Roberto Hensel
Chronik Retzin Die Geschichte eines brandenburgisch-pommerschen Dorfes an der Randow
Entwicklungen eines Bauerndorfes in der Nähe von Stettin im Wandel der Zeit von 1900 bis 2020
Schibri-Verlag
© 2021, Ergänzung zur 1. und 2. Auflage von „Retzin an der Randow“ Bestellungen über den Buchhandel, oder direkt beim Schibri-Verlag Milow 60 17337 Uckerland Telefon: 039753/22757 E-Mail: info@schibri.de www.schibri.de Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Alle Rechte vorbehalten Printed in Germany ISBN 978-3-86863-234-7
Inhalt Vorwort
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Retzin in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts Die Situation bis zum Ausbruch des 2. Weltkrieges Die Situation während des 2. Weltkrieges Die Situation zur Zeit der Flucht der Retziner Bauern im April 1945 Die Zeit nach der Rückkehr der Retziner
7 14 17 24 29
Retzin in der Zeit der DDR Die 1960er Jahre Die 1970er Jahre Die 1980er Jahre
53 62 67 73
Retzin im wiedervereinigten Deutschland Rundgang nach dem Vorbild Heinrich Beckmanns
83 96
Retzin zu Beginn des 21. Jahrhunderts
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Resumee
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Dankesworte Nachwort zur vorliegenden Ortschronik
133 133
Anhang Zusätzliches Bildmaterial Zusätzliches Kartenmaterial Quellenverzeichnis Abbildungsnachweise
135 136 140 151 152
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Vorwort 1919, nach dem Ersten Weltkrieg, veröffentlichte Heinrich Beckmann die erste Auflage der Ortschronik und somit die umfangreichste Grundsteinlegung der schriftlichen Zusammenstellung der jahrhundertealten Geschichte des Dorfes Retzin. Gedruckt wurde dieses Werk noch in Stettin und es war zu dieser Zeit nicht davon auszugehen, dass keine 30 Jahre später eine neue Grenzziehung die Verbindungen Stettins zu seinen westlichen Vororten trennen wird. Fast 10 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges und der Abtrennung Stettins von Deutschland erschien 1954 aus Stuttgart die – um einige Ereignisse vor, während und nach dem Zweiten Weltkrieg erweiterte – zweite Auflage der Ortschronik und schaffte den Weg aus der BRD in die DDR. Gute 35 Jahre hatte die Trennung beider deutschen Staaten noch Bestand; etwa den Zeitraum, der zwischen der ersten und zweiten Auflage der Chronik lag. 2020 ist ein Jahr der Jubiläen. 75 Jahre Kriegsende, 30 Jahre Wiedervereinigung und 30 Jahre Mecklenburg-Vorpommern. Ein besonderes Jubiläum steht in diesem Jahr aber auch für Retzin an – 725 Jahre Bestehen seit der ersten urkundlichen Erwähnung am 12. Februar 1295. Ortsgeschichte, Geschehnisse, Ereignisse aus 725 Jahren, die mündlich oder auch schriftlich überliefert sind, wurden in nun drei Werken festgehalten. Kaum ein anderer Ort vergleichbarer Größe weist eine so umfangreiche Geschichtsschreibung auf. Dies ist ein Erbe, das verpflichtet! Die gute Zusammenarbeit der großen Bauernfamilien lenkten maßgeblich die Geschicke des Dorfes, auch die feste Integration der Kirche – nicht nur rein baulich im Sinne des Pfarramtes in ungefährer Ortsmitte – sicherten dem Ort Wohlstand aber auch das Bestehen in schwierigen Zeiten und ermöglichten erst diese genaue Dokumentation. Die erste Auflage umfasste 300 Exemplare zu einem Stückpreis von etwa einem Zentner Kartoffeln. Die nun vorliegende ergänzende Auflage erscheint fast 100 Jahre nach der ersten Auflage und umfasst 200 Exemplare. Der Stückpreis ist trotz geringerer Auflage aber dank moderner Technik in den heutigen Druckereien erfreulicher Weise geringer, als ein Zentner Kartoffeln kostet. Diese Auflage gibt nicht alle Inhalte wieder, die bereits in der ersten bzw. zweiten Auflage niedergeschrieben wurden. Dies war auch nicht die Intention, da ausreichend ältere Auflagen vorhanden sind und ein erneuter Abdruck der Inhalte die Druckkosten deutlich erhöht hätte. Vielmehr soll die vorliegende Auflage die jüngere Geschichte Retzins wiedergeben. Sie verzahnt sich mit Inhalten der zweiten Auflage in einer solchen Form, dass die Geschichte ab dem 20. Jahrhundert darge5
stellt wird. Viele neue Dokumente und die zurückliegende Zeit zur Verarbeitung der Ereignisse sollen Anlass genug sein, die Geschichte fortzuschreiben. Dabei wurde bewusst auf die Auflistung der Ereignisse nach Jahreszahl verzichtet, um den Stil der bestehenden Auflagen nach bestem Gewissen anzunehmen.
Abb. 0: Wappen des ehemaligen Kreises Randow
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Retzin in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts Zu Beginn des 20. Jahrhunderts befand sich Retzin in einer Blütezeit. Landwirtschaft und vor allem der Tabakanbau von 1703 bis 1922 brachten Arbeit und Wohlstand in die Gemeinde und machten Retzin zu einem der wohlhabendsten Dörfer im Kreis Randow1. Dass alles seinen geordneten Gang ging, zeigt beispielhaft eine Bescheinigung (Abb. 1), die für einen Arbeiter ausgestellt wurde, der bei Albert Karow (auf Hof 4/5) seine Dienste leistete und im Schulzenamt Retzin ihre Beglaubigung erfuhr.
Abb. 1: Bescheinigung für den Arbeiter Otto Strebe „Der Arbeiter Otto Strebe, von hier, hat vom 1sten Mai 1900 bis 1sten Dezember 1901 bei mir gearbeitet, er hat sich während dieser Zeit gut geführt. A. Karow, Retzin, den 8ten Aug. 1903; beglaubigt, Retzin d. 11.9.03, der Gemeindevorsteher Klempnow“; gestempelt: Schulzenamt zu Retzin, Kreis Randow.
1
Vgl. Leddin, Erich (1992), S. 82.
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Abb. 2: Inventurbuch der Elektrizitäts- und Maschinengenossenschaft Retzin Bereits 1912 kamen die Retziner in Versuchung, an das im Aufbau befindliche Elektrizitätsnetz angeschlossen zu werden. Sie gründeten kurzer Hand eine Genossenschaft, um die Kosten für den Anschluss des Dorfes an das von Stettin kommende Stromnetz zu finanzieren. Die Abbildung 2 zeigt die Eröffnung vom Genossenschaftskonto am 23.3.19122. Schnell eroberte künstliches Licht Stuben, Stallungen und auch die Kirche im Ort. Relativ zeitnah wurde auch die Holländer-Windmühle auf dem Mühlenberg elektrifiziert und somit das Brotgetreide fortan unabhängig vom Wind gemahlen. Das Mehl aus Retzin war so geschätzt, dass sogar Bauern aus Grambow ihr Getreide hier mahlen ließen. 2
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Vgl. Rennwanz, Bodo (2008), S. 18; Beleg Heimatstube der Gemeinde Ramin.
Abb. 3: Die Windmühle von 1912 9
Noch heute ist der Zufahrtsweg von Richtung Ramin kommend als „Kerbe“ rechts neben der Straße zu erkennen. Ein direkter Abzweig von der Straße wäre zu steil für die Pferdefuhrwerke gewesen. Die Molkerei im Dorf wurde ab 1921 zur Milchannahmestelle. Die Belieferung erfolgte von den Retziner Bauern (außer Netzel, der selbst butterte und in Stettin verkaufte) und von den Bauern der Glasower Ausbauten, um heruntergekühlt und auf den vorgeschriebenen Fettgehalt gebracht, anschließend in Stettin vermarktet zu werden3. Dem Heimatbuch des Kreises Randow ist zu entnehmen, dass „im Kreise Randow als Frischmilchversorgungsgebiet der Stadt Stettin die Milchwirtschaft stets eine bevorzugte Stellung einnehmen wird“ und so „eine größere Beteiligung der bäuerlichen Landwirte an der Leistungsprüfung unerläßlich“ ist4. Die Retziner gründeten am 7. Mai 1921 einen Milchkontrollverein, den ersten Verein im Kreis Randow mit 449 Kühen in 12 Herden (jeder Hof ). Dieser diente der Optimierung der Milchqualität da die Bauern ihre Milch nun vor der Vermarktung einem Pasteurisierungsbetrieb übergeben mussten, der gesetzliche Vorgaben zur Qualität der Milch umsetzen musste. Durch die stetigen Leistungsprüfungen gelang es den Retziner Bauern, die Leistung pro Kuh und Jahr von 2.281 kg Milch mit 3,19 % (insgesamt 73 kg) Butterfett im Jahre 1921/22 auf 3.292 kg Milch mit 3,34 % (insgesamt 110 kg) Butterfett innerhalb von 10 Jahren bis 1932 zu steigern5. Die Versorgung mit Post in Retzin erfolgte durch den Briefträger Krause. Dieser kam mit einem Fahrrad von Löcknitz, um Post zu bringen oder auch mitzunehmen. Das eine oder andere „Gläschen“ während der Zustellung sorgte nicht selten für gute Stimmung bei Rückkehr des Postboten in Löcknitz. Fortschrittlich, wie die Retziner waren, gab es auch relativ schnell eine Telephonverbindung in den Ort. 1939 verfügten Hof 1 mit Artur Klempenow als Ortsbauernführer, Hof 4 mit Albert Karow, Hof 6 mit Heinrich Bornhagen, Hof 8 mit Uno Karow und Hof 11 mit Theodor Karow6 sowie Netzel, das Pfarrhaus und die Gastwirtschaft einen Telephonanschluss. Die Bauern in Retzin waren Anfang des 20. Jahrhunderts nicht gerade arm. Die ehemalige Hofstelle von Hof 10 im Ort (Ecke zwischen Hof 12, Utecht und Hof 11, Karow) ließ die Bauernfamilie Utecht mit seltenen Bäumen und Sträuchern bepflanzen. Die Anlage war ummauert und wurde im Volksmund als Botanischer Garten bezeichnet. Noch heute zeugen Reste der Mauer sowie große und seltene Bäume von der Pracht dieser parkähnlichen Anlage, die eigentlich als Arboretum zu bezeichnen wäre. Im Vorfeld des Gartens, etwa zwischen den Wohnhäusern von Hof 11 und 12 errichteten sich die Retziner ein kleines Gebäude aus roten Ziegelsteinen, das als gemeinschaftliche Sauna fungierte. 3 4 5 6
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Mündliche Berichte Ulrich Kluge (2016-2019). Preuße, Emil (1933), S. 135. Ebd. Leddin, Erich (1992), S. 99 f.
Auch die Kirche ließ ab Mitte der 1920er Jahre eine Umgestaltung des alten Friedhofes vornehmen. Da Bestattungen nur noch auf dem neuen Friedhof am südlichen Ortsausgang vorgenommen wurden, kam immer mehr frei werdender Platz auf dem Kirchhof dazu, der gepflegt werden wollte. So beauftragte die Kirche Herta Hammerbacher, eine junge Landschaftsarchitektin aus Berlin mit der Neuanlage des Geländes. Der Plan zeigt, wie aufwendig Bepflanzungen vorgenommen wurden, um auch den Kirchhof mit einem parkähnlichen Charakter zu versehen.
Abb. 4: Plan zur Kirchhofgestaltung von Herta Hammerbacher © Architekturmuseum TU Berlin, Inv. Nr. HH0154,001 mit freundl. Genehmigung v. Fabian Zimmermann.
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1925 hatte Retzin 257 Einwohner (127 männlich und 130 weiblich), was bei 53 Haushaltungen durchschnittlich fast 5 Bewohner je Haushalt ergab. Die Mehrheit der Bewohner Retzins (250) war evangelischen Glaubens; 7 Bewohner gehörten der katholischen Glaubensrichtung an. Die Landgemeinde Retzin im Kreis Randow, Regierungsbezirk Stettin, Provinz Pommern verfügte Anfang der 1930er Jahre über eine Fläche von 8,2 qkm (820 ha) und 36 Wohnhäuser. Für die Ortspolizei der Gemeinde Retzin war der Amtsvorsteher des Amtsbezirkes Löcknitz zuständig. Das Pfarramt des ev. Kichspiels Retzin (Bismark, Grambow und Retzin) befand sich im Ort selbst, das katholische Kirchspiel in Stettin. Das zuständige Standesamt war in Grambow7. Abb. 5: Lehrer-Personalkarte Das Photo aus dem Jahre 1926 zeigt einige Schüler und den Lehrer Erich Vierks, der 1925 Karl Sy ablöste, vor der Kirche.
Abb. 6: Lehrer Vierks mit Schülern vor der Kirche 7
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Preußisches Statistisches Landesamt (1932); vgl. Vollack, Manfred (1992b), S. 64 f.
Ausgeschulte, vor allem männliche Bewohner, waren in Vereinen organisiert. Die jüngeren gingen dem Sport nach und gehörtem dem Retziner Sportverein (RSV) an. Ältere und zumeist gediente organisierten sich im Kriegerverein Retzin.
Abb. 7: Mitglieder des Retziner Sportvereins Mitte der 1920er Jahre Auch der Viehbestand hatte sich Anfang des 20. Jahrhunderts deutlich verändert. Die nachfolgende Übersicht8 spiegelt die Anpassung an die Marktbedürfnisse wider. Stettin wuchs und der Konsum und die Nachfrage an Rind- und vor allem Schweinefleisch waren deutlich gestiegen. 1864
1907
1913
Haushaltungen
58
40
34
Pferde
88
74
86
Rinder
236
424
410
Schafe
1.255
217
205
119
555
535
34
11
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Schweine Ziegen 8
Abb. 8: Heinrich Bornhagen mit einem seiner Pferde im Hof. Im Hintergrund ist das Wohnhaus sowie das Dach des südlichen Stallgebäudes von Hof 8 zu sehen
Beckmann, Heinrich (1933), S. 128 ff.; vgl. Auszug aus: Beckmann, Heinrich (1954), S. 130 u. 143.
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Auffällig ist, dass sich die Anzahl der Haushaltungen deutlich reduzierte, zugleich aber die Einwohnerzahl zunahm und die Schaf- und Ziegenhaltung zugunsten der Rinder- und Schweinehaltung stark rückläufig war. Die Pferde hingegen blieben für die Bewirtschaftung der Flur aber auch Fahrten nach Löcknitz oder Grambow unentbehrlich.
Die Situation bis zum Ausbruch des 2. Weltkrieges 1933 wurden die Retziner durch Feueralarm aufgeschreckt. Die Wirtschaftsgebäude von Hof 4 standen in Flammen und waren trotz aller Löschversuche nicht mehr zu retten. Der Besitzer ließ diese, abweichend von den anderen aus Feldsteinen errichteten Wirtschaftsgebäuden des Dorfes, aus Backsteinen wieder aufbauen. Im April 1935 traten die Kameraden der Retziner Feuerwehr dem freiwilligen Löschverband Löcknitz bei. Dieser setzte sich aus 102 Kameraden der Orte Löcknitz (21), Ramin (27), Retzin (12), Plöwen (26) und Bismark (16) zusammen9 und verfügte auch Dank des Retziner Spritzenwagens, für den eine neue Unterstellmöglichkeit am Platz der Kaiserlinde geschaffen wurde, über eine für damalige Verhältnisse sehr moderne technische Ausstattung.
Abb. 9: Photo von Hof 4, zwischen 1924–1930 9
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Freiwillige Feuerwehr Löcknitz (2020).
Abb. 10: Wiederaufbau südlicher Stall
Abb. 11: Spritzenhaus hinter der Kaiserlinde und Wohngrundstück der Schmiede 15
Im Zuge der großzügigen Eingemeindungen Stettins wurde im Herbst 1939 der Kreis Randow aufgelöst. Er umfasste das zwischen der namensgebenden Randow und der Oder gelegene Umland seiner Kreis- und der pommerschen Hauptstadt Stettin. Einige Teile wurden Stettin, andere Teile den Landkreisen Greifenhagen, Naugard sowie Ueckermünde zugeordnet. Retzin kam somit zum Kreis Ueckermünde, der dem Haff und der Schifffahrt und Fischerei zugewandt war. Naturgemäß waren die Bereiche einschließlich und südlich der Ackerbürgerstadt Pasewalk eigentlich binnenwärts zur Uckermark hin orientiert. Der Grenzgraben bzw. die kleine Randow zwischen Retzin und Glasow bildeten die Grenze zu den südlichen Teilen, die dem Kreis Greifenhagen zugeschlagen wurden10. Sehr zeitig setzten auch die Bauern in Retzin auf moderne Technik. Hof 4 verfügte als erster über ein neues Automobil. Kfz-Kennzeichen im Kreis Randow bzw. Ueckermünde waren IH mit einer 5stelligen Zahl (röm. I für Preußen, H für Pommern). Eine sehr frühe Errungenschaft, mit der sich die Besitzer nicht selten zum Bahnhof Grambow fahren ließen, um von dort per Bahn den Einkaufsbummel in Stettin anzutreten. Die meisten der insgesamt 12 Hofstellen hatten bereits vor Beginn des Krieges einen Traktor der Marke McCormick oder Stock. Darunter die Höfe: 1 (Cormik), 2 (Stock), 4, 6 (Stock), 7 (Cormik), 8 (Stock), 9 und 11. Weitere Traktoren wurden auf Grund der Kriegsverpflichtungen im Zweiten Weltkrieg
Abb. 12: Bewirtschaftung der Wöhrd hinter Hof 7 mit einem Stock-Trecker 10 Vgl. Vollack, Manfred (1992a), S. 348.
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nicht mehr ausgeliefert. Auch das Automobil von Hof 4 wurde wenige Jahre nach dessen Anschaffung durch die SA beschlagnahmt und den Besitzern entzogen.
Die Situation während des 2. Weltkrieges Wie überall, mussten auch die Retziner Bauern Soldaten stellen und für die Kriegsführung erforderliche Abgaben leisten. Bis 1940 verzeichnete Retzin jedoch noch keine Opfer des Krieges; auch keine gefallenen Soldaten an der Front. Erst durch die Kriegsführung gegen Russland (England und Russland verbündeten sich 1941 gegen Deutschland) waren erste Opfer unter den Soldaten aus Retzin zu beklagen. Eine Gedenktafel in der Kirche erinnert an sie. Französische Kriegsgefangene kamen in den Ort, um bei den Bauern Arbeitsdienste (auch als Ersatz für einberufene Soldaten der Familien) zu leisten. Sie wurden in der Molkerei, die zu dieser Zeit nicht mehr als Molkerei genutzt wurde, untergebracht und standen meist in einem guten Verhältnis zu den Bauern. Ein Artikel der Beilage des Berliner Lokal=Anzeigers Nr. 53 vom 4. März 1915 zeigt exemplarisch, wie Kriegsgefangene bereits im ersten Weltkrieg Einsatz in den Randowwiesen bei Löcknitz leisteten11.
Abb. 13: Zeitungsartikel zum Einsatz von Kriegsgefangenen im Randowtal 11 Vgl. Kube, Richard (1992), S. 106 f.
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„Urbarmachung von Moorländereien durch Kriegsgefangene: Russische Gefangene arbeiten im Randowbruch bei Löcknitz in Pommern. Die Arbeitskraft der Kriegsgefangenen wird u. a. bei der Flußregulierung und beim Ausbau unserer Wasserstraßen sowie vor allem bei der Urbarmachung von Mooren und Ödländereien in den Provinzen Hannover, Brandenburg, Schleswig-Holstein und anderwärts in nutzbringender Weise verwertet. Unsere beistehenden Abbildungen veranschaulichen die Heranziehung russischer Gefangener zu Moorkulturarbeiten im sogenannten Randowbruch im Regierungsbezirk Stettin“. Einen schmerzvollen Verlust mussten die Retziner 1942 durch die Abgabe einer weiteren Glocke aus dem Kirchturm hinnehmen. Auf Befehl war diese im Turm zu zerschlagen und ihre Einzelteile aus den Schallfenstern auf einen Heuhaufen zu werfen, von wo sie dann eingesammelt und abtransportiert wurden. Der letzte klägliche Klang, der vom Zerschlagen der Glocke durchs Dorf schallte, ging den Retzinern tief ins Mark. Nach dem Verlust der großen Glocke mit der umfangreichen Inschrift und dem Spruchband zu den beiden Glocken von 1726 im ersten Weltkrieg, hatte die Retziner Kirche somit nur noch eine Glocke12. Direkte Kriegseinwirkungen äußerten sich für die Retziner durch die verstärkten Luftangriffe auf Stettin und auch Löcknitz (MUNA-Gelände) ab 1943/44. Bereits am 20./21.4.1943, dem Geburtstag Hitlers wurden bei schweren Angriffen durch die Royal Air Force u. a. die Gasanstalt Pommerensdorf und die Schlosskirche zerstört. Am 7.1.1944 schreibt die Zeitung The New York Times, dass bei einem 2stündigen Luftangriff durch die britische Royal Air Force am Tag zuvor mehr als 1.000 Tonnen Bomben konzentriert auf das Stadtgebiet abgeworfen wurden und die brennende Stadt noch aus einer Entfernung von 150 Meilen sichtbar war13.
Abb. 14: Pressemeldung der New York Times vom 7.1.1944 zu den Luftangriffen auf Stettin Im August 1944 folgten schwere Luftangriffe auf das Stadtgebiet von Stettin. Dabei wurde unter anderem auch die Familie Seroski völlig ausgebombt. Sie fand vorerst in Bahn (Hinterpommern) eine neue Bleibe, bevor sie durch eine erneute Flucht auch 12 Vgl. mdl. Bericht Joachim Huse (2018); vgl. Beckmann, Heinrich (1954), S. 61. 13 The New York Times, Vol. XCIII, No. 31.394 vom 7.1.1944, S. 1 und 4.
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in Retzin eintreffen werden14. Am 17./18.8.1944 wurden weite Teile der Altstadt (Fuhrstraße, Heumarkt, Schuhstraße mit Börse) sowie das Schloss zerstört. Bei nur einem einzigen Angriff gab es zu über 6.000 Todesopfer unter den Trümmern, die kaum noch geborgen werden konnten, wodurch wegen drohender Seuchengefahr die Abriegelung einzelner Stadtteile erfolgte15. Dies dürfte den Retzinern ebenso wenig entgangen sein, wie die deutliche Zunahme von Angriffen anglo-amerikanischer Bomberverbände und die Störmanöver einzelner Tiefflieger im Umland mit dem Jahreswechsel 1944/4516 oder gar einzelnen Notlandungen bzw. Abstürzen in der Nähe. Das Jahr 1945 begann dennoch für die Retziner in dieser Zeit relativ normal. Während die Bauern ihrer täglichen Arbeit nachgingen, rückten die Kriegsereignisse jedoch immer näher. Immer mehr Flüchtlinge aus den östlichen Gebieten des Landes kamen auch nach Retzin. Sie mussten oftmals über Nacht bleiben und verköstigt werden, bevor sie ihre Flucht in zugewiesene Zielgebiete fortsetzen konnten. Auf diese Weise kam auch die Familie Seroski am 11. Februar 1945 mit ihren beiden Kindern nach Retzin. Sie waren zuvor am 2.2.1945 aus Bahn in Hinterpommern über Gartz (Oder), Wartin, Krackow geflüchtet. Nach erfolgreicher Ankunft in Anklam schrieb Luise Seroski (geb. Falk, Jahrgang 1881) über die Erlebnisse: „Wir kamen dann wieder auf einen anderen offenen Kastenwagen – und weiter ging es nach Retzin, wo wir um 16 Uhr eintrafen, dort wurden wir im Dorf verteilt. Wir kamen zu einem Landwirt, der uns herzlich aufnahm und auch beköstigte. Am nächsten Morgen gegen 9 Uhr ging unser Treck auf offenem Wagen bei starkem Schneegestöber weiter über Löcknitz nach Bergholz …“17 Im nahegelegenen Stettin gab es seit Anfang Februar bereits erste Einschränkungen in der Strom- und Gasversorgung18. Die Pommersche Zeitung gibt am 27. Februar 1945 bekannt, dass die seit einiger Zeit verbotenen elektrischen Heizeinrichtungen (Radiatoren etc.) zur Sicherstellung des Verbotes und zur Einschränkung des Stromverbrauches beim zuständigen Blockleiter der NSDAP zwecks Aufbewahrung abzuliefern sind19. Da Stettin stets Vorrang hatte, dürfte auch Retzin somit erste, zumindest zeitweilige Einschränkungen bei der Stromversorgung erfahren haben. Ab Februar wurde zusätzlich an militärisch strategischen Geländepunkten mit der Errichtung von Panzersperren, -gräben und Infanteriestellungen begonnen20. Am 15.2.1945 ordnete Hitler zudem die Einrichtung fliegender Standgerichte an, um 14 15 16 17 18 19 20
Seroski. Luise (2013), S. 154 f. Vgl. Bialecki, Tadeusz et al. (1995), S. 64. Bialecki, Tadeusz et al. (1995), S. 59. Seroski, Luise (2013), S. 154 (Auszug). Bialecki, Tadeusz et al. (1995), S. 29. Pommersche Zeitung vom 27.2.1945, in: Bialecki, Tadeusz et al. (1995), S. 31. Krüger, Dieter (1985), S. 5.
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das System des Terrors und die Nazi-Herrschaft zu perfektionieren. Diesen Standgerichten waren fortan auch Zivilpersonen unterstellt und eigenmächtige Fluchtversuche damit untersagt21. Mehrfach kamen Soldaten auch nach Retzin und erwähnten einen möglichen Abzug der Zivilbevölkerung. Den Bauern wurde angeordnet, die dafür notwendigen Vorkehrungen zu treffen. Spätestens ab Februar 1945 wurden die Auswirkungen des Krieges in Retzin somit unübersehbar. Hugo Krause berichtet vom Flüchtlingstreck von Großbösendorf (Kreis Thorn, östl. der Weichsel), der am 21.1.1945 begann und die Flüchtenden über das Eis der Weichsel bis nach Mecklenburg brachte. Am 28.2.1945 überquert dieser Flüchtlingstreck die Oder und gelangt nach Stettin. Am 2.3.1945 schreibt Hugo Krause: „Um 8.30 Uhr fahren wir weiter (ohne Treck), nach 30 km Fahrt kommen wir in Retzin, um 16 Uhr an und wohnen gut in einem Pfarrhaus, bei Pfarrersleuten. Es war kalter Sturm“. Am 5. März gegen 11 Uhr verlassen sie Retzin, um nach Pasewalk zu gelangen22. Bereits einen Tag zuvor, am 4. März 1945, wurde das nur 125 km Luftlinie entfernte Retzin in Hinterpommern (heute polnisch: Rzecino) durch die Rote Armee eingenommen. Dem ist zu entnehmen, dass spätestens seit Anfang März 1945 flüchtende Zivilisten aus den Ostteilen des Landes auch in Retzin Quartier suchten. Tatsächlich nahm seit Anfang 1945 die Evakuierung und Abreise von v. a. Frauen und Kindern östlich der Oder in westliche Bereiche signifikant zu23. Die Schilderungen der durchziehenden Flüchtlinge dürften auch bei den Retzinern für entsprechenden Unmut über das zu Erwartende geführt haben. Mitte März 1945 rief Heinrich Himmler die Oder zur Hauptkampflinie aus; Deserteuren und Versprengten wurde die Todesstrafe angekündigt24. Zeitungen und Rundfunk berichteten von schlimmen Gewalttaten (Ermordungen, Vergewaltigungen) durch russische Soldaten gegenüber Zivilisten; ab 15. März 1945 durften diejenigen, die nicht in kriegswichtigen Einrichtungen arbeiteten, Stettin verlassen, was für dichtes Gedränge unter häufigem Beschuss auf Bahnhöfen und Straßen sorgte25. Die letzten Gottesdienste in Stettin fanden am Sonntag, dem 18. März 1945 statt26. Am 20. März 1945 eröffnet die 65. Armee der zweiten Weißrussischen Front um 5.30 Uhr mit 238 Rohren je Kilometer Frontlinie das Feuer zum Durchbruch an der unteren Oder und nimmt schließlich den ersten Brückenkopf an der Ostoder ein, der bis dahin zur Verteidigung Stettins beitrug27. 21 22 23 24 25 26 27
20
Krüger, Dieter (1985), S. 6. Krause, Hugo (1945–48), S. 92 ff. Bialecki, Tadeusz et al. (1995), S. 41. Bialecki, Tadeusz et al. (1995), S. 37. Bialecki, Tadeusz et al. (1995), S. 43. Bialecki, Tadeusz et al. (1995), S. 47. Wiborg, Susanne (2014); Krüger, Dieter (1985), S. 25.