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Brücken über die Mauer Deutsch-deutsche Kontakte, Initiativen und Projekte von unten vor 1989 in Berlin
herausgegeben von Hans Joachim Rieseberg und Dieter Winkler
Schibri-Verlag Berlin • Milow • Strasburg
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Herausgeber, Autoren und Verlag danken Herrn Max-Ottokar Kunzendorf (†) und allen anderen Freunden und Bekannten, die zum Entstehen der Publikation beigetragen haben.
Bestellungen über den Buchhandel oder direkt beim Verlag © 2011 by Schibri-Verlag Dorfstraße 60 17337 Uckerland/OT Milow www.schibri.de Umschlaggestaltung: Coverfoto: Fotos (Innenteil):
Arite Nowak Jürgen Nagel (Sicht auf die Mauer, Kreuzberg 1988) Otto Cramer (S. 181, 184, 190) Heinrich Herzberg (S. 43) Jürgen Krämer (S. 171) Jürgen Nagel (S. 7, 10, 12, 14, 21, 25, 31, 32, 55, 74, 117, 136, 169, 193) Ulrich Schweizer (S. 15, 163, 192) Lektorat, Textgestaltung: Iris van Beek, Dieter Winkler Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlags. Alle Rechte vorbehalten Printed in Germany ISBN 978-3-86863-080-0
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Inhaltsverzeichnis Dieter Winkler: Vorwort
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Dieter Winkler: Nicht nur Sache der Regierenden
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Reymar von Wedel: Kirchliche Kontakte während der DDR-Zeit
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Dieter Winkler: Heinrich Grüber im Sommer 1961
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Stefan Welzk: Kleine „Deutschlandtreffen“ – eine 68er-Episode
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Helmut Hampel: Sozialdemokrat in Ost-Berlin
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Hans Joachim Rieseberg: Wie die Bohnsdorfer Mühle nach Berlin-Kreuzberg kam
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Dieter Winkler: „Mühlen und Müller in Berlin“ – Gesamtberliner historisches Sachbuch zum Berlin-Jubiläum 1987
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Jürgen Nagel: Ein deutsch-deutscher Briefwechsel
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Herwig Kipping: Tanzende Schatten – Ein Stück Leben und ein scheinbar banaler deutsch-deutscher Briefwechsel
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Inhalt
Dieter Winkler: Bemühungen um den Wiederaufbau der Dresdener Frauenkirche aus Berlin (West)
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Thomas Koch: Deutsch-deutsche Kontakte und die Ökumene – ein Rückblick
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Christa Grengel, Reinhard Groscurth: Von „J“ nach „A“ – von „A“ nach „J“ – Ein Beispiel für das alltägliche Miteinander der Kirchen in Ost und West
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Dieter Winkler: Die evangelische Kirchengemeinde Berlin-Kaulsdorf und ihre westdeutschen Partnergemeinden
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Karin Manke: Die Mauer in Texten des TEA
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Dieter Winkler: Zinnfigurensammlerkontakte
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Otto Cramer: Bücher statt Bananen
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Dieter Winkler: Wunsch an die jungen Historiker – ein Nachwort
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Vorwort Dieter Winkler
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as immer wieder neue Aufkommen von menschlichen Bindungen und sachbezogenen Vorhaben in der über vier Jahrzehnte staatlich, wirtschaftlich und infrastrukturell geteilten, aber selbst durch eine Mauer nicht völlig zertrennbaren deutschen Hauptstadt Berlin gehört zu den faszinierendsten Elementen der Geschichte der deutschen Teilung. Aus Anlass des 15. Jahrestages der zweiten deutschen Vereinigung am 3. Oktober 1990 fand deshalb am 27. September 2005 im Abgeordnetenhaus von Berlin eine Veranstaltung unter der Überschrift „Der Tunnel über der Mauer“ statt.1 Ihr Ziel war die Erinnerung an deutsch-deutsche Kontakte, Initiativen und Projekte von „unten“ vor 1989 vor allem in Berlin. Zu dieser Veranstaltung gehörten eine Talkrunde mit einigen an deutsch-deutschen Initiativen und Vorhaben Dabeigewesenen2 sowie eine kleine Ausstellung, in der die Geschichte der Verbringung der verfallenen Bohnsdorfer Mühle in das damalige Museum für Technik und Verkehr in Berlin-Kreuzberg und eine Auswahl von in den sechziger und siebziger Jahren von West nach Ost geschmuggelter Literatur dokumentiert worden waren. Zudem erhielt jeder Teilnehmer der Veranstaltung ein Skript „Der Tunnel über der Mauer“ mit Erlebnisberichten zum Thema. Zwei Jahre später, 2007, gab der Präsident des Abgeordnetenhauses unter der Überschrift der Veranstaltung „Der Tunnel über der Mauer“ zusätzlich eine Broschüre heraus, die nahezu alle Beiträge des Skriptes von 2005 enthielt.
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Vorwort
In dieser neuen Publikation „Brücken über die Mauer“ werden aus Anlass von 50 Jahren Errichtung der Mauer fast alle Texte der Abgeordnetenhausbroschüre von 2007 – z. T. in bearbeiteter Fassung – noch einmal abgedruckt. Dazu kommt eine Reihe weiterer Beiträge aus sehr unterschiedlichen gesellschaftlichen Bereichen, die noch deutlicher darauf verweisen, welche Fülle an deutsch-deutschen Kontakten, Initiativen und Projekten vor 1989 trotz aller administrativen Hemmnisse und baulichen Sperrungen – vor allem in Berlin – Pfade zum Überleben oder zum Neuentstehen gefunden hatten.
Anmerkungen 1 Träger der Veranstaltung waren gemeinsam der Präsident des Abgeordnetenhauses, Walter Momper, und die Regionalgruppe Berlin/Brandenburg der Vereinigung Gegen Vergessen – Für Demokratie e.V. Die Überschrift ging auf einen Disput zwischen dem Ostberliner Autor Heinz Knobloch und seinem Westberliner Verleger Dr. Peter Moses-Krause zurück, in dem diese Metapher geboren worden war; sie sollte nach ihren Erfindern die Bindungen verbildlichen, die nach der Errichtung der Mauer zwischen Deutschen aus Ost und West bestehen geblieben waren bzw. immer wieder neu entstanden. 2 Teilnehmer der Talkrunde unter Leitung des Rundfunkjournalisten Alfred Eichhorn waren die Ostberliner Helmut Hampel (Sozialdemokrat bereits vor 1961), Herwig Kipping (Filmregisseur, Bundesfilmpreisträger), Dieter Winkler (Ostberliner Lektor des Gesamtberliner historischen Sachbuches von 1987 „Mühlen und Müller in Berlin“) und die Westberliner Dr. Peter Moses-Krause (Verleger), Hans Joachim Rieseberg (Westberliner Co-Autor des Sachbuches „Mühlen und Müller in Berlin), Reymar von Wedel (Rechtsanwalt, Kirchenanwalt).
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Nicht nur Sache der Regierenden1 Dieter Winkler Die DDR-Geschichte kann in drei große Etappen unterteilt werden: • die Überstülpung des sowjetischen Gesellschaftsmodells auf das nunmehrige Ostdeutschland; diese Phase dauerte bis kurz nach der Errichtung der Mauer im Herbst 1961, • den Versuch einer teilweisen Modernisierung und Reformierung dieses Modells; dieser Versuch wurde durch den XXII. KPdSU-Parteitag im Herbst 1961 angestoßen; er ist in ähnliche Bestrebungen in anderen osteuropäischen Ländern in den sechziger Jahren einzuordnen und endete endgültig mit der Ablösung Ulbrichts an der Spitze der SED im Jahre 1971, • der weitgehenden Reduzierung der Politik der DDR-Oberen auf die Aufrechterhaltung der Herrschaft der mittlerweile voll herausgebildeten DDRNomenklatura über „ihr“ Land; diese Phase umfasste im Grunde die gesamte Honecker-Ära. In allen drei Etappen wirkten auf die von der SED dominierte, aber nur an der Oberfläche von ihr völlig beherrschte ostdeutsche Gesellschaft zwei externe Faktoren von beträchtlicher Kraft und außergewöhnlicher Stetigkeit: • die Vorgaben des Hegemons des „sozialistischen Bündnisses“ in Osteuropa, der Sowjetunion, und darüber hinaus Anforderungen aus diesem Bündnis als Ganzem; sie prägten weitgehend die Politik der DDR-Oberen, • die Einflüsse aus dem wirtschaftlich und alltagskulturell ungemein reicheren Staat in Westdeutschland; sie strahlten vor allem in das breite Volk, darüber hinaus aber selbst in die Dienstklasse (und wirkten von daher ebenfalls permanent auf die offizielle Politik). Man kann es auch mit anderen Worten sagen: Die DDR besaß zeit ihrer Existenz zwei Vorbilder, wie sie unterschiedlicher nicht sein konnten; nur dass das offizielle politische und gesellschaftliche Vorbild Sowjetunion mit dem Eintritt in eine allgemeine Krise in den siebziger Jahren immer mehr verblasste, während das Vorbild Westdeutschland, insbesondere infolge des wachsenden Einflusses seiner modernen Funkmedien, immer mehr an Bedeutung gewann.
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Nicht nur Sache der Regierenden
Zwar war die DDR ab Anfang der siebziger Jahre als zweiter deutscher Staat international akzeptiert, traten in ihr ab diesem Zeitpunkt immer neue Jahrgänge in das Erwachsenenleben ein, die nur noch die DDR als Staatlichkeit kennen gelernt hatten und war mehr noch im jetzigen Ostdeutschland unübersehbar eine neuartige Gesellschaft entstanden – mit eigenständigen sozialen Strukturen, eigenständigem Arbeits- und Freizeitleben, einer teilweise eigenständigen Kultur –, aber die Anziehungskraft des Westens auf die DDR-Bevölkerung wurde nicht geringer. Immer neue Bemühungen, legal oder illegal das Land zu verlassen, vorrangig von Seiten junger Leute, wiesen auf eine andauernde politische Labilität des zweiten deutschen Staates.2,3 Ambivalent verlief die Entwicklung auf dem Gebiet der Kultur. Spätestens ab dem Mauerbau gab es keine gesamtdeutsche Kultur mehr. Wir Ostdeutschen waren, von Teilen der Eliten abgesehen, der nach der internationalen Anerkennung ständig zunehmenden Zahl der „Reisekader“, von der Rezeption der westdeutschen Hochkultur weitgehend abgeschnitten, etwa der „documenta“ in Kassel, den Berlinalen in West-Berlin, der Hohenstaufer-Ausstellung in Süddeutschland, berühmten Theaterinszenierungen. Auch die schöngeistige deutschsprachige Literatur des Westens wurde uns sowohl über die offiziellen Wege (Lizenzausgaben) wie die
Die Straße Unter den Linden im Oktober 1989
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privaten nur in Auszügen bekannt. Für Geschenksendungen wie von Besuchern mitgebrachte Literaturgaben bedurfte es folglich der Verwandten und guten Bekannten im Westen. Also achtete ein wissenshungriger DDR-Bürger darauf, sich seine „Beziehungen nach drüben“ zu erhalten.4 Anders sah es bei der Freizeitkultur, vor allem der Unterhaltungsmusik aus. Über westliche, nicht nur westdeutsche Sender, in den fünfziger Jahren etwa über Radio Luxemburg, waren z. B. die jeweils modernsten westlichen Schlager in nahezu allen Volksschichten der DDR präsent und populär. Unter der nach internationaler Akzeptanz gierenden Honeckerführung gab es dann kaum mehr eine Unterhaltungsgroßveranstaltung ohne den Auftritt eines aus den westlichen Medien auch in der DDR bekannt gewordenen westlichen Stars. Der ab Ende der fünfziger Jahre mit beträchtlichem administrativen Aufwand betriebene Versuch der Schaffung einer spezifisch DDR-sozialistischen Unterhaltungskultur blieb erfolglos; es war zwar in den siebziger und achtziger Jahren eine von der DDR-Jugend angenommene DDR-Popmusik entstanden, deren Erfolg beruhte aber darauf, dass sie ständig neue Entwicklungen im Westen verarbeitete. In der ausgehenden DDR verschärfte sich zusätzlich die Abhängigkeit der DDR-Unterhaltungsindustrie von der westlichen Unterhaltungstechnik; besonders westliche Unterhaltungselektronik war in staatlichen Einrichtungen wie bei privaten Nutzern hoch begehrt. Diese Geräte wurden zu äußerst wirksamen „Propagandisten der westlichen Lebensweise“. Um bei ihnen auf dem neuesten Stand zu sein, bedurfte es zumindest im privaten Bereich wiederum guter Beziehungen „nach drüben“.
Ein Weiteres. Honeckers Abgrenzungspolitik5 hatte zu Anfang der siebziger Jahre die noch unterhalb staatlicher Vereinbarungen bestehenden institutionellen Bindungen zwischen ost- und westdeutschen Kultureinrichtungen weitgehend gekappt und statt dessen auf per zwischenstaatlichem Vertrag geregelte Kulturbeziehungen zwischen der DDR und der Alt-Bundesrepublik orientiert. Aber die Initiativen westdeutscher Journalisten und Privatpersonen, auch über bei der DDR-Führung nicht wohlgelittene Kulturereignisse in der DDR zu berichten bzw. private Kontakte zu in der DDR-Kultur Tätigen aufrecht zu erhalten und sogar neue aufzubauen, schränkte von Anfang an die Wirkung von Honeckers Maßnahmen ein. Und gerade die staatliche Anerkennung, die daraus folgende Zunahme der Präsentation von DDR-Kultur in aller Welt und damit auch der „Reisekader“ auf dem Feld der Kultur, führte zu wieder wachsenden deutsch-deutschen Bindungen, weil nicht wenige der Künstler-„Reisekader“ entgegen staatlichen Weisungen ihre dienstlichen Westreisen gern bei Verwandten und Bekannten in Westdeutschland
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unterbrachen bzw. wenigstens die Rückreise, wenn irgend möglich, über den anderen deutschen Staat legten. Zwar war in den siebziger Jahren auch zwischen Ungarn und Österreich wieder ein engeres Miteinander entstanden, nach den Protagonisten Kadar und Kreisky nannten es spöttische Zungen in Ungarn ein neues k. u. k.- Verhältnis, aber an das Beziehungsgeflecht, das sich in den achtziger Jahren zwischen der DDR und der Alt-Bundesrepublik herausbildete, reichte es sicher nicht heran, vor allem nicht an das zwischen Teilen des „Staatsvolkes der DDR“ und an der DDR interessierten Teilen der westdeutschen Bevölkerung. Honeckers Abgrenzungspolitik war gerade auf der DDR-Seite nur begrenzt durchsetzbar gewesen.6 In Berlin, der durch die Mauer zerschnittenen Metropole, in der die Durchgrenzung Europas nach 1945 zu ihrer komprimiertesten Gestalt gefunden hatte, war diese Grenze zwischen Ost und West zugleich am porösesten. Verbliebene Passagen durch die Grenzanlagen zwischen West und Ost beruhten auf Vereinbarungen der vier Siegermächte des II. Weltkrieges zu Berlin als Ganzem, neu entstandene waren die Folge des Vertragswerks zwischen beiden deutschen Regierungen ab Anfang der siebziger Jahre. Die Mauer förderte auch Bestrebungen, sich nicht einfach mit ihr abzugeben. Es entstanden bei der westdeutschen und Westberliner Politik Bemühungen, sie durchlässiger zu machen, und auf der DDRSeite später auch die Bereitschaft, dieser Politik in Maßen entgegen zu kommen. Gleich wichtig ist, dass es auch von „unten“, von seiten sehr unterschiedlicher Personen, zu sehr unterschiedlichen Zeiten immer wieder erfolgreiche Bestrebungen gab, nicht nur menschliche Kontakte aufrecht zu erhalten, sondern auch neue zu begründen, gemeinsame Initiativen zu entwickeln, und wenn es die Lage erlaubte, auch deutsch-deutsche Projekte Keine Brücke über die Mauer. Kreuzberg im Mai 1989 zu realisieren.
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Sozialdemokrat in Ostberlin Helmut Hampel
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ch stamme aus einer sozialdemokratischen Familie. Meine Eltern, Tischlermeister und Kontoristin, gehörten schon vor 1933 der Berliner SPD an. So dürfte verständlich sein, dass ich bereits im Jahre 1949 als 13-Jähriger, in BerlinFriedrichshain Mitglied der Sozialistischen Jugend „Die Falken“ wurde. 1953 folgte der Eintritt in die SPD. Als Ostberliner Falkenmitglied wirkte ich u. a. in deren Laienkabarett „Die Zivilisten“ im damaligen Westberliner Bezirk Steglitz mit. Viele spätere Funktionsträger der SPD in Westberlin wurden in jenen Jahren meine Freunde. Nach dem Mauerbau und der Selbstauflösung der SPD in Ostberlin hielt ich noch einige Jahre den Kontakt zu bisherigen Genossen in Ostberlin. Widerstandshandlungen, die uns mit den Gesetzen der DDR in Konflikt gebracht hätten, begingen wir nicht. Unsere Ziele waren die Wiedererrichtung einer legalen sozialdemokratischen Partei in Ostberlin und freie Wahlen wie im Jahre 1946, als die SPD auch in Ostberlin die stärkste politische Partei geworden war. Meine Bindungen zum Landesvorstand der Partei in Westberlin blieben über Besucher aber auch nach 1961 erhalten; ich gehöre zu den Ostberliner Genossen, die über die Jahre hinweg vom Vorstand betreut wurden. Mit Ostberliner Freunden, darunter ehemalige Genossen, gründete ich im Jahre 1968 in Gosen bei Berlin eine „Sozialistische Naherholungsgemeinschaft“. Unsere Anlage nannten wir inoffiziell „Alexander-Dubcek-Kolonie“ – nach dem auch beim Volk der DDR hochangesehenen neuen demokratischen kommunistischen Parteichef der damaligen Tschechoslowakei. Da die SED die SPD in Ostberlin nie hatte verbieten können, wollte sie nach dem Mauerbau natürlich wissen, ob und wo es noch sozialdemokratische „Stützpunkte“ in ihrer Hauptstadt gab. Trotz der in den Akten des MfS vorliegenden Erkenntnisse, erscheinen mir aber der Zusammenhalt von SPD-Genossen in Ostberlin und ihre weiter bestehenden Kontakte zum Landesvorstand in Westberlin noch nicht ausreichend erforscht. Befragungen (oral history) dürften dazu sicher noch einiges erbringen. Da die SPD in Ostberlin nie verboten worden war, überlegte ich nach dem Viermächte-Abkommen, wie man sie wieder ins Leben rufen könne. Der Landesvorstand in Westberlin, dem ich das über einen meiner „Betreuer“ vorschlug,
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lehnte meine Anregung aber ab. Er hielt Anfang der 70er Jahre den Zeitpunkt für eine Reaktivierung der SPD in Ostberlin noch nicht für gekommen. Es blieb bei den Kontakten, wie wir sie bis dahin gepflegt hatten. August 2005
– Ergänzung aus dem Jahre 2011 – 1961 war es zum Mauerbau gekommen. Mein letztes größeres Zusammensein mit den Falken, deren Mitglied ich schon 1949 wurde, war Ende Juli/Anfang August eine Reise nach Holland. Für uns Ostberliner Falken ging das natürlich nur mit den dafür extra ausgestellten Westberliner Personalausweisen. Von der DDR erhielten wir keine Genehmigung zur Ausreise. Diese Fahrt war gleichzeitig auch meine Hochzeitsreise mit meiner Frau Helga. Sie stammte auch aus einer Berliner Sozialdemokratenfamilie. Nachdem zu Beginn der sechziger Jahre drei Fluchtversuche von uns gescheitert waren, blieben wir in Ostberlin. Im Jahr 1964 wurde unsere Tochter Heike geboren. In den 28 Jahren zwischen Mauerbau und Mauerfall hatten wir immer Kontakte zu Westberliner Genossen. Es waren mehr private zu alten Falken-Freunden, die nun aber in der Westberliner SPD Karriere machten. Daher hatten wir immer einen guten Kontakt zum Landesvorstand der Partei. Solidarisches Denken und Handeln spielte in unseren Kreisen immer eine große Rolle. In den sechziger Jahren, als es für Westberliner Einreisemöglichkeiten nach Ostberlin nur in den seltenen Zeiten der Passierscheinregelungen gab, waren diese Kontakte natürlich noch stark eingeschränkt. Was war die richtige Politik, um die von Willy Brandt angestrebten „menschlichen Erleichterungen“ zu erreichen? War es der Wandel durch Annäherung? In unserer Wohnung, oder später auch in unserem Garten außerhalb Berlins, gab es zu diesen Fragen damals intensive Diskussionen mit den Besuchern aus Westberlin. Nach dem Vier-Mächte-Abkommen zu Berlin und den deutsch-deutschen Verträgen Anfang der siebziger Jahre nahmen die Bindungen zu den Westberliner Freunden wieder zu. In der Regel vergingen keine 3-4 Wochen, in denen nicht einer bei uns auftauchte: Harry Ristock, Alfred Gleitze mit Familie, Hanns Kirchner mit Familie usw. Einer war zeitweise Senator, einer langjähriger Bezirksbürgermeister von Schöneberg, einer über Jahre Staatssekretär. So erfuhr man manches auch aus der großen Politik. Die von Willy Brandt eingeleitete Politik brachte mir dann sogar einen persönlichen Nutzen. Es war wohl den Kontakten Harry Ristocks zu Ostberliner Ver-
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antwortungsträgern zu verdanken, dass ich dann ab 1988 endlich die Möglichkeit bekam, meine kranke Mutter in Tempelhof zu besuchen, obwohl ich noch kein Rentner und auch ansonsten kein sogenannter Reisekader war. Zuerst durfte ich einmal pro Jahr fahren, dann zweimal pro Jahr, und im letzten halben Jahr 1989 sogar einmal im Monat. Der offizielle Kontakt der Partei während der Mauerzeit zu mir bestand u.a. in den Besuchen eines Genossen, der ehrenamtlich im Landesvorstand tätig war. Der überbrachte mir regelmäßig „Grüße aus der Müllerstraße“ und gelegentlich auch Geschenke. So bekam ich einmal eine wunderschöne Wollstrickjacke, die war in Ostberlin ob ihrer Qualität durchaus eine Kostbarkeit. Als ich nach der Wende meine Stasi-Akte lesen durfte, stellte ich allerdings mit Erschrecken fest, dass dieser Genosse nicht nur für unsere Partei, sondern als IM „Plato“ auch für die Stasi tätig war. So hatte er meine Idee von Anfang der siebziger Jahre, die in Ostberlin nie verboten gewesene SPD wieder ins Leben zurückzurufen, umgehend an das MfS verraten. Meine Frau und ich hatten in unseren Ostberliner Freundeskreisen schon Werbung für diesen Gedanken gemacht. (Wie oben schon gesagt, hat auch der Landesvorstand den Vorschlag zu einer Wiedergründung der Partei in Ostberlin zu diesem Zeitpunkt noch abgelehnt.) Wie viele Genossen in Ostberlin insgesamt in Mauerzeiten durch ehrenamtliche Abgesandte des Landesvorstandes wie ich besucht, also betreut wurden, konnte ich jetzt leider nicht mehr ermitteln. Als ich dann endlich die Erlaubnis erhalten hatte, meine Mutter zu besuchen, nutzte ich die Gelegenheit auch, um regelmäßig beim Landesvorstand vorbeizusehen. Das wurde natürlich beobachtet. Als die Mauer dann offen war, habe ich dort auch die Überlegung vorgetragen, alle alten, aus der sogenannten Ostkartei noch bekannten Ostberliner Mitglieder der Partei zu einem ersten gemeinsamen Treffen einzuladen. Zunächst stieß ich mit dem Vorschlag zwar auf Skepsis, dann gab es aber doch Begeisterung für meine Anregung. Meine Frau Helga und ich wurden als Ansprechpartner für das Vorhaben in einem Inserat in der Ostberliner Presse benannt. Dieses Inserat erweckte in uns schon eigenartige Gefühle. Nun standen wir nicht mehr am Rande der Gesellschaft, sondern auf einmal mittendrin. Am 17.03.1990 kam es zu diesem Treffen im ICC in Charlottenburg. Der Titel der Veranstaltung war „Aus Tradition für die Freiheit“. Fast 700 alte Mitglieder kamen. Auch sehr alte. Wiedersehenstränen flossen. Bis zum Wiedersehen lagen immerhin 28 Jahre in Ostberlin ohne ständigen Parteikontakt hinter ihnen. Es gab Umarmungen. Es war ein beeindruckender Tag. Es war selbst für mich überraschend, wie sehr die alten Ideale der Sozialdemokraten in diesen alten Genossen überlebt hatten.
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