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Ernst-Frieder Kratochwil
Deutsches Puppen- und Maskentheater seit 1900
Schibri-Verlag Berlin • Strasburg • Milow
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Inhaltsübersicht Vorwort 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7.
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9. 10. 11.
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Industrielle Revolution, Revolutionierung der Künste und deutsches „Puppentheater“ um 1900 10 Industrielles Zeitalter und Beginn der Moderne. Zustand des „Puppentheaters“. Erneuerung des Marionettentheaters 15 Neue Akteure und zwei Richtungen der Erneuerung. Erste Bühnen, die sie praktizieren. Neue Formen des Puppenspiels 27 Neues Schattenspiel, Stabpuppe, Filme mit Puppen und Silhouettenfilm, Übermarionette. Puppentheater in der Weimarer Republik 40 Veränderte Rahmenbedingungen, neue Organisations- und Betriebsformen, Puppen auf Schauspielbühnen. Die pädagogische Reform des Handpuppenspiels 49 Milieu, Vorläufer, Professionalisierung und Ergebnis der Reform; ihre zweite Richtung: Der Rote Kasper. Die Gleichschaltung des Puppenspiels 1933–45 68 Verfolgung für wenige und Privilegien für viele Puppenspieler; das Reichsinstitut und das Frontpuppenspiel. DDR-Puppentheater im Kalten Krieg 1945–68 81 Kasperverbot und Kampf gegen Privatbühnen. „Staatliche“ Puppentheater als Neuanfang. Spitzenreiter Magdeburg und Nestor Carl Schröder. BRD-Puppentheater im Kalten Krieg 1945–68 90 Alte Hasen als Fortsetzer. Augsburger Puppenkiste und wenige Außenseiter. Neuer Berufsverband und Albrecht Roser als neue Leitfigur. Erneuerte und neue Formen I 103 Erneuertes Maskenspiel, Schwarzes Theater und Offene Spielweise. Puppenspiel unterwegs 110 Festivals der UNIMA als Ost-West-Forum. Ost-Kontakte in der DDR, West-Kontakte in der BRD. DDR-Puppentheater in der Periode der Entspannung 1969–90 115 Aufschwung im Osten: Neue Theater mit staatlichen Absolventen. Neues Puppentheaterfestival und Kasper-Debatte Ost. Puppentheater Neubrandenburg und Gruppe Zinnober. Erfolgreiches letztes Jahrzehnt und letztes Festival. BRD-Puppentheater in der Periode der Entspannung 1969–90 136 68er-Kasper-DebatteWest und Literarisches Figurentheater Steinmann. Vielfalt ersetzt Leitwölfe. Puppet Players und Figurentheater Marotte. Erneuerte und neue Formen II 142 Tischpuppen, Reform der Reform des Handpuppenspiels, Material- und Objekttheater, Masken und Großpuppen. Puppenspielausbildung 155 Ihre Arten, Problematik und Einrichtungen. Kritische Würdigung der Konzepte. DDR: Puppen-Spiel in Film und Fernsehen 171 Das DEFA-Trickfilmstudio Dresden. Der tschechische Animations- und Puppenfilm nach dem II. Weltkrieg. Fernsehimporte und Das Sandmännchen. BRD: Puppen-Spiel in Fernsehen und Film 186 Importe von den Westalliierten. Puppenfilme in den Fernsehanstalten. Jim Henson. Die Problematik der Puppen in den Medien. Puppentheater nach der deutschen Vereinigung 1990 197 Erst Vereinigung dann Entzweiung; Schwierigkeiten alter, Chancen neuer Ensembles; Theaterhäuser und Performance. Zwei Richtungen und zwei Zeitschriften. Ein Fazit.
(Das vollständige Inhaltsverzeichnis ist am Ende zu finden.)
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Vorwort Die Zukunft entspringt aus der Vergangenheit. Mamadou Kouyatè Lehrer in der Kunst des Erzählens Ein Volk ist ohne seine Geschichte kunstunfähig. Bernhard Heisig Maler Diese Zeilen sind im Frühjahr 2011 der Abschluss meiner inhaltlichen Arbeit am vorliegenden Buch. Ich weiß, dass dies die erste (Teil-)Geschichte des deutschsprachigen Puppentheaters ist. Ich weiß auch, dass es die erste ist, die wissenschaftlichen Kriterien zu genügen sucht.
Verspätung Ich beende diese Arbeit mit enormer historischer Verspätung gegenüber den anderen Theatersparten Schauspiel, Oper und Ballett. Zum Beispiel entstand Eduard Devrients bemerkenswerte „Geschichte der deutschen Schauspielkunst“ im Umfeld der Revolution von 1848. Also vor gut 160 Jahren! Warum gibt es diese historische Verspätung? Gewiss nicht, weil das Puppentheater gegenüber den Sparten des „Menschentheaters“ eine marginale Erscheinung war oder ist. Im Gegenteil! Auch schon vor 200 oder 300 Jahren dürften entschieden mehr Menschen Puppentheater gesehen haben als zum Beispiel Tanztheater. Allerdings erregten Macher und Zuschauer des Puppentheaters viel weniger öffentliches Interesse als Macher und Zuschauer des Menschentheaters. Warum? Weil Öffentlichkeit, wie wir wissen, gemacht wird. Von Herrschern und Adligen, Kaufleuten und Fabrikbesitzern, Geistlichen und Gelehrten, die das tonangebende Publikum im Menschentheater stellten. Die Handwerker und Ladenbesitzer, Bauern und Arbeiter, Knechte und Mägde, die Puppentheater besuchten, waren dagegen nicht tonangebend, sondern eher tonabnehmend. Demzufolge ist Puppentheater keine Kunst, sondern im 18. Jahrhundert, wo es nicht verboten wird, lediglich als niedere Volksbelustigung geduldet. Im 19. Jahrhundert gilt es als Theater der unteren Volksklassen. Deshalb wird es – anders als Schauspiel, Oper und Ballett – auch nicht Bestandteil des bürgerlichen Kunstkanons, der bis Mitte des 19. Jahrhunderts entsteht. In der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts beginnt die stärkere Hinwendung der Puppenspieler zum jugendlichen Publikum. Damit betreiben sie, wie gemeint wird, lediglich Kinderunterhaltung. Als Theater der unteren Volksklassen, Nichtkunst und Kinderunterhaltung kann das Puppentheater auch nicht Gegenstand ernsthafter Wissenschaft sein. Dass diese Sicht auf das Puppentheater auch im 20. Jahrhundert andauert, erklärt die historische Verspätung dieser ersten (Teil-)Geschichte des deutschsprachigen Puppentheaters hinreichend.
Werdegang Ich beginne 1980 in Aufführungskritiken und selbständigen Artikeln Aspekte der Puppentheatergeschichte zu behandeln. Vier Jahre später scheitert ein erster großer Artikel zur Geschichte des DDR-Puppentheaters an der Zensur. Trotzdem schreibe ich weiter auch über puppen-historische Fragen. Im Frühjahr 1989 erscheint mein Artikel „Das verachtete Genre. Zur Geschichte des Puppentheaters in der DDR“ (TdZ 5/1989). Der einzige Zensureingriff ist hier, „Parteistrafen“ im Zusammenhang mit Puppenspiel zu simplen „Strafen“ zu verkürzen. Der Artikel wird umgehend in der BRD und in Österreich nachgedruckt. Ab Neujahr 1990 bin ich Theorielehrer an der Hochschule für Schauspielkunst „Ernst Busch“ in Berlin. Diese Stelle hätte ich ohne die Ereignisse des vorausgegangenen Herbstes wohl nicht bekommen.
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Vorwort
Kurz nach meiner Einstellung bin ich am Konzipieren und Planen für das Fach Puppentheatergeschichte in der Fachrichtung Puppenspiel beteiligt. Bereits im Herbstsemester startet das Fach als Kurs über drei Semester mit drei Dozenten.
Behandelt werden: Die deutsche Entwicklung von 1700 bis 1900, Erste Hälfte 20. Jahrhundert und BRD sowie Puppentheater der DDR.
Im Sommer 1992 überstehe ich gemeinsam mit dem jetzigen Rektor Wolfgang Engler den Versuch, uns mit einem befristeten Vertrag perspektivisch aus der Hochschule zu drängen. Meine beiden Mitdozenten in der Puppentheatergeschichte scheiden bald aus, da sie Aufgaben übernehmen, die ihre ganze Kraft fordern. Ich bleibe allein zurück, übernehme ihre Aufgaben und verlängere den behandelten Zeitraum in zwei Richtungen: • rückwärts bis zu den Ursprüngen des Puppenspiels in der Steinzeit • vorwärts bis in die Gegenwart des Puppentheaters in der postmodernen Gesellschaft der vereinten Bundesrepublik.
Insgesamt unterrichte ich im Studiengang Puppenspielkunst bis zu meinem altersbedingten Ausscheiden im Sommer 2009 knapp 19 Jahre das Fach Puppentheatergeschichte. Dabei gibt es Umwege; Irrtümer müssen korrigiert und nicht zwingend zum Fach gehörige Gegenstände ausgesondert werden. Bei dem permanenten Klärungsprozess haben mir die Studierenden der vielen Jahrgänge sehr geholfen: Sowohl durch Interesse und Referate als auch durch Desinteresse an manchen Gegenständen, die mir als studiertem evangelischen Theologen und praktiziertem Schauspielregisseur, Dramaturgen oder Autor wichtig waren. In diesem Sinn sind meine Notizen zur Lehrveranstaltung Puppentheatergeschichte Grundlage des nun vorliegenden Texts.
Methode Die Beschränkung auf deutsches Puppentheater entsteht ursprünglich aus der naiven Absicht, zunächst vor der eigenen Tür zu kehren und die eigenen Traditionen zu klären, um danach auch andere Traditionen aneignen zu können. Anschließend bestätigt die Kenntnisnahme der wenigen Versuche zur überregionalen Puppentheatergeschichte diese Entscheidung. Denn sie sind aus zwei Gründen methodisch unbrauchbar: Entweder sind sie zu umfangreich angelegt, um ihren Gegenstand sinnvoll, d. h. in seiner Entwicklung, darzustellen.
Das gilt für Rehm, Geschichte d e s Puppenspiels 1900 genauso wie für Feustel, Prinzessin und Spaßmacher. Eine Kulturgeschichte des Puppentheaters der W e l t 1991 und leider auch für die UNIMA-W e l t enzyklopädie der Puppenspielkünste, französisch 2009 (Sperrungen von mir – F.K.).
Oder sie sind zu kleinteilig, und die Darstellung zu isoliert von der allgemeinen Geschichte, um überhaupt größere Prozesse zu erfassen.
Das gilt besonders für die verschiedenen Arbeiten von Richard Purschke aus Frankfurt am Main. Bei ihm handelt es sich um einen späten Vertreter der wissenschaftlichen Jäger und Sammler, die das 19. Jahrhundert in großer Zahl hervorbrachte. Purschke würfelt Wichtiges, Unwichtiges und Abseitiges bunt durcheinander, bringt zu einem Sachverhalt jeden der unzähligen Belege, die er recherchiert hat, und liefert so lediglich Materialsammlungen.
Aus diesen Leseerfahrungen entstehen drei methodische Grundsätze: 1. Nicht Puppentheater der Welt, sondern deutsches Puppentheater wird behandelt. Das bedeutet zweierlei: Erstens heißt „deutsch“ deutschsprachig, weil Puppentheater in Deutschland ohne Österreich und deutschsprachige Schweiz nicht sinnvoll dargestellt werden kann. Zweitens wird fremdsprachiges Puppentheater nur dann behandelt, wenn und insofern es Einfluss auf Entwicklungen im deutschsprachigen Raum hat oder von deutschen Entwicklungen beeinflusst wird.. 2. Es wird nicht flächendeckend gearbeitet, also nicht alles erwähnt, was es zu einer bestimmten Zeit im deutschsprachigen Raum gibt, sondern exemplarisch, d. h. ausgewählte Erscheinungen, Personen und Bühnen werden als Beispiele für bestimmte Entwicklungen dargestellt. 3. Puppentheater wird nicht als Welt für sich, sondern als Bestandteil der jeweiligen Gesellschaft behandelt, in der es stattfindet.
Vorwort
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Buch Das Nachfolgende ist der Versuch, aus meiner, an der „Ernst Busch“ entwickelten Vorlesung ein Buch zu machen. Das bedeutet dreierlei: 1. Es gibt neben Texten auch Bilder, die dem Nutzer eine eigene Anschauung des Beschriebenen ermöglichen. Allerdings sind sie aus Kosten- und Rechtsgründen nur in der Abteilung Puppenspielkunst der „Ernst Busch“-Schule und bei mir einsehbar. 2. Neben meinem Text ist auch Fremdtext enthalten, dessen Charakter als „Quelle“ dadurch hervorgehoben wird, dass er in der aufgefundenen Form erscheint. 3. Mein Text ist die Verschriftlichung meines Beitrags zur Lehrveranstaltung. Der Verlust besteht darin, dass das für mich substantielle Gespräch über die gebotenen Sachverhalte nicht reproduzierbar ist. Im Text finden sich groß- und kleingedruckte Passagen. Das Großgedruckte sind die Hauptgedanken, das Kleingedruckte die Konkretisierungen. Da aber die Kunst vom Konkreten lebt, sind die unterschiedlichen Schriftgrößen keine Rangfolge, sondern lediglich eine Orientierungshilfe. Die ersten sechs Kapitel geben im Prinzip die gehaltene Vorlesung wieder. Meine Vorlesungsmanuskripte bestehen allerdings weitgehend aus Stichworten. Deshalb gehören Ergänzungen, Erweiterungen und Konkretisierungen selbstverständlich zu ihrer Verschriftlichung. Ab dem siebten Kapitel gibt es nicht nur eine neue Gliederung, sondern auch viele Passagen, die neu erarbeitet wurden. Hier handelt es sich also um die Vorlesung, die ich schon lange gern gehalten hätte, wenn während der Berufsausübung Zeit gewesen wäre, sie auszuarbeiten.
Intention Hinter all meinen Bemühungen um die Puppentheatergeschichte steht ein Anliegen, das ich 1989 als Schluss meines Artikels „Das verachtete Genre“ formulierte. Da variierte ich den Schluss von Brechts „Anmerkungen zum Volksstück“ so: „Das Volkspuppenspiel war ein lange verachtetes und dem Dilettantismus oder der Routine überlassenes Genre. Es ist an der Zeit, ihm das hohe Ziel zu stecken, zu dem seine Benennung dieses Genre eigentlich von vornherein verpflichtet.“
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1. Industrielle Revolution, Revolutionierung der Künste und Deutsches „Puppentheater“ um 1900 Der Titel behauptet, dass es einen Zusammenhang zwischen den beiden ersten Phänomenen gibt. Er wird durch die zunächst getrennte Betrachtung der zwei Erscheinungen erkennbar.
1.1 Industrielle Revolution Das ist ein von L. Blanqui und F. Engels geprägter und von A. Toynbee zu heutiger Bedeutung gebrachter Begriff: Er bezeichnet die Phase beschleunigter technischer, ökonomischer und sozialer Veränderungen, die in der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts mit der Einführung von Maschinen in der Textilindustrie („Spinning Jenny“) beginnt. Als möglicher Endpunkt kann die Einführung des Rundfunks (Pennsylvania, USA, 1920; Deutschland 1923, Österreich und Schweiz 1924) angesehen werden. Die Zeit danach bezeichnet man als industrielles Zeitalter (nach Brockhaus).
1.1.1 Technisch und ökonomisch In der 1. Hälfte des 19. Jahrhunderts sind es der Kohlebergbau, die Eisenverarbeitung und der Maschinenbau, die gemeinsam mit den neuen Verkehrsmitteln Dampfschiff und Eisenbahn die Entwicklung bestimmen. In der zweiten Jahrhunderthälfte kommen chemische und elektrische Industrie dazu und zur Jahrhundertwende Automobil- und Filmindustrie. Es entstehen Industriegebiete (z. B. Ruhrgebiet, Oberschlesien) sowie industriell geprägte Städte (z. B. Berlin, Elberfeld). Dabei wird die agrarisch geprägte Gesellschaft von der Industriegesellschaft abgelöst. 1.1.2 Politisch Trotz des Scheiterns der 1848er Revolution erhalten die meisten europäischen Länder und deutschen Staaten Verfassungen. Zersplitterte Länder wie Italien und Deutschland erringen die staatliche Einheit. Und in Frankreich wird 1870/71 die bürgerlich-parlamentarische Republik endgültig eingeführt. Gleichzeitig entsteht mit der Arbeiterbewegung eine neue politische Kraft und in ihrer Auseinandersetzung mit dem Kapitalismus ein neuer politischer Konflikt. 1.1.3 Sozial und kulturell Die technische und politische Entwicklung ermöglicht größere Fabriken mit mehreren tausend Beschäftigten. Deshalb ziehen immer mehr Menschen aus Dörfern und Landstädten in die größer werdenden Städte. Diese Verstädterung ist ein sozial gravierender Aspekt der Gesamtentwicklung. Die Zeitgenossen sprechen von der Masse als neuem sozialen Phänomen. In Deutschland ist die Zeit von 1871–1914 für die Verstädterung signifikant. 1871: Deutschland hat fünf Städte mit mehr als 100 000 und eine (Berlin) mit mehr als 500 000 Einwohnern. 1914: Deutschland hat 44 Städte mit über 100 000 Einwohnern, fünf (München, Elberfeld, Breslau, Leipzig, Dresden) mit mehr als 500.000 und zwei Millionenstädte (Berlin, Hamburg).
Zuerst in den Großstädten verändert sich der Lebensrhythmus fundamental. Nicht mehr Sonnenaufgang bzw. -Untergang, sondern das Dreischichtsystem in Fabriken und Verkehrsunternehmen bestimmen bzw. Gas- oder Strombeleuchtung ermöglichen naturunabhängige Lebensrhythmen. Die soziale Differenzierung der Kultur in adlige, bürgerliche und proletarische vollendet sich in den Städten. Dazu ermöglicht die Masse auch die Entstehung neuer kultureller Darbietungsformen für das großstädtische Publikum: • •
Zirkus – Feste Zirkusbauten von Renz gibt es ab 1845 in Berlin, Breslau, Bremen und Hamburg; „ Zirkus Busch“ ist der größte Wanderzirkus. Operette – Nach der Pariser Operette (Offenbach) folgt die Wiener (F.v. Suppé, J. Strauss Sohn, C. Millöcker, F. Léhar, E. Kálmán) und schließlich Ende des 19. Jahrhunderts die Berliner (P. Lincke, E. Kollo, R. Benatzky).
1.2 Revolutionierung der Künste
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Varietétheater – Für diese Mischung von Sprech- bzw. Musiknummern, Tanz, Akrobatik, Magie, Dressur und auch Trickpuppen, meist zusammengehalten von einem Conferencier und verbunden mit Verzehrmöglichkeiten, werden in Deutschland zwischen 1880 und 1930 in 119 Städten 360 Theater errichtet bzw. umgewidmet.
Mit den letzten Überlegungen ist der Zusammenhang von industrieller Revolution und Kunstentwicklung bereits berührt. Wenden wir uns deshalb der Letzteren zu.
1.2 Revolutionierung der Künste Das ist mein Begriff für den Übergang von der Herrschaft der – in der Renaissance geprägten – Kunstvorstellungen zu denen der sogenannten Moderne. Diese Entwicklung gibt es – nicht zeitgleich – in allen Künsten, am geballtesten in den Jahren von 1885–1905.
Sie wird durch zwei parallele Prozesse erzwungen. Einmal übernehmen technische Erfindungen traditionelle Aufgaben der Künste. Für unseren Gegenstand genügt es, das am Beispiel der Theaterkunst zu erläutern: • • • • •
Der Film kann Szenen im Freien glaubhafter zeigen, die unterschiedlichsten Schauplätze ohne Umbauten präsentieren und die Schauspieler bekannter machen als das Theater und deshalb ein Massenpublikum erreichen. Eisenbahn, Dampfschiff und Auto ermöglichen Tourneen durch andere Länder und Gastspielaustausch mit anderen Städten. Fotografie und Schallplatte erlauben einerseits bessere Werbung, konservieren aber andererseits die vormalige Augenblickskunst. Elektrisches Licht verbessert die Beleuchtungsmöglichkeiten und gestattet Lichtregie. Motoren ermöglichen die Erfindung der Drehbühne, die Umbauten verkürzt bzw. ins Spiel verlagert.
Wie jede Kunst wird so auch die Theaterkunst gezwungen, sich neu zu definieren, um ein künftiges Daseinsrecht zu begründen.
Zum anderen bringt die Einführung der bürgerlich-kapitalistischen Republik in Frankreich einen doppelten Funktionswandel. •
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Der Künstler wandelt sich vom Auftragnehmer zum Anbieter, d.h. zum feien Warenproduzenten. Die nötige Vorfinanzierung der Kunstproduktion wird nicht mehr vom Staat bzw. den staatstragenden Kräften abgesichert, sondern dem bzw. den Künstler/n aufgebürdet. Das Kunstwerk wandelt sich vom Ideologieträger zur Ware. Der Wert eines Kunstwerks richtet sich nicht mehr nach seinem Ideen- oder Ideologiegehalt, sondern wird nach seiner Verkäuflichkeit bestimmt.
Revolutioniert wird die Kunstauffassung der Renaissance, die sich allgemein so ausdrücken lässt: Kunst ahmt die – vom Menschen aus gesehene, aber gleichwohl objektive – Wirklichkeit ästhetisch (d. h. durch die Sinne als „ schön“ wahrnehmbar) nach. Die neue Auffassung der Kunst lässt sich allgemein so ausdrücken: Kunst ist frei zu tun, was den Künstlern gefällt und wofür sie einen Markt finden. In der Praxis wird kein ästhetischer Konsens mehr angestrebt, sondern verschiedene Auffassungen tauchen in rascher Folge auf, konkurrieren auch miteinander und verschwinden wieder. (Der Einfluss der bisher geschilderten Entwicklungen auf das Puppenspiel wird ab Kapitel 2. besprochen.)
1.2.1 Auswirkungen Die Kunstgeschichte seit der skizzierten Revolutionierung der Künste ist nur zu verstehen als fortgesetzte Reaktion darauf. Dabei werden drei einander ergänzende, einander widersprechende bzw. einander ignorierende Verhaltensweisen entwickelt: Die Fortsetzung der Revolutionierung, der Protest gegen sie und ihr Nicht-zur-Kenntnisnehmen. Das zutiefst widersprüchliche Verhältnis zwischen diesen drei Verhaltensweisen ist konstitutiv für die kunstgeschichtliche Entwicklung bis zur Gegenwart.
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4. Puppentheater in der Weimarer Republik In diesem Kapitel geht es zunächst um die erste deutsche parlamentarische Republik sowie um die veränderten Rahmenbedingungen, die sie für das Theater im Allgemeinen und das Puppenspiel im Besonderen mit sich bringt. Danach werden die organisatorischen Konsequenzen besprochen, die sich aus den veränderten Bedingungen ergeben. Es folgt ein prominentes Beispiel für die zeittypischen Veränderungen im althergebrachten Jahrmarktpuppenspiel. Am Ende wird gezeigt, wie unter dem Einfluss einer neuen Kunstströmung ein neues Tätigkeitsfeld für das Puppenspiel ahnbar wird.
4.1 Veränderungen durch Einführung der Republik(en) 4.1.1 In der Politik Die Ersetzung der Zentralmonarchie sowie der 23 Partikularmonarchien durch parlamentarisch-repräsentative Demokratien auf der Grundlage des allgemeinen Wahlrechts ist das zentrale Ergebnis der Novemberrevolution von 1918. Dabei wirken Aufständische (Arbeiter- und Soldatenräte) und Oppositionelle (SPD, USPD, Spartakus) im Innern sowie die alliierten Kriegsgegner von außen (insbesondere die USA verweigern jede Verhandlung mit Vertretern der Monarchie) zusammen. Die Abdankung der Fürstenfamilien, die zum Großteil seit dem Mittelalter die deutsche Politik bestimmt haben, wird als überfällig verstanden und vollzieht sich so widerstandslos, dass es danach keinen ernsthaften Versuch mehr gibt, diese Monarchien wieder einzuführen. Dabei bleibt die territoriale Zersplitterung insbesondere der Klein- und Kleinststaaten erhalten. Lediglich die acht thüringischen Kleinstaaten vereinigen sich 1920 zum Land Thüringen, zu dem die preußischen Gebiete nicht gehören.
Allerdings bleibt die föderale Weimarer Republik eine Demokratie auf schwankendem Grund. Neben den außerordentlich harten Bedingungen des Friedensvertrags von Versailles (1919) ist dafür die Tatsache verantwortlich, dass sich drei politische Lager bilden, von denen nur eines die Weimarer Verfassung anerkennt. Es handelt sich um folgende Gruppierungen: • Anhänger der parlamentarischen Republik Ziele: Ausgestaltung der Verfassung, Föderalismus, Ausgleich mit den Nachbarn Vertreter: SPD, Zentrum, DDP (= Weimarer Koalition), Teile des Kapitals • Anhänger der sozialistischen Republik Ziele: Rätedemokratie, Vergesellschaftung der Produktion, Internationalismus pro Sowjetunion Vertreter: KPD, Teile der USPD, SAP, Anarchisten • Anhänger der Rechtsdiktatur Ziele: Rache für Versailles, Anschluss Österreichs, deutsche Vorherrschaft in Kontinentaleuropa Vertreter: Deutschnationale, NSDAP, Freikorps, Teile der Beamten, der Reichswehr und des Kapitals
Angesichts dieser Lage kann die Weimarer Republik lediglich vierzehn Jahre existieren. Sie übersteht eine innere Krise (die Inflation) und scheitert an einer globalen (der Weltwirtschaftskrise). 4.1.2 Im Theaterwesen 4.1.2.1 Die belangvollste Veränderung nennt der zeitgenössische Theaterhistoriker Julius Bab „die Entstehung eines starken sozial fundierten Theatersektors“. Damit ist vor allem gemeint, dass durch öffentliche Hände finanzierte Theaterbetriebe neben die bis dahin alles dominierenden Privattheater treten. Der Vorgang hat zwei Aspekte: Zum einen geht es um die bisherigen Hoftheater. Solche Privattheater von Monarchen sind in einer Republik nicht möglich. Es wird in verschiedene Richtungen experimentiert. Das Modell, das sich durchsetzt, ist die Umwandlung dieser Einrichtungen in Staatstheater. Dies bedeutet: Die Finanzierung übernimmt das jeweilige Land, und der Intendant wird vom Landtag gewählt. So erstmals geschehen in Berlin, wo der Preußische Landtag im Sommer 1919 Leopold Jessner zum ersten Intendanten des Preußischen Staatstheaters (am Gendarmenmarkt) wählt. Analog wird aus der Hofoper Unter den Linden die Staatsoper.
4.1 Veränderungen durch Einführung der Republik(en)
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Zum andern geht es um die Stadttheater. Die Verfassung hat die Selbstverwaltung der Kommunen garantiert, die Erzbergersche Finanzreform von 1919 ihre selbständigen Einnahmen geregelt und das Kommunalisierungsgesetz von 1920 ihr Eigentum festgestellt. Die neue Selbständigkeit der Kommunen führt zur Entstehung städtischer Theaterbetriebe, der sogenannten Stadttheater (die es bis dahin lediglich in Hamburg und Bremen gab). Der Unterschied zur bisherigen dominierenden Praxis besteht darin, dass nicht mehr nur das Theatergebäude der Stadt gehört, die es – z. T. unter Auflagen – an einen privaten Theaterunternehmer verpachtet, sondern dass der Intendant vom Stadtparlament gewählt wird, ihm rechenschaftspflichtig ist und die Mitglieder des Theaters städtische Angestellte werden.
4.1.2.2 Die Weimarer Verfassung garantiert die Zensurfreiheit. Damit entfällt die polizeiliche Theaterzensur (natürlich auch für das Puppenspiel). Lediglich Gerichte können nach einem Prozess eine Aufführung verbieten. Allerdings sollte dabei nicht übersehen werden, dass bei den steuerfinanzierten Theatern die jeweilige parlamentarische Mehrheit sehr wohl indirekte Möglichkeiten hat und auch nutzt, die jeweilige Theaterprogrammatik zu beeinflussen. Ähnliches gilt für die Vorstände von Vereinstheatern wie z. B. der Volksbühne Berlin.
4.1.2.3 Aus der verfassungsmäßig garantierten Vereinsfreiheit ergibt sich auch die der Theatervereine, die ungehindert lokal, regional und auch „reichsweit“ agieren können. Davon profitieren zunächst die Besucherorganisationen, deren älteste, der Berliner Volksbühnenverein, sich z. B. über das ganze Staatsterritorium ausdehnt und 1932 bereits 290 Ortsvereine mit 350 000 Mitgliedern hat. Andere Besucherorganisationen und Verbände folgen (vgl. 4.2 und 4.3). 4.1.2.4 Am 12.05.1919 wird ein Tarifvertrag zwischen dem Deutschen Bühnenverein (als Zusammenschluss der Intendanten) und der Genossenschaft deutscher Bühnenangehöriger (als der Interessenvertretung des sogenannten künstlerischen Personals) abgeschlossen. Damit gibt es erstmals eine republikweit gültige Regelung über Vertragsdauer, Mindestgagen, Kündigungsfristen, Arbeitszeiten, Unfallschutz usw. Insgesamt wird dadurch die soziale Sicherheit und die soziale Achtung des Darstellerberufs erheblich gefördert. 4.1.3 Im Puppenspiel Die belangvollste Veränderung ist darin zu sehen, dass aufgrund des anderen Staatscharakters auch Puppenspielbühnen oder an Puppenspiel interessierte Organisationen (s. 4.3) in den Genuss öffentlicher Förderung kommen können. Der eine Weg wird durch die parlamentarische Selbstbestimmung der Länder, Kreise und Kommunen über ihre Haushalte eröffnet.
Wenn sich in der jeweiligen Vertretung eine Mehrheit dafür findet, von den für Kultur bestimmten Mitteln auch etwas für Puppenspiel zu verwenden, geschieht es. Dabei ist vor allem an Einzelaktivitäten wie Aufkauf von Vorstellungen, Unterstützung des Spielens für bestimmte Zuschauergruppen (z. B. Land- bzw. Grenzbevölkerung) zu denken. Aber es kommt auch die Unterstützung der Professionalisierung von Bühnen vor (so z. B. das Marionettentheater Binter in München). Das prominenteste Beispiel für diesen Weg ist gewiss die Gründung des ersten kommunalen Puppentheaters in Deutschland in Gestalt der Puppenspiele der Stadt Köln im Jahr 1926 (vgl. 4.4).
Den anderen Weg eröffnet das „Reichsjugendwohlfahrtsgesetz“ von 1922.
Das Neue an diesem Gesetz gegenüber seinen Vorgängern besteht darin, dass es nicht nur die traditionelle „Jugendfürsorge“ regelt, also die staatliche Bemühung um verwaiste, verwahrloste und straffällig gewordene Kinder und Jugendliche. Vielmehr wird hier erstmals auch die „Jugendhilfe“ geregelt und mit Mitteln ausgestattet. Darunter sind diejenigen Aktivitäten zu verstehen, die verhindern sollen, dass Jugendliche verwahrlosen oder straffällig werden. Diese Aktivitäten sind vorrangig Angelegenheit sogenannter „freier Träger“, die dafür staatliche Mittel bekommen, und zwar die gleichen, die auch ein staatlicher Träger bekäme. Solche freien Träger sind Jugendorganisationen, Jugendwohlfahrtsverbände, Kirchen und Vereine zur Jugendförderung. Eine nennenswerte Rolle spielen hier auch die – vorwiegend aber nicht mehr ausschließlich staatlichen – Schulen. Sobald ein freier Träger (oder eine seiner Untergliederungen) bzw. eine Schule finden, Puppenspiel könne dem staatlich geförderten Zweck nützen, können Vorstellungen durch öffentliche Gelder ermöglicht werden.
Die Rolle, die das Reichsjugendwohlfahrtsgesetz bei der Entwicklung des Puppenspiels hat, ist durchaus zwiespältig.
Zum einen fördert es den Berufsstand durch öffentliche Förderung (vgl. Kap. 5). Indem es aber die öffentliche Förderung nur dem Spielen für Kinder und Jugendliche gewährt, verstärkt es – und zwar besonders in den Krisenzeiten der Weimarer
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4. Puppentheater in der Weimarer Republik
Republik – die Neigung der Puppenbühnen, immer mehr oder gar ausschließlich für diese Zielgruppen zu spielen. Das Gesetz trägt zum anderen also maßgeblich dazu bei, das Puppenspiel in der Praxis wie auch in der öffentlichen Wahrnehmung zu einer Kunst für Kinder zu machen. Die Folgen sind bis in die Gegenwart allerorten zu besichtigen.
Die vorhandenen Fördermöglichkeiten bzw. „Fördertöpfe“ haben den Aufbau einer „Lobby“ für das Puppenspiel zur Folge. Damit ist eine puppenspielfreundliche Öffentlichkeit gemeint, die dafür sorgt, dass der Zugang zu den Fördertöpfen – angesichts starker Konkurrenz anderer Anbieter – zumindest erhalten, besser aber verbreitert werden kann. Dies in doppelter Hinsicht: Einmal, indem öffentlich wirksame Organisationen der Puppenspieler geschaffen werden (4.2), Zum anderen, indem das Puppenspiel Bestandteil des Tätigkeitsprogramms möglichst vieler anderer Organisationen wird (4.3).
4.2 Organisationen der Puppenspieler Die Überschrift nimmt mit dem Wort „Puppenspieler“ das Ergebnis bereits vorweg. Tatsächlich gibt es auch nach dem I. Weltkrieg weiter keine „Puppenspieler“, sondern immer noch Marionetten-, Handpuppen-, Hänneschen-, Automaten-, Schatten- und Übermarionettenspieler, die ihr Metier als Professionelle, Liebhaber oder Studenten betreiben. Jede dieser Gruppen ist erkennbar zu klein, um eine sinnvolle Lobby zu bilden. Dazu bedarf es einer Bezeichnung, mit der sich all diese Kleingruppen gemeint fühlen können. Diese Bezeichnung ist im heutigen Tschechien bereits 1911 gefunden worden, als dort der „Tschechische Verband der Freunde des Puppentheaters“ gegründet wurde. Der Begriff „Puppentheater“ wird im benachbarten Sachsen aufgegriffen, als dort der erste Organisationsversuch gestartet wird.
1921 – In Leipzig wird eine „Abteilung Puppentheater“ innerhalb des Verbandes zur Förderung der deutschen Theaterkultur gegründet.
Der seit 1916 bestehende Verband widmet sich ab 1918 der Beratung bei der Schaffung und Förderung gemeinnütziger Wanderbühnen. Initiator der Abteilung Puppentheater ist der Leipziger Kaufmann und Leiter der „Leipziger Puppenspiele“ Joseph Bück. Leipzig ist durch seine Messe spätestens seit dem 18. Jahrhundert ein Treffpunkt der Puppenspieler. Als Verlagsstandort hat es einige puppenspielfreundliche Verlage, von denen der Verlag Arwed Strauch durch Veröffentlichung hunderter von Puppenspieltexten sowie den Verkauf bzw. Verleih von Puppen mit Holz- oder Stoffköpfen der bekannteste ist.
Ab 1923 gibt Bück zusammen mit Schriftleiter Dr. Alfred Lehmann die Monatszeitschrift „Das Puppentheater“ heraus. Sie versteht sich als Zeitschrift „für die Interessen aller Puppenspieler und für die Geschichte und Technik aller Puppentheater“ 1926 –
(Hervorhebung von mir – F.K.). Der Verband zur Förderung der deutschen Theaterkultur stellt seine Tätigkeit ein – vermutlich deshalb, weil das System der gemeinnützigen Wanderbühnen in Gestalt der sogenannten Landesbühnen etabliert ist.
Bück rettet seine Schöpfung, indem er mit anderen die Abteilung Puppentheater zum „Kulturverband zur Förderung des Puppentheaters“ verselbständigt. 1927 – Anlässlich der Deutschen Theaterausstellung in Magdeburg sorgt der Verband nicht nur für eine kleine, von Alfred Lehmann konzipierte, Puppentheaterausstellung (383 Exponate auf 100 m²), sondern er hält auch seine erste Verbandstagung ab, bei der Marionettenprinzipal Xaver Schichtl Magdeburg (vgl. 4.5) als Gastgeber fungiert. 1928 – Zweite Verbandstagung in Baden-Baden mit Ivo Puhonný als Gastgeber, wieder mit einer Ausstellung verbunden. Mit Gästen aus vier oder sechs Ländern wird dort über eine internationale Puppenspielerorganisation gesprochen. Im Ergebnis – auch anschließender Korrespondenzen – findet 1929 in Prag nicht nur der V. Kongress der tschechoslowakischen Puppenspieler, sondern auch die dritte Tagung des deutschen Kulturverbandes statt. Außerdem nehmen Gäste aus sechs oder neun weiteren Ländern teil. In zwei Zusammenkünften (50 und 400 Teilnehmer) wird am 20.05.1929 die Gründung der internationalen Puppenspielerorganisation für Professionelle und Amateure „Union International des Marionettes“, abgekürzt UNIMA, beschlossen, Prag zu ihrem Sitz bestimmt, der Tscheche Prof. Jindrich Vesely zum Präsidenten gewählt und ein Nachfolgekongress zur Annahme der Statuten für den Oktober 1929 nach Paris einberufen. 1930 folgt ein weiterer Kongress in Liége/Lüttich, der die konstitutionelle Phase abschließt. Schon in Prag werden Meinungsverschiedenheiten zwischen deutschen Teilnehmern erkennbar. Sie führen dazu, dass im
4.3 (Theater-)Organisationen mit Puppenspiel
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Mai 1930 auf der vierten Verbandstagung in Frankfurt/Main eine Gruppe um den Bochumer Verleger Fritz Wortelmann die Leitung übernimmt und die Umbenennung in „Deutscher Bund für Puppenspiele“ durchsetzt.
Die „Puppenspiele“ im Namen gehen insofern konsequent hinter „Puppentheater“ zurück, als der „Bund“ – wie die UNIMA – Professionelle und Amateure vereint. Er hat 149 Mitglieder. Unter seinem Dach gibt es einen Zusammenschluss der professionellen Bühnen mit zunächst 13 Mitgliedern. Wortelmann wird Herausgeber und Schriftleiter der neuen Monatszeitschrift „Der Puppenspieler“, gegen die Ende 1931 „Das Puppentheater“ aufgeben muss. Lars Rebehn charakterisiert die unterlegene Leipziger Gruppe als „demokratisch-liberal“ und die siegreiche Bochumer Gruppe als „konservativ-deutschnational“ und gibt so diesem frühen Ost-West-Konflikt ein politisches Profil (1999, S. 10). Man muss allerdings auch einräumen, dass mit dem „Bund“ der Schritt vom Förderverein zum Verein der zu Fördernden vollzogen wird
1932 – Die Berufsgruppe hat 28 Mitglieder, darunter 19 Marionetten- und 9 Handpuppenbühnen.
Traditionelle Bühnen wie die sächsischen und süddeutschen Wandermarionettentheater fehlen vollständig. Vertreten sind lediglich die Traditionellen Xaver Schichtl (Marionetten, s. 4.5) und Arthur Ganzauge (Handpuppen), die sich den neuen Entwicklungen anpassen. Insgesamt ist der „Bund“ also ein Zusammenschluss der reformierten Bühnen (zur Handpuppenreform s. Kap. 5.). Das Hauptthema von 1930 „Puppenspiel und Schule“ weist ihn als klare Lobby in den Verteilungskämpfen um staatliche Zuwendungen aus.
4.3 (Theater-)Organisationen mit Puppenspiel Hier sollen lediglich die überregionalen Theaterorganisationen besprochen werden. Damit wird weder geleugnet, dass gewiss auch zahllose kommunale oder regionale Theatervereine unter ihren Mitgliedern Puppenspielaktivitäten fördern, noch, dass es in der Weimarer Republik andere Organisationen gibt, in denen Puppenspiel unter dem weitergreifenden Organisationszweck subsumiert wird. Von den letzteren Organisationen lassen sich die wichtigsten besser im Zusammenhang mit der Handpuppenreform (Kap.5.) darstellen. 4.3.1 Die Volksbühne 1890 als Freie Volksbühne in Berlin gegründet mit dem Ziel, Arbeiter ins Theater zu bringen und so das Theaterprivileg der bürgerlichen Klasse zu brechen. Damit der Arbeiterbewegung und der SPD nahe stehend. 1920 wird als Dach für die außerhalb Belins entstehenden Ortsvereine der „Verband der deutschen Volksbühnenvereine e. V.“ gegründet.
„Die Puppenspiele des Volksbühnenverbandes“ sind eine Musterbühne im Geist der pädagogischen Reform (s. Kap.5). Mit ihren Handpuppenaufführungen will sie „Anregungen zum Nachschaffen“ geben. Gespielt wird „in erster Linie“ für Kinder, daneben auch für Jugendliche und Erwachsene. Unter Anleitung „von Künstlern“ spielen „Erzieher“, die nebenberuflich diese „neue erzieherische und darstellerische Wirkungsmöglichkeit“ propagieren (Zitate Engel 1993, S. 8). Die Leitung hat der Magdeburger Robert Adolf Stemmle, der später nicht nur als Theaterregisseur, sondern auch als Roman- und Drehbuchautor sowie Filmregisseur arbeitet. Die „Puppenspiele“ geben 1927 anlässlich der Deutschen Theaterausstellung in Magdeburg 117 Vorstellungen. Es ist davon auszugehen, dass in den Ortsvereinen des Volksbühnenverbandes von Mitgliedern gespielte Puppenaufführungen keine Seltenheit sind. Aber solche Aktivitäten sind in der Programmatik der Volksbühne lediglich randständig. 4.3.2 Der Bühnenvolksbund Das sieht bei der, nach dem I. Weltkrieg gegründeten, bürgerlich-konservativen Besucherorganisation anders aus. Darauf deutet schon der volle Name: „Bühnenvolksbund zur Erneuerung des Theaters in christlich-deutschem Volksgeiste“.
Die „Erneuerung“ wird zunächst in der Vergangenheit gesucht: Mysterienspiele (wie „Jedermann“), Totentänze und Hans Sachs werden reanimiert. Praktisch geht es dabei um die Ablösung der Guckkastenbühne und des Illusionstheaters durch eine Einheit von Spielern und Zuschauern so „wie bei der katholischen Messe die Gläubigen im Kirchenschiff mit dem Priester am Altar verbunden sind“. Allerdings sehen die Verantwortlichen, dass das allein „mit einer Auslese aus dem dichterischen Gut unseres Erbes“ nicht zu machen ist. Insofern wissen sie sich angewiesen auf das „Auftauchen neuer dichterischer Kräfte und ihrer Werke“ (Weismantel, in: „Licht und Schatten“, S.52).
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9. Erneuerte und neue Formen I „Erneuert“ und „neu“ bezieht sich auf Europa Für den Zeitraum bis 1968 handelt es sich um: Maskenspiel, Schwarzes Theater und Offene Spielweise.
9.1 Erneuertes Maskenspiel Es sind vor allem drei Schauspielregisseure, deren Inszenierungen Impulse geben. 9.1.1 Giorgio Strehler (*1921) Der zündende Funke ist zweifellos die Inszenierung von Goldonis „Diener zweier Herren“ im neugegründeten Piccolo teatro di Milano (PT) im Jahr 1947.
Ältere Maskenversuche wie Jarry (König Ubu 1896), Meyerhold (Das Halstuch der Kolumbine 1910), Wachtangows (Prinzessin Turandot 1922), die Übermarionetten der Bauhausbühne sowie Brecht (Badener Lehrstück vom Einverständnis 1929, Inszenierung „Mann ist Mann“ 1931) finden im Unterschied zu Strehlers Inszenierung aus unterschiedlichen politischen Gründen zunächst keine Fortsetzung.
Der „Diener“ bleibt 20 Jahre (!) im Repertoire des PT und erlebt nach 30 Jahren für ein Parisgastspiel noch einmal eine Wiederaufnahme. Damit ist diese Inszenierung wesentlicher als Strehlers zweite Maskeninszenierung „Der Rabe“ (Gozzi) von 1948, die nach sechs Jahren aus dem Repertoire verschwindet. Der lange nationale und internationale Erfolg erklärt sich aus dem gelungenen Versuch, die Maskenherstellung und die Spielweise der Commedia dell’ arte wieder zu finden. Dazu gehört auch die Weitergabe der Maskenrolle an einen Nachfolger. Der Regisseur beschreibt die Arbeit in einem Text, den er „Für Marcello Moretti“, seinen ersten Arlecchino-Darsteller, geschrieben hat (Text 1). Drei Mitarbeiter des PT setzen dessen Maskenarbeit unmittelbar fort. -
Ferruccio Soleri, der zweite Arlecchino, macht die Commedia in ganz Europa bekannt, indem er nicht nur die Rolle spielt, sondern mit einem Programm, das aus Etüden und Szenen besteht, eigene Tourneen bestreitet. Dario Fo (*1926) schreibt ab 1953 für das PT. Der Schauspieler, Dramatiker und Nobelpreisträger benutzt ab Ende der 60er Jahre auch Commedia-Masken für sein linkes, groteskes, zeitgenössisches und politisches Volkstheater. Der Pantomime Jacques Locoq (1921 – 1999) ist ab 1951 Lehrer und dann Leiter der Theaterschule des PT. 1956 geht er in seine Heimatstadt Paris zurück, wo er die „Internationale Schule für Pantomime, Bewegung und Theater“ gründet (heute L’Ecole internationale de theatre Jacques Lecoq). Hier wird die sogenannte „neutrale Maske“ (eigentlich eine Larve – weiß und ohne individuellen Ausdruck) zur Basis einer Theaterausbildung, die „persönliche Kreativität“ der Schüler freisetzen will (vgl. Lecoq 1995). Da die „Neutralmaske“ nur frontal oder bestenfalls noch im Halbprofil wirkt, erzwingt sie Stilisierungen der Bewegungsabläufe. Anhänger Lecoqs halten sie für das Einmaleins jeden Maskenspiels, während Kritiker darauf bestehen, dass andere Maskenformen andere Spielweisen ermöglichen.
9.1.2 Bertolt Brecht In Deutschland setzt der – aus dem Exil Heimgekehrte – am Berliner Ensemble seine früheren Versuche fort. Den deutlichen Sprung in der Maskenarbeit bei „Der kaukasische Kreidekreis“ von 1954 beschreibt Joachim Tenschert so: „In dieser Aufführung wurden erstmalig nicht allein im Schminkverfahren hergestellte Masken verwandt, sondern auch aus besonderem Material gefertigte starre Gesichtsmasken verschiedener Größe und Form: Vollmasken und Teilmasken, Halb- und Viertelmasken“ (Hecht 1985, S. 154). Auf der Bühne stehen verschiedene Vertreter der Herrschenden den unmaskierten Beherrschten gegenüber. (Ähnlich zeigt Adolf Dresen in Greifswald 1963 bei „Schweyk im Zweiten Weltkrieg“ die Nazis maskiert, die Tschechen um Schweyk dagegen unmaskiert.) Brechts umstrittene Inszenierung findet nur innerhalb der Brecht-Schule vereinzelte und gedämpfte Nachahmung.
9.1.3 Benno Besson Erst dem selbständigsten der Brechtschüler gelingt der Durchbruch. Mit der Erstaufführung der Komödie „Der Frieden“ von Aristophanes/Hacks am 14. Oktober 1962 am Deutschen Theater Berlin schafft er die m. W. erste Inszenierung in Deutschland, bei der alle auftretenden Figuren (Halb-)Masken tragen. Sie ist ein Glücksfall.
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9. Erneuerte und neue Formen I
TEXT 1
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9.1 Erneuertes Maskenspiel
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TEXT 2
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Glücksfall 1: Das Thema Frieden trifft den Nerv der Zeit. Die Premiere findet im Monat des Höhepunkts der Kubakrise (22. – 28.10.) statt, die überdeutlich macht, wie schnell der Kalte Krieg in einen heißen (Atom-)Krieg umschlagen kann. In dieser Situation bekommt die Geschichte vom Weinbauern Trygaios, der auf einem Mistkäfer zum Olymp fliegt und den Frieden nach Athen holt, den Charakter einer Massenutopie (Text 2). Glücksfall 2: Das Maskenspiel wird aus seinen traditionellen Provinzen – Commedia und Brechttheater – in den Bereich des antiken Theaters geholt, das ursprünglich Maskentheater war, wo aber – in einer Komödie zumal – die Commedia- oder Brechtregularien nicht gelten. Glücksfall 3: Peter Hacks hat keine philologisch silbenzählende Nachbuchstabierung der alten Vorlage, sondern ihre – aus zeitgenössischem Geist geborene – Ansiedlung in der deutschen Sprache geschaffen. Dazu hat André Asriel eine zündende Musik mit Anleihen bei einer kulturpolitisch verfemten populären amerikanischen Musik geschrieben, die von den ebenfalls populären einheimischen „Jazz – Optimisten“ auf offener Bühne begleitet wird. Und wenn der Schauspieler Fred Düren als Trygaios am Ende einem Jungen, der nur Kriegslieder kennt, „ein besseres Lied“ beibringt und der (mit einer Honignudel Bestochene) nun gern mit dem Alten singt „Die Oliven gedeihn Der Krieg ist vorbei.“ kämpft auch der hartgesottene Zuschauer mit Tränen, weil das von allen unklar Ersehnte im antizipatorischen Zugriff des Theaters sinnlich erfahrbare Gestalt gewonnen hat.
Nach dem 11. Plenum des ZK der SED im Dezember 1965 ist die direkte künstlerische Auseinandersetzung mit der Gegenwart ohne zu lügen nicht mehr möglich. Da erscheint die Antike als möglicher Ersatz: Im Januar1967 bringt Besson die Tragödie „Ödipus Tyrann“ von Sophokles, deutsch von Hölderlin und Heiner Müller, wieder am Deutschen Theater heraus. Diesmal verwendet er Vollmasken von Horst Sagert aus Leder bzw. (bei den Volksfiguren) aus Stoff. Die Inszenierung zeigt den Weg eines Diktators, der sich im Vertrauen auf seine Intelligenz von den Untertanen isoliert und sich nach der zu späten Einsicht dafür mit Selbstblendung bestraft, weil er eine derart missratene Welt nicht mehr sehen will. Sie archaisiert das Stück gegenüber der klassischen Entstehungszeit in die vorklassische Zeit des Stoffs. Rainer Bredemeyers Musik arbeitet dementsprechend mit archaischen afrikanischen (trommelgestützten) Motiven. (Unter Theaterleuten verwundert, mit welcher Disziplin namhafte Schauspieler des – als individualistisch bekannten – Deutschen Theaters im Chor der Stadtältesten agieren.)
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9. Erneuerte und neue Formen I
Die beiden Antike-Inszenierungen Bessons wirken (auch aufgrund zahlreicher in und ausländischer Gastspiele) schulbildend. Das Spielen antiker Stücke oder Stoffe mit Masken wird in DDR und BRD eine von mehreren Möglichkeiten. Ich erinnere mich (ohne Anspruch auf annähernde Vollständigkeit) an Karge/Langhoffs „Sieben gegen Theben“ von Aischylos 1968 am Berliner Ensemble, an eine „Lysistrata“ von Aristophanes in Magdeburg 1970(?), an Piet Dreschers „Antigone“ von Sophokles in Karl-Marx-Stadt (Chemnitz), die Gesichtsmasken nur für den Chor verwendet, für die Protagonisten aber lediglich maskierende Kostüme, sowie an Bilder von Maskeninszenierungen Hansgünther Heymes in der BRD.
Bessons nächste Maskeninszenierung schafft diese Schulbildung nicht. Der Grund: Der Regisseur inszeniert 1970/71 an der Volksbühne Berlin erneut Brechts Parabelstück „Der gute Mensch von Sezuan“, dessen Inszenierung am BE 1958 zu seinem Weggang von dieser Bühne geführt hat. Die neue Inszenierung belebt also den alten (auch privat grundierten) Zwist um die „richtige“ Aneignung Brechts und gerät zusätzlich noch auf das verminte Gelände des ideologischen Dogmas von der „sozialistischen Menschengemeinschaft“ der späten Ulbrichtära. Wenn der Chefredakteur der einzigen Theaterzeitschrift der DDR Nössig von „soziologischer Demonstration“ schreibt (TdZ 12/1971, S.45) grenzt das in diesem Kontext an eine Anklageerhebung. Das Stück ist eine Parabel und zeigt in der Inszenierung den „Weg vom Nötigen, unter diesen Verhältnissen scheinbar Vernünftigen, ins Verbrecherische“ (Besson), was keine zwei Jahre nach der bewaffneten Intervention gegen den „Prager Frühling“ eine mindestens zweideutige Auskunft ist.
Ausstatter Achim Freyer baut eine funktionale dreistufige Podestbühne und gibt allen auftretenden Figuren Masken. Deren Differenzierung beschreibt die Rezensentin Ingrid Seyfarth (Text 3). TEXT 3
9.1 Erneuertes Maskenspiel
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Die fantasievolle und moderne Inszenierung bleibt bis zum Weggang des Regisseurs aus der DDR 1979 im Repertoire. Das ist eine Leistung. Dass sie nicht schulbildend wird, liegt weder an ihr noch am Regisseur. Es liegt an den ideologischen Verhärtungen, die in Ost und West ein, auf die eigene Gesellschaft zielendes, politisches Theater aus verschiedenen Gründen erschweren oder auch zeitweilig verhindern. Der Ausstatter Achim Freyer, der die DDR bereits 1972 verlässt, wird das Maskentheater auch in der BRD nicht vergessen, sondern radikalisieren. Mehr Glück hat Besson mit seiner vierten Maskeninszenierung. Mit ihr wendet er sich 1972 der Commedia dell’ arte zu. Allerdings setzt er – im Unterschied zu Strehler – nicht bei dem Bühnenreformer Goldoni, sondern bei dessen Widersacher Carlo Gozzi an. Er inszeniert die Märchenkomödie „König Hirsch“ an der Volksbühne, wobei er nicht Strehlers Masken übernimmt, sondern eigene Maskenerfahrungen weiterführt und lässt im Jahr drauf dort auch „Das schöne grüne Vögelchen“ von Gozzi mit Masken inszenieren. Mit diesem eigenen Akzent reiht sich Besson ein in das – zu dieser Zeit in mehreren Ländern wachsende – Interesse für das einzige europäische Maskentheater der Neuzeit, das auch ein Interesse an nichtliterarischen Texten von für Improvisation offenen Spielweisen ist (Text 4). Bessons Engagement trägt dazu bei, das Spiel mit Masken bei Stücken und Stoffen aus der Commedia dell’arte und ihrem Umfeld in beiden deutschen Staaten zu verankern. TEXT 4
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Martin Linzer