Theater mit allen

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Norbert Radermacher (Hg.)

Theater mit allen Konzepte Methoden Praxisbeispiele

Schibri Verlag Berlin • Milow • Strasburg


Norbert Radermacher (Hg.)

Theater mit allen Konzepte Methoden Praxisbeispiele

Mit Beiträgen von: Peter Ambeck-Madsen Rita Elbers Udo Eling Lars Göhmann Anneliese Hanelt Katrin Kellermann Gerd Koch Tom Kraus Björn Klomp Dieter Marks Jörg Meyer Ingo Michael Bruni Müllner Rainer H. Niedernostheide Andreas Poppe Norbert Radermacher Bernd Ruping Emmi Sommer Reinhard Wilke

Redaktioneller Hinweis: Alle nicht namentlich gekennzeichneten Beiträge, Grafiken und Schaubilder stammen vom Herausgeber des Buches. Die Artikel sind mit Ausnahme von einigen redaktionellen Änderungen im Original wiedergegeben. In Teilen wurden die Artikel allerdings stark gekürzt, um Wiederholungen zu vermeiden. Die Artikel wurden nach der neuen Rechtschreibung korrigiert. Wenn die weibliche/männliche Form nicht ausdrücklich im Text vermerkt ist, sind immer beide Formen gemeint.

5


Inhaltsverzeichnis

Einführung 1.

Theater mit allen

1.1 Performativität und Atem, Gerd Koch (2013) 1.2 Theater mit allen, Theater für alle, Norbert Radermacher (2013) 1.2.1 Fundstücke I: Seminar Kindertheater, Norbert Radermacher (1974)

13 15 19

Theater und Pädagogik 2.

Vom Modellversuch zum Hochschulstandort – die Entwicklung eines Berufsfeldes

2.1

Eine große Schüssel Schokoladenpudding! Die Entstehungsgeschichte des Theaterpädagogischen Zentrums der Emsländischen Landschaft e.V., Norbert Radermacher (2013) Fundstücke II: Vom Projektkurs Theater am Gymnasium Georgianum zur Hochschule Osnabrück, Norbert Radermacher (2007) Das Konzept – Theaterpädagogisches Modell im ländlichen Raum, Norbert Radermacher (1980) Fundstücke III: Theaterpädagogik, Programm des Landes Niedersachsen (1981) Das Theaterpädagogische Zentrum als regionaler Kulturträger und Ort der Sünde, Norbert Radermacher (1983 -1987) Fundstücke IV: Kulturelles Juwel im Emsland Das Zentrum für Theaterpädagogik in Lingen, Reinhard Wilke (1988) Projektbeispiel: Die „Landesbühne Groß-Hesepe“ Theaterarbeit in der Justizvollzugsanstalt, Dieter Marks (1982) Die Kulturpolitik des Landes Niedersachsen Theaterpädagogik als Teil regionaler Kulturarbeit, Norbert Radermacher (1992) Projektbeispiel: Als Opa noch kurze Hosen trug, Bruni Müllner (1991) Projektbeispiel: „Sammy, erzähl uns deine Geschichte“ Kindermusical als Modell der Zusammenarbeit regionaler Kulturträger, Norbert Radermacher (1993-1999) Fundstücke V: Der Korn- und Hansemarkt in Haselünne und das TPZ, Ingo Michael (2008) Viel los in der Provinz, Norbert Radermacher (1993) Projektbeispiel: Liek moket – die Geschichte des Dorfes Wahn, Jörg Meyer (1994) Tanz und Theater im Wöhlehof, Norbert Radermacher (2006) Anerkennung und Bestätigung, der LEGO-Preis, Norbert Radermacher (1994) Fundstücke VI: Feuer in Lingen, Peter Ambeck-Madsen, (1994) Die Theaterlandschaft in Lingen ist bunt, Norbert Radermacher (2000) Lingen als Stadt der nationalen und internationalen Theaternetzwerke, Norbert Radermacher (2013) „Theater muss wie Feuer sein“, die Arbeitsfelder des Theaterpädagogischen Zentrums in der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, Norbert Radermacher (2005) Fundstücke VII: Familie in Flammen (2005) Ereignisse – Entwicklungen – Entdeckungen, Norbert Radermacher (2006) Gartenzaungespräche und die Folgen – zur Geschichte des Studiengangs Theaterpädagogik an der Fachhochschule Osnabrück in Lingen, Norbert Radermacher (2007) Berufsfelder der Theaterpädagogik in Europa, Norbert Radermacher (1999) Berufsfelder, Norbert Radermacher (1999/2008)

2.1.1 2.2. 2.2.1 2.3 2.3.1 2.3.2 2.4 2.4.1 2.4.2

2.4.3 2.5 2.5.1 2.5.2 2.5.3 2.5.4 2.6 2.6.1 2.7 2.7.1 2.7.2 2.8 2.9 2.9.1

23 27 29 33 35 38 40

41 45

51 53 56 58 59 61 62 64 67 69 72 73 76 80 81 6


3.

Theaterpädagogik in der Praxis – Methoden und Modelle

3.1 3.2

Theater aus dem Koffer, Norbert Radermacher (1985) Sinneswahrnehmung und Körperausdruck – Elemente eines Theater-Spiel-Modells auf der Grundlage der Arbeit von Augusto Boal, Norbert Radermacher (1993) 3.2.1 Das Theater-Spiel-Modell, Norbert Radermacher (1993) 3.2.2 Fundstücke VIII: Der Polizist im Kopf Interview mit Augusto Boal, Bernd Ruping (1989) 3.3 Theaterpädagogik als Methode in der Sucht- und Drogenprävention, Norbert Radermacher (2001) 3.4 Theater erleben – das Theatermuseum für junge Menschen – eine gescheiterte Vision, Norbert Radermacher (1997-2010)

4.

83

91 95 99 102 105

Kulturelle Bildung

Kulturelle Jugendbildung als Investition in die Zukunft der Region, Norbert Radermacher (2005) 111 4.1 4.2 Plädoyer für die Stärkung der kulturellen Bildung, Norbert Radermacher (2006) 113 4.2.1 Projektbeispiel: „Jugendkulturpreis Talente“ des Kulturforums St. Michael, Katrin Kellermann / Norbert Radermacher (2009) 115

Theater mit allen und für alle 5.

Theater mit Kindern und Jugendlichen

5.1

Das Theaterspiel mit Kindern als Beitrag zur ästhetischen und sozialen Erziehung, Norbert Radermacher (1989) 5.2 Kinderkulturarbeit – neue Mode oder erkanntes Defizit, Norbert Radermacher (1993) 5.3 Kinder spielen und tanzen für Kinder – Idee und Konzept des 1. Welt-Kindertheater-Festes, Norbert Radermacher (1990) 5.3.1 Kulturdialog mit Nachhaltigkeit – das 7. Welt-Kindertheater-Fest, Katrin Kellermann / Norbert Radermacher (2002) 5.3.2 Eine Idee geht um die Welt – Reisebericht vom 10.Welt-Kindertheater-Fest in Moskau, Norbert Radermacher (2010) 5.4 Kindern eine Bühne geben – das Deutsche Kindertheater-Fest als ein Ort der Präsentation künstlerischer Arbeit von und mit Kindern, Norbert Radermacher (2008) 5.5 Theater mit Kindern als Kunstereignis, Norbert Radermacher (2008) 5.6 „Just imagine“ – von der Kraft der Fantasie und der Imagination im Theater mit Kindern, Norbert Radermacher (2002) 5.6.1 Projektbeispiel: „Just imagine“, Norbert Radermacher (2002)

6.

Theater und Schule

6.1 6.1.1 6.1.2 6.2

Schultheater am Gymnasium Georgianum in Lingen /Ems, Norbert Radermacher (1977-1994) Fundstücke IX: Was lernen wir in der Schule?, Udo Eling (2007) Projektbeispiel: “Ein Spiel mit der Zauberflöte“, Norbert Radermacher (1994) Regionale Lehrerfortbildung in Niedersachsen, ein Beispiel der Zusammenarbeit zwischen Schule und TPZ, Norbert Radermacher (1987) Theater in der Schule, Thesen zur Situation und zu den Chancen des Schulfaches im Kontext einer ästhetischen Erziehung, Norbert Radermacher (2000)

6.3

7

121 124 127 132 135 137 139 143 147

151 153 154 156 159


7.

Theater mit Amateuren

7.1 7.2 7.2.1 7.3

Zur Rolle des Spielleiters im Amateurtheater, Norbert Radermacher (1989) Spielen in der spielBühne Lingen von 1979 bis heute, Rita Elbers (1989) Projektbeispiel: „Bernarda Albas Haus“, Norbert Radermacher (1985) Die besondere Qualität des Amateurtheaters – Versuch einer Standortbestimmung des Amateurtheaters in Deutschland, Norbert Radermacher (2007) Vom Bürgertheater zum bürgerschaftlichen Engagement: 325 Jahre Dramatischer Verein – Bürgerliche Komödiantengesellschaft 1686 Biberach am Riß, Norbert Radermacher (2006) Das Generationenmodell Amateurtheater, Norbert Radermacher (2006) Das Volkstheater im Amateurtheater heute, Norbert Radermacher (2011) Auf den Punkt – Editorial in „Spiel und Bühne“, Norbert Radermacher (2000-2012) Die letzte Ausgabe (Dez. 2001) Hurra wir leben noch (April 2002) Ein wunderbarer Theaterfrühling (Juni 2004) Was dient dem Menschen? (Dez. 2008) Die Spatzen pfeifen es von den Dächern (März 2010) Über die befeuernde Wirkung des Theaters (Sept. 2010) Kein Platz für Radikalismus (Sept. 2011) Ein Aufschrei in der Kulturszene (Juni 2012)

7.4

7.5 7.6 7.7

163 165 169 170

172 177 180 182

Theater grenzenlos 8.

Internationale Strukturen und Projekte

8.1

Theater ohne Grenzen – der interkulturelle Dialog am Beispiel von europäischen Kinder- und Jugendtheaterprojekten, Norbert Radermacher (2003) Projektbeispiel: „Theater anders erleben“, Emmi Sommer (2012) Projektbeispiel: „Litill, Tritill und die Vögel“, ein isländisch-deutsches Jugendtheaterprojekt, Andreas Poppe (1978) Projektbeispiel: „Olivers Traum“, Tom Kraus / Norbert Radermacher (2006) Projektbeispiel: „Über den Wolken...“ Erfahrungen und Erkenntnisse aus einem deutsch-afrikanischen Theaterprojekt, Björn Klomp (2002) Ein Blick über den Tellerrand, Norbert Radermacher (1998) Internationale Strukturen im Bereich des Amateurtheaters und der Theaterpädagogik in Deutschland, Europa und der Welt, Norbert Radermacher (2011) Das Europäische Zentrum der AITA/IATA, Anneliese Hanelt / Norbert Radermacher (1992-2011) Fundstücke X: Das Brüssel des Amateurtheaters, Rainer H. Niedernostheide (1992) Projektbeispiel: „Das Fest der Sinne“ – ein europäisches Theaterfestival für junge Menschen mit und ohne Behinderung, Norbert Radermacher (1995-2008) Die Künste im Kontext der Kulturarbeit von Menschen mit und ohne Behinderung, Lars Göhmann (2008) „Garten der Lüste“, das 1. Europäische Musik-Theater-Camp in Syke/Niedersachsen, Norbert Radermacher (1992) Die europäische Dimension des 1. Musik-Theater-Camps in Syke, Norbert Radermacher (1992) Das Europäische Circus Camp, Ingo Michael (1998) Arts by Children – Voices for a Better World e.V., Norbert Radermacher (2010) Projektbeispiel: Kulturwaisenhaus in Gazipur / Bangladesch, Norbert Radermacher (2013) Improvisation as an international language – Excercises, Norbert Radermacher (1990-2013) Das diplomatische Parkett ist glatt! Norbert Radermacher (2013)

8.1.1 8.1.2 8.1.3 8.1.4 8.2 8.3 8.3.1 8.3.2 8.3.3 8.3.4 8.4 8.4.1 8.5 8.6. 8.6.1 8.7 8.8

193 200 202 204 208 210 212 215 216 219 221 224 226 229 230 233 236 240

8


Kulturpolitik – Kulturmanagement 9.

Positionen und Debatten

9.1

Das Amateurtheater – ein Mehr-Generationenmodell im europäischen Vergleich, Statement zur Kulturpolitik und Kulturförderung in Europa, Norbert Radermacher (2007) Begegnungen auf Augenhöhe – Breiten- und Hochkultur auf dem Weg zu gleichberechtigten Partnern, Norbert Radermacher (2008) Kultur – Fundament der Gesellschaft, auf dem sie steht und auf das sie baut – der Bericht der Enquete-Kommission „Kultur in Deutschland“ und seine Auswirkungen auf das Amateurtheater, Norbert Radermacher (2008)

9.2 9.3

10.

245 249

251

Projektmanagement und Projektorganisation, Norbert Radermacher (2006)

10.1 Projektplanung 10.2 Zeitleiste zur Durchführung von Projekten 10.3 Produktionsmanagement – Zeitleiste einer Theaterproduktion 10.4 Kulturförderung und Kulturfinanzierung 10.4.1 Kommunale und staatliche Kulturförderung in Deutschland 10.4.2 Kulturförderung durch die Europäische Union 10.4.3 Spenden und Sponsoring 10.5 Kosten- und Finanzierungsplan für Theater- und theaterpädagogische Projekte

255 258 262 265 265 267 267 269

Literatur – Quellen – Adressen – Autoren 11. 11.1 11.2 11.3 11.4 11.5 11.6 11.7 11.8 11.9

Literatur Theatergeschichte – Theatertheorie – Kulturgeschichte Theaterpädagogik – Spielpädagogik – Kulturelle Bildung Theater mit Kindern und jungen Menschen – Kindertheater – Kinderkulturarbeit Amateurtheater – freies Theater – Schultheater Kulturpolitik – Kulturmanagement – Kulturarbeit Interkulturelle – internationale Theaterarbeit Dokumentationen – Projektberichte – Materialien Literatur zum Theaterpädagogischen Zentrum Zeitschriften und Periodika

277 277 278 279 279 280 281 281 282

12. 13.

Adressen Autorenverzeichnis

282 284

Impressum / Bildnachweis

286

9


Performativität und Atem Gerd Koch (2013)

1.1

Die in diesem Band versammelten Beiträge von Norbert Radermacher sind über einen langen Zeitraum von 40 Jahren und aus vielfältigen Zusammenhängen heraus entstanden. Allein schon das macht sie zu einem national wie international, zu einem politisch wie kulturell, zu einem subjektiv nahen wie institutionell-organisatorisch bedeutsamen Kompendium der Vielfalt der Arbeitsgebiete von Norbert Radermacher. Und: Es gibt meiner begründeten Ansicht nach zwei Begriffe, die diese Vielfalt innerlich und inhaltlich zusammenhalten – ohne unzulässig zu vereinheitlichen. Ich habe die folgenden zwei Stichworte, die aus den Feldern von Spiel und Theater, aus Theater-Bildung, aus dem Amateurtheater (jeweils in Theorie wie Praxis) stammen, gefunden: Performativität und Atem! Zwei ungewöhnliche Begriffe in diesem Publikations-Zusammenhang? Nein! Wirklich nicht; denn: Performativität, das ist öffentliches, zeigendes, eingreifendes Handeln; das meint nicht nur Aufführungen im Theater-Sinne (performance), sondern auch ein Aufführen, verbunden mit einem möglichen ‚Anecken‘ (wie der sich aufführt). Wer in bildungspolitischen, fachlichen Aufgabenfeldern handelt, der zeigt angewandte Performativität. Und das ist eine Verhaltensqualität, die unverzichtbar ist für das Gelingen ziviler, kosmomobiler, partizipativer, kultivierter Gesellschaftlichkeit. Norbert Radermacher verfügt über solche kreative Performativität. Er nimmt wahr, und er wird wahrgenommen (z. B. erkennbar in den hier vorgelegten Beiträgen). Mein zweites Stichwort ist Atem – ein wahrlich in der Theaterarbeit und im Schauspielen nicht zu vernachlässigendes Übungsfeld – und ein grundsätzlich menschliches, schlicht existenzielles dazu; denn: „Dass man atmen kann, ist ohnehin mein Hauptkriterien in allen Dingen“ (schreibt Wolfgang Welsch 2012 in seinem Buch „Blickwechsel. Neue Wege der Ästhetik“) – und geschichtsphilosophisch wird in vielen Kulturen der ‚Odem‘ als Lebenselexier verstanden. Norbert Radermacher hat einen langen Atem gezeigt in seiner Arbeit, durch seine Arbeit (dieses Buch zeugt kompetent davon) – belebende Ausdauer und Beständigkeit, so dass ich sagen kann: Er hat seinen Arbeitsfeldern ‚Odem‘, Atem, Lebenselexier gegeben – und: Er musste sicher auch seinerseits während seiner umfangreichen Tätigkeiten so manches Mal kräftig durchatmen! Atemgebende Performativität – das hier vorgelegte Buch von Norbert Radermacher zeugt davon!

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Spiel- und Zirkusfest auf dem Universit채tsplatz in Lingen (Ems)

14


Theater mit allen Theater für alle Norbert Radermacher (2013)

1.2

Die vorliegende Publikation ist eine Sammlung von ausgewählten Artikeln, Aufsätzen, Vorträgen und Konzepten aus meiner fast 40-jährigen beruflichen und ehrenamtlichen Tätigkeit. In dem zurückliegenden Lebensabschnitt standen die praktische Projektentwicklung und die Realisierung neuer Ideen sowie die Umsetzung innovativer Konzepte im Vordergrund. Dieses Buch gibt einen Einblick in das künstlerische und pädagogische Handeln in unterschiedlichen Arbeitsfeldern des Theaters und der Theaterpädagogik; gleichzeitig verweist es auf mein Verständnis von Kunst und Kultur in unsere Gesellschaft. Mit einer großen Achtung gegenüber der Kunst und den Menschen, geht mein Bemühen einher, diese „notwendige und unersetzliche Dimension unseres Lebens“1 möglichst vielen Menschen zu vermitteln und nahezubringen. Durch die aktive Aneignung künstlerischer Fertigkeiten und Fähigkeiten vermittelt sich in ganz besonderer Weise die Erfahrung des Menschseins. Wie sich diese Transferarbeit in der Praxis gestaltet und welche Wirkungen davon ausgehen, wird in den nachfolgenden Beiträgen vorgestellt. Hilmar Hofmann stellt in seinem 1985 erschienenen Buch „Kultur für morgen“2 die Frage, „was kann von den Menschen gewonnen werden, wenn sie, statt Kultur bloß passiv zu genießen, sich in Kulturprozesse selber mit einbringen, selber bewegender Teil des Geschehens werden?“3 „Mit Hilfe der Kultur, vor allem der Künste, formulieren die Menschen ihren Traum vom lebenswerten Leben“.4 In einem Interview habe ich diesen Lebenstraum wie folgt beschrieben: „Die Theaterpädagogik ist für mich eigentlich mehr als ein Fach oder eine Disziplin, sie ist ein Lebensentwurf […]. Ich habe in ihr das gefunden, was mich selbst lebenstüchtig und lebensfroh macht. Es ist mein Versuch, die Welt zu entdecken und zu begreifen“5. Im Studium der Theaterpädagogik und der Kunst habe ich diesem Lebenssinn nachgespürt und bin dabei immer wieder auf die ganz besondere Wirkung der Kunst für den einzelnen Menschen in der sozialen Gemeinschaft aufmerksam geworden. Diese Qualität durfte ich vielfach am eigenen Leibe erfahren. Josef Beuys forderte in seinen Aktionen rund um die Dokumenta V 1974 in Kassel nicht nur seine Studenten, sondern alle Menschen auf Künstler zu sein – jeder Mensch ist ein Kunstschaffender! Das Konzept einer allumfassenden Verflechtung von Mensch und Kunst hat mich ebenso beeinflusst wie das Werk Walter Benjamins, der in seinen politischen und pädagogischen Visionen stets den Menschen in den Mittelpunkt stellte.6 In meinem Studium der Kunstwissenschaften an den Universitäten Münster und Osnabrück beschäftigte ich mich mit dem Verhältnis von Kunsttheorie und Kunstpädagogik. Bereits am Ende des 19. Jahrhunderts und in den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts setzten sich die Pädagogen und Kunstwissenschaftler Alfred Lichtwark und Justus Brinckmann in Hamburg vehement für die Abschaffung der geheiligten Musentempel und die Öffnung der Museen in Hamburg für alle Bürgerinnen und Bürger ein. Bereits 1889 veranstalteten A. Lichtwark und C. Götze in der Hamburger Kunsthalle eine Ausstellung über Kinderzeichnungen. Die Deutschen Kunsterziehungstage zu Beginn des 20. Jahrhunderts (Dresden 1901, Weimar 1903, Hamburg 1905) thematisierten die Qualität der künstlerischen Bildung als Erziehung zum ganzen Menschen.7 15


Justus Brinckmann hat mit dem Aufbau des Museums für Kunst und Gewerbe in einer bevorzugten Lage direkt neben dem Hauptbahnhof in Hamburg nicht nur einen völlig neuen Museumstypus geschaffen, sondern sein Haus für breite Bevölkerungskreise geöffnet. Diese Ansätze einer „Kultur für alle“ könnten natürlich auch auf die Theaterlandschaft übertragen werden, aber erstaunlicherweise hat sich das professionelle Stadt- und Staatstheater in Deutschland – von vereinzelten Versuchen abgesehen – bis heute mehr oder weniger in einem geschlossenen System verfangen und in sein Schneckenhaus zurückgezogen. Richard von Weizsäcker nimmt in einer bemerkenswerten Rede auf der Hauptversammlung des Deutschen Bühnenvereins 1987 die Theater mit den Worten in die Pflicht: „Wir brauchen Theater für unser Leben – wir brauchen es nicht nur in den großen Metropolen. Es sollte möglichst von jedem Ort erreichbar sein.“8 Dies ist eine lobenswerte und zukunftsweisende Forderung, die allerdings die Behäbigkeit der Institution Theater und ihre Interessen verkennt. Man hat sich im eigenen Musentempel komfortabel eingerichtet und verhindert damit für viele potentielle Zuschauer und Interessenten den Zugang zu Kunst. Hermann Glaser und Karl Heinz Stahl fordern in ihrem Buch „Bürgerrecht Kultur“9 bereits 1983: „Die szenische Aktion muss vom Zentrum Theater hinausgetragen werden in die Stadtteile, muss vieler Orten stattfinden“10 und „das Theater (als entauratiziertes Theater) muss – im wörtlichen wie im übertragenen Sinne – auf die Straße gehen, d.h. informell den Bürger an seinem Ort, vor Ort zu erreichen suchen“11. Was Glaser/Stahl und v. Weizsäcker 1983/1987 fordern, haben wir bereits 1980 mit dem Aufbau des Theaterpädagogischen Zentrums in Lingen umgesetzt. Wir gingen allerdings mit unseren Konzepten, der Aufgabenstellung und Zielsetzung weit über diese Forderungen hinaus. Das TPZ wurde als Ort der lebendigen Kommunikation über Kunst und der Partizipation an Kunst konzipiert. Der herausragende Standort im Zentrum der Stadt Lingen macht es bis heute nicht nur zum offenen Haus des Dialogs über Kunst und Kultur, sondern auch zum Bildungsort für Lebenssinn und Lebenslust. Hier kann die Kunst im wahrsten Sinne ihre humane Dimension entwickeln. Diese Basisorientierung und Nähe zwischen Mensch und Kunst ist auch im Amateurtheater zu entdecken, das mit seiner generationsübergreifenden kulturellen Praxis Zukunftsmodelle menschlichen Zusammenlebens vorhält. Mit seinen niedrigschwelligen oder gar schwellenlosen Zugängen zur Kunst ist Amateurtheater ein Theater für alle par excellence! Konzept und Theorie eines Theaters mit allen und für alle lassen sich ganz besonders von diesem Genre aus entwickeln. Theater mit allen impliziert vor allem die Forderung nach Teilhabe an aktiven Aneignungsformen des Theaters quer durch alle gesellschaftlichen Schichten – interkulturell, intergenerativ und inklusionsorientiert. Eine zentrale Aufgabe der Theaterpädagogik besteht darin, die Sprache der Kunst und des Theaters zu lehren und aktiv „am eigenen Leibe“ zu vermitteln. Gleichzeitig ergeht die Aufforderung an das Theater, die Sprache der Kunst für jedermann lesbar und entschlüsselbar zu gestalten. Eine Kunst, die sich der Dechiffrierung entzieht, erreicht den Menschen nicht und verliert sich in einem „L´art pour l´art“. Theater mit allen benötigt keine besonderen Zugangsvoraussetzungen, sondern zielt auf den Menschen als spielendes Wesen, das sich im handelnden Tun permanent erprobt und in der Zweckfreiheit ein Stück Welt erobert. In der spielerischen Interaktion entwickelt der Mensch für sich physische und psychische Freiräume, die seine Dialogbereitschaft stärken und ihm in einer weitgehendst fremdbestimmten Gesellschaft Kraft für ein eigenverantwortliches Leben geben. Im Amateurtheater kann man sich ausprobieren – risikolos und ohne ökonomische Zwänge. Damit werden auch Grundvoraussetzungen für ein künstlerisch kreatives Schaffen genannt, die jeder Mensch in sich trägt. Theater mit allen und Theater für alle ist eine Vision, aber gerade dieser utopische Charakter als Nährboden jeglicher künstlerischer Tätigkeit war immer Anreiz und Antriebskraft meines Schaffens. Ohne diese utopische Dimension im Denken und im Handeln hätte es das Welt-Kindertheater-Fest, das „World Children’s Ensemble of Performing Arts“ oder das Kulturwaisenhaus in Bangladesch nie gegeben. Das Buch will Mut machen zum utopischen Denken und Handeln. Gleichzeitig vermittelt es Konzepte zur Umsetzung von Ideen und Visionen. Es ist mein Anliegen, die inhaltlichen Strukturen sowie die organisatorischen und finanziellen Rahmenbedingungen für innovative Projekte zu schaffen. Auf diesem Weg sind neben den zahl-

Theater mit allen impliziert vor allem die Forderung nach Teilhabe an aktiven Aneignungsformen des Theaters quer durch alle gesellschaftlichen Schichten

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reichen Festivals und den Symposien auch die nationalen und internationalen Projekte entstanden. Sie stehen für ein großes Netzwerk der Theaterarbeit in Deutschland, Europa und der Welt. Gleichzeitig ermöglicht das Buch einen vertiefenden Blick in die Geschichte der Theaterpädagogik in Deutschland von 1980 bis heute. Mit den hier beschriebenen Projektbeispielen ist die Publikation auch ein Handbuch theaterpädagogischer Praxis.

1 Weizsäcker von, Richard: Ein Spiel ums Leben, in: Theater heute 7/87 2 Hofmann, Hilmar: Kultur für morgen. Ein Beitrag zur Lösung der Zukunftsprobleme, Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt a.M. 1985 3 ebd. S. 210 4 ebd. S. 210 5 Norbert Radermacher im Interview mit Jörg Meyer, in: Streisand, Marianne; Hentschel, Ulrike; Poppe, Andreas; Ruping, Bernd (Hg): Generationen im Gespräch, Archäologie der Theaterpädagogik, Schibri Verlag, Milow 60 Uckerland 2005 S. 422-423 6 vgl.: Boal, Augusto: Theater der Unterdrückten, edition Suhrkamp 987, Frankfurt a. M. 1979 7 vgl. 4. Internationaler Kongress für Kunstunterricht Dresden, Führer durch die Ausstellung, Dresden 1912 8 Weizsäcker von, Richard, ebd. 9 Glaser, Hermann; Stahl, Karl Heinz: Bürgerrecht Kultur, Ullstein Sachbuch, Frankfurt/M. – Berlin – Wien 1983 10 ebd. S. 242 11 ebd. S. 243

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Studenten/-innen und Sch端ler/-innen bei der Erstellung eines B端hnenbildes, P辰d. Hochschule M端nster 1974

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