SozialRaumInszenierung

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SOZIALRAUMINSZENIERUNG Lingener Beiträge zur Theaterpädagogik Band XI

Herausgegeben von Nadine Giese, Gerd Koch, Silvia Mazzini

Schibri-Verlag

Berlin • Milow • Strasburg


Die Lingener Beiträge zur Theaterpädagogik (LBT) veröffentlichen und diskutieren neueste Forschungsergebnisse der Theaterpädagogik als angewandte Wissenschaft und als pädagogisch-künstlerische Praxis. Ausgehend von der Aktualität einer Problemstellung oder eines Forschungsinteresses thematisieren sie die Vielfalt von Ansätzen, Methoden, Techniken und Verfahrensweisen der Theaterpädagogik in Geschichte und Gegenwart, ihre theoretischen und historischen Hintergründe, ihre Vernetzungen, nationalen und internationalen Verbreitungen und ihre Grenzüberschreitungen zu anderen Disziplinen. Die LBT werden herausgegeben von Bernd Ruping, Marianne Streisand und Gerd Koch und mit Unterstützung des Lingener Instituts für Theaterpädagogik der Hochschule Osnabrück gedruckt.

Bestellungen über den Buchhandel oder direkt beim Verlag © 2012 by Schibri-Verlag Dorfstraße 60, 17337 Uckerland/OT Milow E-Mail: info@schibri.de http://www.schibri.de Umschlag: unter Verwendung eines Fotos von Nadine Giese Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Alle Rechte vorbehalten Printed in Germany

ISBN 978-3-86863-108-1


Inhaltsverzeichnis

INHALTSVERZEICHNIS Nadine Giese, Gerd Koch, Silvia Mazzini Vorwort

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Nadine Giese, Gerd Koch, Silvia Mazzini Einleitung

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Dea Komagie Die Beiträge – in Kurzvorstellung – von C bis Z

17

Michael Wrentschur Sozialraum: Eine Skizze zu Begriffen, Darstellungsweisen und Dramatisierungen

23

Maren Schmidt, Martina Pfeil, Norma Köhler Sozialraumtheater – Grenzgänge zwischen Wirklichkeiten

35

Romi Domkowsky, Nöck Gail „Sei bunt – sei öntörköltöröll – sei Wedding“ oder „Der Wedding kommt anders“

45

Karl-Heinz Wenzel Bremens erstes Schulübergreifendes Theater (B.E.S.T.) im Spannungsfeld zwischen Raum und Publikum

59

Dorothea Hilliger Shared Time and space – Teil sein und Teil haben in Schule und Theater

71

Jens Clausen, Harald Hahn Vom „Kieztheater“ zum „Legislativen Theater“

77

Paolo Mazzini Ein nicht-szenisches Theater: Strategien gegen das Risiko der Unsichtbarkeit

87

Olek Witt Theater der Migranten, Berlin

91

Michael Kreutzer Wo, zum Teufel, ist hier eigentlich das Lokale?

95 5


Inhaltsverzeichnis

Silvia Mazzini As IF would be a (real) community. Ein glokales Theaterexperiment

105

Stefan Gad Heterogenität als gesellschaftlicher Normalfall und Ausgangspunkt inklusiver Theaterarbeit am Beispiel des Inszenierungsprojektes ‚Durch dich im wir‘ des Agora-Theaters Gießen

117

Silvia Capodivacca Theater, das Spiel des Denkens

137

Hanne Seitz Künstler beim Wellenreiten oder wie der Künstlerische Eigensinn in den Wogen des Konsens unterzugehen droht

143

Hans Martin Ritter Gestus und Habitus – Nähe und Ferne zweier Begriffswelten

155

Nils Erhard Affektive Geografien und emotionale Gemeinschaften – Zu Druckverhältnissen in sozialen Räumen

169

Nadine Giese Vom Gehen, Umherschweifen und aus dem Tritt kommen

177

Gerd Koch Stadt-Bewusstsein/Urban Consciousness/Kentlilik Bilinci

187

Thea Kneisel, Matthias Spaniel TRAM. Eine Stadt steigt ein

193

Johannes Hock, Kai Müller COMMUNAUTEN Braunschweig

201

Verena Streitenberg Inszenierung des Publikums im Opernhaus als sozialen Raum

207

Stephan Weßeling Mein Traum: Ein „Bewegliches Theater“ in Berlin-Moabit – Wie könnte das aussehen?

211

Gerd Koch Bertolt Brecht, urbanes Bewusstsein und produktives Theater für sozialen Wandel

219

6


Inhaltsverzeichnis

Barbara Weigel Über eine Stadt von Webern

225

Florian Vaßen „Ich bin ein Landvermesser“ Heiner Müllers Katastrophische Landschaftsbilder im Zusammenspiel von Spatial Turn und Kartographie

239

Rita Colantonio Venturelli Landschaft als soziales Gesamtkunstwerk

255

Liliana Heimberg Konzepte und Strategien im Freilichttheater

263

Rainer E. Zimmermann Η ΝΕΑ ΠΟΛΥ

269

Autorinnen und Autoren

287

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Vorwort

VORWORT Für den 11. und 12. März 2010 rief ein praktisch-theoretisch interessierter Initiativkreis [Gerd Koch (Theater-/Kulturpädagogik), Silvia Mazzini (Philosophie und Theater/Film), Rainer E. Zimmermann (Philosophie/Urban Design)] zu einem Symposium mit dem Titel „Sozialrauminszenierung“ (www.spielart-berlin.de/ wp-content/.../sozialrauminszenierung.pdf, letzter Zugriff am 22.06.2012) auf: „Die Idee ist, vor dem Hintergrund des politisch engagierten Theaters – ganz im Sinne des Theatermanifestes von Iniziativa Futuribile (www.theatermanifesto.com) und anderen – die Wechselwirkungen zu studieren, die zwischen ethischen und ästhetischen Aspekten in der Sozialraumgestaltung eine Rolle spielen (im doppelten Sprachsinn), so dass dabei ein neuer Polis-Begriff angezielt werden kann – etwa so, wie das künftige vereinte Europa als neuer Sozialraum inszeniert werden kann, der die alten kulturellen Gegensätze vor allem im östlichen Mittelmeerraum zu übergreifen imstande ist. Und zwar mit Hilfe der kulturellen Vermischung von Stilelementen, wie zum Beispiel in der Musik (aber auch anderswo) gezeigt.“ Der Aufruf fand großen Anklang. Konzepte und Überlegungen, die während des Symposiums diskutiert wurden und zu produktiven Aus- und Gegeneinandersetzungen führten, wurden gemeinsam mit weiteren Beiträgen in dem hier vorgelegten Band versammelt und eröffnen damit ein inhaltlich heterogenes sowie interdisziplinäres Feld zum Thema SozialRaumInszenierung. Wir danken allen Beiträgerinnen und Beiträgern! Die Konferenz von 2010 wurde unterstützt durch • die BAG Spiel und Theater e. V. (www.bag-online.de), • die Gesellschaft für Theaterpädagogik e. V. (www.gesellschaftfuertheaterpaedagogik. net) und • Iniziativa Futuribile (www.manifestoteatro.com) und konnte in der Humboldt-Universität zu Berlin, Institut für Kulturwissenschaft, stattfinden. Vorausgegangen war dieser Konferenz die Veröffentlichung eines Manifestes zum futuriblen Theater – in Italien – nicht zuletzt in kritisch-konstruktiver Erinnerung an das futuristische Manifest, das Marinetti 1910 in Paris publizierte. Was ist die Absicht dieses neuen, prospektiven Manifestes? Theater wollte, sollte sich wieder darin erinnern, dass es eine öffentliche, eine publizistische Kunstform ist und dass das Soziale, dass das Räumliche, dass der inszenatorische und perspektivische Eingriff ihm wahrlich nicht fremd sind, sondern Begründungsfiguren seiner Existenz, seiner Gestalt sind! (Details zum futuriblen Manifest siehe im Beitrag von Silvia Mazzini in diesem Band, S. 105 ff.) Die Symposion war eine Art geselliger Initialzündung: teatro-phile Kolleginnen und Kollegen, die das Thema ansprach, meldeten sich, kamen zusammen, entwickelten in Theorie und Praxis bzw. als Praxis-Theorie Konzepte, neue Arbeitsweisen, dokumentierten ihre langjährige Praxis, ihre Modelle, formulierten syste9


Vorwort

matische backgrounds und zeigten deutlich an, dass SozialRaumInszenierung ein Ansatz einer Theaterpädagogik ist, die nicht nur als sogenannte stadtteilorientierte, zielgruppen- oder ortsspezifische Kunst (site specific art) zunehmende Aufmerksamkeit in der professionellen (Theater-)Kunstpraxis genießt sondern sich als öffentliche Agogik (also Lebensbegleitung) versteht. Wir können, wegen dieses weit ausgreifenden Ansatzes, auch von Theaterbildung sprechen. Sie greift damit weit in die Kulturgeschichte zurück, ist zugleich lokal präsent, öffnet sich gegenüber kulturellen und medialen Erscheinungen, verbindet kollektive mit individuellen, literarische mit nicht-literarischen Verhaltensweisen und Feldern – und stärkt all dies als ein spezielles, praxeologisches und ästhetisches empowerment, das Möglichkeitsräume erkennt, stiftet und gestaltet.1 Winter 2012 Nadine Giese, Dipl.-Sozialpädagogin, Dipl.-Theaterpädagogin (Lingen/Berlin) Prof. Dr. Gerd Koch (Ahausen/Berlin) Dr. Silvia Mazzini (Brescia/Berlin)

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Siehe Gerd Koch: Theaterpädagogische Prozesse als „Lebensgewinnungsprozesse“ (Marx), in: Bernd Ruping, Florian Vaßen, Gerd Koch (Hrsgg.). Widerwort und Widerspiel. Theater zwischen Eigensinn und Anpassung. Lingen, Hannover 1991, S. 324 ff.


Vorwort

Nadine Giese, Gerd Koch, Silvia Mazzini

EINLEITUNG Was meint SozialRaumInszenierung? Ist sie nur die Addition von drei Begriffen oder etwas mehr oder gar etwas ganz anderes? Heißt es möglicherweise, dass ein Sozialraum ‚sich selbst‘ inszeniert, also in kollektiver Autor(en)schaft entsteht, oder dass jemand einen Sozialraum ‚in Szene‘ setzt oder einen Raum zum Erzählen bringt? Oder handelt es sich vielleicht um eine räumliche Inszenierung, die besonderen sozialen Ansprüchen/Funktionen gerecht werden soll? Oder wird ein (sozialer) Raum allererst gestiftet durch bewusste und hier: theatral-ästhetische Gestaltung von Vorfindlichem und so auf den Begriff gebracht? Welche Fragen und Aspekte eröffnen die drei Begriffe, wie werden sie definiert und was ergibt sich im hybriden Gefüge? Der Begriff Sozialraum wird üblicherweise in Sozialpolitik, Stadtplanung, Jugendarbeit und -politik, Gemeinwesensarbeit/Sozialarbeit verwendet. Die Beiträge des Sammelbandes greifen dieses Bedeutungsfeld auf, setzen aber zusätzlich eigene Akzente, die aus den Denk- und Handlungsformen des Theatralen, Künstlerischen und Performativen stammen. Der Titel dieses Bandes heißt deshalb ganz bewusst: SozialRaumInszenierung (wir benutzen im Folgenden das Kürzel: SRI). Die grafische Gestaltung SozialRaumInszenierung soll anzeigen, dass die drei Sinn tragenden Begriffe ‚Sozial‘, ‚Raum‘ und ‚Inszenierung‘ ihre jeweilige Eigenart und Leistungsfähigkeit konzeptionell behalten und ihre Beziehungen untereinander eine Art von Begegnung herstellen – wobei Begegnung sowohl das fruchtbare Zusammenfügen als auch ein Gegeneinander und ein Abarbeiten meint. Die Begriffe Sozial, Raum und Inszenierung stehen relational zueinander. Ihr Eigensinn, ihr Eigenrecht soll in aktiver Wechselseitigkeit gewahrt bleiben und produktiv gestaltet werden. Und: Ihre jeweiligen, speziellen Leistungsfähigkeiten sollen als Eigenkraft erhalten bleiben. Der hier vorgelegte Sammelband ist von europäischen Expertinnen und Experten aus den Feldern Theater, Theaterarbeit, Dramaturgie, Theaterpädagogik, Sozialwissenschaft und Sozialpädagogik, Sozialer Arbeit, Psychologie, Literaturwissenschaft, Philosophie, Design-Theorie, Film und Architektur verfasst worden. Den Autorinnen und Autoren stehen vielfältige und langjährige Erfahrungen in Theorie und Praxis, bei der Konzeptionierung und aus Handlungsweisen zur Verfügung. Dementsprechend werden Erfahrungen, Denkweisen und Konzepte aufgezeigt, die das Soziale, den Raum und die Inszenierung zusammen ‚ins Spiel‘ bringen. In der Polyphonie der Beiträge der Autoren, deren Inhalte zwischen den drei Begrifflichkeiten und deren Bedeutungen oszillieren, wird so ein Panorama interdisziplinären Wissens entworfen, das eigene Lesarten bzw. weiterführende Interpretationen anbietet und zugleich thematisch nicht beliebig ist. 11


Nadine Giese, Gerd Koch, Silvia Mazzini

Betrachtet man die unterschiedlichen thematischen Setzungen der Beiträge, lässt sich das Feld von SRI – wie wir es als Theater-Schaffende/-Pädagog_innen verstehen – durch folgende Aufmerksamkeitsrichtungen prismatisch so ausdifferenzieren1: • • • • • • • •

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Es geht um Teilnahme in und an Öffentlichkeit.2 Es geht um Aktivierung des Sozialgefüges an Orten, in Räumen und Gebäuden.3 Es geht um Vitalisierung von Felddynamiken in/von Menschen-Gruppen. Es geht um virtuelle, soziale, inszenierte Räume, wie sie z. B. durch literarische, poetische Konstellationen gestiftet werden.4 Es geht um Impulse zum sozial-künstlerischen Aktivwerden, die aus sozialen wie personalen Bedürfnissen wie aus ästhetischen und agogischen Blickrichtungen kommen.5 Es geht um soziale Räume – das können gebaute oder umbaute Räume sein, aber auch weit ausgreifend etwa Landschaften oder urbane Agglomerationen – oder Text-Räume, Theater-Räume, innerliche oder interpersonelle Räume.6 Es geht um multi- bzw. inter- sowie soziokulturelle (Stadtteil-)Arbeit.7 Es geht um das Aufzeigen der Konstruktion von sozialen Räumen sowie Handlungen im Kontext (vor-)herrschender kultureller, sozialer wie räumlicher Paradigmen.

An dieser Stelle sind Literaturangaben verzeichnet, die nicht unmittelbar in den Beiträgen genannt werden, uns jedoch weiterführend und relevant erscheinen. Roland Roth: Bürgermacht. Eine Streitschrift für mehr Partizipation. Hamburg 2011. Und bezüglich der aktuellen, globalen Ereignisse, siehe Ingo Zimmermann: Am Ende. Postphilosophisches Denken. Heidegger, Marx und die Occupy-Bewegung. Essen 2012. Vgl. Romi Domkowsky, Gerd Koch, Dieter Winkler: Straßen(namen) erzählen, in: Lars Göhmann (Hrsg.): Theater wi(e)der Wirklichkeit. Lingen (Ems) 2001, S. 106 ff. Vgl. aus dem Denken für eine neue soziale Stadt: Leonie Baumann, Sabine Baumann: Kunstvermittlung zwischen Konformität und Widerständigkeit. Wolfenbüttel 2009; Erika Fischer-Lichte: Theater und Fest in Europa. Tübingen 2012. Vgl. seit 2011 die Daten des OECD-Better Life Index: http://www.oecdbetterlifeindex. org/; siehe auch den Schwerpunkt „Heimat im Stadtraum“ der Aktuellen Bloch-Studien 2008/2009 (hrsg. von Rainer E. Zimmermann. München 2009); Claudio Bernardi: Performazione. Teatro e arti performative nella scuola e nella formazione della persona. Milano 2011. Siehe anschaulich, exemplarisch und systematisch „Schauplatz Ruhr. Jahrbuch zum Theater im Ruhrgebiet. 2012/Andere Räume (im Verlag von „Theater der Zeit“, Berlin 2012). Graham Ley: From mimesis to interculturalism. Exeter 1999; Wolfgang Schneider (Hrsg.): Theater und Migration. Hildesheim 2010.


Einleitung

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Es geht um das Aufspüren wie Verändern von sozialpolitischen wie gesellschaftlichen Problemlagen im lokalen wie globalen Kontexten.8 Es geht um Stärkung kulturell-ästhetischer Nachhaltigkeit9 und nicht um sog. Eventisierung, wie sie etwa in der konventionellen/kommerziellen (nicht nur Tourismus-)Werbung oder im branding für Städte und Landschaften stattfindet – obwohl nicht vergessen werden darf, dass Theater/Inszenierung – auch – ein Präsenzmedium mit hohem Grad von Erlebnis- bzw. Ereignishaftigkeit ist. Es geht um das Aufzeigen der Konstrukthaftigkeit einer Inszenierung und um die Frage nach der Regie, Dramaturgie oder gar Intendanz sozialer Räume.10 Es geht um die Verortung theaterpädagogischer Projekte im Kontext zeitgenössischer, ortsspezifischer Theaterarbeit.11 Es geht um das Aufzeigen von Blickverhältnissen (sozialer) Bühnen, deren Protagonisten manchmal Theaterschaffende, manchmal Bewohner, manchmal (Ziel-) Gruppen und manchmal der Raum sind.12 Es geht um das Verhältnis sowie die Befragung von Kunst, künstlerischen Praktiken, sozialpädagogischer Intervention und marktwirtschaftlicher Eventgestaltung bzw. Stadt-Image-Pflege.13 Es geht um das Interventions-, Partizipations- und Reflexionspotential von Performances im öffentlichen Raum.14 Es geht um das Wahrnehmen, Sichtbarmachen, Hinterfragen und Überschreiben sozialer wie urbaner Praktiken im öffentlichen (Spiel-)Raum, oszillierend zwischen Alltag und Kunst.

Vgl. eine ähnliche Blickrichtung bei Christa Müller: Urban Guardening (München 2011) und in der Allmende-, Gabe- und Commons-Bewegung; siehe Ingrid Hentschel, Una H. Moehrke, Klaus Hoffmann (Hrsgg.): Im Modus der Gabe. Bielefeld u. a. 2011. Exemplarisch und umfassend, teatro-soziologisch: Heinz Bude, Thomas Medicus, Andreas Willisch (Hrsgg.): ÜberLeben im Umbruch. Am Beispiel Wittenberge: Ansichten einer fragmentierten Gesellschaft. Hamburg 2011. Vgl. Tutzinger Manifest für die Stärkung der kulturell-ästhetischen Dimension Nachhaltiger Entwicklung von 2001; siehe auch Peter Cornelius Mayer-Tasch: Ein Netz für Ikarus. Über den Zusammenhang von Ökologie, Politik und Ästhetik. München 1987. Anne Kehl: Auf unsichtbaren Bühnen. Forschendes Theater im Stadtteil. Bremen 2004. Vgl. Fokus Schultheater 09. Zeitschrift für Theater und ästhetische Bildung: Spielraum. Stadtraum. Hamburg 2010; Ulrike Hentschel, Maren Schmidt: Orte finden, erkunden, erfinden. Zu Strategien ortsspezifischer Arbeit im Theater und in der Theaterpädagogik. In: Ursula Brandstätter, Ana Dimke, Ulrike Hentschel (Hrsgg.): szenenwechsel, Berlin/ Milow 2010, S. 103–113 Gerd Koch u. a. (Hrsgg.): Theaterarbeit in sozialen Feldern/Theatre Work in Social Fields. Frankfurt (Main) 2004; Bernadette Cronin, Sieglinde Roth, Michael Wrentschur (Hrsgg.): Training Manual for Theatre Work in Social Fields. Frankfurt (Main) 2005. Vgl. Markus M. Jung: RAUMimage – ImageRÄUME. Neu-Ulm. 2011. Vgl. Gabriele Klein. Stadt.Szenen. Wien 2005.

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Nadine Giese, Gerd Koch, Silvia Mazzini

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Es geht um cultural performances.15 Es geht um die Wahrnehmung und Entfaltung kollektiver Autor(en)schaften.16 Es geht um die Betrachtung, Beobachtung, Veränderung oder Bewusstwerdung von Rollen, die eine Kultur oder Gesellschaft mehr oder weniger starr festlegen.17 Es geht um das subversive, konstruktiv-verändernde Potential, das eine Inszenierung (als Mimesis oder als Phantasiekonstruktion) in einem, eines oder von einem Sozialraum entwickeln kann.18

Es geht um Spiel in allen seinen Formen: denn der Mensch ist nicht nur ein soziales Tier: zoon politikon (ζώο πολιτικό)19 sondern auch ein raum-bildendes Tier: zoon horopoietiko (ζώο χωροποιητικό von horos: Raum, Ort; poio: machen) und inszenierendes Tier: zoon skenoplastiko (ζώο σκηνοπλαστικό von: skene: szene; plastikos: machen, bilden, gestalten). Die neuen Begriffe (horopoietiko, skenoplastiko) sind Versuche, der historisch-systematischen Bedeutung von „raum-bildend“ und „inszenierend“ näherzukommen (wir danken unserem Kollegen Dr. Antonis Lenakakis, Lecturer an der Aristoteles Universität in Thessaloniki, für seine fachkundige Beratung!).

Komposition des Buches Der hier vorgelegte Sammelband ist wie ein Kaleidoskop aufgebaut (ein Kaleidoskop will Blicke auf schöne Formen ermöglichen: schön kann zugleich eine soziale wie eine ästhetische Kategorie sein). Die Komposition des Buches erinnert an ein bewegliches „kubistische(s) Gemälde. Ein Gegenstand, der, aus unterschiedlichen Blickwinkeln, in verschiedenen Zeiten gesehen, in einzelne Teile zerlegt und zusammengesetzt als ein Bild erscheint. Dieses eine Bild erweckt bei den vielen Teilen nie den Eindruck von Beliebigkeit.“20 Der Sammelband ist eine Art moderne Spezial-Enzyklopädie – also der Versuch, umfangreiches (aber auf keinen Fall vollständiges!) Wissen interessegeleitet vorzu15 Vgl. Gabriele Klein, Wolfgang Sting (Hrsgg.): Performances. Bielefeld 2005. 16 Gerhard Fischer, Florian Vassen (Hrsgg.): Collective Creativity. Amsterdam, New York 2011. 17 Vgl. Helmut Schanze (Hrsg.): Handbuch der Mediengeschichte. Stuttgart 2001; Jacques Rancière: Moments politiques. Interventionen 1977–2009. Zürich 2011. 18 Gaston Bachelard: Poetik des Raums. Frankfurt (Main) 1997; Marc Augé: Nicht-Orte. München 2010. 19 Hier wird an den berühmten Ausdruck von Aristoteles (in Politika I, 2 und III, 6) erinnert: zoon politikon (griech. ζῷον πολιτικόν, „Lebewesen in der Polisgemeinschaft“). 20 Richard Blank: Drehbuch. Alles auf Anfang – Abschied von der klassischen Dramaturgie. Berlin, Köln 2011, S. 113.

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Einleitung

stellen; denn eine Enzyklopädie meint nicht nur die Menge von versammeltem Wissen sondern auch ein von Interesse geleitetes Sammeln von Wissen, ein praktikables Lern-Wissen – und hat historisch auch eine theatrale Konnotation.21 Das Buch liefert Beispiele von best practice und fühlt sich einem solchen Gedanken verpflichtet, dass nichts praktischer sei als eine gute Theorie und: „Nichts ist theoriegewinnender als eine gut funktionierende Praxis“.22 Die Anordnung der Beiträge des Buches geht partikular und generell, exemplarischästhetisch und sozio-kulturell vor, indem es thematische Inseln innerhalb des großen, abenteuerreichen und teilweise noch unbekannten Archipels der SRI bildet. Formale Aspekte bezüglich der Angaben in der Zitation, der Literaturhinweise und des gendering oblagen den Autoren und wurden von den Herausgebern nicht vereinheitlicht.

21 Der Begriff „Enzyklopädie“ setzt sich aus zwei griechischen Wörtern zusammen: ἐγκύκλιος (enkýklios), im Kreis herumgehend, auch: umfassend, allgemein, sowie παιδεία (paideia), Erziehung oder Unterricht. Das daraus zusammengesetzte ἐγκύκλιος παιδεία verwies auf die „chorische Erziehung“, meinte also ursprünglich die musische Ausbildung junger freigeborener Griechen im Kreis des Theaterchores. Eine verbindliche Auflistung der vermittelten Fächer gab es bei den Griechen nicht. Moderne Forscher ziehen es vor, den griechischen Ausdruck als allgemeine Erziehung zu übersetzen, im Sinne einer grundlegenden Bildung (so fasst Wikipedia zusammen). „Das in einer Enzyklopädie eingefangene Wissen (besser: veröffentlichte Wissen; denn es liegt offen und als Arbeitsmaterial/-angebot vor! Anm. Hrsgg.) weist immer Ränder auf, an denen sich dasjenige bemerkbar macht, was nicht erfasst, aufgenommen und eingegliedert wurde – ganz zu schweigen von jenem Unbekannten, dessen Existenz nicht einmal erahnt wird oder das noch im Wartestand der Zukunft verharrt … So können sie imaginäre Enzyklopädien schaffen, welche die gewohnten Grenzen in Frage stellen, indem sie gerade auch Randzonen ästhetisch gestalten, offen halten, aber auch problematisieren.“ (Christine Blättler, Erik Porath: Auftakt, in: Dies. (Hrsgg.): Ränder der Enzyklopädie. Berlin 2012, S. 7). 22 Formuliert in Anlehnung an den Aufsatztitel „Nichts ist praktischer als eine gute Theorie – Nichts ist theoriegewinnender als eine gut funktionierende Praxis“: Zum TheoriePraxis-Austausch in der Psychologie, in: U. P. Kanning, L. von Rosenstiel & H. Schuler (Hrsgg.): Perspektiven einer nützlichen Psychologie. Göttingen 2010.

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