale Di erenzierung. Wie sich Personen mit Leistungen nach dem SGB II und Personen in Arbeitslosigkeit innerhalb von Städten verteilen, ist beispielsweise abhängig von der Art und Zusammensetzung des Wohnungsangebots, dem Mietenniveau, dem Bestand sozialer Einrichtungen, der Zusammensetzung gesellschaftlicher Milieus und weiteren Faktoren.

Im Durchschnitt sind die SGB II- und die Arbeitslosenquote in den Quartieren der Innenstadt am höchsten und betrugen 2021 12 bzw. 7 Prozent (Abb. 6). Von 2011 bis 2021 sind in allen Lagetypen ähnliche Entwicklungen zu erkennen, wenngleich das Niveau der Quoten am Innenstadtrand und am Stadtrand niedriger ist. Bei der Arbeitslosenquote ist von 2013 bis 2019 infolge der positiven gesamtwirtschaftlichen Lage ein sinkender Trend zu erkennen. 2020 stieg die Quote durch die Folgen der Corona-Pandemie auf dem Arbeitsmarkt deutlich an und sank 2021 wieder leicht. Es bleibt abzuwarten, ob sich unter den aktuell schwierigen wirtschaftlichen Rahmenbedingungen der sinkende Trend der Vorjahre fortsetzen wird. Der Anteil der Personen in Bedarfsgemeinschaften nach SGB II ist 2021 in

Abbildung 5: Anteil der Bevölkerung nach Nationalität und Lagetyp in IRB-Städten 2021 sowie indizierte Entwicklung der ausländischen Bevölkerung nach Lagetyp 2011 bis 2021

Quelle: Innerstädtische Raumbeobachtungen des BBSR; Datengrundlage: Kommunalstatistiken der IRB-Städte

40 STADTFORSCHUNG UND STATISTIK 2|2023 Schwerpunkt Innenstadt – Facetten einer Bestandsaufnahme

allen Lagetypen niedriger als 2011. In der Innenstadt kam es zwischen 2015 und 2017 zu einem deutlichen Anstieg, bevor seit 2018 – mit Ausnahme von 2020 – ein sinkender Trend zu verzeichnen ist.

Zu betonen ist bei allen hier vorgestellten Befunden, dass die beschriebenen Muster nach Lagetyp nur einen Durchschnitt abbilden. Die Unterschiede zwischen den Städten hinsichtlich sozialer Indikatoren sind enorm. In vielen, weiterhin vom Strukturwandel betro enen Städten, z.B. im Ruhrgebiet, nden sich bei beiden Indikatoren im Städtevergleich die höchsten Werte. Die innerstädtischen räumlichen Muster sind sehr unterschiedlich. Während beispielsweise in Essen, Dortmund, Gelsenkirchen, Oberhausen und Mülheim an der Ruhr die Innenstädte die höchsten SGB II-Quoten aufweisen, sind die Quoten in Bochum und Duisburg in allen Lagetypen relativ ähnlich. Dagegen ist in einigen ostdeutschen Städten wie Weimar, Rostock und Potsdam der Anteil der Personen in Bedarfsgemeinschaften nach SGB II am Stadtrand am höchsten. Das ist vermutlich auf die Großwohnsiedlungen am Stadtrand zurückzuführen. In einigen Großstädten wie Köln und Hamburg ist ein ähnliches Muster zu erkennen, auch hier sind am Stadtrand die höchsten Quoten zu verzeichnen. Vermutlich ist das Wohnen in den zentraleren Bezirken für Menschen, die Leistungen nach SGB II empfangen, in einigen Fällen schlicht zu teuer.

Es ist insgesamt kaum möglich, allgemeingültige Aussagen hinsichtlich der Analysekategorie „Lagetyp“ zu tre en. Stattdessen ist ein inter- und intrastädtisch di erenzierter Blick auf Muster sozialer Di erenzierung gefordert.

Mietwohnungsangebote

Die Angebotsmieten inserierter Wohnungen (siehe oben: Datengrundlagen) sind bundesweit und besonders in prosperierenden Städten seit 2010 durch die zuvor beschriebenen Nachfragezuwächse stark gestiegen. Das Wohnungsangebot konnte in den meisten Städten nicht in diesem Tempo ausgebaut werden, so dass die Mieten angebotener Wohnungen, und noch viel stärker die Immobilienpreise für Wohnungen, Häuser und Bauland, in den Städten stiegen. Zunächst haben sich seit 2010 Mietensteigerungen in den größten Städten sowie Universitätsstädten aufgrund der guten Anbindung und vielfältigen Infrastruktur in den Innenstädten und den Innenstadträndern bemerkbar gemacht. Mietenanstiege stellten sich daraufhin durch anhaltende Engpässe schnell auch in Richtung Stadtrand und anschließend ins Umland der wachsenden Städte ein. Seit 2021 haben sich die Mietenentwicklungen in den Innenstädten der 15 größten Städte stabilisiert, in den Universitätsstädten hingegen nochmal deutlich zugelegt. In den süddeutschen Städten haben zwar im Mittel die Innen-

Abbildung 6: SGB II- und Arbeitslosenquote in IRB-Städten nach Lagetyp 2011 bis 2021

Quelle: Innerstädtische Raumbeobachtungen des BBSR; Datengrundlage: Kommunalstatistiken der IRB-Städte/Statistik der Bundesagentur für Arbeit

STADTFORSCHUNG UND STATISTIK 2|202341 Schwerpunkt Innenstadt – Facetten einer Bestandsaufnahme

stadtränder und Stadtränder in den letzten Jahren prozentual stärker zugelegt, beim Niveau der Angebotsmieten lagen die Innenstädte aber weiter über den äußeren Stadtlagen. Die Unterschiede der Mietenniveaus innerhalb der IRBStädte variieren sehr nach Stadttyp. In den sieben größten Städten sind die Abweichungen der durchschnittlichen Angebotsmieten im Jahr 2022 auf hohem Mietenniveau zwischen den Innenstädten (16€ je m²), dem Innenstadtrand (15,10 € je m²) und dem Stadtrand (13,30 € je m²) besonders groß. Auch in den Universitätsstädten gibt es ein spürbares Mietengefälle zwischen der Innenstadt und dem Stadtrand von durchschnittlich gut 1,5€ je m². In den weiteren IRB-Städten sind die Mietenabweichungen nach städtischer Lage gar nicht so groß. Hier sind die Unterschiede nach Wohnlagen im Spektrum zwischen „einfach“ und „sehr gut“ ausgeprägter als die Di erenzierung nach städtischen Lagen. Am engsten liegen die Angebotsmieten in den ostdeutschen IRB-Städten zusammen. Im Aggregat der vor allem nordrhein-westfälischen Städte in der Städtegruppe Nordwest haben die Innenstädte aufgrund ihrer Wohnungsstruktur, anders als bei den anderen Stadttypen, sogar niedrigere durchschnittliche Angebotsmieten als die Innenstadtränder.

Am stärksten haben in den letzten Jahren die Angebotsmieten für Neubauwohnungen und für kleine Wohnungen zugelegt (Göddecke-Stellmann/Schürt 2022: 14 f.). In den sieben größten Städten wurden 2022 Neubauwohnungen im Schnitt für gut 20€ je m² inseriert. 2010 lag der Wert noch bei 11 € je m². Neubau ist gerade in den Innenstädten aufgrund der Flächenknappheit, der Nutzungskonkurrenz und der damit verbundenen hohen Baulandpreise sehr teuer. Hinzu kommen die stark gestiegenen Bau- und Energiekosten sowie seit dem Ukraine-Krieg der schnelle Anstieg der Darlehenszinsen, so dass vor allem in städtischen Lagen der Bau von günstigen Wohnungen frei nanziert, ohne Inanspruchnahme von Wohnraumförderung, kaum noch möglich ist. Gleichzeitig gab es, zumindest in den letzten zehn Jahren, eine Nachfrage von zahlungskräftigen Haushalten, die zentrale Wohnlagen präferierten und eine entsprechende Zahlungsbereitschaft mitbrachten, so dass auch das Angebot vieler hochpreisiger Neubauwohnungen in Anspruch genommen wurde.

Für Familien steht in den Innenstädten nicht ausreichender und oft auch kein bezahlbarer Wohnraum zur Verfügung, so dass viele in den letzten Jahren vermehrt in Richtung Stadtrand bzw. ins Umland umgezogen sind (Schürt 2022: 117). Diese Ausweichbewegungen sorgten dort ebenfalls für Mieten- und Preissteigerungen. Auswertungen der IRBWohnungsbestandsdaten zeigen, dass in den letzten Jahren der Anteil der Wohnungen mit ein oder zwei Räumen in den meisten Städten und dort in allen Stadtlagen zugenommen hat. Daraus lässt sich schließen, dass der Wohnungsneubau vermehrt mit kleineren Wohnungen erfolgte, sei es aus Kostengründen oder als Reaktion auf den Zuzug vor allem kleiner Haushalte in die Städte.

Durch die Pandemieschutzmaßnahmen ausgelösten Kontaktbeschränkungen gab es zeitweise deutliche Verringerungen der verö entlichten Inseratsangebote, da Besichtigungen und Umzüge stark beeinträchtigt bzw. zeitweise nicht möglich waren. 2022 haben die Inseratszahlen wieder deutlich zugelegt und sogar das Niveau von vor 2020 überschritten.

IRB-Auswertungen zu Umzügen zeigten in den letzten Jahren eine Verringerung der Umzugsaktivitäten in den IRB-Städten, was sich vor allem mit einem knappen und teuren Wohnungsangebot erklären lässt. Ein Teil der Miethaushalte kann sich Umzüge oft nicht mehr leisten, da auf angespannten Märkten Neuvermietungsverträge vielfach deutlich teurer sind als Bestandsmietverträge, so dass sich „Lock-in-E ekte“ einstellten.

Sonderauswertungen des BBSR zeigen, dass der Anteil der Inserate möblierter Wohnungen (die vorherigen Auswertungen bezogen sich ausschließlich auf unmöblierte Wohnungen) in den letzten Jahren deutlich zugenommen hat – bundesweit von gut 3 Prozent vor 2015 auf 13 Prozent im Jahr 2021 (BBSR 2023a). Möblierte Wohnungen können aufgrund des Möblierungszuschlags teils deutlich teurer angeboten werden als unmöblierte Wohnungen. Somit verringert sich zusätzlich das Angebot günstiger Wohnungen auf den städtischen Mietwohnungsmärkten.

Die in den letzten Jahren verstärkte Kumulation schwerwiegender Hemmnisse für den Wohnungsbau und den Immobilienerwerb zeigen seit dem zweiten Halbjahr 2022 eine Veränderung des Preisgefüges – Immobilienpreise haben sich vielfach stabilisiert oder sind rückläu g (Amaral et al. 2023: 42 .), da die Nachfrage von privaten Haushalten ebenso wie von Investoren vor allem aus nanziellen Gründen massiv zurückgegangen ist. Angebotsmieten legten in den Wachstumsräumen durch die hohe Nachfrage nach Mietwohnungen wieder stärker zu (BBSR 2023b).

Fazit

Vielerorts konnten die Innenstädte der deutschen (Groß-)Städte in den zurückliegenden Jahren von Bevölkerungsgewinnen pro tieren. Auch eine Verjüngung und Internationalisierung der Bevölkerung hat stattgefunden. Der durch Ausbildungsund Berufswanderung bedingte Zuzugsdruck in die Großstädte hat sich in den letzten Jahren bis zum Jahr 2021 ebenso abgeschwächt wie die aus Außenwanderungen resultierenden Zuwächse. Die Entwicklungen 2020 und 2021 sind jedoch auch vor der Sondersituation der Corona-Pandemie mit einem Einbruch der Außen- und Binnenwanderung zu betrachten. Im Jahr 2022, das noch nicht in die hier präsentierten Analysen ein oss, wurden sehr hohe Zuwanderungszahlen, u. a. aus der Ukraine, aber auch aus anderen Weltregionen, registriert. Diese Zuwanderung ist insbesondere in den Städten spürbar und resultiert in einem entsprechenden Nachfrageanstieg auf den Wohnungsmärkten.

Mit etwa 16 Prozent ist der Bevölkerungsanteil der Innenstadt in den Großstädten zwar bedeutsam, jedoch lebt der weitaus überwiegende Anteil der städtischen Bevölkerung in Innenstadtrandlagen und vor allem in Stadtrandlagen. Zwar ist die Bevölkerung in den innenstädtischen Quartieren insgesamt angewachsen, dies verändert jedoch nicht die Struktur der Bevölkerungsverteilung zwischen Innenstadt, Innenstadtrand und Stadtrand.

Die Bevölkerung in den Innenstädten ist im Durchschnitt jünger und internationaler als die Bevölkerung, die in weniger zentralen Lagen der Städte lebt. Am häu gsten sind Einpersonenhaushalte in den Innenstädten zu nden. Aus dieser Verjüngung und Internationalisierung der (Innenstadt-)Bevölke -

42 STADTFORSCHUNG UND STATISTIK 2|2023 Schwerpunkt Innenstadt – Facetten einer Bestandsaufnahme

rung resultiert auf kommunaler Ebene ein Anpassungsbedarf insbesondere bei der sozialen Infrastruktur. Der Anteil transferabhängiger Personen als Indikator für die soziale Lage ist in den Innenstädten leicht erhöht im Vergleich zum städtischen Durchschnitt. Aufgrund des sich verändernden Altersaufbaus Deutschlands lässt die Zahl der mobilen Bildungs- und Berufsbinnenwandernden nach. Die Zuwanderung aus dem Ausland und Zuzüge von Ge üchteten werden aber voraussichtlich den Zuzugsdruck in die Kernstädte der Großstadtregionen und deren Innenstädte weiter hochhalten.

Die Mietwohnungsmärkte der Innenstädte stellen sich zwar je nach Marktlage unterschiedlich dar. Die wachsenden Städte sind aber weiterhin von Angebotsengpässen und steigenden Angebotsmieten geprägt. Die schwierigen Rahmenbedingungen des Wohnungsbaus erschweren den Neubau ebenso wie Baumaßnahmen im Gebäudebestand und energetische Sanierungsmaßnahmen. Die Scha ung bezahlbaren und altersgerechten Wohnraums bleibt weiterhin eine große Herausforderung für die (Innen-)Städte.

1 Im Vergleich zur OB-Umfrage 2022 (Hollbach-Grömig/Kühl 2022) ist allerdings ein leichter Bedeutungsverlust dieses Themas festzustellen.

2 Allerdings bräuchte man für präzisere Aussagen dazu sehr viel genauere kleinräumig aufgelöste Umfrageinformationen (Konietzka/ Martynovych 2022: 199)

3 westdeutsche Städte: Bochum, Bremen, Dortmund, Duisburg, Düsseldorf, Essen, Frankfurt a.M., Freiburg i. Br., Gelsenkirchen, Hamburg, Hannover, Karlsruhe, Koblenz, Köln, Lübeck, Ludwigshafen, Mainz, Nürnberg, Oberhausen, O enbach, Saarbrücken, Stuttgart, Wiesbaden; ostdeutsche Städte: Berlin, Chemnitz, Dresden, Erfurt, Halle (Saale), Leipzig, Magdeburg, Potsdam, Rostock. Bei einigen Städten sind Datenlücken durch Interpolationen geschlossen worden.

4 Hier kommen allerdings auch Basise ekte zum Tragen, die aus den teils sehr geringen Bevölkerungsbestandszahlen in den frühen 1990er Jahren in den meisten ostdeutschen Innenstädten resultieren.

5Aufgrund des demogra schen Wandels ist mit einer deutlichen Zunahme älterer Einpersonenhaushalte zu rechnen (beispielhaft für München Ruhnke [2022]).

Literatur

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BBSR – Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung, 2023b: Angebotsmieten weiter gestiegen – große regionale Unterschiede. Bonn. Zugri : https://www.bbsr.bund.de/ BBSR/DE/startseite/topmeldungen/angebotsmieten-2022.html [abgerufen am 13.06.2023].

Böltken, F.; Gatzweiler, H.-P.; Meyer, K., 2007: Das Kooperationsprojekt „Innerstädtische Raumbeobachtung“: Rückblick, Ausblick, Ergebnisse. Informationsgrundlagen für Stadtforschung und Stadtentwicklungspolitik. In: BBR – Bundesamt für Bauwesen und Raumordnung (Hrsg.): Innerstädtische Raumbeobachtung: Methoden und Analysen. Berichte / Bundesamt für Bauwesen und Raumordnung, Bd. 25. Bonn, S. 7–22.

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Hollbach-Grömig, B.; Kühl, C., 2023: OB-Barometer 2023. Berlin.

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STADTFORSCHUNG UND STATISTIK 2|202343 Schwerpunkt Innenstadt – Facetten einer Bestandsaufnahme

Wohnen im inneren Stadtgebiet Wer Kommt? Wer geht? Ergebnisse der Stuttgarter Wanderungsmotivbefragung

Wie in vielen Groß- und Universitätsstädten ist innenstädtisches Wohnen in der Landeshauptstadt Stuttgart stark nachgefragt und teuer. Die Bewohner*innen dieser Wohnquartiere schätzen besonders die bekannten Vorteile und kurzen Wege des Wohnens in den inneren Lagen. Wegen des knappen Angebots gehen Wohnungssuchende in den innenstädtischen Wohnquartieren häu ger Kompromisse bei Mietpreis und Wohn äche ein und schließen sich vermehrt zu Wohngemeinschaften zusammen. In das innere Stadtgebiet ziehen vor allem junge Erwachsene in der Ausbildung oder am Anfang ihres Berufslebens. Das Wohnen im inneren Stadtgebiet können sich nur wenige Haushalte mit unterdurchschnittlichen Einkommensverhältnissen leisten. Vor allem junge Familien verlagern ihre Wohnstandorte in das preiswertere Umland und das äußere Stadtgebiet. Das Wanderungsgeschehen führt dazu, dass die innerstädtischen Wohnquartiere in der Bilanz Haushalte mit überdurchschnittlichen Einkommensverhältnissen verlieren.

Wohnraum ist in der Landeshauptstadt Stuttgart seit vielen Jahren knapp und der angespannte Wohnungsmarkt wird von den Stuttgarter*innen als zentrales Problem wahrgenommen. Aufgrund der großen Wohnungsengpässe gehört Stuttgart deutschlandweit zu den Städten mit den höchsten Miet- und Kaufpreisniveaus für Wohnungen. Besonders hoch ist die Konkurrenz um Wohnungen in den Wohnquartieren in unmittelbarer Innenstadtnähe und den Halbhöhenlagen um die Innenstadt. Denn das innere Stuttgarter Stadtgebiet bietet mit seinen Einkaufsmöglichkeiten, ö entlichen Plätzen, Grün ächen und Nähe zu vielen Ausbildungs- und Arbeitsplätzen auch eine Vielzahl an Gastronomie-, Kultur-, Bildungs- und Freizeitangeboten. Davon werden vor allem junge, mobile Menschen angezogen.

Dipl.-Ing. Raumplanung, 2021 bis 2023: Statistisches Amt der Landeshauptstadt Stuttgart, seit 2023: Stabsstelle Stadt- und Regionalentwicklung, Wirtschaftsförderung und Statistik der Universitätsstadt Marburg. : mail@stadtforscher.de

Tobias Held

Dipl.-Geogr., seit 2016 Leiter des Sachgebiets Wohnen und Umwelt im Statistischen Amt der Landeshauptstadt Stuttgart. : tobias.held@stuttgart.de

Schlüsselwörter:

Bevölkerungswachstum – Mieten – Innenstadt –Umland – Wanderung – Wanderungsmotive –Wohnen – Wohnungsmarkt

Wegen der sehr hohen Mietpreise in Stuttgart – insbesondere in den sehr stark nachgefragten innenstädtischen Wohnquartieren – haben es besonders Haushalte mit kleinen und mittleren Einkommen schwer, erschwinglichen Wohnraum im Stadtgebiet zu nden. Zugleich hat in den vergangenen Jahren die Abwanderung in das Umland wieder an Fahrt aufgenommen. Durch das Umzugsgeschehen verändern sich die sozialen- und ökonomischen Strukturen der Bevölkerung. Wer kann es sich noch leisten, im inneren Stadtgebiet zu wohnen? Ist innenstädtisches Wohnen in Stuttgart mittlerweile Luxus? Der Beitrag nimmt die in die inneren Stadtbezirke zu- und wegziehenden Bewohner*innen mit ihren Umzugsmotiven und sozioökonomischen Strukturen in den Blick: Wer sind sie? Woher kommen sie? Wohin ziehen sie? Welche Umzugsmotive haben sie? Wie zufrieden sind die Haushalte mit ihrer neuen Wohnsituation? Welche Rolle spielt der angespannte Wohnungsmarkt in Stuttgart bei den Umzügen?

Hohe Wohnkosten im inneren Stadtgebiet wirken selektiv

Wer kann es sich angesichts hoher Wohnkosten leisten, im inneren Stuttgarter Stadtgebiet zu wohnen? Welche räumlichen Wanderungsmuster lassen sich erkennen? Diesen Fragen wird mit Daten zum aktuellen Wanderungsgeschehen aus der Stuttgarter Kommunalstatistik nachgegangen.

Das im Folgenden betrachtete innere Stadtgebiet der Landeshauptstadt Stuttgart umfasst die fünf inneren Stadtbezirke Mitte, Nord, West, Ost, Süd (Karte 1). In diesem Bereich lebt fast ein Drittel der Stuttgarter*innen. Eine vergleichbare räumliche Verteilung zeigt sich bei der Zahl der Wohnungen.

44 STADTFORSCHUNG UND STATISTIK 2|2023 Schwerpunkt Innenstadt – Facetten einer Bestandsaufnahme

Karte 1: Inneres und äußeres Stadtgebiet Stuttgart

Entwicklung von Bevölkerung und Haushalten

Wie viele Groß- und Universitätsstädte in Deutschland hat Stuttgart seit 2010 ein erhebliches Bevölkerungswachstum erfahren. Trotz des in erster Linie pandemiebedingten Rückgangs (Mäding 2022) in den Jahren 2020 und 2021, konnte Stuttgart zwischen 2010 und 2022 einen Zuwachs von über 44.000 Personen verzeichnen (+7,8%). Inneres (+7,5%) und äußeres Stadtgebiet (+7,9%) wuchsen dabei fast gleich stark. Die Bevölkerungsgewinne der letzten Jahre spiegeln sich in der steigenden Zahl der privaten Haushalte und damit einer wachsenden Nachfrage nach Wohnungen wider. Ein- und

Abb. 1: Haushalte in Stuttgart 2022 nach Haushaltstypen und innerstädtischer Lage

Zweipersonenhaushalte dominieren die Wohnungsnachfrage in Stuttgart. In den inneren Stadtbezirken leben überdurchschnittlich viele Ein- und Zweipersonenhaushalte zwischen 30 und 44 Jahren (24 %) sowie sogenannte Starterhaushalte bis 29 Jahre (20%). Demgegenüber sind nur 8 Prozent der Haushalte junge Familien mit Bezugspersonen bis 44 Jahre. Auch leben ältere Haushalte häu ger im äußeren Stadtgebiet als in den zentralen Lagen (Abb. 1).

Ein- und Zweipersonenhaushalte zwischen 30 und 64 Jahren haben im inneren Stadtgebiet in den letzten Jahren weiter an Bedeutung gewonnen (+9%), während die Wohnungsnachfrage durch jüngere Haushalte nur geringfügig zugenommen hat (Abb. 2). Junge Familienhaushalte haben dagegen aufgrund von altersstrukturellen E ekten und Wanderungsverlusten an zahlenmäßiger Bedeutung verloren (-6 %). Demgegenüber hat sich die eher kleine Nachfragegruppe von Familienhaushalten mit Bezugsperson zwischen 45 und 64 Jahren um fast 20 Prozent erhöht. Neben der zunehmenden Singularisierung verändert auch die Alterung der Bevölkerung die Nachfrage nach bestimmten Wohnungstypen und Wohnformen. So ist die Zahl der älteren Haushalte im Betrachtungszeitraum um 6 Prozent gewachsen.

Abbildung 3 illustriert die aktuellen Wanderungsmuster des inneren Stadtgebiets. In der Bilanz von Zu- und Fortzügen verlieren die inneren Stadtbezirke Stuttgarter*innen an das äußere Stadtgebiet und das Stuttgarter Umland, hauptsächlich unter 18-Jährige und 30- bis unter 45-Jährige. Diese beiden Altersgruppen, werden oftmals herangezogen, um junge Familien abzugrenzen. Wanderungsgewinne verzeichnet das innere Stadtgebiet hingegen bei den 18 bis 29-Jährigen. Besonders aus dem übrigen Deutschland und dem Ausland1 gewinnen die inneren Bezirke junge Erwachsene, die häu g für Ausbildung, Studium oder Einstieg ins Berufsleben nach Stuttgart ziehen (s. unten). Am Wanderungsgeschehen sind die über 65-Jährigen

Abb. 2: Entwicklung der Haushaltstypen nach innerstädtischer Lage in Stuttgart zwischen 2010 und 2022

Quelle: Landeshauptstadt Stuttgart, Statistisches Amt

Quelle: Landeshauptstadt Stuttgart, Statistisches Amt

STADTFORSCHUNG UND STATISTIK 2|202345 Schwerpunkt Innenstadt – Facetten einer Bestandsaufnahme

Senior*innen kaum beteiligt, sodass sie keinen wesentlichen Ein uss auf die Stuttgarter Gesamtstruktur ausüben.

Die Ergebnisse der Stuttgarter Wanderungsmotivbefragung2 liefern detaillierte Informationen über die soziale, familiäre und ökonomische Struktur der ab- und zuwandernden Haushalte: Im Vergleich zur Haushaltsstruktur des inneren Stadtgebiets (Ergebnisse aus der Stuttgartumfrage 2021) ziehen Haushalte mit minderjährigen Kindern überdurchschnittlich häu g von den inneren Bezirken in das äußere Stadtgebiet oder in eine andere Gemeinde (Abb. 4). Gleichzeitig kommen vor allem Paare ohne Kinder (31%) und Personen, die in eine Wohngemeinschaft ziehen (36%), in den frei werdenden Wohnungen im inneren Stadtgebiet unter. Unter den Umzügen innerhalb der inneren Stadtbezirke be nden sich immerhin zu 18 Prozent Haushalte mit Kindern. Folglich sind innenstädtische Quartiere auch für diesen Haushaltstyp ein beliebter und bewusst gewählter Wohnstandort.

Alle umziehenden Haushalte und Personen zeichnen sich durch eine sehr hohe Erwerbsbeteiligung aus. Andere Bevölkerungsgruppen wie Rentner*innen oder Haushalte, die von staatlichen Transferleistungen abhängig sind, ziehen hingegen

nur selten um. Unter den befragten Haushalten, die aus den innenstädtischen Gebieten wegziehen, sind verhältnismäßig wenig einkommensschwache Haushalte. Unter den Zuzüglern ins innere Stadtgebiet haben 22 Prozent unterdurchschnittliche Einkommensverhältnisse. Darunter sind vermehrt Personen in Berufsausbildung beziehungsweise Ausbildungs- und Studienanfänger*innen. Im Gegensatz dazu zeigt sich bei den Weggezogenen und denjenigen, die innerhalb des inneren Stadtgebiets umgezogen sind, ein höherer Anteil an Haushalten mit überdurchschnittlichem Einkommen (Abb. 5).

Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass das Umzugsgeschehen stark durch veränderte Lebensumstände beziehungsweise neue Lebensabschnitte bestimmt wird. Vor allem junge Erwachsene in der Ausbildung oder am Anfang ihres Berufslebens ziehen in innenstädtische Wohnquartiere, darunter viele in Wohngemeinschaften. Das Wohnen im inneren Stadtgebiet können sich vor allem Haushalte mit durchschnittlichem und überdurchschnittlichem Einkommen leisten. In der Bilanz verlieren die inneren Bezirke allerdings Familien und Haushalte mit überdurchschnittlichen Einkommensverhältnissen.

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Abb. 3: Wanderungssaldo inneres Stuttgarter Stadtgebiet mit … Quelle: Landeshauptstadt Stuttgart, Statistisches Amt

Abb. 4: Umziehende nach Haushaltstypen

Quelle: Landeshauptstadt Stuttgart, Statistisches Amt, Wanderungsmotivbefragung 2021, Bürgerumfrage 2021

Abb. 5: Umziehende nach Einkommensverhältnissen auf der Grundlage des berechneten Äquivalenzeinkommens

Wohnverhältnisse

Quelle: Landeshauptstadt Stuttgart, Statistisches Amt, Wanderungsmotivbefragung 2021, Bürgerumfrage 2021

Die Wohnverhältnisse sind in Stuttgart insgesamt durch eine hohe Beständigkeit gekennzeichnet. Nach Ergebnissen der Stuttgarter Wohnungsmarktbefragung 2022 leben die Stuttgarter*innen im Schnitt seit zwölf Jahren in ihrer jetzigen Wohnung. Infolge des angespannten Wohnungsmarkts nimmt die Wohndauer zu. Denn bei lange laufenden Mietverträgen fallen die Mietsteigerungen in der Regel niedriger aus als bei Neuvermietungen (Gordo et al. 2019). In den inneren Bezirken ist die Fluktuation jedoch höher: Bewohner*innen des inneren Stadtgebiets wohnen durchschnittlich seit 11 Jahren in ihrer aktuellen Wohnung, im äußeren Stadtgebiet seit fast 14 Jahren. Knapp ein Drittel der Haushalte im inneren Stadtgebiet wohnt weniger als zwei Jahre in ihrer Wohnung, in den äußeren Bezirken sind es gut ein Viertel.

Zur kürzeren Wohndauer im inneren Stadtgebiet trägt auch die geringere Eigentümerquote bei: In den inneren Bezirken leben knapp 17 Prozent der Haushalte im Eigentum, in den Außenbezirken ist die Wohneigentumsquote mit 30 Prozent fast doppelt so hoch. Angesichts steigender Zinsen, Baukosten und In ation ist die Wohneigentumsquote in Stuttgart zuletzt leicht zurückgegangen. Vor allem junge Haushalte verfügen angesichts der hohen Preise häu g nicht über die nanziellen Mittel, um die Erwerbsnebenkosten und das Eigenkapital für den Erwerb von Wohneigentum aufzubringen. Entsprechend bildet der Erwerb von Wohneigentum in den inneren Bezirken aktuell eher die Ausnahme. Weniger als 10 Prozent aller in die inneren Wohnquartiere eingezogenen Haushalte hat ihre Wohnung oder Haus erworben. Dabei handelt es sich vorwiegend um Wohnungen in Mehrfamilienhäusern. Erwerber*innen von Wohneigentum in den inneren Bezirken, unterscheiden sich

STADTFORSCHUNG UND STATISTIK 2|202347 Schwerpunkt Innenstadt – Facetten einer Bestandsaufnahme

Abb. 6: Durchschnittliche Pro-Kopf-Wohn äche in Stuttgart 2022 nach Haushaltstypen

in ihren soziostrukturellen Kernmerkmalen nicht wesentlich von den Eigentumshaushalten im äußeren Stadtgebiet. Es sind vorwiegend Mehrpersonenhaushalte – größtenteils Paare ohne, in geringerem Maße auch mit Kindern – im Alter zwischen 30 und 45 Jahren und mit überdurchschnittlich hohem Einkommen.

Die Stuttgarter*innen im inneren Stadtgebiet bewohnen durchschnittlich 40m² Wohn äche pro Person. Damit steht ihnen, trotz des höheren Mietniveaus (s. unten), genau so viel Wohn äche pro Kopf zur Verfügung wie den Bewohner*innen des äußeren Stadtgebiets. Dies ist auch auf die unterschiedliche Haushaltsgrößenstruktur zurückzuführen. Abbildung 6 zeigt, dass Ein- und Zweipersonenhaushalte, die in den inneren Stadtgebieten häu ger vorkommen, pro Kopf mehr Wohnraum nachfragen als größere Haushalte. Au ällig ist zudem die besonders hohe Pro-Kopf-Wohn äche bei den hochbetagten Haushalten im äußeren Stadtgebiet. Dieser Wert ist auf die passive Haushaltsverkleinerung im Alter (Remanenze ekt) und den höheren Anteil an Ein- und Zweifamilienhäusern im äußeren Stadtgebiet zurückzuführen.

Wohnungsangebot

Die Stadt Stuttgart hat sich dem Ziel der Innenentwicklung und qualitätsvollen Nachverdichtung verp ichtet (Landeshauptstadt Stuttgart 2016). Daher sind neue Bau ächen ein knappes Gut in Stuttgart. Die Maßnahmen der Innenentwicklung reichen nicht aus, um den Wohnraumbedarf vollständig zu decken und einen ausgeglichenen Wohnungsmarkt zu erreichen. So konnte der Wohnungsbestand im inneren wie im

Anmerkung: Räume einschließlich Küchen. Eine Wohnung mit drei Räumen entspricht in der Regel einer Zwei-Zimmer-Wohnung (inkl. Küche und Bad).

Quelle: Statistisches Landesamt Baden-Württemberg

äußeren Stadtgebiet seit 2010 nur um jeweils rund 6 Prozent ausgeweitet werden. In der Folge hat die Wohnungsknappheit in der Landeshauptstadt weiter zugenommen.

Aufgrund der sehr dichten Bebauung im Stuttgarter Talkessel kennzeichnet den Wohngebäudebestand des inneren Stadtgebiets ein geringer Anteil von Ein- und Zweifamilienhäusern von nur 34 Prozent. Im äußeren Bereich der Stadt ist dieser mit 55 Prozent deutlich höher.

Welche Wohnungsgrößen bieten die innerstädtischen Wohnquartiere? Wohnungen mit drei und vier Räumen (zuzüglich Bad, Flur, aber bereits inklusive Küche), dominieren den Wohnungsbestand im inneren wie äußeren Stadtgebiet. Über die Hälfte aller Wohnungen entfällt auf diese Wohnungsgrößen, die Zwei- bis Drei-Zimmer-Wohnungen entsprechen (Abb. 7). Insgesamt 22 Prozent des Bestands in den inneren Bezirken sind kleine Wohnungen mit einem oder zwei Räumen. Große Geschosswohnungen sind vor allem für Familien eine Alternative zum Einfamilienhaus. Für eine vierköp ge Familie bildet eine Wohnung mit fünf Räumen (inkl. Küche) in der Regel die Untergrenze ihres Bedarfs. Größere Wohnungen mit fünf und mehr Räumen machen allerdings nur 19 Prozent des Wohnungsbestands in den innenstadtnahen Wohnquartieren aus. Demgegenüber bietet das äußere Stadtgebiet ein anteilig größeres Angebot an familiengerechten Wohnungen mit fünf und mehr Räumen (25%). Zwar sind nur 18 Prozent der Haushalte im inneren Stadtgebiet Mehrpersonenhaushalte mit drei und mehr Personen. Jedoch werden auch größere Wohnungen von kleineren Haushalten bewohnt, beispielsweise in Wohngemeinschaften, von einkommensstarken Paaren ohne Kinder oder von älteren Haushalten, deren erwachsene Kinder ausgezogen sind.

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Quelle: Landeshauptstadt Stuttgart, Statistisches Amt, Wohnungsmarktbefragung 2022 Abb. 7: Bestand an Wohnungen in Stuttgart nach Zahl der Wohnräume 2021

Wohnungsmieten

Der Blick auf die Wohnungsmieten verdeutlicht die sehr angespannte Lage auf dem Stuttgarter Mietwohnungsmarkt. Abhängig von der Lage bestehen dabei große Unterschiede im Mietniveau von online inserierten Wohnungen bei Erst- und Wiedervermietungen. Wohnungen im inneren Stadtgebiet werden zu deutlich höheren Kaltmieten inseriert als solche in den äußeren Bezirken. Der Median der Angebotsmiete lag in den inneren Bezirken in der ersten Jahreshälfte 2022 bei 16 Euro pro m2 nettokalt. Dennoch weisen auch die äußeren Bezirke mit 13,80 Euro je m2 ein hohes Mietniveau auf. Somit werden Mietwohnungen in den inneren Bezirken im Schnitt für 2,20 Euro pro m2 teurer angeboten als in den Außenbezirken. Diese Preisdi erenz verdeutlicht die hohe Lagequalität und starke Nachfrage in den Wohnquartieren des inneren Stadtgebiets.

Gleichzeitig sind preisgünstige Wohnungen im Innenbereich entsprechend selten: So wird in den inneren Bezirken nur jede vierte Wohnung für eine Kaltmiete von unter 13,80 € je m2 (erstes Quartil) angeboten. Im übrigen Stadtgebiet liegt das erste Quartil bei 12,10€ je m2 (Abb. 8). Nur etwa 5 Prozent der Wohnungen in den inneren Bezirken werden zu Mietpreisen von unter 11 Euro je m² online o eriert. In den äußeren Bezirken sind dies 13 Prozent der inserierten Wohnungen.

Haushalte, die in das innere Stuttgarter Stadtgebiet ziehen, müssen also in der Regel mit sehr hohen Mieten rechnen. Zugleich liegt die durchschnittliche Wohnkostenbelastung der

Mieter*innen des inneren Stadtgebiets aufgrund insgesamt besserer Einkommensverhältnisse (s. unten) auf dem Niveau der Gesamtstadt: Miethaushalte in den inneren und äußeren Bezirken geben im Schnitt 30 Prozent ihres Nettoeinkommens für ihre Bruttokaltmiete (Kaltmiete inkl. kalte Nebenkosten) aus.

Innenstädtische Lagen

habe eine hohe Attraktivität

Aus welchen Gründen entscheiden sich die Stuttgarter*innen für einen Auszug? Die Beweggründe für einen Wohnungswechsel sind oftmals vielschichtig. In der Regel nennen die Befragten der Stuttgarter Wanderungsmotivbefragung mehrere Motive, insbesondere, wenn sich der neue Wohnstandort in räumlicher Nähe zur alten Wohnung be ndet. Bei größeren Entfernungen spielen dagegen häu ger Einzelmotive wie die Aufnahme einer neuen Arbeit, der Ausbildungsbeginn oder privat-familiäre Gründe eine Rolle.

Hauptauszugsgründe

Abb. 8: Spannen der Angebotsmieten in Stuttgart im ersten Halbjahr 2022

Die im Folgenden skizzierten Analyseergebnissen lassen keine bemerkenswerten Unterschiede zwischen den Zu- und Wegziehenden in die inneren und äußeren Stadtbezirke erkennen. Daher werden die Umzugsmotive für die Gesamtstadt zusammengefasst dargestellt. Jeder zweite Umzug innerhalb des Stuttgarter Stadtgebiets wird aus wohnungstypischen Beweggründen durchgeführt. Hierbei wird häu g eine zu kleine Wohnung, der Wunsch nach Eigentumsbildung oder die hohen Mietkosten (jeweils über 10%) als Hauptauszugsgrund angeführt (Abb. 9). Zusammen mit den privaten Motivlagen (knapp 25%) wie beispielsweise der Haushaltsvergrößerung durch Kinder oder dem Zusammenziehen mit einer anderen Person, die ebenfalls einen wohnungsbezogenen Hintergrund besitzen, wird das Umzugsgeschehen somit durch die Anpassung der Wohnverhältnisse an die aktuellen Lebensumstände geprägt.

Gleichermaßen nachvollziehbar werden bei den Zuzügen nach Stuttgart mehrheitlich berufs- beziehungsweise ausbildungsbezogene Auszugsgründe aus der alten Wohnung (48%) genannt. Die Zuzüge nach Stuttgart erfolgen also überwiegend wegen der Aufnahme einer (neuen) Arbeits- oder Ausbildungsstelle. Diese Gründe werden von Neustuttgarter*innen, die in die innenstädtischen Wohnquartiere gezogen sind, noch häu ger angeführt (53%). Darüber hinaus werden auch persönliche Gründe (32%) – vor allem die Haushaltsvergrößerung durch das Zusammenziehen mit einer anderen Person – als Auszugsmotive genannt.

Quelle: Landeshauptstadt Stuttgart, Statistisches Amt, eigene Berechnung auf Basis von Immobilienscout24.de-Inseraten

Die Gründe, warum die Wegziehenden aus ihrer Stuttgarter Wohnung gezogen sind, lassen sich nicht auf ein dominierendes Hauptmotiv herunterbrechen. Hier sind die Anteile von wohnungstypischen (32%), berufs- beziehungsweise ausbildungsbedingten (28%) und persönlichen Hauptauszugsgründen (27%) in etwa gleich verteilt. Betrachtet man allerdings nur die Wegzüge in die Wohnungsmarktregion Stuttgart, ergibt sich ein anderes Bild: Jeder zweite in die Re -

STADTFORSCHUNG UND STATISTIK 2|202349 Schwerpunkt Innenstadt – Facetten einer Bestandsaufnahme

gion abgewanderte Haushalt ist wegen wohnungstypischer Gründe ausgezogen. Bei einer Zusammenrechnung aller wohnungsmarktrelevanten Faktoren erhöht sich dieser Anteil sogar um fast drei Viertel aller Haushalte. Dies ist als ein Indiz dafür, dass die Landeshauptstadt den Wohnbedürfnissen ihrer Bürger*innen nicht ausreichend nachkommen kann.

Entscheidungskriterien für die neue Wohnung

Abb. 9: Hauptauszugsgründe (Auswahl der meistgenannten Gründe)

Wohnstandortwechsel sind komplexe Entscheidungsprozesse und laufen in der Regel mehrstu g ab (Münter 2012). In der Befragung wurde daher analytisch unterschieden zwischen den Motiven für den Auszug aus der alten und den Entscheidungskriterien für die Wahl der neuen Wohnung. Was sind also die Entscheidungskriterien für die neue Wohnung? Dabei sind natürlich Verfügbarkeit einer passenden Wohnung oder eines Hauses und die Zusage Grundvoraussetzungen für einen Wohnungswechsel. Entsprechend nannten über 80 Prozent der Befragten die Verfügbarkeit als Entscheidungskriterium. Wohnungsbezogene Kriterien sind ebenfalls für viele Haushalte bei der Wahl der neuen Wohnung relevant. Dabei wird vor allem auf die Wohnungsgröße, die Zimmeranzahl, den Wohnungsschnitt und die Wohnungsausstattung geachtet (Abb. 10). Au ällig ist, dass bei den nach Stuttgart Zugezogenen der Preis beziehungsweise die Miethöhe vergleichsweise

Quelle: Landeshauptstadt Stuttgart, Statistisches Amt, Wanderungsmotivbefragung 2021

Wohnungssuche

Die Suche nach einer geeigneten Wohnung konzentriert sich nur selten auf bestimmte Gebiete und Wohnquartiere. Vielmehr wird oft das gesamte Stuttgarter Stadtgebiet und sein Umland in die Wohnungssuche einbezogen. Je länger die konkrete Wohnungssuche dauert, desto häu ger wird dabei der Suchradius ausgedehnt.

Diejenigen Bewohner*innen, die in die innenstädtischen Quartiere gezogen sind, haben sich bewusst für diesen Wohnstandort entschieden. Soweit sie sich aktiv auf Wohnungssuche befanden, haben nahezu alle Befragten in diesem Stadtgebiet nach einer passenden Wohnung gesucht. Rund ein Drittel hat die Suche zusätzlich auf die äußeren Stadtbezirke ausgeweitet. Demgegenüber haben 40 Prozent der in die äußeren Bezirke Zugezogenen, ebenfalls im inneren Stadtgebiet gesucht. Dies weist auf die hohe Attraktivität und das knappe Wohnungsangebot der innenstädtischen Bereiche hin.

Abb. 10: Entscheidungskriterien für die Wohnungswahl (Mehrfachantworten möglich)

Quelle: Landeshauptstadt Stuttgart, Statistisches Amt, Wanderungsmotivbefragung 2021

50 STADTFORSCHUNG UND STATISTIK 2|2023 Schwerpunkt Innenstadt – Facetten einer Bestandsaufnahme

selten ausschlaggebend für die Wohnungswahl ist. Unter denjenigen, die eine Wohnung in den inneren Stadtbezirken bezogen haben, gaben rund ein Drittel den Preis oder die Miethöhe als Entscheidungskriterium an. In den innenstädtischen Gebieten wird somit in der Regel nicht wegen, sondern trotz der höheren Wohnkosten gewohnt und Wohnungssuchende gehen dazu häu ger Kompromisse ein. Demgegenüber gelingt es bei Wegzügen in eine andere Stadt oder Gemeinde häu ger, das Preisniveau und die Wohnungsausstattung in die Wohnstandortentscheidung einzubeziehen. Die vielfältigen Wohnbedürfnisse und -ansprüche der Stuttgarter Bevölkerung können also aktuell im Stadtgebiet nur bedingt gedeckt werden.

In die Entscheidungs ndung werden darüber hinaus oftmals stadträumliche Aspekte einbezogen: Die Anbindung an das ö entliche Verkehrssystem und die Nähe zu Einkaufsmöglichkeiten sind für viele Befragte sowohl in den inneren wie auch in den äußeren Bezirken ein relevantes Auswahlkriterium für die neue Wohnung. Auf die Entfernung zur Arbeits- und Ausbildungsstelle legte jeder zweite Haushalt wert, der in die inneren Bezirke gezogen ist. Im Gegensatz dazu sind für die Haushalte, die in das Stuttgarter Umland fortziehen die Lage im Grünen, die Eigentumsbildung und ein eigener Garten wichtige Kriterien.

Ein wesentlicher Unterschied zwischen der Wohnungswahl im inneren und äußeren Stadtgebiet liegt in den charakteristischen Lagequalitäten: Drei von vier Haushalten, die in die inneren Bezirke gezogen sind, haben ihre Wohnung unter anderem wegen der Lage explizit im städtischen Umfeld ausgewählt. Dabei konzentriert sich die Suche häu g auf ganz bestimmte Wohnlagen und Stadtviertel, wie z.B. den bei jungen Nachfragern sehr beliebten „Stuttgarter Westen“. Im Unterschied dazu ist für Haushalte, die in die äußeren Bezirke gezogen sind, häu ger die Lage im Grünen ein wichtiges Kriterium.

Wohnen im inneren Stadtgebiet erfordert Kompromisse

Ein Wohnungswechsel führt zu vielschichtigen Veränderungen für die umziehenden Haushalte. Neben spezi schen Wohnmerkmalen wie Zimmeranzahl, Wohnungsgröße, oder -ausstattung kann sich auch die Wohnform oder der Wohnstatus ändern. Sind die Umziehenden im inneren Stadtgebiet mit ihrer neuen Wohnsituation zufrieden? Um dieser Frage nachzugehen, werden im Folgenden die Bewertungen der Wohnverhältnisse und des Wohnstadtortes vor und nach dem Umzug miteinander verglichen.

Veränderung der Wohnverhältnisse

Bei Umzügen erfolgt oftmals eine Anpassung der Wohnverhältnisse an die Lebenssituation. Durch den Umzug innerhalb Stuttgarts vergrößern Haushalte in den meisten Fällen ihre Wohn ächen und die Zimmerzahl. Au ällig ist allerdings, dass bei Haushalten, die in die inneren Bezirke ziehen, der Zugewinn an Wohn äche im Schnitt moderater ausfällt, als bei den Haushalten, die eine Wohnung in den äußeren Bezirken

beziehen. Am stärksten vergrößern Haushalte ihren Wohnraum mit einem Wegzug über die Stadtgrenzen hinaus. Ein anderes Bild ergibt sich bei den zugezogenen Haushalten in das innere Stadtgebiet: Im Schnitt wohnen sie in rund 20 m2 kleineren Wohnungen und damit in beengteren Verhältnissen als vor ihrem Umzug nach Stuttgart (Tab. 1). Dies liegt zum Teil daran, dass unter den Zuziehenden ein hoher Anteil junger Erwachsener ist, die zuvor noch bei Ihren Eltern gewohnt haben. Aber selbst bei Zuzügen von Erwerbspersonen, die in Stuttgart einer Vollzeitbeschäftigung nachgehen, hat sich der durchschnittliche Wohn ächenkonsum nicht wesentlich verändert.

Bei allen untersuchten Umzugsarten fallen die durchschnittlichen Mietkosten der aktuellen Wohnung höher aus als am alten Wohnstandort. Haushalte, die Stuttgart verlassen haben verzeichnen trotz des höheren Wohn ächenkonsums durchschnittlich geringere Wohnkosteigerungen als Zugezogen oder im Stadtgebiet Umgezogene. Die hohen Miet- und Kaufpreisniveaus im inneren aber auch im äußeren Stuttgarter Stadtgebiet haben also erheblichen Ein uss auf die Verwirklichung der individuellen Wohnverhältnisse.

Vergleich früherer und jetziger Wohnstandort

Für die allermeisten Befragten haben sich ihre Wohnverhältnisse durch den Umzug spürbar verbessert. Nach ihrem Umzug im Stadtgebiet sind über 80 Prozent der Befragten mit ihrer jetzigen Wohnsituation zufrieden, davon 42 Prozent sehr zufrieden und 39 Prozent eher zufrieden. Zugleich sind aber auch fast neun von zehn Personen, die Stuttgart als Wohnstandort verlassen haben, mit ihrer neuen Wohnsituation zufrieden. Mit ihren vorherigen Wohnverhältnissen waren in beiden Gruppen jeweils nur circa 40 Prozent zufrieden.

Bei den nach Stuttgart zugezogenen Haushalten fallen die Unterschiede in der Zufriedenheitsbewertung zwischen der alten und neuen Wohnung im inneren wie äußeren Stadtgebiet vergleichsweise gering aus. Darüber hinaus sind bloß 31 Prozent mit ihrer neuen Wohnsituation „sehr zufrieden“ und nahezu 30 Prozent sind sogar der Meinung, dass sich ihre Wohnverhältnisse verschlechtert haben. Wie es scheint, können viele neu hinzugezogene Haushalte ihre Wohnvorstellungen auf dem Stuttgarter Wohnungsmarkt nicht vollständig realisieren.

Nicht nur die persönliche Wohnsituation hat sich für einen Großteil der umgezogenen Menschen verbessert, sondern die Befragten bewerten auch ihren neuen Wohnstandort weitgehend positiver als ihr früheres Wohngebiet. Dabei zeigen sich klar die geläu gen Vor- und Nachteile des innenstädtischen Wohnens. Die neuen Bewohner*innen der inneren Bezirke bewerten die Entfernung zum Arbeits- bzw. Ausbildungsplatz, die Kultur- und Freizeitangebote, die Einkaufsmöglichkeiten, die medizinische Versorgung und das ö entliche Verkehrssystem mehrheitlich positiver als an ihren früheren Wohnstandorten. Sie schätzen also besonders die typischen Vorteile und kurzen Wege des Wohnens in den inneren Lagen einer Großstadt. Dagegen wird die Umweltbelastung, die Situation des motorisierten Individualverkehrs (ruhender und ießender Verkehr) und die Qualität des Wohnumfelds im inneren Stadt-

STADTFORSCHUNG UND STATISTIK 2|202351 Schwerpunkt Innenstadt – Facetten einer Bestandsaufnahme

gebiet insgesamt schlechter bewertet als am alten Wohnsitz (Abb. 11). Umgekehrt sehen Haushalte, die von den inneren Bezirken in eine andere Stadt oder Gemeinde gezogen sind,

ihren neuen Wohnort insbesondere hinsichtlich der Umweltsituation und der Gestaltung des Wohnumfelds (Bebauung, Durchgrünung, etc.) deutlich positiver.

Tab. 1: Durchschnittliche Wohnsituation von Mieterhaushalten vor und nach dem Umzug

im inneren

vom äußeren ins innere Stadtgebiet

ins innere

Abb. 11: Veränderungen durch den Umzug

Quelle: Landeshauptstadt Stuttgart, Statistisches Amt, Wanderungsmotivbefragung 2021

52 STADTFORSCHUNG UND STATISTIK 2|2023 Schwerpunkt Innenstadt – Facetten einer Bestandsaufnahme
Umzug
Umzug
Zuzug
Stadtgebiet Umzug vom
ins äußere Stadtgebiet Wegzug aus dem inneren Stadtgebiet Wohn äche alte Wohnung neue Wohnung Veränderung 69,2 m² 79,6 m² + 15 % 62,1 m² 69,2 m² + 11 % 91,3 m² 71,7 m² - 22 % 67,3 m² 82,1 m² + 22 % 70,6 m² 97,6 m² + 38 % Pro-Kopf-Wohn äche alte Wohnung neue Wohnung Veränderung 34,2 m² 40,2 m² + 15 % 33,3 m² 37,0 m² + 10 % 42,4 m² 37,0 m² - 15 % 34,4 m² 41,4 m² + 17 % 35,8 m² 46,5 m² + 23 % Miete (bruttowarm) alte Wohnung neue Wohnung Veränderung 930,- € 1.110,- € + 20 % 810,- € 940,- € + 17 % 770,- € 980,- € + 27 % 930,- € 1.100,- € + 18 % 930,- € 1.000,- € + 7 %
Wanderungsmotivbefragung
Stadtgebiet
inneren
Quelle: Landeshauptstadt Stuttgart, Statistisches Amt,
2021
in % in %

Fazit

Innenstädtisches beziehungsweise innenstadtnahes Wohnen ist und bleibt attraktiv und stark nachgefragt in Stuttgart. Die Bewohner*innen dieser Wohnquartiere schätzen besonders die typischen Vorteile und kurzen Wege des Wohnens in den inneren Lagen einer Großstadt. Die hohe Konzentration von Arbeitsplätzen, Wohn-, Versorgungs- und Freizeitmöglichkeiten sowie die Vielzahl an Kultur-, Bildungs- und Freizeitangeboten zieht viele Menschen an und kompensiert die Nachteile wie höhere Wohnkosten oder Umweltbelastungen.

Das Wohnungsangebot in den innenstädtischen Bereichen ist dementsprechend besonders knapp und teuer. Wohnungssuchende gehen daher in den inneren Bezirken häu ger Kompromisse bei Mietpreis und Wohn äche ein und schließen sich vermehrt zu Wohngemeinschaften zusammen.

Durch Fort- und Zuzüge verändern sich die sozialen und ökonomischen Strukturen der Stuttgarter Bevölkerung. In das innere Stadtgebiet ziehen vor allem junge Erwachsene in der Ausbildung oder am Anfang ihres Berufslebens. Das Wohnen im Stadtgebiet können sich vor allem Haushalte mit durchschnittlichem und überdurchschnittlichem Einkommen leisten. Dies deutet darauf hin, dass es vorwiegend nanzstärkeren Umzugswilligen gelingt, ihre Wohnverhältnisse an ihre Bedürfnisse und Präferenzen anzupassen. Unter den Zuziehenden verfügt nur jeder fünfte Haushalt über ein unterdurchschnittliches Einkommen. In der Bilanz verlieren die inneren Bezirke allerdings Familien und Haushalte mit überdurchschnittlichen Einkommensverhältnissen. Gleiches gilt für das äußere Stuttgarter Stadtgebiet.

Das Umzugsgeschehen im innenstädtischen Stadtgebiet prägt vor allem folgendes Wanderungsmuster: Junge Erwachsene in der Ausbildung oder am Anfang ihres Berufslebens ziehen in innenstädtische Wohnquartiere, gründen teilweise eine Familie und verlassen häu g als besser situierte Haushalte die inneren Stadtbezirke.

Bei den Umzügen innerhalb des inneren Stadtgebiets zeigt sich auch ein relevanter Anteil von 18 Prozent an Familien mit minderjährigen Kindern. Dies lässt darauf schließen, dass auch junge Familien häu g die inneren Bezirke als Wohnstandort bevorzugen. Jedoch verlagern vor allem junge Familien zunehmend ihre Wohnstandorte ins Umland, weil sie in Stuttgart keinen adäquaten Wohnraum nden.

Ziel der Stadt Stuttgart ist es, auch in innenstädtischen Lagen Familien mit Kindern ein angemessenes Wohnungsangebot zu bieten und die soziale Durchmischung in den Wohnquartieren zu bewahren und zu gestalten. Denn die fortziehenden Familien verfügen häu g über überdurchschnittliche Einkommen und beleben die Stadt. Die hohe Abwanderung ins Umland führt zudem zu einem weiter steigenden Pendleraufkommen und zunehmenden Verkehrsströmen innerhalb der Region, wenn die Fortziehenden weiterhin in der Landeshauptstadt arbeiten. Wohnungspolitik und Wohnungsbauunternehmen in Stuttgart stehen daher vor der Herausforderung, dem Nachfragedruck mit sozial vielfältigen Neubauquartieren für alle Bevölkerungsgruppen im inneren wie im äußeren Stadtgebiet zu begegnen.

1 Um 2015 hatte die Zuwanderung von ge üchteten Menschen insbesondere aus den Krisengebieten in Syrien und Afghanistan enorm an Bedeutung gewonnen. Diese erhöhte insbesondere 2015 und 2016 zusätzlich den Wanderungssaldo mit dem übrigen Bundesgebiet, da viele Ge üchtete über Landeserstaufnahmestellen nach Stuttgart kamen. Flüchtlinge werden in Stuttgart dezentral untergebracht, möglichst in allen Stadtbezirken.

2 Das Statistische Amt der Landeshauptstadt Stuttgart hat im Herbst 2021 eine Befragung zu den Wanderungsmotiven zu-, weg- und umziehender Haushalte durchgeführt. Insgesamt wurde 4.288 auswertbare Fragebögen gewonnen. Die detaillierten Ergebnisse sind in der Wohnungsbedarfsanalyse Stuttgart 2030 ausführlich beschrieben (vgl. Held et al. 2022). Für den vorliegenden Beitrag wurden zusätzliche Auswertungen durchgeführt, um die Besonderheiten des Wohnens in den inneren Stadtbezirken herauszuarbeiten.

Literatur

Gordo, Laura Romeu; Grabka, Markus M.; Alcántara, Lozano, Alberto; Engstler, Heribert; Vogel, Claudia (2019): Immer mehr ältere Haushalte sind von steigenden Wohnkosten schwer belastet. In: DIW Wochenbericht 27/2019, S. 467–476. Held, Tobias; Deutz, Lutz; Riach, Lars; SchmitzVeltin, Ansgar; Mäding, Attina (2022): Wohnungsbedarfsanalyse Stuttgart 2030. In:

Statistik und Informationsmanagement, Themenheft 2/2022.

Landeshauptstadt Stuttgart (2016): Bündnis für Wohnen. Eckpunkte für den Wohnungsbau in Stuttgart.

Mäding, Attina (2022): Stuttgarts Bevölkerung ging während der Pandemie stärker als in anderen deutschen Großstädten zurück. In:

Statistik und Informationsmanagement, Monatsheft 10/2021, S. 203.

Münter, Angelika (2012): Wanderungsentscheidungen von Stadt-Umland-Wanderern: regionaler Vergleich der Muster und Motive, Informations- und Wahrnehmungslücken sowie Beein ussbarkeit der Wanderungsentscheidung in vier Stadtregionen. Münster.

STADTFORSCHUNG UND STATISTIK 2|202353 Schwerpunkt Innenstadt – Facetten einer Bestandsaufnahme

Grenzenlos mobil?

Nah- und Fernwanderungen seit 1991 auf Basis der Wanderungsver echtungen zwischen den Stadt- und Landkreisen

Sowohl international als auch national wird eine Ausdi erenzierung räumlicher Mobilität beobachtet. Analysen, die sich ausschließlich auf Wanderungssalden, Fort- und Zuzugsraten oder Kohortenwachstumsraten stützen, können regionalisierte Wanderungsver echtungen nicht in hinreichender Weise identizieren. Der vorliegende Beitrag analysiert Binnenwanderungen zwischen den 361 deutschen Kreisregionen anhand der zielregionsspezi schen Anteile der Fortzüge an allen Fortzügen einer Quellregion für sechs Altersgruppen. Die Ergebnisse zeigen, dass zwischen den Altersgruppen gleichsam Gemeinsamkeiten und Unterschiede existieren. Außerdem weisen regionalisierte Wanderungsver echtungen im Zeitverlauf vor allem in Westdeutschland eine gewisse Stabilität und räumliche „Geschlossenheit“ auf.

Forschungsinteresse

Migration hat einen entscheidenden Ein uss auf regionale demogra sche und wirtschaftliche Entwicklungen (Gatzweiler u. Schlömer 2008; Kubis u. Schneider 2009; Maretzke 2016). Binnenwanderungen, also Wanderungen über eine administrative Gebietsgrenze innerhalb eines Nationalstaates, sind in Deutschland umfangreicher als die Wanderungen über die deutschen Außengrenzen und über die Zeit, gemessen ab der deutschen Einheit, relativ stabil. Seit 1991 wandern jährlich durchschnittlich 4 Millionen Menschen innerhalb Deutschlands; ca. 3 Millionen überschreiten dabei eine Kreisgrenze. Die Zahl der nach Deutschland Zu- und Abwandernden schwankte in den Jahren 1991 bis 2019 zwischen 1,3 und 3,2 Millionen im Jahr (Destatis 2019).

Geographie (M. Sc.), seit 2019 wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Fakultät Raumplanung (seit 2023 am dortigen Fachgebiet Stadtentwicklung) der Technischen Universität Dortmund. Themenschwerpunkte: Mobilität junger Menschen, Mobilitätsbiographien und Lebensverlauf, Aktionsräume und Zeitgeographie

: david.hoelzel@tu-dortmund.de

Antonia Milbert

Dipl.-Ing. agr., Referatsleiterin des Referats Menschen und Regionen im Wandel – Subjektive und objektive Indikatoren im Kompetenzzentrum Regionalentwicklung des Bundesinstituts für Bau- Stadt- und Raumforschung (BBSR) in Cottbus : antonia.milbert@bbr.bund.de

Schlüsselwörter:

Binnenwanderungen – Wanderungsver echtungen –Ostdeutschland – Kreisregionen – Ausbildungswanderungen – Berufseinstiegswanderungen – Familienwanderungen

In besonderem Interesse standen lange die Binnenwanderungen zwischen Ost- und Westdeutschland, die nach der Ö nung der innerdeutschen Grenze über 20 Jahre durch ostdeutsche Wanderungsverluste gekennzeichnet waren (Milbert 2015; Destatis 2023). Daneben nden in hohem Maße die Binnenwanderungen zwischen Stadt und Land große Beachtung (Milbert u. Sturm 2016; Stawarz u. Sander 2020). Die Konjunktur der Begri e „Land ucht“ (Sommerho 1955; Milbert 2016) und „Stadt ucht“ (Heuer 1977; Aring u. Herfert 2001; Hebenstreit 2020) verdeutlichen diesen spezi schen Blickwinkel.

Wanderungsmuster, auch die der Binnenwanderung, sind jedoch deutlich komplexer als es die (vermeintlich) o ensichtlichen Verhältnisse zwischen Ost und West sowie Stadt und Land vermuten lassen (Wol et al. 2020). Die Individualisierung unserer Gesellschaft, die sich auch in einer Pluralisierung der Lebensformen und der Ansprüche an das Wohnumfeld äußern, führen zu neuen Mobilitätsformen (Münter 2011; Schmitz-Veltin u. Zakrzewski 2011). Diese Heterogenisierung der Lebensformen sollte sich in einer Heterogenisierung der Wanderungsentscheidungen ausdrücken, so dass die Muster von Nah- und Fernwanderungen aufbrechen. Erstaunlich selten wird jedoch zur Prüfung derartiger Thesen die verfügbare detaillierte Statistik der Wanderungen zwischen allen Stadtund Landkreisen genutzt, um die Vielfalt der Binnenwanderungsmuster genauer zu analysieren. Wenn diese Statistik überhaupt Verwendung ndet, dann nur in einem Ausschnitt oder in einer aggregierten Form (Schlömer 2004; GöddeckeStellmann et al. 2018; BiB 2020). Hier setzt der vorliegende Beitrag an.

54 STADTFORSCHUNG UND STATISTIK 2|2023 Stadtforschung

Wir analysieren die Wanderungsver echtungen auf Kreisregionsebene (Wanderungsgver echtungsmatrix) im Zeitraum zwischen 1991 und 2017 und di erenziert nach Altersgruppen. Über die Visualisierung und Auszählung der stärksten Wanderungsbeziehungen suchen wir nach vergleichbaren und unterschiedlichen Ver echtungsmustern zwischen deutschen Teilräumen und nach konstanten und variablen Verechtungsmustern über die Zeit. Diese Analysen bilden eine Vorstudie zur Identi kation von Ver echtungsräumen, die es für Wanderungen im Gegensatz zu Pendlerbeziehungen, auf deren Basis z.B. Arbeitsmarktregionen und Stadtregionen abgegrenzt werden, kaum gibt.

Da Migration eine wichtige Rahmenbedingung planerischer Entscheidungen darstellt (Glorius 2018: 1529), sind diese Informationen relevant für die Raumentwicklung und Raumplanung. Sie zeigen Zentralisierungs- und Peripherisierungstendenzen innerhalb der Flächenländer und jenseits der Metropolregionen. Die beobachtete Konstanz von Verechtungsbeziehungen könnte stärker für die Annahmensetzungen interregionaler Binnenwanderungen in den Bevölkerungsvorausberechnungen genutzt werden. Eine Erklärung für diese Konstanz der Wanderungsmuster kann an dieser Stelle nicht geleistet werden. Im Rückgri auf die Sprachräume als ein Erklärungsversuch wird das Feld für zukünftige Forschung geö net. Schließlich ist die räumliche Verteilung von Binnenwanderungen auch für die Entwicklung von Innenstädten insofern von Interesse, als sie die potenzielle Nachfrage zentralörtlicher Funktionen an einzelnen Standorten beein usst. Im Mittel der letzten zehn Jahre ziehen von allen Binnenzuwanderungen in die größeren Städte ca. ein Viertel in die Innenstadt und ein Drittel in den Innenstadtrand. Bezogen auf die in der Innenstadt bzw. den Innenstadtrand lebende Hauptwohnbevölkerung ist der Saldo dort am höchsten und die Binnenwanderungsverluste setzen erst später ein als in den Stadtteilen des Stadtrandes (Winkler 2023). Obwohl im medialen und wissenschaftlichen Diskurs oftmals (wachsende) Großstädte im Fokus stehen, ist diese Fragestellung auch für Orte in peripheren und schrumpfenden Regionen von Bedeutung, nicht zuletzt vor dem Hintergrund der Debatte um den Erhalt gleichwertiger Lebensverhältnisse und der hierfür erforderlichen Infrastruktur zur Daseinsvorsorge. Der nachfolgende Forschungsüberblick gilt nicht der umfassenden Literatur zur Binnenwanderung, sondern fokussiert auf Arbeiten zu regionalen Raumbezügen von Wanderungen. Sodann folgt eine Darstellung der verwendeten Daten und der methodischen Vorgehensweise. Die Ergebnisse werden in zwei Etappen dargestellt: Erstens, der deskriptiven Erörterung der Ver echtungskarten und zweitens, der Vorstellung abgeleiteter Kennzahlen aus den stärksten Wanderungsver echtungen über die Zeit. Dem Versuch einer Erklärung der vorgefundenen „Wanderungsräume“ entlang der Sprachräume folgt die abschließende Diskussion der Ergebnisse.

Forschungsüberblick

Zur Erfassung räumlicher bzw. regionaler Bezüge der Binnenwanderungen wird vielfach die Wanderungsdistanz bemüht. Das Ravenstein’sche Gesetz (1885), dass die Mehrheit der Wanderungen über kurze Distanzen erfolgt, wurde in unterschiedlichen nationalen Kontexten und in unterschiedlichen Zeiträumen des aktuellen und des letzten Jahrhunderts bestätigt (Li 1981; Gordon u. Molho 1998; Schlömer 2004; Leopold et al. 2012; Niedomysl u. Fransson 2014; Isengard 2018; Shuttleworth et al. 2021). Hinter den Nah- und Fernwanderungen stehen unterschiedliche Motivlagen. Eine Veränderung von Wohnung und Wohnumfeld erfolgt eher über kürzere Distanzen. Wanderungen über weitere Distanzen sind stärker von beru ichen Gründen getragen (Li 2014; Niedomysl u. Fransson 2014). Ökonomische Push- und Pullfaktoren der Quell- und Zielregionen gewinnen bei überregionalen Wanderungen an Bedeutung (Schlömer 2014; Niedomysl u. Fransson 2014). Unterschiede in der zurückgelegten Wanderungsdistanz lassen sich auch über soziodemogra sche Merkmale der Wandernden feststellen. So fanden Friedrich und Ringel (2022), dass der Anteil der Fernwanderungen älterer Wandernder über die Zeit abnimmt. Menschen mit höherem Bildungsgrad haben eine stärkere Tendenz auch entferntere neue Lebensmittelpunkte zu wählen (Leopold et al. 2012: 1000). Nach Shuttleworth et al. (2021) nehmen Fernwanderungen zu, je o ener die Menschen gegenüber Neuem sind. Dennoch gilt auch hier das von Zipf (1949) postulierte Prinzip des geringsten Aufwandes: Die Menschen wandern nur so weit, bis ihr Ziel der Verbesserung ihrer Lebensumstände erreicht ist (zitiert in Niedomysl u. Fransson 2014: 359).

Die Wanderungsdistanz ist als Maß abhängig von der gewählten geogra schen Beobachtungseinheit. Gordon und Molho (1998) konnten über die schwedischen Paneldaten zeigen, dass allein mit zunehmender Aggregation der Beobachtungen auf größer werdende administrative Einheiten die durchschnittliche Wanderungsdistanz steigt bzw. der Anteil der Fernwanderungen zunimmt. Abgesehen davon, dass mit zunehmender Aggregation innerregionale Wohnortwechsel nicht mehr als Wanderungen erfasst werden (Schlömer 2004: 98), erschwert die Heterogenität der Flächenausdehnung der Stadt- und Landkreise den Vergleich der ermittelten durchschnittlichen Wanderungsdistanzen zwischen den geograschen Räumen. Die Distanz der Kreismittelpunkte zweier benachbarter Stadtkreise im dichtbesiedelten Ruhrgebiet beträgt 10 bis 15 km, während die Distanz der zwei ächengrößten benachbarten Landkreise in Mecklenburg-Vorpommern sich auf etwa 120 km beläuft.

Um regionale Bezüge von Binnenwanderungen präziser als über bloße Distanzen zu erfassen, werden Ver echtungsdaten in dreifacher Hinsicht eingesetzt: Häu g werden die Wanderungsströme zwischen Kategorien der siedlungsstrukturellen Kreistypen analysiert (Schlömer 2009; Milbert u. Sturm 2016; Stawarz u. Sander 2020). Wanderungsver echtungen in ihren Quell-Zielbeziehungen werden überwiegend Einzelfall bezogen betrachtet (Moldovan et al. 2022). Seltener, aber für unsere weiteren Analysen interessanter, existieren einzelne Ansätze zur ächendeckenden Abgrenzung von Regionen, hier vor allem Wohnungsmarktregionen, über die Wanderungsbezie -

STADTFORSCHUNG UND STATISTIK 2|202355 Stadtforschung

hungen der für Wohnstandortfragen besonders relevanten Wanderungsgruppen der 30 bis unter 50-Jährigen und ihrer Kinder unter 18 Jahre (Rusche 2009; Michels u. Oberst 2011).

Die Abgrenzung von Wohnungsmarktregionen lehnt sich methodisch stark an die Verfahren zur Abgrenzung von Arbeitsmarktregionen an (Eckey et al. 2006; Granato u. Farhauer 2007; Kropp u. Schwengler 2011). Genauso wie die Arbeitsmarktregionen gilt bei den Wohnungsmarktregionen ein hoher Selbstversorgungsgrad, also starke interne Pendler- bzw. Wanderungsbewegungen, als Gütekriterium für die Regionsabgrenzung. Die Wohnungsmarktregionen überlagern sich zudem in vielen Fällen mit den von Eckey et al. (2006) abgegrenzten Arbeitsmarktregionen (Rusche 2009: 42; Michels u. Oberst 2011: 73). Eine andere Abgrenzung von Wohnungsmärkten stützt sich auf die über Pendlerver echtungen abgegrenzten Stadt-Land-Regionen des BBSR (2012: 63-69). Hier werden die Stadt-Land-Regionen über zentrale Entwicklungsindikatoren in angespannte bis entspannte Wohnungsmärkte kategorisiert. Analog beziehen sich andere Studien über Wanderungsver echtungen auch auf Abgrenzungen von Stadtregionen, z. B. die Analyse von Stadt-Umland-Wanderungen mittels der Großstadtregionen des BBSR (Milbert 2017: 7f.).

Ein weiteres Feld der Abgrenzung von Regionen auf Basis von Quelle- und Zielbeziehungen ist die Abgrenzung von Hochschuleinzugsgebieten (Nutz 2002; Rödel 2010). Auch für Studierende zeigt sich die Tendenz, eher die nahegelegene Universität aufzusuchen; etwa zwei Drittel der Jugendlichen mit allgemeiner Hochschulreife, die ihr Elternhaus erstmalig verlassen, wandern weniger als 100 km (Leopold et al 2012: 18). Die Motivation hinter dieser Heimatnähe liegt sowohl in einer Scheu, die familiären und sonstigen sozialen Kontakte zu verlassen, als auch in nanziellen Überlegungen, die immaterielle Hilfen durch Familie und Bekannte einschließen (Nutz 2004; Leopold et al 2012).

Einzugsgebiete wie die der Hochschulen oder Wohnungsmarktregionen werden also dem Anlass gemäß abgegrenzt. Verallgemeinerbare Ansätze jenseits bestimmter Anwendungsbereiche existieren dagegen nicht. Dabei spielen regionale Bezüge in Bezug auf Wanderungsentscheidungen nicht nur bei Studierenden eine Rolle. Kremer (2022) ndet einen starken Ein uss von Herkunft bzw. regionaler Identität auf Wanderungsver echtungen. Die Antwort auf die Frage nach dem „ob“ klärt jedoch nicht die Frage des „wie“ und „wo“. Kann es eine allgemeine Abgrenzung von intranationalen Wanderungsräumen geben, obwohl die Wohnstandortentscheidungen zwischen den Altersgruppen sich sehr stark unterscheiden (Schlömer 2004; Milbert u. Sturm 2016)? Sind die gleichen Kreise über die Binnenwanderungen miteinander ver ochten, selbst wenn die Wanderungsrichtung bei den Einen vom mehr oder weniger entfernten Umland in die Stadt (z. B. zum Besuch einer höheren Bildungseinrichtung) und bei den Anderen eher aus der Stadt heraus (z.B. zur Realisierung des Eigenheimerwerbs) ist? Gibt es also solche übergeordneten Ver echtungsbereiche und wenn ja, wie stabil sind sie über die Zeit?

Vorgehensweise

Die Analysen stützen sich auf die Wanderungsver echtungsmatrix der Statistischen Ämter des Bundes und der Länder zwischen 1991 und 2017, den Jahren, für die die statistischen Ämter des Bundes und der Länder bundesweite Daten zur Verfügung stellten. Alle Daten werden nach dem Verfahren des BBSR bevölkerungsproportional auf den neuesten Gebietsstand umgerechnet (Milbert 2010). Der Ein uss dieser Umschätzung auf die Validität der Daten wird bei Schlömer (2004: 98f.) sowie bei Milbert und Sturm (2016: 126) diskutiert. Des Weiteren werden nicht die Beziehungen zwischen den 401 Stadt- und Landkreisen direkt untersucht, sondern diese vorher auf die 361 Kreisregionen (vgl. BBSR o.J.) aggregiert. Die Schwierigkeit des bundesweiten Vergleichs auf Grund der unterschiedlichen Ausweisungspraxis von kleinen kreisfreien Städten wird hierdurch so weit wie möglich eliminiert.

Die in der Demogra e gebräuchlichen Mobilitätsmaße sind Zu- und Fortzugsraten, Wanderungsvolumen, Wanderungssaldo und Wanderungse zienz (Summe von Fort- und Zuzügen bezogen auf Saldo). Bezugsgröße ist jeweils die Bevölkerung. Die Mobilitätsraten unterscheiden sich deutlich zwischen den Altersgruppen (Milbert u. Sturm 2016). Daher ist es unmöglich, Altersgruppen übergreifende Schwellenwerte für hohe und niedrige Ver echtungsbeziehungen über z. B. Fortzugsraten zu de nieren. Da es hier nicht auf die absolute Stärke eines Wanderungsstroms, sondern auf seine relative Bedeutung ankommt, werden zielregionsspezi sche Anteile der Fortzüge aus einer Quellregion ermittelt. Die Anteile an den Fortzügen summieren sich pro Quellregion auf 100 Prozent, unabhängig von Bevölkerungsstärke, Altersstruktur sowie der Wanderungsmobilität zwischen den Regionen und sind somit für alle Altersgruppen und Jahre der Untersuchung direkt vergleichbar.

Karten sind die einfachste Möglichkeit zur Darstellung räumlicher Ver echtungen. Bei knapp 130.000 theoretisch möglichen Beziehungen von 361 Quell- zu bis zu 360 Zielregionen unterliegt die Lesbarkeit solcher Karten jedoch gewissen Grenzen. Deswegen ist die gegebene Datenmenge zu reduzieren. Für unsere kartogra sche Darstellung der Verechtungen werden die zielregionsspezi schen Anteile der Stärke nach absteigend sortiert und kumuliert, bis 60 Prozent aller Fortzüge der jeweiligen Quellregionen erreicht sind. 60 Prozent können sich aus 60 Zielbeziehungen mit jeweils nur 1 Prozent an Fortzügen oder im Extrem einer einzigen QuellZiel-Beziehung ergeben, die bereits 60 Prozent aller Fortzüge aus einer Quellregion ausmacht. Der heuristisch ermittelte Schwellenwert von 60 Prozent ergibt sich als Kompromiss für die visuelle Interpretierbarkeit aller Karten im Vergleich.

Aus den zielregionsspezi schen Anteilen der Fortzüge lassen sich außerdem die stärksten vier Beziehungen pro Jahr kumulieren und als „Konzentrationsmaß“ für die Ver echtung einer Quellregion mit anderen Regionen ermitteln. Die stärksten vier Beziehungen repräsentieren ungefähr 1 Prozent aller theoretisch möglichen 360 Beziehungen einer Quell- zu den Zielregionen. Zur Charakterisierung der Ver echtungsintensität ist dieses Maß gegenüber Ausreißern robuster als der ausschließliche Fokus auf die einzelne Beziehung zur jeweils dominantesten Zielregion. Neben diesem Konzentrationsmaß

56 STADTFORSCHUNG UND STATISTIK 2|2023 Stadtforschung

nutzen wir die absolute Anzahl an Zielregionen pro Quellregion als „Dispersionsmaß“, um die Streuung der Wanderungsbeziehungen zu erfassen. Die Kombination dieser beiden Maße bildet die Vielfalt der quellregionsspezi schen Fortzugsmuster besser ab, als die alleinige Verwendung eines Maßes. Diese beiden Maße werden im Rahmen dieses Textes exemplarisch für die Altersgruppe der 18- bis unter 25-Jährigen berichtet.

Ergebnisse

Räumliche Muster der Wanderungsver echtung Abbildung 1 stellt die Binnenwanderungsver echtungen differenziert nach sechs Altersgruppen der Wanderungsstatistik für das Beobachtungsjahr 2017 dar. Au ällig ist, dass sich viele Wanderungsbeziehungen über alle sechs Altersgruppen gleichen: z.B. der Stern um Berlin mit seinen Verbindung nach Norden zu dem Netz an der Ostseeküste von Mecklenburg-

Abb. 1: Zielregionsspezi sche Anteile der Fortzüge nach sechs Altersgruppen 2017

Anteil der Fortzüge in einen Zielkreis an allen Fortzügen eines Quellkreises in %* unter 2%

Datenbasis:LaufendeRaumbeobachtungdesBBSR GeometrischeGrundlage:Kreise/ Kreisregionen(generalisiert), 31.12.2019©GeoBasis-DE/BKG Bearbeitung:A. Milbert

Quelle: Wanderungsstatistik des Bundes und der Länder, Laufende Raumbeobachtung des BBSR

STADTFORSCHUNG UND STATISTIK 2|202357
Stadtforschung
Kiel Mainz Erfurt Berlin Bremen Potsdam Dresden Hamburg München Schwerin Hannover Magdeburg Stuttgart Düsseldorf Saarbrücken Wiesbaden Kiel Mainz Erfurt Berlin Bremen Potsdam Dresden Hamburg München Schwerin Hannover Magdeburg Stuttgart Düsseldorf Saarbrücken Wiesbaden Kiel Mainz Erfurt Berlin Bremen Potsdam Dresden Hamburg München Schwerin Hannover Magdeburg Stuttgart Düsseldorf Saarbrücken Wiesbaden Kiel Mainz Erfurt Berlin Bremen Potsdam Dresden Hamburg München Schwerin Hannover Magdeburg Stuttgart Düsseldorf Saarbrücken Wiesbaden Kiel Mainz Erfurt Berlin Bremen Potsdam Dresden Hamburg München Schwerin Hannover Magdeburg Stuttgart Düsseldorf Saarbrücken Wiesbaden Kiel Mainz Erfurt Berlin Bremen Potsdam Dresden Hamburg München Schwerin Hannover Magdeburg Stuttgart Düsseldorf Saarbrücken Wiesbaden 100km BBSRBonn2023 © unter 18 18 bis unter 25 25 bis unter 30 30 bis unter 50 50 bis unter 65 65 und älter
5
*stärkste Wanderungsbeziehungen,
2 bis unter 5%
bis unter 10% 10% und mehr
kumulierte Anteile bis unter 60% jedes Quellkreises

Vorpommern sowie nach Süden zum Netz um Dresden und Görlitz, der Ring südöstlich um den Münchner Knotenpunkt, der Strang am Rhein entlang der „deutsch-französischen Küste“, das „Pentagon“ in Schleswig-Holstein mit seiner Verbindung zum Hamburger Knotenpunkt oder die einzelnen starken Beziehungen, die in der Mitte Deutschlands meist eine der größeren Städte einbeziehen. Die genannten Beispiele lassen sich auch in den Karten der jüngeren Wandernden, der 18- bis unter 25-Jährigen und der 25- bis unter 30-Jährigen erkennen, obwohl hier die Bedeutung der großen monozentralen Städte Berlin, Hamburg, München sowie für Ostdeutschland Dresden und Leipzig noch stärker hervortritt. Obwohl nicht eingezeichnet, sind die Landesgrenzen erkennbar; in der Klasse von 10 Prozent und mehr der Fortzüge sind nur vereinzelt Landesgrenzen überschreitend Kreise miteinander verbunden. Insbesondere bei den jüngeren Wandernden ist auch deutlich die Trennung zwischen Nord- und Südbayern zu erkennen.

Exemplarisch sei an der Altersgruppe der 25- bis unter 30-Jährigen die Entwicklung der Ver echtungsmuster seit 1991 aufgezeigt (Abb. 2). In Westdeutschland unterscheiden sich die Muster in 1991, 2000 und 2017 eher im Detail als im Grundsatz. Einzelne Beziehungen treten besonders hervor, wie beispielsweise 2000 die Fortzüge von Bonn nach Berlin (Regierungsumzug nach dem Bonn-Berlin-Beschluss), andere verschwinden, wie zwischen Göttingen und Hamm. Letzteres

verweist darauf, dass auch dieses Maß und diese Darstellung von den temporären Wanderungsströmungen aus den Erstaufnahmeeinrichtungen stark beein usst werden.

Au ällig ist jedoch die Entwicklung in Ostdeutschland. Kurz nach dem Fall des Eisernen Vorhangs gab es keine eindeutigen Kristallisationspunkte mit Ausnahme von Berlin. Die Ver echtung zwischen den Kreisen an der Ostseeküste ist zwar andeutungsweise schon zu erkennen, bildet sich aber erst im Laufe der Zeit zu dem Netz, wie es ab 2000 deutlich und nachhaltig hervortritt. Die Großstädte werden ab 2000 Kristallisationspunkte der Wanderungsbewegungen, ihre Verechtungsbeziehungen auch mit Kreisen des zweiten und dritten Kranzes verstärken sich dann nach und nach.

Dispersion und Konzentration der Wanderungsbeziehungen in Deutschland

Die Betrachtung von Dispersion und Konzentration der Wanderungsbeziehungen erfolgt exemplarisch für die Altersgruppe der 18- bis unter 25-jährigen. Im Allgemeinen ist die Streuung der Fortzüge aus städtisch geprägten Kreisregionen größer als aus ländlich geprägten Kreisregionen. Regional und zeitlich ist diese Streuung variabel (Abb. 3b): Während die durchschnittliche Anzahl der Zielregionen westdeutscher Quellregionen nach einem leichten Einbruch nach 1992 seit Ende der 1990er bis 2015 geringfügig gewachsen ist, sind für

Abb. 2: Zielregionsspezi sche Anteile der Fortzüge der 25- bis unter 30-Jährigen 1991, 2000 und 2017

Anteil der Fortzüge in einen Zielkreis an allen Fortzügen eines Quellkreises in %*

unter 2% 2 bis unter 5% 5 bis unter 10% 10% und mehr

*stärkste Wanderungsbeziehungen, kumulierte Anteile bis unter 60% jedes Quellkreises

Datenbasis:LaufendeRaumbeobachtungdesBBSR GeometrischeGrundlage:Kreise/ Kreisregionen(generalisiert), 31.12.2019©GeoBasis-DE/BKG Bearbeitung:A. Milbert

Quelle: Wanderungsstatistik des Bundes und der Länder, Laufende Raumbeobachtung des BBSR

58 STADTFORSCHUNG UND STATISTIK 2|2023 Stadtforschung
Kiel Mainz Erfurt Berlin Bremen Potsdam Dresden Hamburg München Schwerin Hannover Magdeburg Stuttgart Düsseldorf Saarbrücken Wiesbaden Kiel Mainz Erfurt Berlin Bremen Potsdam Dresden Hamburg München Schwerin Hannover Magdeburg Stuttgart Düsseldorf Saarbrücken Wiesbaden Kiel Mainz Erfurt Berlin Bremen Potsdam Dresden Hamburg München Schwerin Hannover Magdeburg Stuttgart Düsseldorf Saarbrücken Wiesbaden 100km BBSRBonn2023 © 1991 2000 2017

ostdeutsche Regionstypen stärkere Schwankungen erkennbar. Ausgehend von einem relativ hohen Niveau im Jahr 1991 ist der zuvor beschriebene Rückgang der Streuung für ostdeutsche Kreisregionen im Vergleich zu westdeutschen Kreisregionen ein bis zwei Jahre früher erkennbar und deutlicher. Bis zum Jahr 2001 steigt die Dispersion jedoch wieder auf ein vergleichbares Niveau wie 1991. Bis 2008 ziehen Menschen aus ostdeutschen Kreisregionen (über alle Regionstypen hinweg) in eine größere Anzahl von Zielregionen als Menschen in Westdeutschland. Nach 2008 sinkt die Anzahl der Zielregionen für ostdeutsche Quellregionen außerhalb der Großstädte deutlich und unter das Niveau westdeutscher Quellregionen, wobei die Kreisregionen in Deutschland zwischen 2015 und 2017 im Durchschnitt von einem Rückgang geprägt sind. Bloße OstWest-Betrachtungen verbergen allerdings die Unterschiede zwischen Quellregionen in Westdeutschland. Gegenüber den übrigen Quellregionen in Westdeutschland sind insbesondere Regionen in Bayern, Rheinland-Pfalz und dem Saarland über

den Betrachtungszeitraum durch eine vergleichsweise geringe Anzahl an Zielkreisen geprägt (exemplarisch Abb. 3a für 2017).

Die vier stärksten Wanderungsströme von Quell- in Zielregionen sind für westdeutsche Kreisregionen im Zeitverlauf weitgehend konstant und machen im Durchschnitt etwa 40 Prozent aller Fortzüge aus den Quellregionen aus (Abb. 4b). Einzig für westdeutsche kreisfreie Großstädte sinkt der Anteil auf etwa ein Drittel ab. Demgegenüber unterlagen ostdeutsche Kreisregionen in der Konzentration ihrer Fortzüge einer stärkeren Dynamik: Ausgehend von einem Anteil von knapp 20 bis 25 Prozent im Jahr 1991 ist für alle Regionstypen bis 1997 ein starker Anstieg der Konzentration der Fortzüge erkennbar (etwa um den Faktor 1,5 bis 2). In der Folge weisen die ostdeutschen Kreise 2017 eine relative Konzentration auf die vier wichtigsten Zielregionen (etwa 45%) auf. Außerhalb der ostdeutschen Großstädte gewinnen die vier stärksten Zielregionen nach 2001 an Bedeutung und nehmen 2017 im Durchschnitt fast die Hälfte aller Fortzüge aus den jeweils

Abb. 3: Anzahl Zielregionen je Quellregion für Fortzüge der 18- bis unter 25-Jährigen, a) 2017, b) im Zeitverlauf 1991 bis 2017 nach Kreistyp und nach Ost und West

kreisfreie Großstadt, West städtische Kreisregion, West ländliche Kreisregion, West kreisfreie Großstadt, Ost

städtische Kreisregion, Ost

ländliche Kreisregion, Ost

Datenbasis:LaufendeRaumbeobachtungdesBBSR, GeometrischeGrundlage:Kreise(generalisiert),31.12.2019©GeoBasis-DE/BKG, Bearbeitung:D. Hölzel, A. Milbert

Quelle: Wanderungsstatistik des Bundes und der Länder, Laufende Raumbeobachtung des BBSR

STADTFORSCHUNG UND STATISTIK 2|202359 Stadtforschung
NL BE LU FR CH AT CZ PL DK Kiel Mainz Erfurt Berlin Bremen Potsdam Dresden Hamburg München Schwerin Hannover Magdeburg Stuttgart Düsseldorf Saarbrücken Wiesbaden 100km BBSRBonn2021 © Anzahl Zielregionen, 2017
73 bis 120 121 bis 150 151 bis 180 181 bis 210 211 bis 240 241 bis 353 a) b) 0 50 100 150 200 250 300 350 2017
2010 2000 1991
Zielregionen
Anzahl

betrachteten Quellregionen auf (Abb. 4a). Räumlich betrachtet ist der Anteil der vier stärksten Wanderungsströme vor allem für Quellregionen im Umland von kreisfreien Großstädten vergleichsweise hoch. Im Zeitverlauf fallen Kreisregionen im Osten Nordrhein-Westfalens sowie im Osten Baden-Württembergs durch vergleichsweise geringe Konzentration auf. Trotz zwischenzeitlicher Ähnlichkeiten unterscheidet sich das für die Dispersion der Fortzüge beschriebene räumliche Muster im Allgemeinen von jenem für die Konzentration der Fortzüge.

Welchen Ein uss haben möglicherweise die Sprachräume?

Während Kremer (2022) als Proxy für „Heimat“ die Beständigkeit der Bundeslandgrenzen seit 1871 heranzieht, werden hier die Sprachräume zur Annäherung für regionale Verbundenheit geprüft. Exemplarisch werden die Wanderungsver echtungen der 25- bis unter 30-Jährigen im Jahr 2017, die mindestens fünf Prozent aller Fortzüge aus einer Quellregion betragen, über

die Karte der Sprachräume gelegt (Abb. 5). Sprachgrenzen übergreifende starke Wanderungsver echtungen sind durchaus zu beobachten. Diese übergreifenden Ver echtungen sind aber seltener als die Ver echtungen zwischen Kreisen innerhalb großräumiger Dialekträume. So sind die Ver echtungen innerhalb des Alemannischen, des Ostfränkischen und des Bairischen sehr ausgeprägt. Auch der Ostmitteldeutsche Sprachraum ist in sich stark ver ochten mit begrenzten Ver echtungen zum Ostniederdeutschen einerseits als auch zum Westmitteldeutschen andererseits. Interessant ist z. B. auch, dass die niederdeutsch/hochdeutsche Sprachscheide im Rheinland wenig, dagegen über das stark miteinander ver ochtene Ruhrgebiet häu ger durch Wanderungen überschritten wird.

Dies sind nur Beobachtungen und Interpretationen der vorgestellten Karte, da der Ein uss von Wanderungen auf die Veränderung von Sprache und Dialekten sehr wohl, der

Abb. 4: Prozentualer Anteil der vier stärksten Wanderungsströme der 18- bis unter 25-Jährigen an allen Fortzügen je Quellregion, a) 2017, b) im Zeitverlauf 1991 bis 2017 nach Kreistyp und nach Ost und West

kreisfreie Großstadt, West städtische Kreisregion, West ländliche Kreisregion, West kreisfreie Großstadt, Ost städtische Kreisregion, Ost ländliche Kreisregion, Ost

Anteil der 4 stärksten Wanderungsströme in %, 2017

Datenbasis:LaufendeRaumbeobachtungdesBBSR, GeometrischeGrundlage:Kreise(generalisiert),31.12.2019©GeoBasis-DE/BKG, Bearbeitung:D. Hölzel, A. Milbert

Quelle: Wanderungsstatistik des Bundes und der Länder, Laufende Raumbeobachtung des BBSR

60 STADTFORSCHUNG UND STATISTIK 2|2023
Stadtforschung
100km BBSRBonn2021 © NL BE LU FR CH AT CZ PL DK Kiel Mainz Erfurt Berlin Bremen Potsdam Dresden Hamburg München Schwerin Hannover Magdeburg Stuttgart Düsseldorf Saarbrücken Wiesbaden
bis unter 26 26 bis unter 33 33 bis unter 40 40 bis unter 47 47 bis unter 53 53 und mehr a) b) 0 10 20 30 40 50 2017 2010 2000 1991
Anteil in %

von Dialekten auf Wanderungen jedoch nur sehr sporadisch untersucht wird. Christensen et al. (2020) beobachteten, dass Menschen bei innerdeutschen Wohnortwechseln

„… signi kant bevorzugt in Regionen [ziehen], in denen die Menschen ähnliche regionalsprachliche Merkmale verwenden wie sie selbst.“ (S. 117). Um noch einen Schritt weiter zu gehen: Ohne die Dialekte eindeutig identi zieren oder benennen zu können, herrscht in der Studie von Leonhardt (2014) bei Probanden auch jüngeren Alters eine sehr gute Vorstellung von der Regionalität des gehörten Dialekts vor. Daher könnten Sprachräume die Teilräume von regionaler Identi kation, die kleiner sind als die Bundesländer (Kremer 2022), gut repräsentieren. Allerdings fehlt hierzu hinreichende Forschung.

Fazit und Ausblick

Da sich die bisherige Forschung zur Binnenwanderung eher auf die Wanderungssalden zwischen Ost- und Westdeutschland sowie zwischen Stadt und Land konzentriert hat, fehlen di erenzierte Erkenntnisse über die regionalen Zusammenhänge, die sich über die Wanderungen manifestieren. Die vorliegende Arbeit liefert diesbezüglich erste Anhaltspunkte. Regionalisierte Wanderungsver echtungen weisen über die Altersgruppen hinweg – vor allem in Westdeutschland – eine gewisse Stabilität und räumliche „Geschlossenheit“ auf. Diese Konzentration von Wanderungen im mehr oder weniger begrenzten Radius hat sich im Zeitverlauf tendenziell verstärkt, insbesondere in ostdeutschen Regionen außerhalb der Großstädte. Dies kann zumindest für die in diesem Beitrag intensiver analysierte, hochmobile Altersgruppe der 18bis unter 25-Jährigen konstatiert werden. Die explorative Überlagerung von Wanderungsver echtungen und Sprachräumen deutet auf die Bedeutung regional di erenzierter Ein ussfaktoren für die räumliche Di erenzierung von Bin-

Abb. 5: Zielregionsspezi sche Anteile der Fortzüge der 25- bis unter 30-Jährigen 2017 vor dem Hintergrund der Sprachräume

Anteil der Fortzüge der 18- bis unter 25-Jährigen in einen Zielkreis an allen Fortzügen eines Quellkreises in %, 2017

5 bis unter 10% 10% und mehr

Sprachräume

Westniederdeutsch

Ostniederdeutsch

Westmitteldeutsch (*Mittelfränkisch)

Ostmitteldeutsch

Ostfränkisch

Alemannisch

Bairisch

Friesisch

Sorbisch

Grenze des deutschen Sprachraums Beginn des Durchdringungsgebietes von Deutsch und der benachbarten Fremdsprache niederdeutsch/hochdeutsche Sprachscheide mitteldeutsch/oberdeutsche Sprachscheide hochdeutsche Binnesprachinsel

Städte nach Einwohnerzahl

> 1 Mio.

500.000 bis 1 Mio.

< 500.000 (Auswahl)

Quelle: Leibnitz-Institut für Länderkunde, Wanderungsstatistik des Bundes und der Länder, Laufende Raumbeobachtung des BBSR

STADTFORSCHUNG UND STATISTIK 2|202361 Stadtforschung
100km
BBSRBonn2021 © Quelle: Lameli, Alfred (2008): Deutsche Sprachlandschaften. Nationalatlas aktuell 2 (08.2008) 9

nenwanderungen in Deutschland hin. Allerdings müssen sich nun empirische Analysen anschließen, die die visuell-deskriptiven Beobachtungen sichern und vertiefen. Die vorliegenden Analysen lassen Wanderungen innerhalb einer Kreisregion unbeachtet und blenden somit einen Teil der Nahwanderungen aus. Um deren Rolle zu bestimmen, sollten Regionsab-

grenzungen anhand von Ver echtungen auf gemeindlicher Ebene überprüft werden. Darüber hinaus gilt es, Methoden zu nden, die eine angemessene räumliche Abgrenzung von Wanderungsver echtungen erlauben. Schließlich können inferenzstatistische Verfahren Aufschluss über die tatsächliche Bedeutung regionaler Unterschiede geben.

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62 STADTFORSCHUNG UND STATISTIK 2|2023 Stadtforschung

Sind Geschlechterdisproportionen unter jungen Erwachsenen noch ein relevantes raumplanerisches und demographisches Thema?

Der vorliegende Beitrag befasst sich mit den Ursachen, Entwicklungsverläufen, Raummustern und sozialräumlichen Konsequenzen unausgeglichener Geschlechterproportionen junger Erwachsener. Vor dem Hintergrund alters- und geschlechtsselektiver Ost-West-Wanderungen nach Ö nung der innerdeutschen Grenze und überproportionaler Fortzüge junger Frauen aus ländlichen Regionen Ostdeutschlands in städtische Zielgebiete erfuhr diese Thematik vor etwa gut einem Jahrzehnt breite Aufmerksamkeit. Die demographischen Konsequenzen in den Herkunftsgebieten waren unausgewogene Sexualproportionen mit deutlichen „Männerüberschüssen“, Bevölkerungsrückgänge und eine dynamische Alterung. Träger dieser Prozesse sind die Altersgruppen der 18- bis unter 25-Jährigen, deren weiterführende Ausbildung primär während dieses Lebensabschnitts erfolgt und die 25- bis unter 30-Jährigen, welche die Berufseinstiegs- und Familiengründungsphase repräsentieren. Mit der Analyse der jüngeren Entwicklungsverläufe anhand der Auswertung aktueller Bevölkerungs- und Mobilitätsdaten und dem Vergleich mit früheren Befunden wird der Frage nachgegangen, ob die ehemaligen Muster derzeit noch Bestand haben und inwieweit sich daraus aktuelle planerische Handlungserfordernisse ableiten. Nach unseren Befunden sind unausgeglichene Geschlechterproportionen der betrachteten Alterskohorten keine ostspezi schen Phänomene mehr sondern mittlerweile bundesweite Realität. Während sich die Situation in Ostdeutschland im Betrachtungszeitraum entspannt hat, tragen die zunehmenden Disproportionen in den westdeutschen Regionen zu einer Verschärfung der damit verbundenen Herausforderungen bei.

Dr. Tim Leibert

Leibniz-Institut für Länderkunde; Leipzig. Projektleiter in der Forschungsgruppe „Mobilität und Migration“.

: T_Leibert@leibniz-i .de

Prof. Dr. Klaus Friedrich

Institut für Geowissenschaften & Geographie; Martin-LutherUniversität Halle-Wittenberg

: klaus.friedrich@geo.uni-halle.de

Schlüsselwörter:

Geschlechterdisproportionen junger Erwachsener –geschlechtstypische Wanderungsmuster –Bevölkerungsentwicklung – Raumplanung

Problemskizze und Anliegen

Vor dem Hintergrund des demographischen Wandels, der seit den 1970er Jahren in beiden deutschen Staaten seinen zentralen Ursprung im Rückgang der Fertilität unter das Niveau der Bestandserhaltung hatte, erfolgte die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit den damit verbundenen Konsequenzen zunächst vor allem mit Blick auf die Herausforderungen einer schrumpfenden und älter werdenden Gesellschaft. Seit der Wiedervereinigung wurde diese Fokussierung jedoch ergänzt durch die Diskussion über die vielfältigen Konsequenzen der Spaltung der Bevölkerungsdynamik vom Wachstum hin zur Stagnation und schließlich zur Schrumpfung (vor allem in Ostdeutschland) und der internationalen Zuwanderung, insbesondere, aber nicht nur von Schutzsuchenden (vor allem in Westdeutschland).

Im Zeitverlauf des ostdeutschen Transformationsprozesses erfuhren die regionalen Schrumpfungsprozesse immer stärkere Aufmerksamkeit, die infolge alters- und geschlechtsselektiver Ost-West-Wanderungen (Friedrich u. Schultz 2008) sowie aufgrund überproportionaler Fortzüge junger Frauen aus ländlichen Regionen in städtische Zielgebiete (Berlin-Institut 2007, Kühntopf u. Stedtfeld 2012, Wiest 2016) auftraten. Beide Prozesskomponenten führten in den Herkunftsgebieten zu unausgewogenen Geschlechterproportionen, die sich im De zit junger Frauen und einem ausgeprägten „Männerüberschuss“ von teilweise über 25 Prozent in vielen ländlichen Regionen niederschlugen (Kühntopf u. Stedtfeld 2012: 4). Ähnliche Prozesse wurden ebenfalls für ländliche Regionen in Westdeutschland unter dem Narrativ „Land ucht“ diskutiert (BBSR 2013 und 2016).

Im vorliegenden Beitrag erfolgt zunächst die rückblickende Einordnung der Ursachen und regionalen Konsequenzen unausgeglichener Geschlechterverhältnisse junger Erwachsener anhand vorliegender Wissensbestände. Dabei stehen zwei Altersgruppen im Mittelpunkt: die 18- bis unter 25-Jährigen und die 25- bis unter 30-Jährigen. Die Altersgruppe der 18- bis unter 25-Jährigen steht für die Kohorte, deren weiterführende Ausbildung primär während dieses Lebensabschnitts erfolgt, wohingegen die Altersgruppe der 25- bis unter 30-Jährigen die Berufseinstiegs- und Familiengründungsphase repräsentiert. Da Frauen tendenziell früher aus dem Elternhaus ausziehen als Männer – mit z.T. bemerkenswerten regionalen Unterschieden, ist es notwendig, beide Altersgruppen zu betrachten. Insbesondere für ländliche Räume Westdeutschlands wurde

STADTFORSCHUNG UND STATISTIK 2|202363 Stadtforschung

festgestellt, dass sich Geschlechterdisproportionen über den Lebenslauf einer Geburtskohorte wieder ausgeglichen haben (Leibert 2016). Temporäre Geschlechterungleichgewichte vor der Familiengründungsphase dürften für die demographische und regionale Entwicklung unproblematisch sein. Signi kante und ächendeckende Frauen- bzw. Männer-„Überschüsse“ in der Altersgruppe der 25- bis unter 30-Jährigen deuten dagegen auf Partnermarktungleichgewichte hin, die negative Auswirkungen auf die natürliche Bevölkerungsentwicklung haben können (Klein u. Stauder 2016).

Die nachfolgende methodologische Diskussion leitet über zur Analyse der jüngeren Entwicklungsverläufe anhand der Auswertung aktueller Bevölkerungs- und Mobilitätsdaten und dem Vergleich mit früheren Befunden. Auf dieser Grundlage wird schließlich der Frage nachgegangen, ob die räumlichen Muster, Rahmenbedingungen und Konsequenzen unausgewogener Geschlechterproportionen der Zielgruppe gut 30 Jahre nach der Wiedervereinigung noch Bestand haben und inwieweit sich daraus aktuelle planerische Handlungserfordernisse ableiten.

Rückblick auf Ursachen und Folgen für die Regionalentwicklung

Obwohl das Phänomen unausgeglichener Geschlechterverhältnisse bereits seit Längerem die Entwicklung vor allem ländlicher Regionen in Ostdeutschland betraf, haben deren Ursachen, Muster und Konsequenzen erst seit gut einer Dekade ein dezidiertes wissenschaftliches Interesse auf sich gezogen. Nachfolgend werden ausgewählte Befunde auf Basis der in diesem Zusammenhang ermittelten Wissensbestände vorgestellt. Zeitlich recht früh gri das Berlin-Institut (2007) die Thematik auf. Die Studie „Not am Mann“ wurde von der Presse breit rezipiert, insbesondere mit Blick auf die (vermeintliche) Bildungsselektivität der Abwanderung aus ländlichen Räumen Ostdeutschlands. So titelte der Berliner Tagesspiegel am 30.05.2007 „Ostdeutschland: Schlaue Frauen gehen, dumme Männer bleiben“.1 Eine derartige Entmischung der Bevölkerung durch alters-, geschlechts- und bildungsselektive Wanderungsmuster hätte negative Auswirkungen für die wirtschaftliche Entwicklung und den gesellschaftlichen Zusammenhalt der ländlichen Räume Ostdeutschlands gehabt. Mit Blick auf die Alters- und Geschlechtsselektivität weist Stauder (2018) darauf hin, dass Frauen ihre ostdeutsche Heimat zu einem früheren Zeitpunkt im Lebenslauf verlassen als ostdeutsche Männer und dass westdeutsche Frauen weniger geneigt sind, in den Osten zu ziehen, als westdeutsche Männer. Seine Analyse der Ost-West-Wanderungen mit Daten des Sozio-oekonomischen Panels kommt zum Ergebnis, dass Geschlechterunterschiede im Wanderungsverhalten weitestgehend auf Ausbildungsmotive zurückzuführen sind, während die Lage auf den ostdeutschen Arbeits- und Partnermärkten nur eine untergeordnete Rolle spielt. Die Studie von Stauder (2018) befasst sich allerdings nur mit der Ost-West-Wanderung, lässt also kleinräumige Migrationsmuster innerhalb von Ostdeutschland – insbesondere Land-Stadt-Wanderungen – unberücksichtigt.

Am Leipziger Institut für Länderkunde wurden die Gründe für die geschlechtstypischen Unterschiede im regionalen

Wanderungsverhalten junger Frauen und Männer empirisch untersucht (Leibert u. Wiest 2010 und 2012; Wiest u. Leibert 2013). Europaweit zeigte sich das Phänomen überproportionaler Männeranteile in der Bestandsbevölkerung insbesondere in dünn besiedelten, ländlich-peripheren und schrumpfenden Gebieten, während in urbanen Zentren und prosperierenden Verdichtungsräumen häu g die jungen Frauen in der Überzahl waren (Leibert 2016). Hierzulande waren insbesondere die ländlichen Regionen Ostdeutschlands im Zuge der Wiedervereinigung zunächst durch intensive Abwanderungsbewegungen nach Westdeutschland und später in die nahegelegenen zentralen Orte von einem au älligen „Frauenmangel“ betro en (Kühntopf u. Stedtfeld 2012, Leibert 2016). Am Fallbeispiel von Sachsen-Anhalt – einem „hot spot“ der demographischen Entwicklung seit der Wiedervereinigung (Friedrich 2021) – identi zierten die Autoren auf der Grundlage von Tiefeninterviews mit jungen Frauen, von Schülerbefragungen und der Analyse demographischer Daten die Etablierung einer ausgeprägten „Abwanderungskultur“. Mit Blick auf den Arbeits- und Ausbildungsmarkt glaubten viele Jugendliche und insbesondere junge Frauen, dass es im ländlichen Raum Sachsen-Anhalts schwierig sei, in Zukunft beru ich erfolgreich zu sein. In der Heimat zu bleiben war für viele mit der Befürchtung eines sozialen Abstiegs verbunden. Aufgrund dessen wurde sowohl im schulischen als auch im elterlichen Umfeld bereits vor dem Schulabschluss die Abwanderung als Option verinnerlicht (Meyer 2017; Meyer u. Leibert 2021). Danach verlassen junge Frauen häu ger als jüngere Männer ihre Heimatregion, um eine Ausbildung zu machen, einen Beruf zu ergreifen oder um zu studieren. Dies wird sowohl mit deren geschlechtstypisch höheren Bildungs- und Berufsambitionen begründet als auch damit, dass Frauen eher eine Beschäftigung im ö entlichen Dienst oder tertiären Sektor bevorzugen und diesbezüglich ein reichhaltigeres Möglichkeitenspektrum in den urbanen Zentren nden (vgl. hierzu auch: Kühntopf u. Stedtfeld 2012; Weber 2016). Junge Männer orientieren sich in ihrer Berufswahl dagegen stärker an den Gegebenheiten der lokalen Wirtschaftsstruktur. Somit resultierte dieser noch vor gut einem Jahrzehnt relevante demographische Entwicklungspfad aus dem Zusammenspiel der sozialen und ökonomischen Transformationsfolgen mit einer über viele Jahre angespannten Lage auf dem Arbeitsmarkt, den vor allem seitens vieler junger Frauen negativ wahrgenommener Berufsperspektiven und einer geringen Identi kation mit den Herkunftsregionen.

Im regionalplanerischen Diskurs wurden die bestehenden Geschlechterungleichgewichte unter jüngeren Erwachsenen bald als vielschichtiges Problem thematisiert. Neben den demographischen Konsequenzen wurden dessen sozioökonomische Implikationen betont. In demographischer Hinsicht resultierte aus der überdurchschnittlichen Beteiligung junger Frauen sowohl an der Ost-West-Wanderung als auch beim Fortzug in die nahegelegenen zentralen Orte die zahlenmäßige Verringerung der potenziellen Müttergeneration und in deren Folge das anhaltend hohe Geburtende zit. Diese Prozesse verstärken sich von Generation zu Generation, indem als Echoe ekt des niedrigen Geburtenniveaus die Zahl der Frauen im fertilen Alter immer weiter zurückgeht. Da die jüngeren Altersgruppen zunehmend schwächer als die älteren

64 STADTFORSCHUNG UND STATISTIK 2|2023 Stadtforschung

besetzt sind, ist zudem mit der Schrumpfung ein dynamischer Alterungsprozess der ländlichen Bestandsbevölkerung verbunden. Daraus ergeben sich – insbesondere im Hinblick auf die angestrebte ökonomische Konvergenz ostdeutscher Regionen – weitreichende Konsequenzen für die notwendige Humankapital- und Fachkräftesicherung. In sozialer Perspektive resultieren Probleme daraus, dass sich in dieser Lebensphase meist feste Partnerschaften bilden und Kinder geboren werden. Dabei erschwert das zahlenmäßige De zit junger Frauen in der Bestandsbevölkerung die Partner ndung für die zurückbleibenden jungen Männer. So konstatiert Eckhard (2015: 43 .) erheblich rückläu ge Partnerbindungen unter den betro enen Alterskohorten sowie einen Anstieg der Partnerlosigkeit vor allem bei Männern in Ostdeutschland. Auf die in den Medien immer wieder hingewiesene Befürchtung der politischen Radikalisierung der zurückbleibenden Männer geht auch das Berlin-Institut (2007: 63 .) im Rahmen einer umfangreichen Untersuchung ein. Allerdings liegen hierzu u. E. derzeit keine belastbaren Daten vor, die diesen Zusammenhang bestätigen.

Daten u. Methodik der komparativen Analyse

Die Analyse stützt sich auf den statistischen und kartographischen Vergleich regionalisierter Bestandsdaten der Zielgruppen für die Jahre 2011 und 2021 sowie auf deren alters- und geschlechtstypische Wanderungsverläufe nach Makroregionen2 in dünn besiedelten Landkreisen der Jahre 2002 bis 2021. Datenquelle ist jeweils die Regionaldatenbank der Statistischen Ämter des Bundes und der Länder. Kreisgebietsreformen wurden bei der Zeitreihenbildung berücksichtigt, kleinere Änderungen der Kreisgrenzen (z.B. Kreiswechsel von Gemeinden oder bewohnten Gemeindeteilen) aufgrund der marginalen Auswirkungen auf die Geschlechterproportionen bzw. Wanderungsraten dagegen nicht.

Die weiterführende Untersuchung der Raummuster der Zielgruppen erfolgt unter Verwendung des Lokationsquotienten der Geschlechterproportionen. Dieses statistische Maß vergleicht den Anteil beider Alterskohorten in den 400 Kreisen und kreisfreien Städten mit dem entsprechenden Anteil für Deutschland insgesamt. Werte größer als 1 (in abgestufter Rottönung) deuten somit auf einen überdurchschnittlichen Anteil – also eine Konzentration – junger Männer in einem Kreis hin. Werte kleiner 1 (in abgestufter Blautönung) zeigen, dass deren Bevölkerungsanteil dort unter dem Bundesdurchschnitt liegt

Abbildung 1: Lokationsquotienten der Zahl der Männer pro 100 Frauen der Altersgruppe 18–25 in 2011 und 2021 nach Kreisen und kreisfreien Städten

Quelle: Eigene Berechnungen; Datenquelle: Destatis 2023

STADTFORSCHUNG UND STATISTIK 2|202365 Stadtforschung
Bodensee Sachsen Brandenburg Thüringen SachsenAnhalt Hessen BadenWürttemberg Saarland RheinlandPfalz NordrheinWestfalen Niedersachsen MecklenburgVorpommern SchleswigHolstein Bayern Berlin Hamburg Bremen Bodensee Sachsen Brandenburg Thüringen SachsenAnhalt Hessen BadenWürttemberg Saarland RheinlandPfalz NordrheinWestfalen Niedersachsen MecklenburgVorpommern SchleswigHolstein Bayern Berlin Hamburg Bremen 2021 2011 © IfL 2023 Autor: T. Leibert Kartographie: B. Hölzel 0 150 km Quellen: Eigene Berechnungen; Datenquelle: StÄBL (2023) Lokationsquotient der 18- bis 25-Jährigen Männer je 100 Frauen 20112021 1,3 1,2 1,1 1,0 0,9 0,8 1,3 1,2 1,1 1,0 0,9 0,8

(vgl. hierzu Abb.1 und 2 sowie Tab. 1). Dieses Vorgehen wurde gewählt, da – nicht zuletzt durch die bereits erwähnte Zuwanderung von überwiegend männlichen Schutzsuchenden nach 2015 – die Zahl der Männer pro 100 Frauen der Altersgruppe

18 bis unter 25 in Deutschland insgesamt von 104,4 im Jahr 2011 auf 108,9 im Jahr 2021 angestiegen ist. Bei den 25- bis unter 30-Jährigen ist ein vergleichbarer Anstieg von 102,9 Männer pro 100 Frauen auf 108,5 im Jahr 2021 zu verzeichnen. Da der Lokationsquotient diese Veränderung im Bundesdurchschnitt berücksichtigt, ist ein direkter Vergleich der Entwicklung der Raummuster im Zeitverlauf möglich.

Alters- und geschlechtstypische Entwicklungsverläufe in raumzeitlicher Perspektive

Angesichts der tiefgreifenden demographischen Veränderungen der jüngeren Vergangenheit wird nachfolgend der Frage nachgegangen, inwieweit die zuvor skizzierten Muster der Geschlechterproportionen jüngerer Altersgruppen in struktureller und regionaler Hinsicht aktuell noch Bestand haben. Hierbei ist vorauszuschicken, dass die regionalen Frauen- bzw. Männer-„Überschüsse“ – wie bereits angesprochen – auch durch geschlechtsselektive Wanderungen verursacht werden. Eine Korrelationsanalyse zeigt, dass für die Jahre 2011, 2016

und 2021 zwischen dem Raummuster der Zahl der Männer pro 100 Frauen in den Altersgruppen 15 bis unter 18 und 18 bis unter 25 kein statistischer Zusammenhang besteht.3

Die vergleichende Gegenüberstellung der Bestandsdaten der Zielgruppe junger Erwachsener belegt für den Zeitverlauf von 10 Jahren bemerkenswerte Veränderungen sowie deutliche Konvergenzen (vgl. Abb. 1 und 2). Diese Grundzüge zeichnen sich bereits großräumig unter Heranziehung der Mittelwerte ab. Danach hat sich im bundesweiten Durchschnitt das zahlenmäßige Übergewicht junger Männer beider Kohorten im Betrachtungszeitraum erhöht. Dies ist vor allem auf deren deutlich gestiegene Anteile in den westlichen Bundesländern zurückzuführen. Ein Erklärungsansatz hierfür könnte die überproportionale Zuwanderung junger schutzsuchender Männer in diese Zielgebiete sein. Demgegenüber entwickelte sich das zuvor ausgeprägte Frauende zit der neuen Bundesländer im Betrachtungszeitraum ambivalent: In der jüngeren Alterskohorte haben sich die Ungleichgewichte graduell, bei den ab 25-Jährigen indes deutlich verringert. Insgesamt bleibt jedoch auch dort eine erkennbare Konvergenz durch die tendenzielle Angleichung der Ost-West-Unterschiede festzuhalten.

Die Di erenzierung dieser großräumigen Muster stützt sich auf die regionale Analyse der veränderten Geschlechterrelationen zu beiden Betrachtungszeitpunkten.

Abbildung 2: Lokationsquotienten der Zahl der Männer pro 100 Frauen der Altersgruppe 25-30 in 2011 und 2021 nach Kreisen und kreisfreien Städten

Quellen: Eigene Berechnungen; Datenquelle: StÄBL (2023)

Quelle: Eigene Berechnungen; Datenquelle: Destatis 2023

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Bodensee Sachsen Brandenburg Thüringen SachsenAnhalt Hessen BadenWürttemberg Saarland RheinlandPfalz NordrheinWestfalen Niedersachsen MecklenburgVorpommern SchleswigHolstein Bayern Berlin Hamburg Bremen Bodensee © IfL 2023 Autor: T. Leibert Kartographie: B. Hölzel Sachsen Brandenburg Thüringen SachsenAnhalt Hessen BadenWürttemberg Saarland RheinlandPfalz NordrheinWestfalen Niedersachsen MecklenburgVorpommern SchleswigHolstein Bayern Berlin Hamburg Bremen 2021 2011 0 150 km
Lokationsquotient der 25- bis 30-Jährigen Männer je 100 Frauen 20112021 1,2 1,1 1,0 0,9 1,2 1,1 1,0 0,9

Für die westdeutschen Kreise und kreisfreien Städten bestätigen sich die vorgenannten Grundzüge insofern, als dort bei der Ausbildungskohorte 78 Prozent und bei der Berufseinstiegskohorte 86 Prozent der Gebietskörperschaften zunehmende Männeranteile aufweisen. Demgegenüber verzeichnet bei der jüngeren Alterskohorte lediglich die Hälfte der ostdeutschen Gebietskörperschaften zunehmende Männeranteile (jeweils ein Viertel abnehmende bzw. unveränderte Tendenzen) während sich das Männerübergewicht der ab 25-Jährigen in ca. 58 Prozent der Kreise verringerte (29% Zunahme, 13 % unverändert). Damit hat sich dort im Zeitvergleich die Situation insofern grundlegend entspannt, als das noch 2011 osttypische Männerübergewicht insbesondere unter den 18bis unter 25-Jährigen mittlerweile nur noch partiell besteht und bei den 25- bis unter 30-Jährigen nicht mehr existiert. Die Fokussierung auf Veränderungen der Geschlechterrelationen nach gebietsstrukturellen Merkmalen ergibt für die Ausbildungskohorte der 18- bis unter 25-Jährigen in Ostdeutschland vor allem in den peripheren und periurbanen Kreisen rückläu ge Männeranteile und teilweise Zunahmen im Süden von Thüringen und Sachsen. Im westdeutschen Raum konzentrieren sich die gestiegenen Männeranteile in den Kernen und suburbanen Bereichen prosperierender Agglomerationen wie München und Hamburg sowie entlang der Rheinschiene (z.B. Rhein-Main, Rhein-Neckar und Ruhrgebiet), aber ebenso in den eher ländlichen Regionen am westlichen Rand des Saarlandes und von Rheinland-Pfalz sowie in Mittelund Nordhessen. Di erenzierter ist das veränderte Muster bei den 25- bis unter 30-Jährigen mit nahezu ächendeckend verringerten Männeranteilen im Osten des Landes (mit Ausnahme der Großstädte) und deren deutlich stärker verbreiteten Zuwächsen in westdeutschen Gebietskörperschaften. Leicht rückläu ge Männeranteile nden sich hier in Teilen des Allgäus, im nordbayerischen Raum, im Saarland sowie im westlichen Weser-Ems Gebiet und östlichen Niedersachsen.

Trotz dieser Modi kationen sind die Raummuster der Ausbildungskohorte bundesweit charakterisiert durch den Fortbestand selektiver Wanderungen zum Zwecke von beru icher Ausbildung und Studium in Verbindung mit dem Auszug aus dem Elternhaus. In diesem Zusammenhang sei ebenfalls auf die aktuellen Befunde von Hölzel und Milbert (2023) in diesem Heft hingewiesen, wonach sich die regionalisierten Binnenwanderungsver echtungen vor allem der hochmobilen jungen Altersgruppen auf einen relativ begrenzten Radius konzentrieren, der sich zudem im Zeitverlauf tendenziell verstärkt. Derzeitige Zielgebietspräferenzen der jungen Frauen sind nach unseren Analysen nahe gelegene Ober- und Mittelzentren sowie Universitätsstädte. Dabei ziehen diese sogenannten „escalator regions“ nach dem Modell von Fielding (1992) als prosperierende Zentren junge Menschen an, die durch die Migration einen sozialen Aufstieg erfahren. Die regionale Mobilität geht also einher mit sozialer Mobilität. Diese Zielgebiete weisen häu g Frauenüberschüsse auf (z.B. Leipzig, Halle (Saale), Potsdam, Würzburg, Freiburg, Münster oder Heidelberg). Ein zahlenmäßiges Übergewicht junger Männer ndet sich demgegenüber in Standorten mit Technischen Hochschulen oder FHs (z.B. Darmstadt, Kaiserslautern, Karlsruhe, Magdeburg). Ein ähnliches Muster zeigt sich in Landkreisen mit bedeutenden kreisangehörigen Universitätsstädten

(z. B. Gießen, Göttingen, Marburg-Biedenkopf, VorpommernGreifswald oder Tübingen) sowie in der Städteregion Aachen. Für die Metropolen, also die 15 größten Städte, gilt dieser Zusammenhang jedoch nur bedingt. Der Lokationsquotient liegt in den meisten Fällen nur leicht über dem Mittelwert. Ausnahmen sind insbesondere Leipzig, das sehr attraktiv für junge Frauen ist sowie Berlin und Düsseldorf, wo der Anteil der jungen Männer leicht unterdurchschnittlich ist.

Hinsichtlich der ehemals prekären Situation in Ostdeutschland ist anhand der verfügbaren Daten noch nicht abschließend zu klären, ob die jungen Frauen nach ihrer Ausbildung, dem Studium oder dem Berufseinstieg wieder vermehrt in ihre ehemaligen Herkunftsgebiete zurückkehren, weil sich dort mittlerweile der Arbeitsmarkt deutlich konsolidiert hat. Dies lassen zumindest einige Studien zu Rückwanderungen (z.B. Fuchs u. Weyh 2016) ebenso vermuten wie unsere aktuelle Auswertung der Migration der 18- bis unter 25-Jährigen in dünnbesiedelten Landkreisen für den Zeitraum von 2002 bis 2021 (Abbildung 3).

Danach ist in der Makroregion Nordost (Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern) mittlerweile die regionale Mobilität deutlich geringer von Geschlechterunterschieden geprägt: Die ehemals sehr negative Wanderungsbilanz der Frauen hat sich – mit erkennbarer Tendenz zur Angleichung an westdeutsche Bundesländer – etwa halbiert. Ein ähnlicher Trend ist in der Makroregion Mitte (Sachsen, Sachsen-Anhalt, Thüringen) festzustellen, allerdings ist die Angleichungstendenz an die westdeutschen Muster bei den jungen Frauen weniger ausgeprägt als im Nordosten. Das Problem der geschlechtsselektiven Abwanderung besteht also in den dünn besiedelten ländlichen Räumen Mitteldeutschlands fort, wenn auch auf niedrigerem Niveau als zu Beginn der 2000er Jahre. Insgesamt fällt in allen Makroregionen der Trend auf, dass sich die Abwanderungsneigung der jungen Männer aus dünn besiedelten ländlichen Räumen insbesondere seit 2019 deutlich abgeschwächt bzw. umgekehrt (Makroregion Süd: Baden-Württemberg, Bayern) hat. Im Diskurs über Geschlechterungleichgewichte unter jüngeren Personengruppen wurden bislang in Expertenkreisen aber vor allem in der medialen Berichterstattung primär ländliche Räume als hauptsächlich betro ene Gebietstypen benannt. Auf die Überprüfung dieser Annahmen zielt deren strukturräumliche Zuordnung nach der Thünen-Typologie4 (Tabelle 1). Tendenziell sind danach ländliche Räume mit einer weniger guten sozioökonomischen Lage stärker von geschlechtsselektiver Ausdi erenzierung betro en als solche mit einer guten sozioökonomischen Lage. Im Zeitverlauf schwächt sich dieser Zusammenhang allerdings deutlich ab (außer in Mitteldeutschland in der Altersgruppe 18 bis 24). Auf der anderen Seite ist in ländlichen Räumen mit guter sozio-ökonomischer Lage, aber auch in den Großstädten, ein überdurchschnittlicher Anstieg der Zahl der Männer pro 100 Frauen festzustellen, insbesondere in der Altersgruppe der 25- bis unter 30-Jährigen. Möglicherweise spielt hierbei die Zuwanderung anerkannter Schutzsuchender eine Rolle, die aus den strukturschwachen Regionen, in die sie über den Königsteiner Schlüssel zugewiesen wurden, in Städte und Landkreise mit besseren beru ichen und persönlichen Perspektiven abwandern. Mit den in der Regionaldatenbank der Statistischen Ämter des Bundes und der Länder verfügbaren Zahlen lässt sich diese Hypothese leider nicht überprüfen.

STADTFORSCHUNG UND STATISTIK 2|202367
Stadtforschung

Abbildung 3: Wanderungsbilanz der 18- bis 25-Jährigen in Landkreisen mit einer Bevölkerungsdichte von weniger als 150 Einwohnern pro Quadratkilometer 2002 bis 2021 nach Geschlecht und Makroregionen. (Quelle: Leibert 2020: 432, aktualisiert)

Quellen: Leibert (2020: 432), eigene Berechnungen; Datenquellen: Destatis (2023), StÄBL (2023)

Wanderungssaldo je 1000 Personen der 18- bis 25-Jährigen

Quelle: Leibert (2020: 432), eigene Berechnungen, Datenquellen: Destatis (2023), StÄBL (2023), aktualisiert

Tabelle 1: Zahl der Männer pro 100 Frauen nach Makroregionen und Kreistypen. (Eigene Berechnungen; Datenquelle: STÄBL 2023)

Altersgruppe 18 bis unter 25: Männer pro 100 Frauen nach Regionstyp

Jahr sehr ländlichweniger gute sozioökonom. Lage

sehr ländlichgute sozioökonom. Lage

eher ländlichweniger gute sozioökonom. Lage

eher ländlichgute sozioökonom. Lage

nicht vor kommt nicht vor

nicht ländlich

gesamt

kommt nicht vor

West

Mitte

Süd

gesamt

kommt nicht vor

kommt nicht vor

kommt nicht vor

kommt nicht vor

Altersgruppe 25 bis unter 30: Männer pro 100 Frauen nach Regionstyp

Ländergruppe Jahr sehr ländlichweniger gute sozioökonom. Lage

Nordwest

Nordost

West

Mitte

Süd

gesamt

sehr ländlichgute sozioökonom. Lage

eher ländlichweniger gute sozioökonom. Lage

kommt nicht vor

kommt nicht vor

kommt nicht vor

eher ländlichgute sozioökonom. Lage gesamt

kommt nicht vor

nicht ländlich

krfr. Großstädteübrige Kreise

kommt nicht vor

kommt nicht vor

kommt nicht vor

Quellen: Eigene Berechnungen; Datenquelle: StÄBL (2023)

Quelle: Eigene Berechnungen, Datenquellen: StÄBL (2023)

68 STADTFORSCHUNG UND STATISTIK 2|2023
Stadtforschung
-70 -60 -50 -40 -30 -20 -10 0 10 2005 2010 2015 2020 NW W S M NO
Wanderungssaldo je 1000 Personen der 18- bis 25-Jährigen NW W S M NO -50 -40 -30 -20 -10 0 10 20 30 40 50 60 70 2005 2010 2015 2020 Männer Frauen
© IfL 2023 Autor: T.Leibert Grafik: B.Hölzel NO NW W S M
NO NW W S M ©
IfL 2023 Autor: T. Leibert Grafik: B. Hölzel
krfr. Großstädteübrige Kreise 2011111,50 109,41 107,49 104,32 94,28102,06103,91 2021113,78 114,11 110,86 111,61 100,55106,11108,22 2011116,52 113,02 94,91 103,10 2021114,93 115,46 99,65 105,72 2011111,49 104,56 110,60 105,85 94,96107,33103,47 2021115,61 109,03 114,72 111,51 99,95114,77108,61 2011118,97 115,86 93,93 108,98 2021122,43 118,29 96,34 110,33 2011110,85 109,45 106,67 94,77106,25104,83 2021114,30 113,84 111,54 101,27113,96110,06 2011112,99 108,36 112,04 106,22 94,74106,43104,42 2021115,54 112,80 115,01 111,53 99,94113,36108,89 2011106,02 108,40 102,40 98,46 95,61 95,45100,05 2021111,50 112,22 111,33 109,45 103,03109,38108,09 2011116,95 114,05 97,30 104,19 2021109,09 113,19 99,88 103,12 2011108,25 104,40 106,03 103,62 95,43102,88100,99 2021113,64 112,57 112,89 112,07 102,23110,30108,04 2011120,37 117,60 106,43 114,42 2021116,89 113,02 112,05 113,37 2011107,40 106,44 102,81 97,10100,08102,01 2021112,79 113,86 110,81 103,66110,73109,61 2011110,67 106,14 111,08 102,72 97,19101,08102,85 2021112,72 113,45 Ländergruppen 112,61 111,10 103,03110,29108,46
Nordwest Nordost
Länder-
kommt
gruppe

Die geringen Steigerungen bzw. partiellen Rückgänge der „Männerüberschüsse“ im Nordosten stehen in einem gewissen Kontrast zur bundesweiten Entwicklung. Abbildungen 1 und 2 zeigen, dass es sich dabei um einen ächendeckenden Trend handelt, der nicht (allein) auf den Großraum Berlin zurückzuführen ist, der schon 2011 ausgeglichenere Geschlechterproportionen aufgewiesen hat als die periphereren ländlichen Räume im Nordosten. Es wurde bereits darauf hingewiesen, dass sich die Abwanderungsneigung junger Frauen im Nordosten stärker verringert hat als in der Großregion Mitte. Dieser sich herausbildende Nord-Süd-Gegensatz in Ostdeutschland ist insofern bemerkenswert als in der Literatur die Ursache für die stark ausgeprägte Geschlechtsselektivität der Wanderungsmuster der jungen Erwachsenen zumindest teilweise auf die sozioökonomischen Transformationsfolgen zurückgeführt wurde (Berlin-Institut 2007, Kühntopf u. Stedtfeld 2012, Leibert 2016). Dies unterstreicht, dass zu den Trends, Ursachen und Motiven der geschlechtsselektiven Wanderungsmuster in Ostdeutschland weiterer Forschungsbedarf besteht. Dabei sollten auch die Migrationsmuster ausländischer Staatsangehöriger stärker berücksichtigt werden, um zu eruieren, ob die Zu- bzw. Abwanderungsneigung junger Männer in bzw. aus bestimmte(n) Raumtypen oder Regionen besonders ausgeprägt ist. Aufgrund fehlender Daten konnte diese Forschungsfrage im vorliegenden Beitrag nicht weiter verfolgt werden.

Fazit und Ausblick

Mit Blick auf die großräumigen und regionalen Muster der Geschlechterrelationen im jüngeren Erwachsenenalter sowie deren Dynamik im Zeitverlauf zeigen unsere Analysen neben deutlichen Veränderungen ebenso den partiellen Fortbestand ehemaliger Trends. Den Wandel während der letzten Dekade charakterisieren die weitgehende Einebnung des ehemaligen Ost-West-Gegensatzes bei den 25- bis unter 30-Jährigen und das mittlerweile bundesweite Nebeneinander von Gebietskörperschaften mit relativ ausgeglichenen Geschlechterproportionen. Zu den Veränderungen gehören auch die zunehmenden Männeranteile in beiden Altersgruppen vor allem in Westdeutschland, wodurch sich das noch 2011 dominierende Männerübergewicht innerhalb der ostdeutschen Ausbildungskohorte – mit Ausnahme von Kreisen und kreisfreien Städten im südlichen Mitteldeutschland – dem bundesweiten Muster angenähert hat. Dabei ist zu beachten, dass in Deutschland insgesamt bei den jungen Erwachsenen ein deutlicher „Männerüberschuss“ von 109 Männern pro 100 Frauen besteht. Unausgewogene Geschlechterproportionen sind also ein ächendeckendes und kein regionales Phänomen (mehr), wie Tabelle 1 deutlich zeigt. Bei der Betrachtung nach Gebietstypen sind nach wie vor jüngere Frauen vor allem in ländlich-peripheren Regionen unterdurchschnittlich repräsentiert.

Zur Annäherung an die Ursachen und Konsequenzen der im Zeitvergleich modi zierten Raummuster der Geschlechterrelationen greifen wir die zuvor diskutierten demographischen Folgen des Zusammenhangs von Bewegungen und Strukturen nochmals auf. Es sind vor allem Migrationsprozesse, die im kurz- und längerfristigen Zusammenspiel zu alters- und geschlechtsselektiven Ausdi erenzierungen sowie gravierenden

demographischen Strukturveränderungen in den Herkunftsund Zielgebieten führen. Zu den beiden kurzfristigen Trends während der letzten Dekade zählen der Zuzug von schutzsuchenden jungen Männern vor allem im Westen sowie der deutliche Rückgang der negativen Wanderungsbilanz junger Frauen in strukturschwachen Gebieten im Osten und die Angleichung an westdeutsche Werte. In Ostdeutschland sind die Langfristfolgen vor allem für die ländlich geprägten Regionen o ensichtlich, indem dort über mehrere Dekaden ein geringes Geburtenniveau von einer negativen Wanderungsbilanz junger Frauen überlagert wurde. Hierdurch verringerte sich die Zahl potenzieller Mütter von Generation zu Generation, mit der Folge einer rückläu gen Bestandsbevölkerung und massiven Verschiebungen in der Bevölkerungsstruktur. Letztere werden häu g schlagwortartig mit Schrumpfung, Alterung und Männerüberschuss charakterisiert.

Es liegt auf der Hand, dass Frauen in mehrfacher Hinsicht ein wichtiger regionaler Stabilisierungsfaktor sind (Weber 2016: 225). In ihrer Reduzierung liegt ein Risiko für den gesellschaftlichen Zusammenhalt, weil sie meist die Kinder großziehen und sich innerfamiliär um die Seniorinnen und Senioren kümmern. Diese Ausdünnung des innerfamiliären Care-Potentials gefährdet in der beschleunigt alternden Gegenwartsgesellschaft die Gewährleistung gleichwertiger Lebensbedingungen und vertieft die räumliche Polarisierung zwischen städtischen und ländlichen Regionen. Auch für das gesellschaftliche Zusammenleben sind Frauen unabdingbar, denn gerade auf dem Land braucht es soziale Orte, an denen sich Menschen begegnen können, etwa in Nachbarschaftsläden, die wiederum oft von Einwohnerinnen geführt werden. Auf eine weitere gravierende Konsequenz alters- und geschlechtsselektiver Abwanderungen weisen die Befunde einer aktuellen Untersuchung (Leibert 2023) hin. Danach zeichnen sich die meisten Landkreise, mit Ausnahme einiger strukturstarker Regionen im Nordwesten und Süden Deutschlands, durch unterdurchschnittliche Anteile junger Erwachsener aus. Aus dieser „Unterjüngung“ ergibt sich für viele ländliche Räume eine schwierige demographische und ökonomische Perspektive. Einer großen Zahl der sogenannten Babyboomer, die in den nächsten Jahren in Rente gehen, steht dann auf dem Arbeitsmarkt eine geringe und rückläu ge Zahl von Nachwuchskräften gegenüber. Somit ist mittelfristig damit zu rechnen, dass freiwerdende Stellen nur schwer besetzt werden können und sich der bereits derzeit erkennbare Fachkräftemangel noch verschärft. Ein künftiger Forschungsbedarf resultiert aus der Di usion junger Personengruppen im Zuge von Außenwanderungsgewinnen während der letzten Dekade und deren Ein uss auf die Ausprägung der Geschlechterdisproportionen. Die damit verbundenen planerischen und soziodemographischen Konsequenzen liegen für die Betroffenen und die Aufnahmeregionen z.B. in erschwerten Zugangschancen für den Arbeits- und Partnermarkt und haben möglicherweise Ein uss auf das Geburtenniveau.5

Auch wenn sich in den rückläu gen Abwanderungsverlusten junger Frauen aus strukturschwachen ländlichen Kreisen und in der partiellen Konvergenz der Geschlechteranteile zwischen Ost- und Westdeutschland positive Entwicklungsperspektiven andeuten, ist es zu früh dafür, Geschlechterdisproportionen unter jungen Erwachsenen als ein planerisch

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nicht mehr relevantes Thema zu betrachten. Angesichts der zuvor angesprochenen Langfristfolgen sowie der Trägheit demographisch bedingter Prozesse und Strukturen besteht vor allem in Gebietstypen, in denen die Kohorte der jungen Erwachsenen unterrepräsentiert sowie durch eine unausgewogene Geschlechterproportion und starke Abwanderungstendenzen charakterisiert ist, weiterhin Handlungsbedarf. Zur Stärkung resilienter Entwicklungspfade mit dem Anliegen, bessere Lebensbedingungen und Zukunftsaussichten für diese Zielgruppe und die Bestandsbevölkerung zu scha en, seien aus unserer Sicht exemplarisch drei vordringliche planerische Handlungserfordernisse genannt:

- Verankerung einer integrierten, demographiesensiblen sowie jugend- und familienorientierten Regionalplanung und -politik

- Etablierung und Stärkung einer leistungsfähigen zentralörtlichen Ebene unterhalb der Mittelzentren (zur Sicherung der Daseinsvorsorge)

- Stabilisierung der Dörfer als soziale Orte und Identi kationsräume (auch durch Förderung regionaler Identität und endogener Potenziale).

1 https://www.tagesspiegel.de/berlin/schlaue-frauen-gehen-dummemanner-bleiben-1499596.html, letzter Abruf am 22.05.2023

2 Nordwest (Hamburg, Niedersachsen, Schleswig-Holstein); Nordost (Berlin, Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern); West (Hessen, Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz, Saarland); Mitte (Sachsen, Sachsen-Anhalt, Thüringen); Süd (Baden-Württemberg, Bayern).

3Eigene Berechnungen; Datengrundlage: STÄBL (2023).

4 Zur Thünen-Typologie vgl. Küpper (2016). Die (Rest-)Kategorie „nicht ländlich“ wurde für diesen Beitrag weiter in kreisfreie Großstädte und „übrige Kreise“ unterschieden. Leider wird die Kategorie der „nicht ländlichen“ Kreise in der Thünen-Typologie nicht weiter nach sozioökonomischen Kriterien untergliedert.

5 Die Autoren danken David Hölzel für den Hinweis auf den im Rahmen dieses Beitrags nicht weiter eingegangen werden kann.

Literatur

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70 STADTFORSCHUNG UND STATISTIK 2|2023
Stadtforschung

Neues Bürgergeld

In ation „frisst“ Erhöhung der Regelsätze auf

Die Einführung des Bürgergeldes stellt die größte Sozialreform seit 20 Jahren dar. Fokussiert man auf die nanzielle Verbesserung, kollidierte das sozialpolitische Ansinnen in der Praxis jedoch mit einer stark ansteigenden In ation in Folge des russischen Angri skriegs auf die Ukraine. Im Beitrag wird die reale Situation für ausgewählte Bedarfsgemeinschaftstypen am Beispiel der Stadt Leipzig nachgerechnet und gezeigt, was bei Berücksichtigung der Teuerung von den nomimalen Einkommensverbesserungen durch das Bürgergeld übrig bleibt.

Einleitung und Fragestellung

Zum 1. Januar 2023 trat das neue Bürgergeld in Kraft, nach Einschätzung der Bundesregierung die größte Sozialreform seit 20 Jahren. Neben verschiedenen Neuerungen, wie beispielsweise der Anhebung von Zuverdienstgrenzen, der Einführung einer Karenzzeit für die Anrechnung von Vermögen und bei der Wohnsituation sowie Änderungen bei den Sanktionen, ist die Erhöhung des Regelsatzes um 53 Euro (bei einem alleinstehendem Erwachsenen) ein zentrales Element der Reform. Mit der deutlichen Erhöhung der Regelsätze wurde eine neue Grundlage gescha en, auf der zukünftig „Bedarfe nicht mehr rückwirkend, sondern vorausschauend an die Teuerungsraten angepasst [werden sollen]“ (Die Bundesregierung, 2023). Zur Berücksichtigung zukünftiger Preisänderungen ist das Statistische Bundesamt beauftragt, die jährliche Preissteigerung der regelbedarfsrelevanten Güter zu ermitteln1. Zukünftige Preissteigerungen werden somit jährlich durch Veränderungsraten zur Erhöhung der Regelsätze führen2, eine De ation wird jedoch keine Kürzung zur Folge haben3

2022 stiegen die Verbraucherpreise um circa 7,9 Prozent4, für 2023 erwartet die Bundesregierung eine durchschnittliche In ation von 6 Prozent.

Folglich stellt sich die Frage, ob die Erhöhung der Regelsätze mit Einführung des Bürgergeldes die zurückliegenden und in 2023 zu erwartenden Preissteigerungen kompensiert. Hat sich die nanzielle Situation von Bürgergeld beziehenden Haushalten nachhaltig verbessert?

Methodische Vorbemerkungen

Schlüsselwörter:

Bedarfsgemeinschaft – Bürgergeld – Haushaltstyp –In ation – Regelbedarf – Verbraucherpreisindex

Für die Analysen wurden die Regelbedarfe nach § 20 SGB II in ihrer jeweils gültigen Höhe (Regelbedarfsstufen) nach § 28 SGB XII auf Standardhaushalte angewendet. Mehrbedarfe, z. B. aufgrund von Schwangerschaft, Krankheit oder Behinderung werden nicht betrachtet. Gleichermaßen bleiben auch Hinzuverdienste und Hinzuverdienstgrenzen unberücksichtigt.

Von realen Einkommen spricht man, wenn die nominalen Einkommen (ausgezahlter Eurobetrag) auf ein vergleichbares Preisniveau gebracht werden. Reale Einkommen beschreiben somit die Kaufkraft unter Berücksichtigung der In ation.

Zur Ermittlung der realen Einkommen (nach Regelbedarf) wurde der In ationsrechner (Statistisches Bundesamt 2023) des Statistischen Bundesamtes genutzt. Der In ationsrech-

STADTFORSCHUNG UND STATISTIK 2|202371 Stadtforschung

ner ermöglicht die Berechnung einer typischen In ationsrate anhand des Konsumverhaltens. Für Leistungsempfänger/innen hat der Gesetzgeber in §5 RBEG genau de niert, wie viel Geld pro Warengruppe den gesamten Regelbedarf ausmacht5. Die für Regelbedarfe ermittelte Teuerung unterscheidet sich jedoch nur geringfügig vom amtlichen, deutschlandweiten Verbraucherpreisindex (VPI). Anhand der ermittelten Teuerung für Regelbedarfe kann folglich die reale Einkommenssteigerung der Leistungsempfänger berechnet werden. Der Betrachtungszeitraum beginnt 2015, dieser Zeitpunkt entspricht dem zurückliegenden Referenzjahr des Verbraucherpreisindexes (2015 ^ = 100). Daten zur Teuerung für Regelbedarfe lagen zum Zeitpunkt der Analyse nur bis September 2022 vor. Aufgrund der geringen Abweichungen zum amtlichen Verbraucherpreisindex wurde dieser für die Berechnungen im Jahr 2022 (Basis 2015) herangezogen. Eine Neuberechnung nach Vorlage des neuen VPI mit neuem Wägungsschema unterblieb, da das Wägungsschema aus 2015 sehr nah am individuellen VSI der Regelbedarfe liegt. Für das Jahr 2023 wurde die In ationsprognose der Bundesregierung zu Grunde gelegt (Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz, 2023).

Leistungsbeziehende haben Anspruch auf Erstattung der „angemessenen Kosten der Unterkunft“, daher werden die Wohnkosten an dieser Stelle nicht betrachtet. Die erstatteten Wohnkosten (Kosten der Unterkunft) machen im Mittel bei Leipziger Bedarfsgemeinschaften (SGB II) mehr als 50 Prozent der Einkünfte aus (Kommunale Bürgerumfrage 2021).

Struktur der Bürgergeld-Empfänger/-innen in Leipzig

Schauen wir zunächst auf die Haushaltsstruktur der Leipziger Bedarfsgemeinschaften. Mitte 2022 gab es in Leipzig 31.919 Bedarfsgemeinschaften, die Leistungen nach SGB II bezogen. In diesen Bedarfsgemeinschaften lebten zum Stichtag (30.06) 55.344 Regelleistungsberechtigte, was einem Bevölkerungsanteil von 9 Prozent entspricht.

Bei der Mehrheit der Leipziger Bedarfsgemeinschaften handelt es sich um Single-Haushalte. In insgesamt 19.453 Haushalten lebt nur eine Person (61%, Abb. 1). In 9.869 Haushalten leben Familien (31%), wobei es sich mehrheitlich um Familien mit nur einem alleinerziehenden Elternteil handelt (6.121 ^ = 19 %). Nur in einem kleinen Teil der Bedarfsgemeinschaften leben kinderlose Paare zusammen (7%).

Nominale Regelsätze nach Haushaltstypen

Für die nachfolgenden Analysen zur nanziellen Situation werden beispielhaft folgende leistungsbeziehende Haushaltstypen betrachtet: Singles, Alleinerziehende mit einem Kind, Alleinerziehende mit zwei Kindern, Paare mit drei Kindern, Paare ohne Kind. Diese Beispielhaushalte sind in Abbildung 1 durch Einrahmung hervorgehoben und umfassen insgesamt 88 Prozent der Leipziger Bedarfsgemeinschaften nach SGB II (Stichtag 30.06.2022).

Die Regelsätze für SGB-II-Empfänger/-innen haben sich seit 2015 leicht und kontinuierlich erhöht (Abb. 2). Für Familien wurden die Regelsätze im Jahr 2021 etwas stärker angehoben als für Bedarfsgemeinschaften ohne Kind. Folglich konnten Bedarfsgemeinschaften mit Kind(ern) ihre nanzielle Situation noch vor Einführung des Bürgergeldes relativ verbessern. Mit Einführung des neuen Bürgergeldes erhöhen sich die Regelsätze deutlich. Ohne Berücksichtigung der Preissteigerungen realisieren die hier beispielhaft betrachteten Bedarfsgemeinschaften seit 2015 einen Anstieg der Regelsätze um 26 Prozent (BG ohne Kind) bzw. rund 30 Prozent (BG mit Kindern). Bedarfsgemeinschaften mit Kind(ern) wurden bei der Einführung des Bürgergeldes – und zwar in Abhängigkeit von der Kinderzahl –gegenüber den kinderlosen Bedarfsgemeinschaften etwas bessergestellt.

Vergleicht man diese Befunde mit der Nominallohnentwicklung in Deutschland, dann zeigt sich, dass die Regelsätze (ohne Kosten der Unterkunft) relativ gesehen etwas stärker gestiegen sind, als die Verdienste der Arbeitnehmerinnen und

Abb. 1: Haushaltstypen Leipziger Bedarfsgemeinschaften 2022

Stichtag: 30.06.2022 Beispielhaushalte sind eingerahmt.

Quelle: Statistik der Bundesagentur für Arbeit, Amt für Statistik und Wahlen Leipzig

72 STADTFORSCHUNG UND STATISTIK 2|2023 Stadtforschung

Abb. 2: Entwicklung der Regelsätze 2015 bis 2022 nach Haushaltstyp

Arbeitnehmer. Seit 2015 konnten die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ihre Verdienste um 18 Prozent steigern (bis 2022, vgl. Vierteljährliche Verdiensterhebung des Statistischen Bundesamtes). Für 2023 liegen noch keine Daten vor, aufgrund der aktuellen Tarifverhandlungen könnten jedoch nennenswerte Steigerungen erwartet werden.

Quelle: SGB XII, Anlage zu § 28; Amt für Statistik und Wahlen Leipzig

In ation der Verbraucherpreise – amtlicher und spezi scher Verbraucherpreisindex

Der positiven Entwicklung der Regelsätze steht der allgemeine Anstieg der Verbraucherpreise entgegen. Abbildung 4 zeigt die Teuerung anhand des amtlichen Verbraucherpreisindex (VPI, Basis 2015) sowie des spezi schen VPI anhand der Zusammensetzung des Regelbedarfs nach Warengruppen.

Zwischen dem Jahr 2015 und Herbst 2022 stieg der „Regelbedarfs-VPI“ um rund 20 Prozent. Allein seit Spätherbst 2020 stiegen die Preise für den Warenkorb des Regelbedarfs um circa 16 Prozent. Die etwas geringere Teuerung im Wa-

Abb. 3: Nachrichtlich: Entwicklung der Nominallöhne 2015 bis 2022

Statistisches Bundesamt, Vierteljährliche Verdiensterhebung; Quelle: Amt für Statistik und Wahlen Leipzig

STADTFORSCHUNG UND STATISTIK 2|202373 Stadtforschung
2015 ^ = 100

Abb. 4: Entwicklung des amtlichen VPI sowie des VPI für Regelbedarfe

Quelle: Statistisches Bundesamt, Persönlicher In ationsrechner, Amt für Statistik und Wahlen Leipzig

VPI für Regelbedarfe bis einschließlich September 2022 de niert gem. § 5 Regelbedarfsermittlungsgesetz, ab Oktober 2022 aufgrund noch fehlender Datenverfügbarkeit durch amtlichen VPI (Basis 2015) ersetzt von 35 Euro zu verkraften. Die Einmalzahlung von 200 Euro kompensierte die Teuerung folglich nur für knapp 6 Monate. Die Regelbedarfe verteuerten sich jedoch schon im April 2022 um 6,5 Prozent und im Mai um 8 Prozent (Abb. 3).

renkorb des Regelbedarfs liegt vor allem daran, dass die sehr starken Preistreiber (Gas und Erdöl) vor allen in den Kosten der Unterkunft enthalten sind und somit die Teuerung der Regelbedarfe etwas gebremst verlief. Im September 2022 (letzter Datenstand) liegt der „Regelbedarfs-VPI“ jedoch nur noch 0,4 Prozentpunkte unter dem amtlichen VPI. Am aktuellen Rand, d. h. ab 2022, wird aus Gründen der Datenverfügbarkeit der amtliche VPI (Warenkorb des „Durchschnittsbürgers“) für die Berechnungen verwendet. Im Jahr 2023 erwartet die Bundesregierung einen weiteren, mittleren Anstieg der Verbraucherpreise um +6 Prozent (Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz, 2023). Für Januar 2023 liegen bereits Daten zur Preisentwicklung vor (amtlicher VPI). Mit einem Anstieg der In ation um 8,7 Prozent im Vergleich zum Vorjahresmonat verläuft sie aktuell etwas rückläu g6 und die Erwartungen der Bundesregierung zur Jahresteuerung (+6% im Jahresdurchschnitt in 2023) erscheinen zunächst plausibel.

Angesichts dieser Inflationsprognose sehen sich Bürgergeldempfänger/-innen im Jahr 2023 mit einer Teuerungsrate von circa 22 Prozent gegenüber 2015 konfrontiert. Die Regelsätze sind je nach Haushaltstyp zwischen 2015 und 2023 um 26 bis 31 Prozent gestiegen. Im Vergleich zu 2015 liegt somit eine Verbesserung der nanziellen Situation vor, aber wie sieht es im Vergleich zu den Vorjahren aus?

Reale Entwicklung der Regelsätze nach Haushaltstypen

In den nachfolgenden Abbildungen 5 bis 7 sind die realen Eurobeträge für Regelsätze dargestellt. Alle Regelsätze zwischen 2016 und 2023 werden auf das Preisniveau von 2015 rückgerechnet, um eine „reale“ Vergleichbarkeit zu erreichen. Allen betrachteten Haushaltstypen gemein ist der Einbruch der realen Einkommen im In ationsjahr 2022. Die Einmalzahlung in Höhe von 200 Euro im Juli 2022 für erwachsene Leistungsbezieher/-innen ng die monatlichen in ationsbedingten Realverluste nur begrenzt auf. Durch die Teuerung im Jahr 2022 hatte ein Single-Haushalt monatlich Realverluste

Betrachten wir das Jahr 2023. Bei Berücksichtigung der zu erwartenden In ation lässt sich für alle betrachteten Haushaltstypen folgender Befund festhalten: Nach den Kaufkraftverlusten in 2022 verbessert die Einführung des Bürgergeldes die nanzielle Situation von Bürgergeldempfänger/-innen im Vergleich zum Vorjahr.

Bei diesem ersten Befund darf aber nicht vergessen werden, dass das Vergleichsjahr 2022 durch die starke In ation zunächst mit realen Einkommensverlusten verbunden war. Die deutlich kleineren Säulen der in ationsbereinigten Regelsätze in den Abbildungen 4 bis 8 verdeutlichen dies. Vergleicht man die realen Regelsätze des Bürgergeldes mit dem Niveau vor Beginn der starken In ation, dann lässt sich festhalten: Die Regelsätze der bürgergeldempfangenden Haushalte liegen 2023 für alle betrachteten Haushaltstypen unter dem realen Niveau von 2021.

Nimmt man das Jahr 2021 als Ausgangsbasis, können die leistungsbeziehenden Haushalte 2023 trotz nominaler Erhöhung der Regelsätze folgende Realverluste erwarten:

Nachrichtlich: Die Reallöhne sind zwischen 2021 und 2022 um -3,1 Prozent gesunken, für 2023 liegen noch keine Daten vor (Achtung: laufende Tarifverhandlungen).

Die zukünftigen jährlichen Anpassungen der Regelsätze an Preissteigerungen7 können somit nur rückwirkend zu einer nanziellen Besserstellung beitragen, da bereits 2023 die Folgen der In ation nicht vollständig kompensiert werden.

74 STADTFORSCHUNG UND STATISTIK 2|2023 Stadtforschung

Im Vergleich zur Situation vor der Pandemie (Regelsätze Anfang 2020) zeigt sich, dass die nanzielle Situation bei Haushalten mit Kind(ern) durch die Anpassung der Regelsätze in 2021 und 2023 gegenüber kinderlosen Haushalten relativ gesehen etwas gestärkt wurde. Nimmt man das Jahr 2020 zur Basis, dann haben die Haushalte 2023 folgende reale KaufkraftVeränderungen zum Vorpandemie-Niveau zu erwarten:

Tarifverhandlungen ist jedoch zu erwarten, dass die Nominallöhne auf ein gewisses Niveau angehoben werden. Vermutlich wird ein teilweiser In ationsausgleich bewirkt. Die vergleichende Entwicklung der Reallöhne ist Abbildung 10 zu entnehmen.

Vorläu ge Einschätzung

Nachrichtlich: Die Reallöhne sind zwischen 2020 und 2022 um -3,2 Prozent gesunken, für 2023 liegen noch keine Daten vor (Achtung: laufende Tarifverhandlungen).

Schließlich lässt sich festhalten: Mit der Anpassung der Regelsätze in 2021 und 2023 (neues Bürgergeld) wurde dienanzielle Situation von Familien im Vergleich zu kinderlosen Haushalten etwas gestärkt. Die Folgen der In ation sind jedoch gleichermaßen bei Familien wie kinderlosen Haushalten nicht kompensiert. Den Status quo der realen Einkommensentwicklung stellt bei bürgergeldempfangenden Familien das Jahr 2020 dar, bei Kinderlosen das Jahr 2019. Die späteren Erhöhungen bewirken aufgrund der In ation somit keine reale, nanzielle Verbesserung der Haushalte.

Stellt man diesem Befunden die in ationsbereinigte Verdienstentwicklung (d.h. die Reallohnentwicklung) gegenüber, lässt sich folgendes festhalten:

-Die Reallöhne sinken seit dem Pandemiejahr 2020.

- Die Reallöhne liegen 2022 ungefähr wieder auf dem Niveau von 2015.

- Für 2023 liegen noch keine Daten aus der vierteljährlichen Verdiensterhebung vor. Aufgrund der aktuellen

Die Einführung des Bürgergeldes hätte für die Leistungsempfänger/-innen zu einer nachhaltigen Verbesserung ihrer nanziellen Situation führen können. Insbesondere die Kopplung der Regelsatzanpassungen an den amtlichen VPI ist ein wesentliches Element, um reale Einkommensverluste durch steigende Preise zukünftig zu verhindern. Unglücklich verlief jedoch die Terminierung zur Einführung des Bürgergeldes. Parallel zur Einführung und Umsetzung des Gesetzes stiegen die Preise in Deutschland so stark wie seit den 1950er Jahren nicht mehr. Eine Verbesserung der nanziellen Situation konnten Leistungsempfänger/-innen folglich zunächst nicht erwarten. Und auch zukünftig werden nur die weiteren Preissteigerungen berücksichtigt. Ein Ausgleich der realen Kaufkraftverluste in 2022 hat nicht stattgefunden und von der besagten „Schippe oben drauf“ können Bürgergeldempfänger/-innen angesichts der Teuerung nichts bemerkt haben. Die Transfers aus den Entlastungspaketen können nicht angeführt werden, denn es handelte sich um Einmaltransfers. Soll die nanzielle Situation der Bürgergeldempfänger/-innen real über ein Vorkrisenniveau gehoben werden, muss also nachgebessert werden.

1§ 28a, Abs. 6 SGB XII

2§ 28a, Abs. 1-4 SGB XII

3§ 28a, Abs. 5 SGB XII

4 Vor Umstellung auf Basisjahr 2022, d. h. nach Wägungsanteil von 2015

5 Beispielsweise sind bei einem erwachsenen Leistungsempfänger

34,7 Prozent des Regelsatzes für Nahrung, Getränke, Tabakwaren vorgesehen, 8,3 Prozent für Bekleidung und Schuhe usw.

6 Seit Januar 2023 gelten die Strom- und Gaspreisbremse. Im Dezember lag die In ation im Vergleich zu Vorjahresmonat noch bei 8,6 Prozent, im November bei 10,0 Prozent.

7gem. § 28a, Abs. 1-4 SGB XII

*amtlicher VPI des Statistischen Bundesamtes

** VPI gem. Erwartung der Bundesregierung

Berechnungsgrundlagen: SGB XII, Anlage zu § 28, Statistisches Bundesamt, In ationsrechner Quelle: Amt für Statistik und Wahlen Leipzig

STADTFORSCHUNG UND STATISTIK 2|202375 Stadtforschung
Abb. 5: Reale Entwicklung der Regelsätze für Singles

Abb. 6: Reale Entwicklung der Regelsätze für Paare ohne Kind

*amtlicher VPI des Statistischen Bundesamtes

** VPI gem. Erwartung der Bundesregierung

Berechnungsgrundlagen: SGB XII, Anlage zu § 28, Statistisches Bundesamt, In ationsrechner; Quelle: Amt für Statistik und Wahlen Leipzig

Abb. 7: Reale Entwicklung der Regelsätze für Alleinerziehende mit einem Kind

*amtlicher VPI des Statistischen Bundesamtes

** VPI gem. Erwartung der Bundesregierung

Berechnungsgrundlagen: SGB XII, Anlage zu § 28, Statistisches Bundesamt, In ationsrechner; Quelle: Amt für Statistik und Wahlen Leipzig

Abb. 8: Reale Entwicklung der Regelsätze für Alleinerziehende mit zwei Kindern

*amtlicher VPI des Statistischen Bundesamtes

** VPI gem. Erwartung der Bundesregierung

Berechnungsgrundlagen: SGB XII, Anlage zu § 28, Statistisches Bundesamt, In ationsrechner; Quelle: Amt für Statistik und Wahlen Leipzig

76 STADTFORSCHUNG UND STATISTIK 2|2023 Stadtforschung

Abb. 9: Reale Entwicklung der Regelsätze für Paare mit drei Kindern

SGB XII, Anlage zu § 28; Amt für Statistik und Wahlen Leipzig, Statistisches Bundesamt, In ationsrechner

Quelle: Amt für Statistik und Wahlen Leipzig

Abb. 10: Nachrichtlich: Entwicklung der Reallöhne 2015 bis 2022

2015 ^ = 100 (jeweils vor Revision der Verbraucherpreise 2023)

Quellen

Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz. (2023). Jahreswirtschaftsbericht 2023. Berlin.

Die Bundesregierung. (2023). Mehr Chancen und mehr Respekt. Abgerufen am 27. Januar 2023 von https://www.bundesregierung.de/breg-de/ themen/entlastung-fuer-deutschland/buergergeld-2125010

Statistisches Bundesamt. (2023). Persönlicher In ationsrechner. Abgerufen am 12. Januar 2023 von https://service.destatis.de/in ationsrechner/

Statistisches Bundesamt, Vierteljährliche Verdiensterhebung

Quelle: Amt für Statistik und Wahlen Leipzig

STADTFORSCHUNG UND STATISTIK 2|202377 Stadtforschung

Überschuldung privater Haushalte in den 15 größten Städten Deutschlands

Hintergründe, Ursachen und Tendenzen 2017–20221

In Deutschland waren zum 1. Oktober 2022 rund 8,5 Prozent der über 18-jährigen Bevölkerung überschuldet, das heißt die betro enen Haushalte konnten über einen längeren Zeitraum hinweg ihre Ausgaben nicht durch ihre laufenden Einnahmen decken. In allen Jahren lagen die Überschuldungsquoten in den kreisfreien Städten über dem bundesdeutschen Durchschnitt, ebenso in zwölf der 15 Großstädte. Seit 2017 ist die Überschuldung rückläu g. Die umfangreichste Abnahme hat wegen pandemiebedingten Konsumeinschränkungen 2021 stattgefunden, überproportional in besonders stark betro enen Städten. Der wichtigste Auslöser für Überschuldung ist Arbeitslosigkeit, aber auch niedrige laufende Einkommen spielen eine Rolle. Entsprechende Zusammenhänge können korrelationsanalytisch für die 15 Großstädte bestätigt werden.

Daten zur Überschuldung privater Haushalte werden seit 2004 von der Unternehmensgruppe Creditreform (Wirtschaftsforschung) in einem umfangreichen „SchuldnerAtlas“ verö entlicht (Creditreform 2022). Nach der De nition von Creditreform liegt Überschuldung vor, wenn der Schuldner oder die Schuldnerin die Summe der fälligen Zahlungsverp ichtungen mit hoher Wahrscheinlichkeit über einen längeren Zeitraum nicht begleichen kann und weder genügend Vermögen noch Kreditmöglichkeiten zur Überwindung von Liquiditätsengpässen vorhanden sind.

Creditreform unterscheidet zwei Formen der Überschuldung: Erstens Fälle mit hoher Überschuldungsintensität, die auf juristischen Sachverhalten basieren (Daten aus den amtlichen Schuldnerverzeichnissen und Privatinsolvenzen) und durch Auswertung von Akten aller 660 deutschen Amtsgerichte gewonnen werden. Zweitens Fälle mit geringer Überschuldungsintensität, die sich überwiegend auf sogenannte nachhaltige Zahlungsstörungen beziehen (wie beispielsweise den Tatbestand von mindestens zwei vergeblichen Mahnungen mehrerer Gläubiger); sie beruhen auf Meldungen von Händlern und anderen Unternehmen an einen von Creditreform verwalteten Datenpool. Alle Daten werden auf der Basis von Vollerhebungen gewonnen und erlauben vielfältige kleinräumige Analysen.

Situation in den größten Städten 2022

Eine für interregionale Untersuchungen besonders interessante Größe ist die Überschuldungsquote. Diese weist den Anteil von Menschen in Überschuldung bezogen auf die Zahl aller über 18-jährigen Einwohnerinnen und Einwohner eines bestimmten Gebiets aus. Mit rund 5,88 Millionen überschuldeten Menschen lag diese Quote zum 1. Oktober 2022 bei 8,5 Prozent.

Dr. Werner Münzenmaier

Diplom-Volkswirt, ehemals Referatsleiter im Finanzministerium Baden-Württemberg, davor Referent im Statistischen Landesamt Baden-Württemberg, zuständig für Volkswirtschaftliche Gesamtrechnungen und wirtschaftliche Analysen : hw-muenzenmaier@t-online.de

Schlüsselwörter:

Großstädte – Überschuldung – sozio-ökonomische Ein ussfaktoren – Arbeitslosigkeit – Einkommen

In Tabelle 1 sind die Überschuldungsquoten für die Jahre 2017 bis 2022 in den 15 größten deutschen Städten mit mehr als 400.000 Einwohnerinnen und Einwohnern aufgeführt, aufsteigend geordnet nach der Höhe dieser Quoten im Jahr 2022. Nach den bis 2020 vorliegenden Daten wurden für die Gesamtheit aller kreisfreien Städte und Stadtkreise (einschließlich der Regionalverbände Hannover, Aachen, Saarbrücken) über die Jahre hinweg Überschuldungsquoten ermittelt, die um rund 2 Prozentpunkte über denen in Deutschland insgesamt lagen. Es zeigt sich also in der Tendenz ein Stadt-Land-Gefälle.

78 STADTFORSCHUNG UND STATISTIK 2|2023 Stadtforschung

Für das Jahr 2022 ergeben sich zunächst folgende allgemeine Erkenntnisse:

- Drei der 15 größten Städte (München, Dresden und Stuttgart) haben mit ihren Überschuldungsquoten den bundesdeutschen Durchschnitt von 8,5 Prozent unterschritten, die deutliche Mehrheit (vier Fünftel) übertro en. Der Unterschied zwischen dem Spitzenreiter München und der drittplatzierten Stadt Stuttgart betrug knapp 1 Prozentpunkt.

- Unterstellt man, dass der bis 2020 gemessene Abstand zwischen den kreisfreien Städten und Deutschland in Höhe von etwa 2 Prozentpunkten auch 2022 Gültigkeit hatte, wären mit Hamburg, Frankfurt am Main, Köln, Düsseldorf, Nürnberg, Hannover und Berlin weitere sieben Großstädte unter dem Durchschnitt der kreisfreien Städte geblieben. Dies bedeutet mit anderen Worten, dass zehn Großstädte, und damit immerhin zwei Drittel dieser Städtegruppe, niedrigere Überschuldungsquoten erzielt hätten als die kreisfreien Städte insgesamt. Innerhalb dieser zehn Städte belief sich der Abstand zwischen den Städten mit der niedrigsten und der höchsten Überschuldung auf etwa 3 Prozentpunkte.

- Mit Leipzig, Bremen sowie den Ruhrgebietsstädten Dortmund, Essen und Duisburg befanden sich fünf Großstädte am Ende der Skala. Zwischen vier dieser Städte betrug der Abstand wiederum weniger als 2 Prozentpunkte, während Duisburg doch deutlich schlechter dastand.

- Insgesamt betrachtet sind die Unterschiede zwischen den Städten beachtlich – so war die Überschuldungsquote in

der Stadt Duisburg mit 15,8 Prozent mehr als doppelt so hoch wie diejenige in der Stadt München mit 7,4 Prozent.

Die geringsten Überschuldungsquoten mit weniger als 9 Prozent haben 2022 mit München, Dresden, Stuttgart und Hamburg vier Städte aufgewiesen, die sich durch namhafte Hochschulen und wissenschaftlichen Einrichtungen auszeichnen, ebenso durch herausragende Wirtschaftsunternehmen oder bedeutende staatliche Institutionen. Eine generell niedrige Überschuldung in Stadt- und Landkreisen mit starker Ausrichtung auf Hochschulen und wissenschaftliche Einrichtungen wurde im Rahmen einer Analyse baden-württembergischer Kreise festgestellt (Münzenmaier 2022a).

Unter den nachfolgenden sieben Städten mit Überschuldungsquoten von 9 bis unter 11 Prozent (Frankfurt am Main, Köln, Düsseldorf, Nürnberg, Hannover, Berlin und Leipzig) nden sich ebenfalls Universitätsstädte, Verwaltungsmetropolen, Dienstleistungszentren oder wirtschaftlich gut aufgestellte Städte, die ihren Bürgerinnen und Bürgern ein gutes Auskommen bieten können. Demgegenüber zeichnen sich die drei Städte mit Überschuldungsquoten von 11 bis unter 13 Prozent (Bremen, Dortmund und Essen) dadurch aus, dass sie trotz unbestreitbarer wirtschaftlicher Erfolge und durchaus günstigen Entwicklungspotentialen noch merklich unter industriellen Altlasten und Strukturanpassungsproblemen zu leiden haben. Noch mehr mit solchen Schwierigkeiten ist das Schlusslicht Duisburg mit einer Überschuldungsquote von fast 16 Prozent konfrontiert.

Tabelle 1: Überschuldungsquoten in Städten Deutschlands mit mehr als 400.000 Einwohnerinnen und Einwohnern 2017 bis 2022

1) Stadtkreise, kreisfreie Städte, Region Hannover, Städteregion Aachen, Regionalverband Saarbrücken

STADTFORSCHUNG UND STATISTIK 2|202379 Stadtforschung
Datenquelle: Creditreform (SchuldnerAtlas Deutschland 2022) Stadt Überschuldungsquoten Veränderung der Überschuldungsquoten 2017201820192020202120222020/20192021/20202022/20212022/2017 % Prozentpunkte München 8,928,828,968,737,887,36–0,23–0,85–0,52–1,56 Dresden 9,379,279,199,048,328,09–0,15–0,72–0,23–1,28 Stuttgart 10,5010,1410,149,888,778,32–0,26–1,11–0,45–2,18 Hamburg 10,6110,6210,6010,539,108,64–0,07–1,43–0,46–1,97 Frankfurt am Main10,5810,7410,7610,769,669,29±0,00–1,10–0,37–1,29 Köln 11,7811,6711,6211,4410,209,81–0,18–1,24–0,39–1,97 Düsseldorf 12,1212,0912,0911,8510,499,90–0,24–1,36–0,59–2,22 Nürnberg 11,9312,0111,8511,5110,569,98–0,34–0,95–0,58–1,95 Hannover 12,8012,7412,5512,1410,5310,10–0,41–1,61–0,43–2,70 Berlin 12,6312,4212,3112,0210,8110,47–0,29–1,21–0,34–2,16 Leipzig 13,4313,1712,8112,4511,3210,65–0,36–1,13–0,67–2,78 Bremen 12,6012,5112,5312,4411,4011,03–0,09–1,04–0,37–1,57 Dortmund 14,4414,4414,3314,0412,7312,44–0,29–1,31–0,29–2,00 Essen 13,7613,9614,2314,1712,9412,45–0,06–1,23–0,49–1,31 Duisburg 17,0817,2017,5217,5316,1615,87+0,01–1,37–0,29–1,21 Deutschland 10,0410,0410,009,878,868,48–0,13–1,01–0,38–1,56 darunter: Stadtkeise1) 12,0812,0612,0211,85..–0,17 . . .

Entwicklung in den größten Städten 2017 bis 2022

Innerhalb der letzten sechs Jahre hat sich die Reihenfolge der 15 Großstädte in Bezug auf ihre Überschuldungsquoten nicht wesentlich geändert. Im Vergleich zu 2017 hat sich 2022 nur Bremen um drei Plätze verschlechtert, alle anderen Rangverschiebungen waren überschaubar.

Im Vergleich zur bundesdeutschen Verringerung der Überschuldungsquote um 1,56 Prozentpunkte wurde diese im Durchschnitt der 15 Großstädten um 1,88 Prozentpunkte verringert. Die Überschuldung in Duisburg, Dresden, Frankfurt am Main und Essen wurde um weniger als 1,4 Prozentpunkte abgebaut, während die Verringerung in Leipzig, Hannover, Düsseldorf, Stuttgart und Berlin mehr als 2,1 Prozentpunkte erreicht hat. Interessanterweise nden sich in beiden Kategorien Städte mit allgemein hoher oder niedriger Überschuldung.

Betrachtet man in der Tabelle die einzelnen Zeitabschnitte, dann ergibt sich folgendes Bild:

In der Vor-Corona-Zeit, also zwischen 2017 und 2019, haben die Überschuldungsquoten in Deutschland praktisch stagniert, in den einzelnen Städten war die Entwicklung jedoch recht uneinheitlich. Zunahmen um mindestens 0,4 Prozentpunkte mussten die beiden Ruhrgebietsstädte Essen und Duisburg hinnehmen; umgekehrt konnten Leipzig und Stuttgart ihre Überschuldungsquoten um rund 0,4 Prozentpunkte oder mehr zurückfahren.

Von 2019 auf 2020, dem ersten Jahr der Corona-Pandemie, blieben die Überschuldungsquoten – bei einem bundesdurchschnittlichen Rückgang um 0,1 Prozentpunkte – in Frankfurt am Main und in Duisburg unverändert. Dagegen konnten sechs Städte ihre Überschuldungsquoten um mindestens 0,3 Prozentpunkte reduzieren, wobei Leipzig (-0,4 Prozentpunkte) und Stuttgart (-0,3 Prozentpunkte) ihre Verbesserungen seit 2017 fortsetzen konnten, hinzu kamen Hannover (-0,4 Prozentpunkte) sowie Dortmund, Nürnberg und Berlin (je -0,3 Prozentpunkte).

Zwischen dem 1. Oktober 2020 und 1. Oktober 2021 hat dann die stärkste Entspannung im Untersuchungszeitraum stattgefunden: Die Überschuldungsquoten haben bundesweit um 1,0 Prozentpunkte abgenommen. Seit Beginn der Erhebungen im Jahr 2004 wurde ein vergleichbar hoher Rückgang lediglich von 2008 auf 2009, dem Höhepunkt der Finanzmarktkrise, registriert.

Eigentlich wäre zu erwarten, dass krisenbedingte Arbeitsplatzverluste und Einkommenseinbußen die Überschuldung privater Haushalte tendenziell ansteigen lassen, in beiden Perioden haben jedoch massive staatliche Hilfen den wirtschaftlichen Abschwung nachhaltig abgebremst und die Einkommenssituation der allermeisten privaten Haushalte in Deutschland stabilisiert. Die staatlichen Hilfen während der Corona-Krise umfassten vor allem Sonderregelungen für Kurzarbeiter, Überbrückungs-, Neustart- und Härtefallhilfen für Unternehmen und Selbstständige, KfW-Programme, Bürgschaften und Garantien, Stabilisierungs- und Sonderfonds sowie steuerliche Unterstützungen und einen erleichterten Zugang zur Grundsicherung. Im Zuge dieser Unterstützungs-

maßnahmen haben die Verfügbaren Einkommen (jeweils in nominaler, also nicht-preisbereinigter Rechnung) 2020 um 1,4 Prozent und 2021 nochmals um 2,1 Prozent zugenommen, gleichzeitig haben die Einwohnerinnen und Einwohner ihre Konsumausgaben 2020 um beachtliche 5,1 Prozent zurückgefahren und 2021 nur moderat um 3,5 Prozent ausgeweitet. Verantwortlich hierfür waren pandemiebedingt unumgängliche Einschränkungen der Konsummöglichkeiten, vor allem bei Reisen, Übernachtungen und Gaststättenbesuchen; hinzu kam ein zurückhaltendes Ausgabeverhalten, insbesondere in Bezug auf Waren und Dienstleistungen, die nicht zum täglichen Bedarf zählen. Dadurch hat sich – trotz sehr niedriger Zinsen – die Sparquote 2020 gegenüber 2019 enorm erhöht (von 10,8% auf 16,4%) und 2021 nur leicht verringert (auf 15,1 %); das sind die höchsten Werte für Sparquoten seit Mitte der 1970er Jahre (Statistisches Bundesamt 2023: 50). In der Folge haben sich die Entschuldungsmöglichkeiten privater Haushalte in beiden Jahren deutlich verbessert.

Der Rückgang der Überschuldungsquoten von 2020 auf 2021 hat alle 15 großen Städte erfasst. Schwächer als im Bundesdurchschnitt (-1,0 Prozentpunkte) ist der Überschuldungsabbau in den beiden Städten mit der geringsten Überschuldung ausgefallen, nämlich in München und Dresden, außerdem in Nürnberg. Die kräftigsten Entlastungen (Abnahme um 1,2 Prozentpunkte und mehr) haben – neben Hannover, Hamburg, Düsseldorf und Köln – in Berlin und in den drei Ruhrgebietsstädten Duisburg, Dortmund und Essen stattgefunden und damit in Großstädten mit traditionell hoher Überschuldung. Insofern hat sich im Zuge der Corona-Pandemie und bedingt durch gezielte staatliche Unterstützungsmaßnahmen die Spreizung der Überschuldung unter den großen Städten wenigstens teilweise abgeschwächt.

Interessanterweise hat sich die Verringerung der Überschuldungsquoten 2022 fortgesetzt, die Abnahme gegenüber 2021 belief sich auf exakt 0,38 Prozentpunkte und war damit dreimal so hoch wie im ersten Corona-Jahr 2020 gegenüber 2019 mit 0,13 Prozentpunkten. Dies ist insoweit bemerkenswert, als sich die ökonomischen Voraussetzungen für eine fortdauernde Rückführung der Überschuldung im Krisenjahr 2022 eigentlich nicht verbessert haben. Bedingt durch drastisch steigende Energiekosten und allgemein hohe Preissteigerungen hat der Konsum der privaten Haushalte 2022 um 11,6 Prozent zugenommen und damit deutlich stärker als das Verfügbare Einkommen (+7,0%). Dadurch wurde die Sparquote der privaten Haushalte weiter auf 11,4 Prozent gedrückt und hat fast wieder das Niveau von 2019 (10,8%) erreicht (Statistisches Bundesamt 2023: 50).

Creditreform Wirtschaftsforschung führt die Fortsetzung des Überschuldungsabbaus auf anhaltende Wirkungen der staatlichen Corona-Hilfsprogramme zurück, die einen Anstieg der Arbeitslosigkeit verhindert haben, ebenso auf das Nachlassen von konjunkturellen Bremsfaktoren im Laufe des Jahres 2022. Creditreform weist aber auch auf die enormen nanziellen Belastungen durch gestiegene Lebenshaltungskosten hin, wodurch die nanziellen Gestaltungsmöglichkeiten vieler Verbraucherinnen und Verbraucher deutlich geschmälert wurden und zu nachhaltigen Zahlungsstörungen geführt haben (Creditreform 2022: 10–12).

80 STADTFORSCHUNG UND STATISTIK 2|2023 Stadtforschung

Hauptgründe der Überschuldung

Was sind die wesentlichen Ursachen für die Überschuldung privater Haushalte? Interessante Informationen hierfür geben Erhebungen des Statistischen Bundesamts, in denen Menschen, die Schuldner- und Insolvenzberaterstellen aufsuchen, nach den Hauptgründen für ihre Überschuldung gefragt werden. Es handelt sich hierbei um Beratungsstellen, die in der Trägerschaft von Wohlfahrts- und Verbraucherverbänden oder von Gemeindeverbänden und sonstigen Körperschaften des ö entlichen Rechts stehen bzw. als gemeinnützig anerkannt oder als Verein eingetragen sind. Die 2021 letztmalig durchgeführten Erhebungen erfolgten auf freiwilliger Basis – damals haben 593 der insgesamt etwa 1.430 deutschen Beratungsstellen teilgenommen und Daten für rund 147.000 Personen bereitgestellt (Statistisches Bundesamt 2022: 3, 8)

Die sechs besonders wichtigen Hauptauslöser für Überschuldung in den Jahren 2017 bis 2022 sind in Tabelle 2 zusammengestellt; die Daten bis 2021 basieren auf der genannten Statistik des Statistischen Bundesamts, die Zahlen für 2022 auf einer Hochrechnung von Creditreform Wirtschaftsforschung.

Je drei dieser Hauptauslöser sind im wirtschaftlichen Umfeld oder im privaten Bereich der betro enen Menschen zu suchen. Im Jahr 2022 war unter den wirtschaftsbezogenen Kriterien bei 19,6 Prozent der Betro enen die Arbeitslosigkeit der wichtigste Hauptauslöser für Überschuldung, bei 11,5 Prozent war es ein langfristiges Niedrigeinkommen und bei 8,7 Prozent eine gescheiterte Selbstständigkeit. Von den im privaten Bereich zu suchenden Ursachen waren bei 18,3 Prozent der Betro enen Erkrankung, Sucht und Unfall der bedeutendste Hauptauslöser, bei 14,6 Prozent unwirtschaftliche Haushaltsführung und bei 12 Prozent Trennung, Scheidung und Tod des Partners oder der Partnerin. In der Entwicklung bemerkenswert ist die gestiegene Bedeutung des Einkommensindikators (langfristiges Niedrigeinkommen) seit 2017 und besonders stark von 2021 auf 2022.

Überschuldung und Arbeitslosigkeit

Die Bedeutung der Arbeitslosigkeit als wichtigstem Grund für Überschuldung wird durch weitere Ergebnisse aus der Erhebung des Statistischen Bundesamts bestätigt. Im Jahr 2021 waren danach 42,4 Prozent aller Personen, die von den befragten Stellen zu Problemen der Überschuldung beraten wurden, arbeitslos und weitere 20,8 Prozent anderweitig nicht erwerbstätig, beispielsweise als Rentner oder Rentnerin; nur 36,8 Prozent aller beratenen Personen waren erwerbstätig, 35,9 Prozent in abhängiger Beschäftigung und 0,9 Prozent als Selbstständige (Statistisches Bundesamt 2022: 6). Setzt man aus Vereinfachungsgründen die Zahl der beratenen Menschen in Arbeitslosigkeit und Erwerbstätigkeit mit der Zahl der insgesamt beratenen zivilen Erwerbspersonen gleich, was 79,2 Prozent aller beratenen Personen entspricht, ergibt sich für den Kreis der wegen Überschuldung beratenen Menschen eine Arbeitslosenquote von rund 53,5 Prozent. Insgesamt betrug die Arbeitslosenquote, de niert als Zahl der registrierten Arbeitslosen bezogen auf die Zahl der zivilen Erwerbspersonen, 2021 bundesweit nur 6,3 Prozent.

Die Zusammenhänge zwischen Überschuldung und Arbeitslosigkeit werden durch Schaubild 1 bestätigt, in dem die Überschuldungsquoten den Arbeitslosenquoten der 15 Großstädte im Jahr 2021 gegenübergestellt sind, de niert als durchschnittliche Anzahl der registrierten Arbeitslosen bezogen auf die Zahl aller zivilen Erwerbspersonen im Berichtsjahr. Die entsprechenden Punkte streuen um eine Trendgerade, die so berechnet ist, dass sie sich diesen Punkten optimal anpasst – die vertikalen Abstände zwischen den Punkten und der Geraden sind dem Betrage nach möglichst klein. Aus dem Verlauf der Trendgeraden wird klar ersichtlich, dass mit zunehmender Arbeitslosigkeit auch das Risiko der Überschuldung steigt. Dabei ist die Streuung der Punkte um die Gerade relativ gering, was durch einen mit +0,860 recht hohen Wert des Korrelationskoe zienten r ausgedrückt wird. Städte mit hoher (niedriger) Arbeitslosigkeit zeichnen sich also in der Tendenz durch große (geringe) Überschuldung aus.

Datenquellen: 2017 bis 2021: Statistisches Bundesamt; 2022: Hochrechnung von Creditreform

STADTFORSCHUNG UND STATISTIK 2|202381 Stadtforschung
Tabelle 2: Hauptgründe der Überschuldung in Deutschland 2017 bis 2022
Hauptgründe der Überschuldung 201720182019202020212022 % Arbeitslosigkeit 20,620,019,919,719,919,6 Erkrankung, Sucht, Unfall 15,115,916,316,516,918,3 Unwirtschaftliche Haushaltsführung 12,312,914,314,514,314,6 Trennung, Scheidung, Tod 13,313,112,512,012,212,0 Längerfristige Niedrigeinkommen 7,2 8,3 8,7 9,610,011,5 Gescheiterte Selbstständigkeit 8,3 8,5 8,3 8,2 8,3 8,7 Sonstige Auslöser 23,221,320,019,518,415,5 Alle Auslöser 100100100100100100

Au allend ist zunächst, dass sich im rechten Teil der Gra k mit Arbeitslosenquoten von mehr als 11 Prozent alle drei Ruhrgebietsstädte be nden. Essen und Dortmund folgen dabei dem Trendzusammenhang von Überschuldung und Arbeitslosigkeit, das heißt in Schaubild 1 liegen die zugehörigen Punkte nur wenig über oder unter der Trendgeraden. Demgegenüber ist die Überschuldungsquote der Stadt Duisburg deutlich höher als es der Trend erwarten lässt. Umgekehrt weisen die Städte mit Arbeitslosenquoten von 9 bis 11 Prozent (Bremen, Berlin, Köln und Hannover) Werte unterhalb der Trendgeraden auf; diese vier Städte zeichnen sich demnach zwar durch überdurchschnittlich hohe Überschuldungsquoten aus (zwischen 10,2 und 11,4%), gemessen an ihren Arbeitslosenquoten sind diese jedoch relativ gering ausgefallen.

Unter den sechs Städten mit Arbeitslosenquoten zwischen 6 und 8 Prozent tri t Letzteres auch für Dresden und Hamburg zu, während Nürnberg und Leipzig merklich höhere Überschuldungsquoten zu verzeichnen haben als es der Trendzusammenhang erwarten lässt. Nur bei Frankfurt am Main und Düsseldorf entspricht die tatsächliche Überschuldung den aus der Arbeitslosigkeit abgeleiteten Erwartungen.

Dies ist auch bei München und Stuttgart der Fall, den Großstädten mit den deutlich geringsten Arbeitslosen- und den niedrigsten bzw. drittniedrigsten Überschuldungsquoten.

Überschuldung und Leistungen nach SGB II

Wenn ein arbeitsloser Mensch kein Arbeitslosengeld I mehr erhält oder die daraus bezogenen Leistungen nicht zum Leben ausreichen, konnte er bis Ende 2022 Leistungen nach dem Arbeitslosengeld II beantragen, um das Existenzminimum zu erreichen; zum 1. Januar 2023 wurde das Arbeitslosengeld II durch das Bürgergeld abgelöst. Zweck des Arbeitslosengelds II wie des Bürgergelds ist es zunächst, Menschen nanziell zu unterstützen, die seit einer gewissen Zeit arbeitslos, aber gleichwohl erwerbsfähig sind. Langfristiges Ziel ist es jedoch, die Leistung beziehenden Personen wieder im Arbeitsmarkt unterzubringen und dadurch den Bezug von Arbeitslosengeld II zu beenden. Zusammen mit den Beziehern von Sozialgeld für nicht erwerbsfähige Leistungsberechtigte sowie den sonstigen Leistungsberechtigten ergibt sich hieraus ein Kreis von Leistungsberechtigten nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II). Bezogen auf die Bevölkerung unterhalb der (für den Renteneintritt relevanten) Altersgrenze nach §7a SGB II errechnet sich hieraus die so genannte SGB-II-Quote.

Der Kreis der Leistungsberechtigten nach SGB II hat also ebenfalls einen Bezug zur Arbeitslosigkeit. Tatsächlich besteht zwischen Arbeitslosen- und SGB-II-Quoten, zumindest für die Großstädte, eine enge Korrelation, die in dem mit +0,975 sehr hohen Wert des entsprechenden Korrelationskoe zienten ihren Ausdruck ndet. Aber auch andere in Tabelle 2 aufgeführte Hauptgründe für Überschuldung werden durch die SGB-II-Quoten abgedeckt.

In Schaubild 2 werden Überschuldungs- und SGB II-Quoten für die größten Städte Deutschlands gegenübergestellt; nicht aufgenommen ist die Stadt Hannover, für die keine SGB-II-Quoten verö entlicht sind.2 Der Korrelationskoef-

zient r beträgt +0,830 und ist damit fast genau so groß wie bei der Gegenüberstellung von Überschuldung und Arbeitslosigkeit.

Im rechten Teil von Schaubild 2 mit SGB-II-Quoten mit 16 Prozent und mehr tauchen neben den drei Ruhrgebietsstädten auch Berlin und Bremen auf. Essen als Großstadt mit der höchsten SGB-II-Quote und Dortmund folgen wieder dem Trendzusammenhang, während bei Duisburg die Überschuldung erneut merklich höher ausgefallen ist als die Erwartung nach dem Trend. Umgekehrt stellt sich die Situation für Berlin und Bremen dar.

Unter den sieben Städten mit SGB-II-Quoten zwischen 8 und gut 13 Prozent weisen Nürnberg und Leipzig Überschuldungsquoten deutlich oberhalb und vor allem Hamburg, aber auch Dresden und Köln unterhalb der Trendgeraden auf, während Frankfurt und Düsseldorf ziemlich genau dem Trend folgen. Dies tri t ebenso für München und Stuttgart mit den mit Abstand niedrigsten SGB-II-Quoten (6 und 7,5%) zu.

Insgesamt gesehen ergibt sich für die Großstädte Deutschlands bei den Zusammenhängen von Überschuldung zu Leistungen nach SGB II ein sehr ähnliches Bild wie zur Arbeitslosigkeit.

Überschuldung und Armutsgefährdung

Zweifelsohne bestehen zwischen Überschuldung und Armut eines Privathaushalts enge inhaltliche Beziehungen. Viele der in Tabelle 2 aufgeführten wesentlichen Überschuldungsgründe können in irgendeiner Form wenigstens teilweise auf Armut zurückgeführt werden.

In Schaubild 3 sind die Überschuldungsquoten der 15 größten Städten ihren statistisch ermittelten Armutsgefährdungsquoten gegenübergestellt. Die Armutsgefährdungsquote ist ein Indikator zur Messung relativer Einkommensarmut und wird de niert als der Anteil der Personen, deren Äquivalenzeinkommen weniger als 60 Prozent des Medians der Äquivalenzeinkommen der Gesamtbevölkerung beträgt (Armutsgefährdungsschwelle). Das Äquivalenzeinkommen ist ein bedarfsgewichtetes Pro-Kopf-Einkommen je Haushaltsmitglied; es wird ermittelt, indem das Haushaltsnettoeinkommen durch die Summe der Bedarfsgewichte der im Haushalt lebenden Personen dividiert wird. Zur Bedarfsgewichtung wird der ersten erwachsenen Person im Haushalt das Bedarfsgewicht 1,0 zugeordnet, für weitere Haushaltsmitglieder mit 14 Jahren und mehr das Bedarfsgewicht 0,5 und für jedes Kind jünger als 14 Jahre das Bedarfsgewicht 0,3; dahinter steht der Gedanke, dass sich in einem Privathaushalt durch gemeinsames Wirtschaften Einsparungen erreichen lassen.

Die Korrelation zwischen Überschuldung und Armutsgefährdung ist mit einem Korrelationskoe zienten von r = +0,840 praktisch genauso eng wie zwischen Überschuldung und Arbeitslosigkeit bzw. SGB-II-Leistungen.3 Trotzdem stellen sich die Zusammenhänge in einigen Städten anders dar, wie ein Vergleich von Schaubild 3 mit den Schaubildern 1 und 2 zeigt. Zwar weist mit Duisburg auch bei der Armutsgefährdung eine Ruhrgebietsstadt den Spitzenwert auf (2021: 28,9 %), aber in Bremen (26,8 %) ist die Gefährdungsstufe größer als in Dortmund (24,5 %), ebenso in Leipzig, Hannover

82 STADTFORSCHUNG UND STATISTIK 2|2023
Stadtforschung

Schaubild 1: Zusammenhang zwischen Überschuldungs- und Arbeitslosenquoten in den Städten Deutschlands mit mehr als 400.000 Einwohnerinnen und Einwohnern 2021

Datenquellen: Creditreform (SchuldnerAtlas Deutschland 2022), Bundesagentur für Arbeit. Statistisches Landesamt Baden-Württemberg

Schaubild 2: Zusammenhang zwischen Überschuldungs- und SGB II-Quoten in den Städten Deutschlands mit mehr als 400.000 Einwohnerinnen und Einwohnern*) 2021

*) Ohne Stadt Hannover

Datenquellen: Creditreform (SchuldnerAtlas Deutschland 2022), Bundesagentur für Arbeit. Statistisches Landesamt Baden-Württemberg

STADTFORSCHUNG UND STATISTIK 2|202383 Stadtforschung

Schaubild 3: Zusammenhang zwischen Überschuldungs- und Armutsgefährdungsquoten in Städten Deutschlands mit mehr als 400.000 Einwohnerinnen und Einwohnern 2021

Datenquellen: Creditreform (SchuldnerAtlas Deutschland 2022), Statistische Ämter des Bundes und der Länder. Statistisches Landesamt Baden-Württemberg

Schaubild 4: Zusammenhang zwischen Überschuldungsquoten 2021 und Verfügbarem Einkommen je Einwohnerin und Einwohner 2020 in den Städten Deutschlands mit mehr als 400.000 Einwohnerinnen und Einwohnern.

Datenquellen: Creditreform (SchuldnerAtlas Deutschland 2022), Arbeitskreis „Volkswirtschaftliche Gesamtrechnungen der Länder“. Statistisches Landesamt Baden-Württemberg

84 STADTFORSCHUNG UND STATISTIK 2|2023 Stadtforschung

und Frankfurt am Main (zwischen 22,6 und 23,7 %) höher als in Essen (22 %). Auch Düsseldorf und Köln schneiden mit jeweils über 21 Prozent nur wenig besser ab als Essen. Werte um 20 Prozent wurden für Nürnberg und Berlin ermittelt, Werte um 17 Prozent für Hamburg und Dresden. Insofern am besten haben erneut Stuttgart (16 %) und München (11,3 %) abgeschnitten.

Auch bei den Trendabweichungen sind Unterschiede zwischen Schaubild 3 im Vergleich zu den Schaubildern 1 und 2 festzustellen. Deutlich höher waren vor allem die privaten Haushalte in Duisburg und in Essen überschuldet als nach ihrer Armutsgefährdung zu erwarten gewesen wäre, erheblich niedriger die Haushalte in Frankfurt am Main und in Bremen; die Abstände zwischen den tatsächlichen und den Trendwerten betragen (in die eine oder die andere Richtung) 1,6 Prozentpunkte oder mehr, in den anderen elf Städten sind sie dagegen recht klein.

Überschuldung und Einkommenssituation

Wie ausgeführt ist ein langfristiges Niedrigeinkommen der fünftwichtigste Hauptauslöser für die Überschuldung privater Haushalte. Nach den Befragungen des Statistischen Bundesamts betrug 2021 das monatliche individuelle Nettoeinkommen bei 38,8 Prozent aller beratenen Personen weniger als 900 Euro, bezogen auf das monatliche Haushaltsnettoeinkommen waren es 31,4 Prozent aller beratenen Personen. In die Kategorie 900 bis unter 1.300 Euro elen 26,5 bzw. 23,6 Prozent, in die Kategorie 1.300 bis unter 2.000 Euro weitere 25,5 bzw. 27 Prozent aller beratenen Menschen. Nur 9,3 bzw. 18 Prozent der beratenen Personen konnten über ein individuelles oder haushaltsbezogenes Einkommen von 2.000 Euro oder mehr verfügen (Statistisches Bundesamt 2022: 8, 15, 16).

Schaubild 4 veranschaulicht für die 15 größten deutschen Städte die Zusammenhänge zwischen den Überschuldungsquoten und den Verfügbaren Einkommen je Einwohnerin oder Einwohner, also denjenigen Einkommen, die von den Haushalten für privaten Verbrauch, Ersparnisbildung oder eben auch Schuldenabbau verwendet werden können. Aktuelle Daten zu diesen gesamtwirtschaftlichen Einkommen liegen für 2020 vor (Arbeitskreis Volkswirtschaftliche Gesamtrechnungen der Länder 2022), weshalb in Schaubild 4 die Überschuldungsquoten des Jahres 2021 den Verfügbaren Pro-Kopf-Einkommen des Jahres 2020 gegenübergestellt sind.

Die Lage der Punkte und der Trendgeraden in Schaubild 4 verdeutlichen zunächst, dass die Überschuldung in einer Großstadt naturgemäß umso geringer ausfällt, je mehr den dortigen Bewohnern an Einkommen zur Verfügung steht. Eine Gegenüberstellung zu den Schaubildern 1 bis 3 lässt außerdem erkennen, dass die Korrelation zwischen Überschuldung und Nettoeinkommen – insgesamt betrachtet – weniger stark ausgeprägt ist als zwischen Überschuldung und den drei anderen Variablen: In Schaubild 4 streuen die Punkte stärker um die Trendgerade, der Korrelationskoe zient ist mit r = -0,720 dem Betrag nach merklich kleiner. Gleichwohl bestehen enge Beziehungen vor allem zwischen den Verfügbaren Pro-Kopf-Einkommen und den Armutsgefährdungsquoten der 15 Großstädte, was seinen Niederschlag in

einem Korrelationskoe zienten beider Größen in Höhe von immerhin r=-0,771 ndet.

Die recht große Streuung wurde vor allem durch zwei Städte mit relativ niedrigem Pro-Kopf-Einkommen bewirkt, nämlich Duisburg mit einer um 3,2 Prozentpunkte höheren und Dresden mit einer um 3,3 Prozentpunkte geringeren Überschuldungsquote im Vergleich zur Trendgeraden. Ähnlich stellt sich die Situation für die ebenfalls einkommensschwachen Städte Essen und Leipzig dar, wo Trendabweichungen in Höhe von 1,4 Prozentpunkten nach oben bzw. 0,9 Prozentpunkten nach unten vorliegen. Nimmt man noch Dortmund mit einer Trendabweichung von 0,7 Prozentpunkten dazu, dann kann für die fünf Städte mit dem niedrigsten Verfügbaren Pro-KopfEinkommen festgestellt werden: Die nach wie vor mit strukturellen Anpassungsproblemen konfrontierten Ruhrgebietsstädte weisen eine signi kant höhere Überschuldung privater Haushalte auf als es ihre ohnehin niedrigen Nettoeinkommen im Kontext der Großstädte vermuten lassen, während umgekehrt die Überschuldung in den beiden sächsischen Städten erstaunlich gering ausfällt. Wie aus Tabelle 1 ersichtlich, kann Dresden über die Jahre hinweg auf die mit Abstand zweitniedrigste Überschuldungsquote unter den Großstädten zurückblicken, und Leipzig kann den seit 2017 stärksten Rückgang dieser Quote verbuchen. Auch Berlin (mit seinem Ostteil historisch den neuen Ländern zugehörig) schneidet sowohl bei der Gegenüberstellung zum einkommensabhängigen Trend als auch bei der mittelfristigen Entwicklung gut ab.

Unter den verbleibenden Großstädten ragt vor allem München heraus. Obwohl die Überschuldungsquote in der bayerischen Landeshauptstadt seit Jahren den niedrigsten Wert aller großen Städte erzielt hat, lag sie dort 2021 um satte 1,0 Prozentpunkte über dem Trend, bedingt durch das 2020 mit 31.860 Euro je Einwohner/-in überragend hohe Verfügbare Pro-Kopf-Einkommen Münchens. Noch drastischer stellt sich die Situation in Düsseldorf mit dem zweithöchsten Verfügbaren Pro-Kopf-Einkommen (26.730 Euro je Einwohner/-in) dar, wo die Überschuldungsquote den Trend sogar um 1,3 Prozentpunkte übertro en hat. Um so bemerkenswerter ist, dass Stuttgart als Großstadt mit dem 2020 dritthöchsten Verfügbaren Pro-Kopf-Einkommen (26.500 Euro je Einwohner/-in) 2021 eine um gut 0,5 Prozentpunkte unter dem Trend liegende Überschuldungsquote erzielen konnte. In Hamburg und Frankfurt am Main, den Städten mit den viert- und fünfthöchsten Pro-Kopf-Einkommen, wurde sogar eine gegenüber dem Trend um knapp 0,7 Prozentpunkte niedrigere Überschuldungsquote gemessen; in Köln als Stadt mit dem sechshöchsten Pro-Kopf-Einkommen waren es immerhin noch 0,4 Prozentpunkte.

Zusammenfassung

Im Jahr 2022 waren nach Erhebungen der Unternehmensgruppe Creditreform in Deutschland rund 5,88 Millionen Menschen oder 8,5 Prozent der erwachsenen Bevölkerung überschuldet, das heißt, die von ihnen aufgewendeten Gesamtausgaben übertrafen über einen längeren Zeitraum hinweg ihre laufenden Einnahmen, und sie konnten über kein ausreichendes Vermögen zur Überwindung von Liquiditätsengpässen verfügen.

STADTFORSCHUNG UND STATISTIK 2|202385 Stadtforschung

Seit 2017 war die Überschuldung rückläu g, vor allem 2021 wegen umfangreicher staatlicher Unterstützungsmaßnahmen und (gezwungenermaßen) verringerten Konsumausgaben der privaten Haushalte im Zuge der Corona-Pandemie. 2022 hat dieser Trend in abgeschwächter Form angehalten. Über die Jahre hinweg haben die Überschuldungsquoten in den kreisfreien Städten etwa 2 Prozentpunkte mehr betragen als in Deutschland insgesamt.

Im Jahr 2022 haben zwölf der insgesamt 15 Städte mit mehr als 400.000 Einwohnerinnen und Einwohner die bundesdurchschnittliche Überschuldungsquote von 8,5 Prozent übertro en, zum Teil sogar deutlich. Nur München, Dresden und Stuttgart blieben unter diesem Durchschnittswert. Gegenüber 2017 konnten die Überschuldungsquoten in allen 15 Großstädten verringert werden. Diese Abnahme ist wegen pandemiebedingten Konsumeinschränkungen 2021 gegenüber 2020 besonders kräftig ausgefallen, und zwar überdurchschnittlich stark in einigen Städten mit traditionell hoher Überschuldung; dadurch konnte die beachtliche Spreizung der Überschuldung unter den großen Städten wenigstens teilweise abgeschwächt werden.

Die Arbeitslosigkeit ist der bundesweit bedeutendste Auslöser für Überschuldung.4 In Städten mit hoher (niedriger) Arbeitslosigkeit fällt tendenziell auch die Überschuldung hoch (gering) aus. Vergleichbare Zusammenhänge lassen sich für die Überschuldung im Verhältnis zu den Leistungsempfängern nach SGB II und zur Armutsgefährdung privater Haushalte feststellen. Ebenso hat der Umfang des Verfügbaren Pro-Kopf-Einkommens signi kante Auswirkungen auf die Überschuldung

der betro enen Menschen. Trotz aller Unterschiede stellen sich die Zusammenhänge für die 15 Großstädte relativ homogen dar, die Korrelationen für diese Städte sind merklich enger als für den erweiterten Kreis von rund 40 Städten mit mehr als 200.000 Einwohnerinnen und Einwohner (Münzenmaier 2022b: 42–45).

1 Bei diesem Beitrag handelt es sich um eine leicht gekürzte Fassung des im Statistischen Monatsheft Baden-Württemberg 2/2023 erschienenen Artikels „Überschuldung privater Haushalte in den 15 größten Städten Deutschlands 2017 bis 2022 – Entwicklung, Hintergründe und Ursachen“.

2 Für Hannover liegen SGB-II-Quoten nur für die Region, nicht für die Stadt vor. Sowohl die Überschuldungsquoten als auch die SGB-IIQuoten sind 2021 für die Region (mit insgesamt 21 Städten und Gemeinden) niedriger ausgefallen als für die Stadt Hannover. Bemerkenswerterweise führt eine Korrelationsanalyse unter Einbeziehung der Region Hannover zu einer gegenüber Schaubild 2 kaum veränderten Lage der Trendgeraden und einem identischen Wert des Korrelationskoe zienten.

3 Tatsächlich bestehen zwischen diesen Ein ussgrößen ebenfalls enge Verknüpfungen – beispielsweise beträgt der Koe zient für die Korrelation zwischen Arbeitslosen- und Armutsgefährdungsquote r = +0,785.

4 Die Korrelationsanalysen wurden anhand von Daten für das Jahr 2021 durchgeführt, da zur Zeit der Abfassung dieses Artikels nur für die Überschuldungsquoten, nicht aber für alle vier Ein ussgrößen Ergebnisse zum Jahr 2022 vorgelegen haben. Unter Zugrundelegung von Überschuldungsdaten für 2022 und Beibehalten der Zahlen für die anderen Variablen hat sich jeweils sogar eine leicht höhere Korrelation ergeben.

Literatur

Arbeitskreis Volkswirtschaftliche Gesamtrechnungen der Länder (2022): Volkswirtschaftliche Gesamtrechnungen der Länder, Reihe 2, Band 3, Einkommen der privaten Haushalte in den kreisfreien Städten und Landkreisen der Bundesrepublik Deutschland 1995 bis 2020, Berechnungsstand November 2021. Stuttgart, Oktober 2022.

Creditreform Wirtschaftsforschung (2022): SchuldnerAtlas Deutschland 2022 – Über-

schuldung von Verbrauchern. Neuss, November 2022.

Münzenmaier, Werner (2022a): Überschuldung privater Haushalte in den Stadt- und Landkreisen Baden-Württembergs – Aktuelle Situation und Entwicklung, in: Statistisches Monatsheft Baden-Württemberg 4/2022, S. 45–52. Münzenmaier, Werner (2022b): Überschuldung privater Haushalte in den 39 größten Städten Deutschlands 2017 bis 2021 – Ursachen und

Unterschiede, in: Statistisches Monatsheft Baden-Württemberg 5/2022, S. 38–46.

Statistisches Bundesamt (2022): Fachserie 15, Reihe 5, Statistik zur Überschuldung privater Personen 2021. Wiesbaden, Mai 2022.

Statistisches Bundesamt (2023): Fachserie 18, Reihe 1, Volkswirtschaftliche Gesamtrechnungen: Inlandsproduktberechnung – Detaillierte Jahresergebnisse 2022. Wiesbaden, März 2023.

86 STADTFORSCHUNG UND STATISTIK 2|2023 Stadtforschung

Die Mietspiegelerhebung der Stadt Koblenz 2022 nach dem Mietspiegelreformgesetz (MsRG)

Was bedeutet die Einführung der Auskunftsp icht durch das Mietspiegelreformgesetz für die Konzeption der Mietspiegelerhebung?

Wie kann die Durchsetzung der Auskunftsp icht operationalisiert werden und welche Auswirkungen hat dies auf die Konzeption der Erhebung? Welche Folgen ergeben sich durch die Auskunftsp icht auf Stichprobengröße, Rücklaufquoten und Repräsentativität der erhobenen Daten?

Der Artikel gibt Antworten auf diese Fragen am Beispiel der Erstellung des quali zierten Koblenzer Mietspiegels anhand einer kombinierten Mieter-Vermietererhebung, die im Sommer 2022 durchgeführt wurde.

Warum ist die Mietspiegelerstellung nun eine P icht für Kommunen?

Das Mietspiegelreformgesetz (MsRG) trat am 1. Juli 2022 in Kraft. Es schreibt für Kommunen ab 50.000 Einwohner:innen die P icht, einen einfachen oder quali zierten Mietspiegel zu erstellen, vor. Eine wichtige Änderung ist die Einführung einer Auskunftsp icht. Die Auskunftsp icht betri t alle angeschriebenen Bürger:innen und umfasst neben Angaben zu Eigentumsverhältnissen auch Informationen zur Wohnung und die Anschriften von Mieter:innen und Vermieter:innen (siehe MsRG §1, §2).

Die massive Neuerung resultiert aus der relevanten Rolle, die Mietspiegeln in den letzten Jahren zugesprochen wurde. So werden sie ganz klassisch benötigt zur Begründung von Mieterhöhungsverlangen oder zur Wertermittlung und auch die Kosten der Unterkunft werden auf Basis von Mietspiegeln berechnet. Der angespannte Wohnungsmarkt, vor allem in Großstädten, verstärkt zudem die Bedeutung von Mietspiegeln, da sie auch zur Begründung der Mietpreisbremse herangezogen werden. Abbildung 1 (eigene Darstellung nach Klöppel 2018) ergänzt diese Aufzählung.

Mietrecht Mietpreisbremse Mieterhöhungsverlangen

Diplom Sozialwissenschaftlerin, Stadt Koblenz, Fachdienststelle Kommunalstatistik und Stadtforschung : Daniela.schueller@stadt.koblenz.de

Schlüsselwörter:

Quali zierter Mietspiegel – Auskunftsp icht – Rücklauf –Repräsentativität – kombinierte Mieter-Vermietererhebung

Ordnungswidrigkeiten und Strafrecht Wertermittlung

Mietpreiserhöhung Mietwucher

Sozialrecht

Ermittlung angemessener Kosten der Unterkunft (KdU), „Schlüssige Konzepte“

Ertragswertverfahren

Steuerrecht

Wohnraumförderung

Wohnungsmarktbeobachtung

Einkommenssteuer, „Geldwerter Vorteil“, Erbschafts-/Schenkungssteuer, Zweitwohnsitzsteuer

Bedarfsermittlung, Bemessung der Förderkonditionen, „einkommensorientierte Förderung“

Grundlage für wohnungs/stadtentwicklungspolitische Maßnahmen und Entscheidungen

STADTFORSCHUNG UND STATISTIK 2|202387 Statistik & Informationsmanagement
Abb. 1: Anwendungsfelder von Mietspiegeln

Ziel der Auskunftsp icht ist die Verbesserung der Datengrundlage, da die Repräsentativität aufgrund hoher Nonresponse-Raten nicht unbedingt gegeben war. Das MsRG reagiert damit auf die Einschränkungen, die die Analyst:innen und Expert:innen in den letzten Jahren beklagt haben.

Die Konzeption der Mietspiegelerhebung in Koblenz

Wie bereits in den Jahren 2018 und 2014 wurde in Koblenz eine kombinierte Mieter:innen/Vermieter:innen-Erhebung nach dem Motto „Online-First“ durchgeführt: Die Anschreiben enthielten einen individuellen Zugangscode zum onlineFragebogen; alternativ wurde die Möglichkeit erwähnt, einen Papierfragebogen anzufordern. Es wurden zwei Erinnerungsschreiben verschickt, das zweite enthielt automatisch einen Papierfragebogen. Vorgesehen war eine Feldphase von drei Monaten. Dieses Vorgehen wurde, wie auch die Inhalte des Fragebogens, mit dem Arbeitskreis Mietspiegel abgestimmt. In Koblenz setzt sich dieser zusammen aus den Interessensverbänden von Mieter:innen- und Vermieter:innen, Sachverständigen, Immobilienverwaltungen, Makler:innen, Wohnungsunternehmen, Banken und Mitgliedern der Stadtverwaltung.

Um die Grundgesamtheit zu ermitteln, wird zuerst auf der Basis eines Melderegisterabzugs eine Haushaltegenerierung durchgeführt. Anschließend werden die Daten um Adressen von Heimen und Anstalten, sowie Ein- und Zweifamilienhäusern bereinigt und optimalerweise auch um Haushalte, die im selbstgenutzten Eigentum wohnen. Die Ein- und Zweifamilienhäuser wurden entfernt, da sich die Mietpreisbildung oft nach Kriterien richtet, „die einer Normierung nur schwer zugänglich sind, wie der Größe und Ausrichtung des Gartens (Süd- oder Nordausrichtung) oder besonderen Ausstattungsmerkmalen (z.B. Sauna, Kamin). Zudem variieren hier auch

die Wohnungsgrößen sehr stark, so dass der Ausweis einer ortsüblichen Vergleichsmiete in diesem Segment nur bedingt möglich ist.“ (BBSR 2020, S. 35). Zudem wurde diese Auswahl mit dem Arbeitskreis Mietspiegel abgestimmt (ebd. S. 14). Aus dieser Grundgesamtheit wird eine Stichprobe von 4.000 Haushalten gezogen, was in Koblenz einer Quote von etwa 10 % entspricht. Die angeschriebenen Mieter:innen sind verp ichtet, Angaben zur Wohnung und zum Vermieter zu tätigen. Ist die Wohnung nach den Kriterien eines quali zierten Mietspiegels relevant, werden anschließend die Vermieter:innen angeschrieben.

Vorteile dieses aufwändigen Verfahrens liegen auf der einen Seite in der zielgruppengerechten Gestaltung der Fragebögen. Die Inhalte des Mieterfragebogens beziehen sich auf den Mietvertrag und auf Angaben zur Ausstattung und Lage der Wohnung. Der Fragebogen für die Vermieter konzentriert sich auf Aspekte, die generell von den Mietern nicht beantwortet werden können. So werden die Vermieter:innen nach durchgeführten Modernisierungen und der energetischen Ausstattung der Wohnung gefragt.

Stichprobe

4.000 Mieterhaushalte erhaltenper Post Zugangsdaten für einen online-Fragebogen

Start 1. Juli ´22

Mieter:innen

mietspiegelrelevant, Vermieteradresse

Auf der anderen Seite werden relevante Faktoren zum Mietvertrag bei beiden Zielgruppen erfragt. Dadurch kann sichergestellt werden, dass nur konsistente Fragebögen in die Berechnung des Mietspiegels eingehen. Um dies zu überprüfen wurden kritische Datensätze einer individuellen Prüfung unterzogen. Als kritisch wurde eine Abweichung bewertet, wenn die Angaben der beiden Parteien zur Wohn äche um mehr als +/-10%, diejenigen zur Nettokaltmiete um mehr als +/-5 % di erierten. Waren die Angaben von Vermieter:innen und Mieter:innen nicht plausibel wurde die Annahme getroffen, dass die Angaben beider Parteien zu unterschiedlichen Wohnungen gehörten. Daraufhin wurden die Angaben der Vermieter:innen gelöscht und nur die Mieter:innendaten in die weitere Analyse aufgenommen. Nachfassen, bei Abbruch vor Relevanzfeststellung oder fehlerhaften Vermieterdaten

wöchentlich

1215 Juli

477 Aug. 200 Sep.

Arbeitsdatensatz

Ziel: 1.500 gültige Wohnungsdatensätze

Frist: 30. Sep. ´22

Vermieter:innen

Vermieter erhalten per Post Zugangsdaten für einen online-Fragebogen

88 STADTFORSCHUNG UND STATISTIK 2|2023 Statistik & Informationsmanagement
ungültig
Screening
Abb. 2: Schematische Darstellung der Erhebungsmethode

Dies ist ein weiterer Pluspunkt für eine belastbare Datengrundlage und ein wichtiges Qualitätskriterium. Abbildung 2 erläutert dieses Vorgehen auf schematische Weise.

Zusätzlich wurden Informationsunterlagen für die Bürger:innen und Institutionen auf der Internetseite des Koblenzer Mietspiegels bereit gestellt, wie beispielsweise eine Liste „Häu g gestellte Fragen“ und Ansichtsexemplare der Fragebögen. Zudem wurde die Telefonzentrale der Stadt mit relevanten Informationen zur Mietspiegelerhebung und im Besonderen zur Auskunftsp icht ausgestattet.

Die Online-First-Methode wurde aus Kosten- und organisatorischen Gründen gewählt. Aufgrund der für diese aufwändige Erhebung knappen Feldphase war es wichtig, schnell über die Vermieterdaten zu verfügen, um den Start der Vermietererhebung nicht zu verzögern. Zudem konnte durch die Filterführung im Online-Fragebogen automatisiert festgestellt werden, welche Wohnungen mietspiegelrelevant und somit für die Vermietererhebung in Frage kommen. Bei einer rein schriftlich-postalischen Erhebung mit Papierfragebogen, wäre die Vermietererhebung erst mit einer mehrwöchigen Verzögerung gestartet, da die manuelle Erfassung der Erhebungsdaten aus den Papierbögen erst nach deren Eintre en in der Fachdienststelle für Kommunalstatistik und Stadtforschung begonnen hätte.

Vorgehen zur Umsetzung der Auskunftsp icht

Gegen die Auskunftsp icht nach §4 des MsRG verstößt, wer eine Auskunft nicht, nicht rechtzeitig, nicht richtig oder nicht vollständig erteilt.

Die Konzeption der Erhebung war auf die rechtzeitige Auskunftserteilung ausgerichtet. Erfolgte die Auskunft nicht bzw. nicht fristgerecht, war damit eine Ordnungswidrigkeit begangen und ein entsprechendes Bußgeldverfahren wurde eingeleitet.

Der Fragebogen für die Mieter:innen folgte der Reihenfolge: Zuerst Fragen in Bezug auf die Mietspiegelrelevanz ihrer Wohnung, dann zum Mietvertrag und zur Miethöhe, und schließlich die Vermieterangaben. Auf fehlenden Rücklauf oder nicht vollständige Auskünfte wurde folgendermaßen reagiert: Diese Personen erhielten einen Brief mit einem erläuternden Anschreiben und einem Papierfragebogen mit Rückumschlag. Weiterhin wurde in den beiden online-Fragebögen angegeben, welche Fragen nicht ausgefüllt werden müssen bzw. welches P ichtfragen sind. Personen mit schlechten Deutschkenntnissen konnten so ermuntert werden, den Fragebogen so gut es geht auszufüllen. Gleiches galt für Wohnungsverwaltungen, die über keine vollständigen Informationen zum Renovierungs- und Sanierungsstand der Wohnung verfügten.

Ob eine Auskunft richtig ist, lässt sich nur schwer feststellen. Lediglich der Abgleich der in beiden Fragebögen identisch gestellten Fragen würde die Überprüfung zulassen. Im Rahmen der Datenbereinigung wurde dies auch vorgenommen. Allerdings hatten abweichende Daten nicht zur Folge, dass ein Ordnungswidrigkeitsverfahren eingeleitet wurde. Auch wäre im Vorfeld zu ermitteln gewesen, wer von den beiden Auskunftsp ichtigen die falsche Aussage getro en hat.

Wichtiger ist unserer Ansicht nach die Prüfung, ob Personen, die behaupten Eigentümer:in der angeschriebenen Wohnung zu sein, dies tatsächlich auch sind. Die aktuelle Erhebungsmethode sieht nämlich vor, dass diese Personen keine weiteren Angaben tätigen müssen. Um sich dem „Aufwand“ des Ausfüllens zu entziehen, könnten Auskunftsp ichtige auf die Idee kommen, diese falsche Aussage zu tätigen. Wie allerdings organisatorisch und rechtlich mit diesem Problem zukünftig umgegangen werden kann, muss noch geklärt werden. Grundsätzlich wurde die neu eingeführte Auskunftsp icht in allen Anschreiben und in allen weiterführenden Informationen zentral erwähnt. Die Telefonzentrale war ebenfalls dahingehend geschult, dies gegenüber allen Anrufenden zu erwähnen.

Die Feldphase

Die Feldphase startete am 1. Juli 2022 mit 4.000 Anschreiben an Mieter:innern. Von diesen konnten 113 nicht zugestellt werden. Die Antwortfrist wurde auf den 15. Juli 2022 gesetzt. Anschließend wurden täglich Papierfragebögen mit Frist von 14 Tagen nach Erhalt des Schreibens an die Mieter:innen versendet, die diesen in der Fachdienststelle für Kommunalstatistik und Stadtforschung angeforderten. Insgesamt beläuft sich der Anteil an Papierfragebögen auf 14%. Abbildung 3 zeigt, dass der Anteil der angeforderten Papierfragebogen ab einem Alter von 65 Jahren sprunghaft ansteigt. Dennoch haben 58% der über 80-Jährigen den Mieterfragebogen online ausgefüllt.

Mieter:innen, die den online-Fragebogen frühzeitig abgebrochen oder unzureichende Angaben zum Vermieter bzw. zur Vermieterin gemacht haben, wurden erneut angeschrieben, darauf aufmerksam gemacht und um Vervollständigung der Angaben gebeten.

Eine erste Erinnerung wurde mit Datum vom 20. Juli und Frist 1. August 2022 an 1.736 Personen verschickt. Die zweite Erinnerung mit Datum vom 3. August und Frist 15. August 2022 wurde an 709 Personen verschickt. Diese Erinnerung enthielt den Papierfragebogen plus kostenfreien Rückumschlag. Das Mahnverfahren startete am 14. September 2022 mit dem Versand von 171 Anhörungsbögen.

Abbildung 3 zeigt deutlich, dass bereits nach dem ersten Anschreiben die Mehrheit den Fragebogen ausfüllte. Weitere 1.026 Personen nahmen nach dem ersten Erinnerungsschreiben teil, so dass zu diesem Zeitpunkt der Brutto-Rücklauf bereits bei 83% lag.

Dabei ist anzumerken, dass bei der Erstellung eines qualizierten Mietspiegels eine hohe Rücklaufquote alleine nicht ausreicht. Relevant sind im Ende ekt die Anzahl und Verteilung der Wohnungen, die die Kriterien für einen quali zierten Mietspiegel erfüllen. Die Anzahl der relevanten Wohnungen muss zwei Kriterien erfüllen. Auf der einen Seite muss die Anzahl groß genug sein, um auch statistische Laien zu überzeugen, dass auf deren Grundlage die ortsübliche Vergleichsmiete berechnet werden kann. Auf der anderen Seite müssen die Daten den Anforderungen der quantitativen empirischen Sozialforschung genügen, um für verschiedene Datenanalysemethoden genutzt werden zu können.

STADTFORSCHUNG UND STATISTIK 2|202389 Statistik & Informationsmanagement

Abb. 3: Übersicht Rücklauf der Mietererhebung

Abb. 4: Ausschlussfälle Mieterdatensätze nach Ausschlussgrund (erste Stufe des Screenings)

90 STADTFORSCHUNG UND STATISTIK 2|2023 Statistik & Informationsmanagement

Insgesamt meldeten uns 380 Personen zurück, dass Sie im Eigentum wohnen oder Untermieter einer Wohnung sind, wie Abbildung 4 zu entnehmen ist. Insgesamt 443 Fragebögen wurden nicht berücksichtigt, weil die aktuell gezahlte Miete bereits seit mehr als 6 Jahren nicht geändert wurde. Aufgrund dieser Einschränkung entfallen etwa 22% der ausgegebenen Fragebögen.

In einem weiteren Schritt wurden die Wohnungen nicht berücksichtigt, die u.a. eine zu lange Vertragslaufzeit aufwiesen, einer Mietpreisbindung unterlagen oder lückenhafte Basismerkmale (Nettokaltmiete, Baujahr, Wohn äche) aufwiesen. Die daraufhin verbliebenen 1.986 Wohnungen bilden die Basis für die Vermieter-Erhebung.

Vermieter:innen-Erhebung

Die Vermieter-Erhebung startete am 12. Juli mit einem Anschreiben an 591 private Vermieter:innen bzw. einzelne Wohnungsunternehmen. Es folgten neun weitere Wellen, jeweils für die Wohnungen, deren Mieter in den Tagen zuvor teilgenommen hatten und die relevant für die Mietspiegelerstellung waren. Die großen Wohnungsunternehmen erhielten eine Zusammenstellung der Wohnungen, für die Angaben benötigt wurden.

Am 5. September wurde erstmals an 188 private Vermieter:innen und einzelne Wohnungsunternehmen eine erste Erinnerung verschickt. Insgesamt reagierten bereits 80% der Vermieter:innen auf das erste Anschreiben. Nur 12% erhielten eine erste, 4% eine zweite Erinnerung und 21 Personen bzw. Unternehmen wurden im Rahmen des Mahnverfahrens angeschrieben.

Bewertung der Erhebung

Die Entscheidung, o ensiv auf die Auskunftsp icht hinzuweisen, hat sich bewährt. Die hohe Rücklaufquote in Folge des ersten Anschreibens lässt sich darauf zurückführen. Da so die Anzahl an Erinnerungsschreiben reduziert werden konnte, wurden deutliche Einsparungen im Bereich der Druck- und Portokosten erzielt.

Die Entscheidung, die Erhebung unter dem Motto „OnlineFirst“ durchzuführen, führt zu ähnlichen Einsparungse ekten. Allerdings ist es hier wichtig, den Online-Fragebogen so anzupassen, dass die Abbruchquote verringert und gleichzeitig die Antwortqualität auf hohem Niveau gehalten wird.

Insgesamt ergab die Stichprobe mit 4.026 Wohnungen 1.897 für die Mietspiegelerstellung verwertbare Datensätze. Dies stellt eine Ausschöpfungsquote von 47% dar. Zum Vergleich: Im Jahr 2018 ohne Auskunftsp icht betrug diese lediglich 5%. Die Unit-Nonresponsequote lag bei 4%.

Das Mahnverfahren

Die Auskunftsp icht im Mietspiegelreformgesetz ndet sich in § 4 Bußgeldvorschriften und lautet

„(1) Ordnungswidrig handelt, wer vorsätzlich oder fahrlässig entgegen §2 Absatz 1 oder 2, jeweils auch in Verbindung mit Absatz 3, eine Auskunft nicht, nicht rechtzeitig, nicht richtig oder nicht vollständig erteilt.

(2) Die Ordnungswidrigkeit kann mit einer Geldbuße bis zu fünftausend Euro geahndet werden.“

STADTFORSCHUNG UND STATISTIK 2|202391 Statistik & Informationsmanagement
Abb. 5: Rücklauf Vermietererhebung

Die Durchsetzung der Auskunftsp icht in Koblenz bezog sich hauptsächlich auf die nicht erteilte Auskunft und wird in Abbildung 6 schematisch dargestellt.

Für die Mieter:innen bzw. Vermieter:innen, die auch auf das zweite Erinnerungsschreiben nicht reagierten, wurde ein Mahnverfahren durchgeführt. In einem ersten Schritt erhielten 171 Mieterinnen und 21 Vermieter:innen einen Anhörungsbogen nach § 55 OWiG, in dem Sie sich zum Tatvorwurf äußern konnten. Antworteten die Personen nicht auf dieses Schreiben, so war dies nach §111 OWiG ebenfalls eine Ordnungswidrigkeit.

Anhand der Angaben im Anhörungsbogen wurde entschieden, ob ein Verwarngeld oder ein Bußgeld angesetzt wurde. Die Höhe des Verwarngelds wurde nach einem Bewertungsschema auf 20€ bzw. 25€ festgelegt, das Bußgeld auf 70€.

Ein Bewertungsschema wird benötigt, damit die Verwaltungsentscheidung im Falle eines Einspruchs nachvollziehbar begründet werden kann. Das in Koblenz verwendete sah vor, dass das Verfahren eingestellt wurde bei -einer stark einschränkenden Krankheit, -einem Krankenhausaufenthalt, oder wenn - der Brief nicht zugestellt werden konnte und dies plausibel begründet wurde.

Ein Verwarngeldangebot wurde angeboten, wenn ein ausgefüllter Anhörungsbogen plus plausibler Begründung bzw. einsichtiger Entschuldigung vorlag. Ein Bußgeld wurde verhängt, wenn es auf den Versand des Anhörungsbogens keine Reaktion bzw. keine Annahme des Verwarngeldangebots gab.

Insgesamt wurde an 22 Mieter:innen ein Verwarngeldangebot und an 73 ein Bußgeldbescheid versandt. Die übrigen Verfahren wurden eingestellt. Da 10 Personen das Verwarngeldangebot nicht annahmen, erhielten diese Personen im Anschluss einen Bußgeldbescheid.

Von den 21 Institutionen bzw. Privatvermietern im Mahnverfahren wurden aufgrund der Angaben im Anhörungsverfahren ein Verfahren eingestellt, ein Verwarngeldangebot erteilt und 9 Bußgeldbescheide ausgestellt.

Bewertung der Repräsentativität

Im Folgenden werden die Modellierungsdaten mit der Auswahlgesamtheit verglichen. Modellierungsdaten sind dabei die Daten, die mietspiegelrelevant nach Mietspiegelverordnung, Unterabschnitt 1 sind.

Abbildung 7 zeigt teils deutliche Abweichungen in den einzelnen Baualtersklassen. Dabei sind die älteren Baujahre in den Modellierungsdaten unter- und die jüngeren überrepräsentiert. Grund dafür könnten durch Kernsanierung aktualisierte Baualtersklassen darstellen, die im Mietspiegel so angegeben, jedoch so nicht in der statistischen Gebäudedatei enthalten sind bzw. nachgehalten werden. Zudem ndet sich ein hoher Anteil für die Mietspiegelerstellung nicht relevanter Wohnungen in den älteren Baualtersklassen.

Der Vergleich der Modellierungsdaten in Bezug auf die Lage im Stadtgebiet in Abbildung 8 zeigt ein anderes Bild. Es ndet sich eine fast 100% Passung der Daten mit der Auswahlgesamtheit. Zudem ist hier zu bemerken, dass Gebiete mit hohem sozialen Belastungsindex in früheren Mietspiegelerhe -

92 STADTFORSCHUNG UND STATISTIK 2|2023 Statistik & Informationsmanagement
Abb. 6: Schematischer Ablauf eines Bußgeldverfahrens

bungen deutlich unterrepräsentiert waren. Diese Gebiete sind zudem meist durch bestimmte Wohnmerkmale gekennzeichnet, deren Ein uss sonst aufgrund einer möglichen geringen Fallzahl keine Signi kanz erlangen konnte und somit nicht im Mietspiegelmodell enthalten waren.

Angefallene Sach- und Personalkosten

Die Portokosten belaufen sich auf insgesamt rd. 6.000 €. Damit liegen diese deutlich unter den Kosten, die in den Jahren 2014 und 2018 angefallen sind. Grund dafür ist der deutlich kleinere

Stichprobenumfang, die erhöhte Ausfülldisziplin aufgrund der Auskunftsp icht und im Vergleich zu 2014 die OnlineErhebung der Daten.

Die Personalkosten errechnen sich über einen Zeitraum von rd. 5 Monaten mit 1,2 Stellen. Davon entfallen 0,5 Stellen auf die Projektleitung und 0,7 auf die Projektunterstützung. Für den Druck und Versand der Briefe wurde die interne Infrastruktur der Hausdruckerei genutzt. Aufgrund der erstmaligen Umsetzung der Auskunftsp icht und allgemein fortschreitender Digitalisierung wird der Aufwand der nächsten Neuerstellung voraussichtlich etwas geringer ausfallen.

Abb. 7: Vergleich der strukturellen Zusammensetzung der Wohnungen in der Auswahlgesamtheit und in den Modellierungsdaten nach dem Baualter der Wohngebäude

Abb. 8: Vergleich der prozentualen Verteilung der Wohnungen in der Auswahlgesamtheit und in den Modellierungsdaten nach der Lage im Stadtgebiet

STADTFORSCHUNG UND STATISTIK 2|202393 Statistik & Informationsmanagement

Verbesserungen/Lessons Learned

Alle Mietspiegelerhebungen be nden sich in einer ständigen Schleife der Qualitätssicherung. Es wird stets parallel eine Lessons Learned-Datei geführt, die zur Konzeption der nächsten Erhebung gesichtet und bewertet wird.

Anmerkungen und Beschwerden von Bürger:innen z. B. zum Mietspiegelrechner werden gelistet genauso wie Anmerkungen von Gutachter:innen und Sachverständigen. Dadurch be ndet sich der Mietspiegel in einem stetigen Verbesserungs- und Anpassungsprozess.

Für die nächste Erhebung ist geplant, durch Absprachen mit der Deutschen Post die Zustellung der Briefe zu verbessern (oder dies zumindest anzusprechen). Zudem soll der Fragebogen massiv gekürzt werden. Streichkandidaten stellen z.B. Items dar, die bereits mehrfach erhoben wurden, jedoch im Mietspiegelmodell keine Di erenzierung bewirken.

Zudem wird vermutlich der Selektionsprozess für die Ermittlung relevanter Wohnungen angepasst, um die Kriterien der Auskunftsp icht hinsichtlich Richtig- und Vollständigkeit besser überprüfen zu können.

Abschließende Bewertung der Umstellung aufgrund des MsRG

Fazit: Die Organisation der Feldphase, insbesondere die Rücklaufkontrolle und Organisation der Erinnerungsschreiben stellt kleine Teams vor eine enorme Arbeitsmenge. Hinzu kommen die angeforderten Papierfragebögen und die Bürgerkontakte. Insgesamt wurden allein in der Fachdienststelle Kommunalstatistik und Stadtforschung mehrere hundert Telefonate geführt und rd. 600 E-Mails beantwortet.

Die Rückläufe mussten täglich gesichtet, bewertet und verarbeitet werden. Die Anforderungen an das zuständige Personal waren wesentlich höher als bei „einfachen“ Umfragen.

Insbesondere das Mahnverfahren stellt bei erstmaliger Anwendung einen wesentlichen Mehraufwand dar. Dies gilt vor allem für Städte, die nicht über eine zentrale Bußgeldstelle oder eine entsprechende Software verfügen, sich also selbst in

die Thematik einarbeiten und diverse Vorlagen und Prozesse erstellen müssen.

Die wesentlich belastbarere Datengrundlage rechtfertigt im Ergebnis aber diesen erhöhten Aufwand. Insbesondere die verp ichtende Angabe der Vermieterdaten ist ein Mehrwert bei dieser Form der durchgeführten kombinierten MieterVermietererhebung, da im Vergleich zu den Vorjahren deutlich mehr gepaarte Datensätze in die Analyse ein ießen konnten. Zudem wird der E ekt der Non-Response verringert, so dass die dadurch entstandene Verzerrung der Daten ebenfalls verringert werden konnte.

Daher lässt sich abschließend feststellen, dass die Problematik der Bewertung der Repräsentativität der verfügbaren Daten durch die seit dem 1. Juli 2022 gesetzlich verankerte Auskunftsp icht ganz erheblich entschärft wurde. Die in Koblenz durchgeführte Kombination eines Zufallsauswahlverfahrens aus einer bereinigten, alle relevanten Befragungseinheiten umfassenden Gesamtheit mit einer hohen Auswahlquote von fast 10% aus dieser Gesamtheit und einer unter 5% liegenden Unit-Nonresponsequote sowie einer fast 50 %-igen Ausschöpfungsquote kann als Garant für die Repräsentativität der Stichprobe zur Modellierung des quali zierten Mietspiegels 2023 der Stadt Koblenz bewertet werden.

Wie in den vorhergehenden Jahren erfolgte die förmliche Anerkennung als quali zierter Mietspiegel sowohl durch die Interessensvertretungen der Vermieter:innen und Mieter:innen am 2. März 2023 als auch durch einen einstimmigen Beschluss des Koblenzer Stadtrats in seiner Sitzung vom 16. März 2023.

Obwohl es laut Mietspiegelreformgesetz ausreicht, das Prädikatmerkmal „Quali ziert“ zu erhalten, wenn nur eine Partei (Interessensverbände oder Stadtrat) zustimmt, dass der Mietspiegel nach wissenschaftlichen Kriterien erstellt wurde, wurde weiterhin an der seit 2006 verfolgten Verfahrensart festgehalten. Dadurch soll insbesondere die Akzeptanz des Mietspiegels in der Bevölkerung sichergestellt werden.

Weitere Infos zur Datenanalyse und den Ergebnissen nden sich in der Dokumentation der Mietspiegelerstellung auf www. mietspiegel.koblenz.de

Literatur

Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (BBSR) (2020): Hinweise zur Erstellung von Mietspiegeln, Bonn Klöppel, Sebastian (2018): Gute Mietspiegel für Kommunen und ihre Bürger/innen. Fachtagung „Rechtssichere Mietspiegel für heute und morgen: Aktuelle Handlungsempfehlungen für Kommunen“. Folie 6, Deutscher Städtetag, 19. September 2018, Köln Kommunalstatistik und Stadtforschung (2023): Der quali zierte Mietspiegel für Koblenz 2023/2024. Dokumentation der Neuerstellung, Stadtverwaltung Koblenz.

94 STADTFORSCHUNG UND STATISTIK 2|2023 Statistik & Informationsmanagement

Von der Wissenschaftsstadt zur Smart City

25 Jahre Wissenschaftsstadt Darmstadt

Seit der Verleihung des Titels „Wissenschaftsstadt“ an Darmstadt im Jahr 1997 hat sich die Stadt in Bezug auf die demogra sche, wirtschaftliche, soziale, kulturelle und institutionelle Entwicklung deutlich verändert. Die rasante Zunahme an Einwohner*innen in den letzten 25 Jahren hat viele positive Aspekte mit sich gebracht, jedoch auch Fragen nach sozialer Gerechtigkeit, modernen Mobilitätsangeboten und bezahlbarem Wohnraum aufgeworfen. Drastische Veränderungen der Wirtschaftsstruktur führten zu modernsten Arbeitsplätzen, aber auch zu einer drastischen Zunahme an Pendlerbewegungen in die Stadt mit den typischen Problemen von Umweltbelastung, Lärm und Staus.

Am Anfang stand die Skepsis: Als der Stadt Darmstadt der Titel „Wissenschaftsstadt“ verliehen wurde, kommentierten die Bürger*innen das eher zurückhaltend. Teile der Stadtgesellschaft reagierten sogar mit Spott und Hohn auf diese Ehrung. Es war der Endpunkt einer langen historischen Entwicklung, die die Rolle Darmstadts bezüglich Wissenschaft, Forschung und Kunst würdigte: Am 13. August 1997 verlieh die Hessische Landesregierung der Stadt Darmstadt den Ehrentitel „Wissenschaftsstadt‘‘. Seitdem hat sich die Gesamtlage Darmstadts drastisch und positiv verändert: Eine äußerst gute Entwicklung in demogra scher Hinsicht, die Verbesserung der Lage auf dem Arbeitsmarkt, die starke Zunahme wissenschaftlicher Einrichtungen und moderner Start-Up-Unternehmen in der Stadt und nicht zuletzt der Gewinn des Bitkom-Wettbewerbs „Digitale Stadt“ belegen dies. Mit der Verleihung des WelterbeTitels für Darmstadts Mathildenhöhe und die dortige Jugendstil-Künstlerkolonie ist auch eine weltweite Anerkennung des „Aufbruchsorts für Kultur, Architektur und Lebensstil“, so OB Partsch in seiner Würdigung, verbunden.

Die demogra sche Entwicklung Darmstadts

Au ällig ist die positive demogra sche Entwicklung: Darmstadt steht derzeit auf Platz 50 der bevölkerungsstärksten Städte Deutschlands, vor 25 Jahren war die Stadt im Ranking noch auf Platz 57. Bereits in 1971/72 wurde mit knapp über 142.000 Einwohnern ein Höhepunkt an Einwohnerzuwachs erzielt. Jedoch begann anschließend eine langwährende Phase der Suburbanisierung mit Bevölkerungsverlusten insbesondere an den benachbarten Kreis Darmstadt-Dieburg, die nur Anfang der 1990er-Jahre eine kurze Unterbrechung durch die demogra schen Sondere ekte der deutschen Einheit erfuhr.

Studium an der Albert-Ludwigs-Universität in Freiburg, Assistent am Freiburger Institut für Soziologie, Mitarbeiter am ÖkoInstitut Freiburg und Darmstadt. Von 1998 bis 2019 Leiter der Abteilung Statistik und Stadtforschung im Amt für Wirtschaft und Stadtentwicklung in der Wissenschaftsstadt Darmstadt. : gbachmann@gmx.info

Schlüsselwörter:

Kommunalstatistik – Demogra e – Smart City –Monitoring – Sozialberichterstattung – Darmstadt

Die eigentliche Trendwende in der Bevölkerungsentwicklung vollzog sich ab 1998, und damit früher als im Bundesdurchschnitt anderer Großstädte. Seither stieg die Bevölkerungszahl in Darmstadt von 1998 mit 135.315 Einwohner*innen kontinuierlich an, bis sie 2022 mit rund 164.000 Personen einen historischen Höchststand erreichte. Die Corona-Pandemie führte vorübergehend zu einer Stagnation der weiteren Bevölkerungsentwicklung und zu Bevölkerungsverlusten ins nahe Umland – ein E ekt, der bei Städten mit hohen Immobilienkosten deutschlandweit beobachtet werden konnte. In 2023 jedoch wurde die „Corona-Delle“ mit einer Einwohnerzahl über 165.000 Personen wieder ausgeglichen1

STADTFORSCHUNG UND STATISTIK 2|202395 Historie

Festgehalten werden muss, dass aus einer bezogen auf die Bevölkerungszahl schrumpfenden Stadt der neunziger Jahre eine „Schwarmstadt“ geworden ist, die immer noch junge Studierende und hochquali zierte Beschäftigte anzieht. Heute hat jede:r vierte Darmstädter Beschäftigte mindestens einen Hochschulabschluss: ein in Deutschland besonderer Spitzenwert, der nur von wenigen anderen deutschen Städten erreicht wird. In den letzten Jahren ist aufgrund der hohen Immobilien- und Mietpreise tendenziell ein Abwandern von Familien mit deutscher Staatsbürgerschaft ins Umland festzustellen, da moderne Homeo ce-Konzepte die Nähe zum Arbeitsplatz in der Stadt nicht mehr zwingend erfordern. Der positive Zuwanderungssaldo wird überwiegend durch Flüchtlinge aus der Ukraine und andere Migrant*innen bewirkt.

Moderne Unternehmen und Zukunftsfähigkeit der Wirtschaft

Bei verschiedenen Rankings der letzten Jahre hat Darmstadt hervorragend abgeschnitten, zumeist bei Indikatoren wie der demogra schen Entwicklungsperspektive, der Zahl der Unternehmen mit modernen Dienstleistungsangeboten oder bei der Zukunftsfähigkeit der Wirtschaft. So belegt die Stadt derzeit Rang 31 in der Rangliste der deutschen Städte nach Wirtschaftsleistung.

Auch der Arbeitsmarkt, die Anzahl modernster Unternehmen und die Wirtschaftsbereiche sind heute anders als vor 25 Jahren. Die Wahrnehmung der Darmstädter*innen in Bezug auf die Reputation der Stadt hat sich in den letzten 20 Jahren deutlich positiv verändert – seien es die deutlich höheren Studierendenzahlen, die gewachsene Zahl der europa- bzw. weltweit anerkannten Forschungseinrichtungen in der Stadt wie die GSI oder die Fraunhofer-Institute, die Erfolge der ESA bezüglich der Saturn-Titan-Mission oder der Kometensonde Rosetta.

Dies belegen unter anderem die Ergebnisse der repräsentativen Bürgerumfragen, die alle drei Jahre durchgeführt wurden. Demnach stieg die Zustimmung der Bürger:innen zur Frage, ob Darmstadt eine Wissenschaftsstadt sei, von zuerst 82,2 in 2006 auf 97,5 Prozent im Jahr 20184

Studierende und Universitäten in Darmstadt

Im Jahr 1877 erhielt Darmstadt seine erste Universität, als Großherzog Ludwig IV. der polytechnischen Schule den Titel „Großherzoglich Technische Hochschule zu Darmstadt“ verlieh. Damit war die Vorläuferinstitution der Technischen Hochschule bzw. der heutigen Technischen Universität gegründet. Sie hat immer wieder Spitzenleistungen in Forschung und Lehre hervorgebracht und neue Entwicklungen angestoßen. So hat sie 1882 den Elektroingenieur „erfunden“: Der weltweit erste Lehrstuhl für Elektrotechnik wurde in Darmstadt eingerichtet. Die Unternehmen in der Stadt und der Region pro tieren vom hochquali zierten wissenschaftlichen Nachwuchs, der durch die drei großen Darmstädter Universitäten durch enge Kooperationen, Drittmittelforschung und Personaltransfer unterstützt wird.

Grundlage für die hohe Zahl der Beschäftigten mit hoher Quali kation sind die modernen Dienstleistungsbereiche, aber auch der industrielle Kern der Firmen, die weltweit aktive Cluster im Bereich Chemie, Pharmazie und mechatronische Unternehmen bilden. Ferner trägt der exzellente Cluster von IT- und Software-Unternehmen und der große Cluster wissenschaftlicher Institutionen mit Weltraummissionen (ESA/ESOC), Wettersatelliten (EUMETSAT), Hochenergiephysik (Gesellschaft für Schwerionenforschung GSI), mit IT u.a. zu diesem Pro l Darmstadts bei. Im Bereich der Forschung sind die Fraunhofer-Institute ebenso bedeutsam wie die drei Universitäten mit Technischer Universität, Hochschule und Evangelischer Hochschule.

Au ällig ist auch der starke Zuwachs in der Zahl der Studierenden seit Einführung des Titels Wissenschaftsstadt. Auch die Schwerpunktverlagerung der Studienfächer von den reinen Ingenieurswissenschaften zu mehr Angeboten im Bereich Sozialwissenschaften, z. B. an der TU, hat zur hohen Attraktivität Darmstadts als Studienort beigetragen. Insgesamt sind heute rund 45.000 Studierende an den drei Hochschulen der Stadt eingeschrieben. Au ällig ist jedoch, dass die Zahl der Studierenden, die direkt in Darmstadt wohnt, wegen der hohen Immobilien- und Mietpreise stagniert.

Neben den Universitäten gibt es vielfältige weitere Bildungseinrichtungen sowie Bibliotheken, Museen und Archive, die den Darmstädter „Bildungscluster“ erweitern.

96 STADTFORSCHUNG UND STATISTIK 2|2023 Historie
Abb. 1: Mathildenhöhe Darmstadt, Foto von Thomas Wolf 2 Abb. 2: Haupt-Kontrollraum Europäisches Raum ugkontrollzentrum (ESOC) in Darmstadt 3

Von der Wissenschaft zur Datenplattform der Smart City

Ein weiteres Ereignis zeigt die Zukunftsfähigkeit der Stadt auf: Am 12. Juni 2017 gewann Darmstadt den Bitkom-Wettbewerb „Digitale Stadt“ gegen vier starke Konkurrenten. Damals erklärte Oberbürgermeister Jochen Partsch den Gewinn des Wettbewerbs damit, dass dies das Ergebnis jahrelangen Vordenkens und Vorarbeitens gewesen sei, um für Europa zur digitalen Vorzeigestadt zu werden.

Am Ausbau zu einer digitalen Vorzeigestadt beteiligte sich ein breites Bündnis aus Digitalunternehmen, Universitäten und Forschungseinrichtungen.

So wurden seit 2018 beispielsweise die Bereiche Verkehr, Energieversorgung, Schulen und Gesundheitswesen mit digitalen Technologien ausgerüstet. In einer „intelligenten Stadt“ erfassen Sensoren viele Daten und liefern so neue Informationen. Auf der städtischen Datenplattform (Abb. 3) werden diese, Verkehrs- und Mobilitätsdaten aller Art und wichtige ökologische Daten, mittlerweile verö entlicht und visualisiert5

Smart City-Vorbild Santander

Mit dem Smart City-Projekt steht Darmstadt in Europa nicht alleine. So hat die nordspanische Stadt Santander mit EUMitteln eine ähnliche Datenplattform aufgebaut: Sensoren übermitteln Daten aus dem gesamten Stadtgebiet an die zentrale Plattform, täglich sind es mehr als 150.000 Einzelinformationen. Santander ist mit fast 200.000 Einwohnern die größte Stadt der Region und gehört zu den 40 bevölkerungsstärksten Städten in Spanien. Santander ist Pilotprojekt für eine Smart City, dazu wurde die Stadt seit 2014 mit über 20.000 Sensoren vernetzt.

Ziel war es, aus Santander eine „Smart City“ zu machen, in der ö entlicher Nahverkehr, die Parkplatzsuche, die Müllab -

fuhr, die Straßenbeleuchtung sowie die Bewässerung der Parkanlagen bedarfsangepasst digital gesteuert werden können. Dazu gehören auch die Datenerhebung über die Schadstobelastung sowie der Lärmpegel an ausgesuchten Punkten. Ein interessantes Projekt galt der Müllabfuhr in Santander: Ein Großteil der Container für Papier, Glas, Plastik wurde mit Sensoren ausgestattet. Diese senden ein Signal an die Service rma, wenn die Container zu 90 Prozent gefüllt sind. Auf diese Weise werden unnötige Fahrten zu nur halb vollen Containern vermieden; gleichzeitig bleibt den Einwohnern von Santander der andernorts übliche Anblick von Müll erspart, der sich auf der Straße und den Fußwegen stapelt, weil die Müllabfuhr nicht rechtzeitig erledigt wird. Zwar ist die Müllabfuhr in Santander in privaten Händen, das Konzept der digitalen Mülleimer wäre für Darmstadt und ihre Probleme eine möglicherweise interessante Lösung.

Eine Weiterentwicklung von Konzepten zur Smart City Darmstadt wird derzeit mit dem EU-geförderten Projekt SALTED verfolgt, welches deutlich mehr Indikatoren und Messwerte verbinden und visualisieren kann. Sie sollen der Verkehrslenkung und -steuerung sowie umweltschonender Verkehrskontrolle dienen, was aufgrund der Verkehrsdichte, der Staus und der Umweltbelastungen in der Stadt notwendig ist.6

Soziale Situation und Sozialberichterstattung in Darmstadt

Die Sozialberichterstattung in der Wissenschaftsstadt Darmstadt hat eine lange Tradition: Bereits 1995 wurde der erste Armutsbericht verö entlicht. Seither hat sich die Berichterstattung kontinuierlich weiterentwickelt und verfeinert. Vor allem die Verfügbarkeit kleinräumiger Daten, an der die Statistikstelle entscheidend beteiligt war, spielt seit 1999 eine wichtige Rolle bei der Analyse von Armut in der Stadt. Da die

Abb. 3: Datenplattform mit aktuellen Umweltdaten und Daten zur Verkehrsbelastung

STADTFORSCHUNG UND STATISTIK 2|202397 Historie

Stadt nur bedingt Ein uss auf bundesweite Entscheidungen zur Sozialpolitik und Abwendung der Armut hat, ist aber der kommunale Handlungsspielraum im Bereich der Prävention sowie der Bekämpfung der Folgen der Armut mittels städtischer Finanzen und Projekte gegeben.

Abb. 4: Stadtviertel Eberstadt-Süd – ein Stadtviertel im SozialeStadt-Projekt 7

kommentiert die Perspektive so: „Insgesamt bleiben damit die Zukunftsaussichten für die Stadtbevölkerung ambivalent.“9

Pendlerbewegungen und Mobilität

Im 21. Jahrhundert zeichnet sich eine Wende bei der bislang vorherrschenden Art der Mobilität ab, da der motorisierte Individualverkehr in den Städten zunehmend zu erheblichen Problemen beiträgt. So war die PKW-Nutzung seit Mitte des vergangenen Jahrhunderts das große Versprechen der Mobilität für alle, Darmstadts Stadtentwicklung setzte in Bezug auf die Erreichbarkeit aller Orte – zum Leben, zum Arbeiten und zum Einkaufen – auf den individualisierten Autoverkehr.

Dieses Modell der Stadt ist – nicht erst in den letzten Jahren – an seine Grenzen gekommen, da mit der zunehmenden Verkehrsbelastung Kon ikte zwischen Verkehrsteilnehmern, die drastische Erhöhung der Luftschadsto e, der verkehrsbedingte Lärm und die zeitraubende Parkplatzsuche zugenommen haben. Neue Strategien für eine angemessene Mobilitätsinfrastruktur sind deshalb in Darmstadt „Top 1“ auf der politischen und gesellschaftlichen Tagesordnung.

Darmstadts aktueller Sozialatlas zeigt, wie seine Vorgänger, die Verteilung unterschiedlicher kleinräumiger, sozialer Daten für das Stadtgebiet auf und macht diese auf Basis der Abweichungen vom städtischen Durchschnitt miteinander vergleichbar. Dadurch lassen sich sowohl Stadtteile bzw. -viertel mit besonderem Handlungsbedarf als auch Stadtteile identi zieren, die geringe Werte beim erarbeiteten Sozialindex aufweisen.

Im Rückblick auf die soziale Entwicklung der letzten 25 Jahre zeigt sich, dass der besonders von sozio-ökonomischen Problemen betro ene Stadtteil Kranichstein im Norden der Stadt eine bessere Entwicklung genommen hat als der im Süden liegende Stadtteil Eberstadt-Süd/Kirchtannensiedlung. Während es in Kranichstein gelungen ist, die Stadtgesellschaft und viele Akteure für das Vorhaben „Soziale Stadt“ zu gewinnen, ist dies in der Kirchtannensiedlung weniger gut gelungen. In Kranichstein spielt vor allem die dortige Gesamtschule eine stark integrative Rolle, während in der Kirchtanne weiterhin eine überdurchschnittliche Segregation – nicht nur im schulischen Bereich – gegeben ist. Familien sind in beiden Stadtteilen von erschwerten ökonomischen Lagen betro en, wie sich an der relativ geringen Beschäftigungsquote, dem hohen Anteil an Leistungsbezieher*innen von Regelleistung nach SGB II und einem hohen Anteil an Mehrpersonenhaushalten zeigt.

Sowohl die Analyse der statistischen Bezirke als auch die der Schulbezirke verweisen auf eine sehr unterschiedliche Verteilung von Kinderarmut und Segregation in der Stadt: In der Erich Kästner-Schule (Kranichstein) sowie in der WilhelmHau -Schule (Eberstadt-Süd) sind die absolut höchsten Zahlen von Kindern in Armut festzustellen. In den beiden genannten Bezirken ist die Zahl der Alleinerziehenden am höchsten und damit auch das Armutsrisiko für die Kinder sehr hoch8. Walter Hanesch, lange Jahre Professor für Soziale Arbeit in Darmstadt,

Die oben skizzierte außerordentliche Erfolgsgeschichte Darmstadts in den letzten 20 Jahren hat also ihren Preis: Eine – im Vergleich zu anderen bundesdeutschen Städten – sehr hohe Anzahl von Pendler*innen fährt jeden Tag in die Stadt zum Arbeitsplatz oder zur Ausbildungsstätte und am Abend wieder zurück in die umliegenden Städte und Gemeinden, Sie trägt damit zu einer hohen Verkehrsbelastung bei. Die Zahl der Einpendler*innen, die sozialversicherungsp ichtig beschäftigt sind, beträgt derzeit rund 70.000 Personen, die Zahl der Auspendelnden rund 30.000. Zur Zahl dieser Einpendelnden kommt noch die Zahl der Studierenden mit rund 20.000 Personen sowie die der Selbständigen, Beamten, mithelfenden Angehörigen, Schülerinnen und Schülern, Auszubildenden, der Einkaufenden und Touristen, die in die Stadt kommen. Ferner trägt die Zahl der PKW und LKW im Rahmen des Lieferverkehrs in die und innerhalb der Stadt zu den hohen Verkehrsbelastungen bei. Darmstadt zählte bis vor kurzem zu den zehn mit Feinstaub am stärksten belasteten Städten in Deutschland und der EU-Grenzwert von 40 Mikrometern pro Kubikmeter Luft, zum Beispiel in der stark frequentierten Hügelstraße, wurde regelmäßig überschritten (EU-Richtlinie 99/30/EG von 1999, gültig seit 1. Januar 2005)10

In den letzten Jahren hat Darmstadt als Konsequenz die Fahrradinfrastruktur massiv ausgebaut: Neben Radschnellwegen wurden etliche Straßenzüge von zwei auf eine Spur für den motorisierten Verkehr zurückgebaut, 30-Stundenkilometer-Zonen bei belasteten Innenstadtstraßen eingeführt und die Zahl der Parkplätze in der inneren Zone reduziert, um den Autoverkehr zu vermindern. Dies hat zwar zu einer Reduzierung der Feinstaubproblematik und zur Lärmreduzierung beigetragen, führt jedoch auch zu massiven Protesten der Anwohner*innen, vor allem bei älteren Mitbürger*innen, die auf das Auto als Mobilitätsmittel angewiesen sind.

Politisch hat die neue Verkehrspolitik unter anderem dazu geführt, dass die älteren Wähler*innen in den äußeren Stadtteilen Darmstadts – als stärkste Wählergruppe – bei der Wahl zum Oberbürgermeister 2023 dem Kandidaten der SPD zum

98 STADTFORSCHUNG UND STATISTIK 2|2023 Historie

Sieg bei der OB-Wahl verholfen und damit ihrem deutlichen Protest Ausdruck verliehen haben. Unter anderem hat die Verkehrs- und Mobilitätspolitik dazu beigetragen, dass nach zwölf Jahren der Oberbürgermeister wieder von der SPD und nicht von den Grünen gestellt wird.

Fazit

Nach 25 Jahren kann festgestellt werden, dass die Verleihung des Titels „Wissenschaftsstadt“ Darmstadt zumindest darin unterstützt hat, eine prosperierende Stadt zu werden. Kulturell, demogra sch und wirtschaftlich hat sich die Stadt seit 1997 positiv entwickelt. Nach 25 Jahren ist Darmstadt auf dem Weg zu einer „Smart City“ mit guten Zukunftsaussichten, jedoch auch mit weiterhin vorhandenen sozialen Problemen und einer schwierigen Gemengelage bei der Modernisierung seiner Verkehrsproblematiken.

1 „Die Bevölkerungszahl Darmstadts im ersten Quartal 2023 ist deutlich auf 165.430 Einwohner*innen angestiegen“, siehe die Seiten der Abteilung Statistik und Stadtforschung auf der Darmstadt-Homepage www.darmstadt.de

2 Foto Mathildenhöhe Darmstadt: www.foto-tw.de , (https://commons. wikimedia.org/wiki/File:Darmstadt_Mathildenhöhe.jpg), „Darmstadt Mathildenhöhe“, https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/de/ legalcode

3 Haupt-Kontrollraum Europäisches Raum ugkontrollzentrum (ESOC) in Darmstadt, European Space Agency, ESOC ickr, Credit: ESA - Jürgen Mai, 20. Januar 2014 14:52

4 Alle Bürgerumfragen sind auf den Seiten der Abteilung Statistik und Stadtforschung auf der Darmstadt-Homepage www.darmstadt.de abrufbar

5 Internetadresse der Datenplattform: https://datenplattform.darmstadt.de/#!/tiles/

6 Siehe dazu die Verö entlichungen zur Umwelt- und Verkehrssituation in Darmstadt, Stadtforschung und Statistik: Bachmann 2016 und Bachmann 2020.

7Abbildung von Günther Bachmann, Juni 2023

8 Weitere Daten und Analysen zu Alleinerziehenden, zu Mehrpersonenhaushalten und zum Armutsrisiko in Stadtteilen nden sich im aktuellen Sozialatlas von 2018 auf der städtischen Internetseite. Ferner wurde mit dem Bildungsbericht von 2018 erstmals der Zusammenhang von Kinderarmut und Bildungsbenachteiligung erarbeitet. Als Überblicksartikel siehe auch Hanesch 2022.

9Hanesch 2022, S. 558

10Bachmann 2016

Literatur

Bachmann, Günther (2004). Zehn Jahre kleinräumige Sozialberichterstattung in Darmstadt, in: Frankfurter Statistische Berichte Nr. 2–3/2004, Frankfurt am Main 2004

Bachmann, Günther (2016). Umweltqualität und Umweltgerechtigkeit. Zur Kombination von Internetdaten und Statistikinformationen am Beispiel der Wissenschaftsstadt Darmstadt. Stadtforschung und Statistik, Jg. 29 (1), S. 23–26.

Bachmann, Günther (2020). Stadt und Verkehr: Neue Verkehrsanalysen mit Mobilfunkdaten – ein Zwischenbericht. Stadtforschung und Statistik: Zeitschrift des Verbandes Deutscher Städtestatistiker, Jg. 33, 52–60.

Hanesch, Walter (2022), Soziale Lage und Sozialpolitik in Darmstadt 1975 . 2019, in: Peter Engels, Dieter Schott (Hrg.), Ein Jahrhundert Darmstadt, Band 2.2: Politik, Gesellschaft und Stadtentwicklung, Justus-Liebig-Verlag Darmstadt 2022, S.513–558 Kainz, Ulla, Bachmann, Günther (2018). Darmstadts Vorschulkinder 2016 – eine Momentaufnahme zu Gesundheit und Deutschkenntnissen. Stadtforschung und Statistik: Zeitschrift des Verbandes Deutscher Städtestatistiker, Jg. 31, 9–16. Wissenschaftsstadt Darmstadt (Hrsg.) (2016). Sonderbeitrag: Darmstadts Vorschulkinder

2016 – eine Momentaufnahme zu Gesundheit und Deutschkenntnissen. Darmstadt Statistische Berichte 2. Halbjahr 2016. Wissenschaftsstadt Darmstadt (Hrsg.) (2018).

1. Bildungsbericht der Wissenschaftsstadt Darmstadt 2018. Bildung im Lebensverlauf: Frühes Kindesalter bis zum Einstieg in den Beruf, Darmstadt 2018 (sowie Fortschreibungen bis 2022).

Wissenschaftsstadt Darmstadt (Hrsg.) (2021). Sozialatlas. Beiträge zur Sozialberichterstattung 2021. Darmstadt 2021.

STADTFORSCHUNG UND STATISTIK 2|202399 Historie

Erinnerungen und Erfahrungen aus der (Kommunal-)Statistik von aus dem Berufsalltag ausgeschiedenen VDSt-Mitgliedern

Um die Entwicklung der Kommunalstatistik in den beiden deutschen Staaten seit Mitte des 20. Jahrhunderts nicht zu vergessen, sollen an dieser Stelle der Zeitschrift in loser Folge Erfahrungsgeschichten älterer VDSt-Mitglieder zusammengetragen werden. Dabei geht es weniger um die Berufsbiographien der Einzelnen, sondern um den Blick auf eine begrenzte Zeitphase mit ihren technischen und gesellschaftlichen Entwicklungen und deren Auswirkungen in der Verwaltung, mit ihren Veränderungen in Bezug auf Kommunalstatistik, Vorteilen und Problemen/Missverständnissen, Erfolgen und Misserfolgen in der beru ichen Praxis. Es geht eher um die „subjektiven Daten“ im Unterschied zu „objektiven Daten“, die in der Regel vielerorts in den Broschüren anlässlich von Jubiläen der Statistikstellen verö entlicht werden.

Anfänge der elektronischen Datenverarbeitung (GS)

Unter einer Datenbank verstehen wir eine Datensammlung, die elektronisch in einem Computersystem gespeichert ist. Um die hinterlegten Daten nutzen zu können, also für das Einp egen, Speichern oder Löschen, Ordnen und Verknüpfen, Bearbeiten oder Darstellen der Daten, ist ein Datenbankmanagementsystem (DBMS) notwendig. Für die Interaktion der Nutzer*innen mit einer Datenbank bedarf es zudem einer Datenbanksprache – die meisten von uns benutzen sowohl privat als auch im beru ichen Arbeitsalltag die von den großen Software rmen angebotenen Lösungen.

Der Ursprung einer Datenbank liegt in den Möglichkeiten, die die in den 1950er Jahren erfundene Festplatte als Speichermedium für die immer umfangreicher werdenden Datenmengen bot. Es dauerte ein weiteres Jahrzehnt, bis die zuvor genutzte Lochkartentechnik sehr allmählich durch elektronische Datenverarbeitung abgelöst wurde. Es wurden Dateisysteme und erste Programme zur Massendatenverarbeitung entwickelt, die eindeutig unterscheidbare Verzeichnisse anlegten und nutzten, so dass die hinterlegten Daten widerspruchsfrei verwaltet werden konnten. Aber die ersten hierarchischen Verzeichnisstrukturen erschwerten die Ergänzung von Daten. Deshalb wurde in den 1970er Jahren ein relationales Modell entwickelt, das Datenbankverwaltung und physischen Speicher trennte und das bis heute für viele Datenbanken verwendet wird. Seither sind mit objektorientierten und dezentralen Datenbanken weitere Technologien für das Vorhalten von und die Arbeit mit Datensammlungen entstanden.

Hans-Walter Hülser Dipl.-Volkswirt, ehemals Leiter des Amtes für Statistik und Stadtentwicklung der Stadt Krefeld : hans-walter.huelser@arcor.de

Dr. Gabriele Sturm

Dr. rer.soc., bis 2016 Projektleiterin im Referat Stadt-, Umweltund Raumbeobachtung des BBSR, davor Hochschuldozentin bzw. wissenschaftliche Angestellte an verschiedenen deutschen Universitäten

: gsturm@uni-bonn.de

Schlüsselwörter:

Blockgliederung – Datenbank – EDV – Krefeld –Lochkartentechnik – Personal Computer – Postleitzahl

100 STADTFORSCHUNG UND STATISTIK 2|2023 Historie
Quelle: Stahlkocher, CC BY-SA 3.0, via Wikimedia Commons Abb. 1: Lochkartenstanzer 029 von IBM mit Bedienstation

EDV-Praxis an einer Universität (GS)

Im Universitätsbetrieb gab es bereits in den 1970er Jahren Großrechenzentren. Um die in Forschungsprojekten erhobenen Daten verarbeiten zu lassen, wurden die kodierten Fälle auf Lochkarten gestanzt und zusammen mit davor angeordneten Steuerkarten für die FORTRAN- oder SPSS-Programme (SPSS wird seit 1968 entwickelt) im Rechenzentrum abgegeben. Runterfallen durfte der Kasten mit den geordneten Lochkarten nicht! Auf einen Ausdruck der Daten und die Ergebnisse der statistischen Analyse wartete mensch mindestens einen Tag. Deshalb wurden Grundauszählungen eines Datensatzes nach wie vor an einer mechanisch sortierenden Maschine vorgenommen, die Variablenausprägungen anhand der Kartenstapel in den Auswur ächern händisch gezählt.

Erst in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre fand in den Universitätsrechenzentren quasi parallel zur sich ändernden Datenbanktechnologie der Umstieg von Lochkarten auf Magnetbänder als Speichermedium statt. Diese waren in den 1960er Jahren entwickelt und rechenzentrumsintern bereits benutzt worden. Um die Lochkarten auch für die Hochschulangehörigen über üssig werden zu lassen, wurden zentrale Pools mit Dateneingabegeräten eingerichtet. Statt am Lochkartenstanzer in einem Raum voll mit mechanisch zu bedienender Lochkartentechnik saß mensch nun vor einem Bildschirm mit Tastatur in einem Gruppenraum. Wir konnten uns gegenseitig bei auftretenden Problemen helfen und bekamen auch mit, wenn Examens- und Doktorarbeiten für Außenste -

hende gegen Honorar produziert wurden. Die Ausgabe eines ausgedruckten Datensatzes und der Ergebnisse eines SPSSJobs erfolgte übrigens nach wie vor mit zeitlicher Verzögerung auf Endlospapier. Ungeduldige „EDV-Freaks“ schliefen auch schon mal eine Nacht auf dem Teppichfußboden des Computerterminalraums. Die eigenen Daten mit nachhause nehmen – beispielsweise den Datensatz, die Analyseprogramme und letztendlich auch die mit rechenzentrumseigenem Textprogramm getippte Examensarbeit, das war mittels weichen, schallplattengroßen Floppy Disks (8 Zoll = 20,32 cm) dann ab Ende der 1970er, Anfang der 1980er Jahre möglich.

Abb. 2: Lochkartenstapel mit manuellen Beschriftungen; schräge Linien markierten einzelne Kartenpakete und ließen evtl. falsch einsortierte Karten erkennen

Mein erster PC für das heimische Arbeitszimmer hatte eine geteilte Festplatte für zwei verschiedene Betriebssysteme (MS-DOS und das universitätseigene), zwei Laufwerke für verschiedene Diskettengrößen, einen kleinen Bildschirm in riesigem Gehäuse und eine Tastatur; diese Arbeitseinheit kostete 1988/89 rund 5.000 DM – einen Nadeldrucker für etwa 1.000 DM leistete ich mir erst ein paar Monate später. An meinem Arbeitsplatz in einer technischen Universität erhielt ich dann Anfang der 1990er Jahren den eigenen PC, und weil ein Kollege sehr technikbegeistert war, auch bald einen E-MailZugang (die erste E-Mail wurde in Deutschland im August 1984 empfangen).

Aufbau der Landesdatenbank NRW (HWH)

Mitte der 1970er Jahre entstand in der Landesstatistik das Bedürfnis, sich als statistischer Dienstleister in NRW weiterzuentwickeln. Dazu wurde in Düsseldorf die Landesdatenbank NRW mit allen Daten der amtlichen Statistik von NRW aufgebaut. Das waren tausende statistische Merkmale für kreisangehörige Gemeinden, kreisfreie Städte, Kreise und Regierungsbezirke. Für diese Merkmale lagen bereits sehr lange Zeitreihen vor. In diesem Jahrzehnt war die elektronische Datenverarbeitung in einem rasanten Aufbautempo.

Weil die Publikationen des Landesamts für Datenverarbeitung und Statistik für die Nutzerinnen und Nutzer Geld kosteten, sollten auch die Abrufe aus der Landesdatenbank (LDB) Geld kosten. Parlamentarier und oberste Landesbehörden erhielten die Daten kostenlos. Alle übrigen Nutzer*innen mussten bezahlen:

Am Anfang wurde 1/10 Pfennig pro Datum verlangt. Erwartet wurden allein für die Daten eines Jahres bei rund 400

STADTFORSCHUNG UND STATISTIK 2|2023101 Historie
Quelle: ArnoldReinold 2006; Creative Commons Attribution-Share Alike 2.5 Generic Quelle: George Chernilevsky 2009; public domain. Abb. 3: 8-inch, 5+1⁄4-inch, and 3+1⁄2-inch Foppy Disks.

Gemeinden in NRW hohe Einnahmen – Zeitreihen waren entsprechend teurer. Beispielsweise umfassten die Einwohnerdaten aller Gemeinden di erenziert nach männlich und weiblich sowie nach deutscher und ausländischer Staatsangehörigkeit sowie für 100 Altersjahrgänge ca. 160.000 Einzeldaten. Insgesamt sollte ein*e Käufer*in dafür rund 160 DM, heute wären das etwa 80 €, zahlen.

Die EDV entwickelte sich weiter (HWH)

Ende der 1970er Jahre wechselte ich vom Statistischen Landesamt in Düsseldorf zum Amt für Statistik und Stadtentwicklung der Stadt Krefeld. Die Stadt gehörte zu einem Rechenzentrumsverbund von drei Kreisen, inkl. deren Gemeinden und der kreisfreien Stadt Krefeld. Ende 1982 hatte die Stadt eine Vereinbarung unterzeichnet, zukünftig alle EDV-Aufgaben dem Rechenzentrum mit seinen Großrechneranlagen zu übergeben.

Nachdem IBM 1981 in New York ihren ersten tragbaren Personal Computer vorgestellt hatte, erteilte die Firma Anfang 1983 auch in Deutschland die Erlaubnis, mit individuellen Bausätzen kleine Computer zu bauen. Mit diesen PCs konnte man auf einfache und schnelle Weise Berechnungen und Textverarbeitung durchführen. Ich richtete damals ein Schreiben an das zuständige Hauptamt mit der Bitte, für das Statistische Amt einen geeigneten PC zu bescha en. Davon bekam das Personalamt Wind und erhob sofort Einspruch; denn PC bedeutet Personalcomputer und diese gehörten in die Personalverwaltung. Die daraus erwachsenen Di erenzen konnten ausgeräumt werden und im November 1983 erhielt das Statistische Amt der Stadt Krefeld den ersten PC, den wir bereits für die Durchführung der Europawahl 1984 einsetzen konnten. Alles hat wunderbar geklappt: Stichprobe, Hochrechnung, vorläu ges amtliches Endergebnis. Bis auf ein Problem: Der 17. Juni 1984 war ein sehr heißer Tag: Daher hat damals der Drucker versagt.

Seit 1993 gibt es 5-stellige Postleitzahlen (HWH)

Die 5-stellige Postleitzahl war für das Statistische Amt der Stadt Krefeld die Gelegenheit, mit der Bundesagentur für Arbeit (BfA) in Nürnberg Kontakt aufzunehmen; denn für jeden Arbeitslosen lag dieser Behörde ja eine Adresse vor und das bedeutete, es gibt die Arbeitslosen nach Postleitzahlgebieten. Die Behörde hat diese Erkenntnis nach einiger Diskussion geteilt und einem Test für deutschlandweit zehn Städte zugestimmt. Die Kosten waren sehr erschwinglich. Niemals hätten wir erwartet, dass es danach einen heftigen Streit unter den Städten gab, wer bei den Folgedatenläufen zu den zehn Städten dazugehören durfte. Es hat irgendwie eine Einigung gegeben, leider weiß ich nicht mehr, warum bzw. wie sie aussah.

Blockgliederung (HWH)

Als ich Ende der 1970er Jahre nach Krefeld kam, stellte ich fest, dass die vorhandene Blockgliederung diejenige der Volkszählung 1970 war. Es war eine Bruttoblockgliederung, die keine Straßen kannte. Sie konnte sich aber auf einer Karte in einem ansprechenden Format darstellen lassen. Mitte der 1980er Jahre änderte sich diese Einteilung. Durch die Kooperation des statistischen Amtes mit dem Kataster- und Vermessungsamt wurde die Bruttoblockgliederung in die Nettoblockgliederung überführt. Die Blockseiten blieben dabei in 98 Prozent der Fälle unverändert.

Bedeutung der Statistik (HWH)

Seit den 1960er und 70er Jahren hat sich die Statistik von einer manuell aufwändigen Arbeit mit Papier und Bleistift, mechanischen Maschinen und Taschenrechner immer schneller zu digitaler Arbeit vor dem Bildschirm entwickelt. Vorbei sind die Zeiten, in denen statistische Ergebnisse manuell in Gra ken umgesetzt wurden. Entsprechendes galt für Aufadditionen zu Statistiken, wie beispielsweise für die Bevölkerung oder den Gebäudebestand. Die Ablösung manuell erstellter Regressions- oder Korrelations-Analysen durch EDV-gestützte Verfahren ist heute aus einem statistischen Amt nicht mehr wegzudenken.

Auch heute noch muss die Statistik ihre Kompetenz darlegen und kommunizieren, denn immer noch glauben zu viele Dienststellen, dass nichts einfacher sei, als ein paar Fakten zu addieren, oder dass die Bedeutung von Verzerrungen sowie nicht repräsentativer Erhebungen völlig unterschätzt wird und als leicht beherrschbar gilt. Insofern sind nicht nur Zahlen zu verö entlichen, sondern sie müssen im kommunalen Zusammenhang und erst recht für die Ö entlichkeit unter Berücksichtigung diverser Interessen erklärt und interpretiert werden. Dass die Zeit nicht mehr hauptsächlich mit Rechnen verbracht werden muss, ist dabei eine grundlegende Vorbedingung.

102 STADTFORSCHUNG UND STATISTIK 2|2023 Historie
Quelle: Bo y b; GFDL and CC-BY-SA Abb. 4: Der IBM Personal Computer, Modell 5150, war 1981 das Urmodell der heutigen IBM-kompatiblen PCs.

Binnenwanderungsgewinne der inneren Stadt von 2011 bis 2021

Seit 2014 verlangsamt sich das Wachstum der Großstädte. Nach Jahren starken Wachstums durch Binnen- und Außenwanderung wird das Bevölkerungswachstum nunmehr hauptsächlich durch die Zuwanderung aus dem Ausland getragen. Allerdings müssen hierbei Unterschiede zwischen dynamischen Metropolen und Großstädten auf der einen Seite und eher stagnierenden oder schrumpfenden Großstädten auf der anderen Seite beachtet werden (BBSR 2023). Auch auf Stadtteilebene bestehen große Unterschiede in der Bevölkerungsund Zuwanderungsdynamik, so z.B. in Stadtteilen mit Großbauprojekten und in Neubaugebieten (Heider 2023).

IRB – Innerstädtische Raumbeobachtung

Die IRB ist ein Kooperationsprojekt zwischen derzeit 54 beteiligten Kommunen und dem BBSR. Die teilnehmenden Städte liefern jährlich Daten auf Stadtteilebene zu mehr als 400 Merkmalen, die alle Projektbeteiligten für vergleichende Analysen nutzen dürfen. Für rund 3.000 Stadtteile liegen zu den erfassten Variablen Zeitreihen seit 2002 vor. Das BBSR nutzt die kleinräumigen Daten zur Analyse von großstädtischen Strukturen und kleinräumigen Stadtentwicklungsprozessen, die für bestimmte Regionen, Stadt- oder Lagetypen verallgemeinerbar sind. Analytische Ebene sind oft folgende innerstädtische Lagen:

- Innenstadt (dort wohnen 16 % der Bevölkerung)

- Innenstadtrand (mit 34 % der Bevölkerung) – zusammen mit Innenstadt: Innere Stadt

- Stadtrand bzw. äußere Stadt (mit 50 % der Bevölkerung)

Unter Au agen können die Daten für wissenschaftliche Zwecke und Masterarbeiten genutzt werden. Dazu muss eine ca. einseitige Projektskizze eingereicht sowie eine Nutzungsvereinbarung unterschrieben werden. Die Kontaktaufnahme erfolgt über die E-Mail-Adresse: stadtbeobachtung@bbr.bund.de. Über diese Funktionsadresse kann auch eine umfangreiche Dokumentation des Datensatzes angefragt werden.

Abb. 1: Zuzug, Fortzug und Wanderungssaldo absolut nach Altersgruppen und nach Stadtlage in Großstädten 2011 bis 2021

bis unter 18 Jahre

18 bis unter 25 Jahre25 bis unter 30 Jahre30 bis unter 45 Jahre45 bis unter 65 Jahre65 Jahre und älter

Binnenwanderungen absolut nach Stadtlage: InnenstadtInnenstadtrandStadtrand

Aachen, Augsburg, Bochum, Bonn, Bremen, Chemnitz, Dortmund, Duisburg, Düsseldorf, Erfurt, Essen, Frankfurt am Main, Freiburg im Breisgau, Fürth, Gelsenkirchen, Halle (Saale), Heidelberg, Ingolstadt, Jena, Karlsruhe, Kassel, Kiel, Koblenz, Konstanz, Krefeld, Leipzig, Lübeck, Magdeburg, Mainz, Mannheim, Mülheim an der Ruhr, München, Nürnberg, Oberhausen, O enbach am main, Potsdam, Rostock, Saarbrücken, Solingen, Stuttgart, Weimar, Wiesbaden, Wuppertal

Quelle: IRB, BBSR Bonn 2023

STADTFORSCHUNG UND STATISTIK 2|2023103 Studie Entdeckt
Berücksichtigt sind folgende 43 Städte:
2011 2013 2015 2017 2019 2021 2011 2013 2015 2017 2019 2021 2011 2013 2015 2017 2019 2021 2011 2013 2015 2017 2019 2021 2011 2013 2015 2017 2019 2021 2011 2013 2015 2017 2019 2021 100.000 0 200.000 Zuzüge Fortzüge Saldo
100.000 0 200.000 100.000 0 200.000

Dennoch ist die Binnenwanderung für Großstädte – und hier insbesondere für die Innenstädte – weiterhin von Bedeutung. Junge Menschen mit Bildungsaspirationen (Altersgruppe der 18- bis unter 25-Jährigen) und zu Beginn ihrer beruflichen Karriere (Altersgruppe der 25- bis unter 30-Jährigen) ziehen verstärkt in die Großstädte und hierbei häu ger in die Innenstädte und den Innenstadtrand und seltener in den Stadtrand. Obwohl diese beiden Altersgruppen nur rund 16 Prozent der Wohnbevölkerung in den Städten ausmachen, sorgt ihr Zuzug bis 2012 in den Innenstädten und bis 2015 im Innenstadtrand immer noch für einen positiven Binnenwanderungssaldo. Am Stadtrand ist der Binnenwanderungssaldo bereits 2011 negativ und in den Folgejahren negativer als in den innerstädtischen Quartieren. Basis für diese Beobachtung sind 43 Städte1 der

„Innerstädtischen Raumbeobachtung“ (IRB) des BBSR (siehe Infokasten). Anders als in der Regional- und Kommunalstatistik wird in der IRB die Binnenwanderung nicht direkt erfasst. Die Binnenwanderung wird näherungsweise aus der Differenz der Umzüge über die Stadtgrenze und der ausländischen Bevölkerung vom und ins Ausland ermittelt. Innenstädte und Innenstadtrand sind anfälliger für Veränderungen im Wanderungsgeschehen auf Grund exogener Schocks. Dies ist sowohl im Jahr 2015 in der Flüchtlingskrise zu erkennen, in der die Zugewanderten überproportional auf die Innenstädte verteilt wurden, als auch im Jahr 2020 der Corona-Pandemie, in dem die ausbleibende Zuwanderung die größte Lücke in den Innenstädten verursacht hat. Da die Binnenwanderung auf große Außenwanderungsereignisse reagiert, sind diese Ereignisse auch in

den Binnenwanderungsbewegungen zu erkennen (Abb. 1).

Im Durchschnitt der 43 Städte leben nur ein Sechstel der Stadtbevölkerung in den Innenstädten, ein Drittel im Innenstadtrand und knapp die Hälfte im Stadtrand.

Die Attraktivität der Innenstädte für die hochmobilen jungen Menschen führt hier zu stetigem Wechsel: Zwischen 6 und 9 Prozent der 18- bis 25-Jährigen sind neu zugezogen, im Innenstadtrand mit 5 bis 7 Prozent etwas weniger und im Stadtrand nur 1 bis 2 Prozent (Abb. 2). Für alle übrigen Altersgruppen sind die Unterschiede im Wanderungssaldo zwischen Innenstadt, Innenstadtrand und Stadtrand erstens weniger deutlich und zweitens in mehr oder weniger gleichem Rhythmus über die Zeit im Minus. Ausnahme hiervon bildet nur der Innenstadtrand mit einer geringen positiven Binnenwanderungsbilanz der 25- bis unter 30-Jährigen.

Abb. 2: Binnenwanderungssaldo nach Altersgruppen und Stadtlage von Großstädten 2011 bis 2021

Binnenwanderungssaldo je 1.000 Einwohner -50

Berücksichtigt sind folgende 43 Städte: Aachen, Augsburg, Bochum, Bonn, Bremen, Chemnitz, Dortmund, Duisburg, Düsseldorf, Erfurt, Essen, Frankfurt am Main, Freiburg im Breisgau, Fürth, Gelsenkirchen, Halle (Saale), Heidelberg, Ingolstadt, Jena, Karlsruhe, Kassel, Kiel, Koblenz, Konstanz, Krefeld, Leipzig, Lübeck, Magdeburg, Mainz, Mannheim, Mülheim an der Ruhr, München, Nürnberg, Oberhausen, O enbach am main, Potsdam, Rostock, Saarbrücken, Solingen, Stuttgart, Weimar, Wiesbaden, Wuppertal

Quelle: IRB, BBSR Bonn 2023

104 STADTFORSCHUNG UND STATISTIK 2|2023 Studie Entdeckt
-14,2 -15,0 -17,1 -21,2 -31,8 -23,0 -14,6 -15,0 -13,2 -15,4 -17,5 -10,0 -12,2 -12,4 -15,1 -14,7 -17,0 -8,4 -8,2 -7,4 -7,8 -6,5 -11,9 -11,3 -11,8 -11,4 -14,2 -4,8 -5,1 -5,6 -6,6 -5,8 -9,9 94,9 86,0 78,2 66,5 62,7 71,5 74,1 82,3 74,9 67,2 74,7 76,6 71,2 66,6 64,3 69,3 63,5 59,7 68,5 58,3 53,7 58,3 24,3 21,4 19,0 14,4 25,1 14,6 17,6 14,0 12,8 8,1 9,3 -12,2 -0,4 -3,8 -5,1 -5,7 -8,0 -2,0 -1,1 -8,0 3,7 1,3 11,2 12,4 -0,7 -0,4 8,1 9,1 6,5 6,3 6,0 4,7 2,0 -14,6 -10,2 -15,5 -1,4 -3,2 -4,8 -5,1 -1,68,0 -9,1 -9,5 -18,3 -19,9 -21,8 -23,0 -27,5 -24,4 -24,9 -20,2 -21,4 -21,2 -28,7 -12,2 -12,3 -13,2 -13,0 -13,0 -17,4 -21,9 -15,7 -19,1 -19,1 -24,5 -11,5 -10,8 -14,6 -19,0 -13,3 -15,4 -15,0 -18,7 -8,5 -9,3 -9,8 -4,3 -4,7 -4,4 -4,4 -4,1 -5,6 -6,6 -9,0 -4,0 -4,3 -7,2 -3,0 -2,8 -3,3 -2,7 -1,6 -4,0 -5,8 -9,1 -4,5 -3,9 -5,2 -2,6 -3,0 -3,5 -3,3 -2,5 -4,4 -5,6 -7,5 -4,1 -3,9 -5,4 -1,9 -2,0 -2,1 -1,4 -1,1 -1,5 -2,7 -1,4 -1,2 -1,8 -4,1 -2,2 -2,2 -2,5 -2,3 -2,4 -2,3 -4,2 -2,0 -2,5 -2,5 -4,0 -3,0 -2, 8 -3,2 -2,9 -2,9 -3,2 -4,1 -3,1 -3,1 -3,3 -4,1 Innenstadt Innenstadtrand Stadtrand 100 50 0 -50 100 50 0 -50 100 50 0 -50 100 50 0 -50 100 50 0 -50 100 50 0 -50 bis unter 18 Jahre 18 bis unter 25 Jahre 25 bis unter 30 Jahre 30 bis unter 45 Jahre 45 bis unter 65 Jahre 65 Jahre und älter 2011 2012 2013 2014 2015 2016 2017 2018 2019 2020 2021 2011 2012 2013 2014 2015 2016 2017 2018 2019 2020 2021 2011 2012 2013 2014 2015 2016 2017 2018 2019 2020 2021
0
100

Die Beobachtungen bestätigen die abnehmende Bedeutung der Binnenwanderungen für das Städtewachstum. Sie stützen auch die bekannten altersgruppenspezi schen Präferenzen für oder gegen Großstädte. Sie weisen jedoch gleichzeitig darauf hin, dass auch diesbezüglich eine Di erenzierung nicht nur zwischen wachsenden und schrumpfenden Städten, sondern auch kleinräumig innerhalb der Städte notwendig ist. Hierzu gibt es bisher wenig datengestützte Forschung. Eine umfassendere Untersuchung der Binnenwanderungen in die Innenstädte nach weiteren gemeinsamen Strukturmerkmalen der Städte könnte hier Aufschluss geben, welchen Dynamiken die inneren gegenüber den äußeren Stadtteilen ausgesetzt sind. Wie konstant können diese auf den Zuzug

durch die jüngeren Altersgruppen setzen? Wo entstehen Lücken, in denen die Städte die Attraktivität für andere Altersgruppen steigern müssen oder können?

BBSR Cottbus & Bonn

1 Aachen, Augsburg, Bochum, Bonn, Bremen, Chemnitz, Dortmund, Duisburg, Düsseldorf, Erfurt, Essen, Frankfurt am Main, Freiburg im Breisgau, Fürth, Gelsenkirchen, Halle (Saale), Heidelberg, Ingolstadt, Jena, Karlsruhe, Kassel, Kiel, Koblenz, Köln, Konstanz, Krefeld, Leipzig, Lübeck, Magdeburg, Mainz, Mannheim, Mülheim an der Ruhr, München, Nürnberg, Oberhausen, O enbach am Main, Potsdam, Rostock, Saarbrücken, Solingen, Stuttgart, Weimar, Wiesbaden, Wuppertal

Literatur

BBSR – Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung (Hrsg.) (2023): Großstädte als Wohnorte. Online: https://www.bbsr.bund.de/ BBSR/DE/forschung/programme/refo/staedtebau/2021/grossstaedte-wohnorte/01-start.ht ml;jsessionid=0293AA612705C657381EED9F 8DFDA2B2.live11294?pos=2.

Heider, Bastian (2023): Großstädte als Wohnorte – Stadtteile zwischen Wachstumsdruck und Stagnation. In: ILS Journal 01.2023, S. 2.

STADTFORSCHUNG UND STATISTIK 2|2023105 Studie Entdeckt

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