Das vollmachtenregime der eidgenossenschaft zaccaria zusammengesetzt ocr

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DASVOLLMACHTENREGIME DER EIDGENOSSENSCHAFT VON

Z. G IACOMETTI o. PROFESSOR DES <:>FFENTLICHEN RECHTS

AN DER UNIVERSITÄT Zl:JRICH

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POLYGRAPHISCHER VERLAG A.G. ZURICH



Alle Rechte vorbehalten Z端rich 1945

Effingerhof A.G. Brugg


August Egger. zur Vollendung seines '?0. Lebensjahres


Inhaltsverzeichnis Seite

§ 1. Das Wesen des Vollmachtenbeschlusses .

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§ 2. Der Inhalt des Vollmachtenbeschlusses .

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§ 3. Die Legalität des Vollmachtenbeschlusses

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§ 4. Die Verbindlichkeit des Vollmachtenrechtes

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§ 5. Die Anwendung des Vollmachtenbeschlusses

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Der Krieg bedingt, wie die historische Erfahrung zeigt, eine Konzentration der staatlichen Macht bei der Exekutive. Auf diese Weise wird eine rasche Abwehr der Gefahren, die dieser für den Staat nach sich zieht, sowie die zu diesem Zweck notwendige straffe Leitung des Gemeinwesens am ehesten sichergestellt. Eine solche Machtkonzentration hat auch in der Schweiz während der beiden Weltkriege stattgefunden. Sowohl im Jahre 1914 wie auch im Jahre 1939 hat die Bundesversammlung bei Ausbruch des Krieges dem Bundesrat außerordentliche Vollmachten eingeräumt 1 . So erteilte die Bundesversammlung gemäß Art. 3 des Vollmachtenbeschlusses 2 von 1939, d. h. des Bundesbeschlusses vom 30. August 1939 über J\faßnahmen zum Schutze des Landes und zur Aufrechterhaltung der Neutralität 3, dem Bundesrat Vollmacht und Auftrag, die zur Behauptung der Sicherheit, Unabhängigkeit und Neutralität der Schweiz, zur Wahrung des Kredites und der wirtschaftlichen Interessen des Landes und zur Sicherung des Lebensunterhaltes erforderlichen Maßnahmen zu treffen. Zur Deckung der damit verbundenen Ausgaben wird gemäß Art. 4 dieses Bundesbeschlusses dem Bundesrat der notwendige Kredit eingeräumt sowie die Ermächtigung zum Abschluß allfällig erforderlicher Anleihen erteilt. Laut Art. 5 des erwähnten Bundesbeschlusses hat der· Bundesrat der Bundesversammlung jeweils auf die Juni- und 1

Allerdings hat schon früher die Bundesversammlung in Zeiten äußerer Gefahr, so· in den Jahren 1849, 1856, 1859, 1870, dem Bundesrat außerordentliche Vollmachten erteilt. Diese waren aber im wesentlichen auf militärische Maßnahmen beschränkt und wurden nur in bescheidenem Maße angewendet. Vgl. M a r t i: Der Vollmachtenbeschluß von 1939, S. 5. 2 In der Praxis wird der Ausdruck "Vollmachtenbeschluß" sowohl für den Bundesbesc~uß vom 30. August 1939 als auch für die darauf gestützten Bundesratsbeschlüsse verwendet. Terminologisch richtiger erscheint es wohl aber, um Verwirrung zu vermeiden, den Ausdruck ,,Vollmachtenbeschluß" auf den Bundesbeschluß vom 30. August 1939, der eben diese Vollmachten erteilt, zu beschränken, und die auf Grund dieses Beschlusses ergangenen Bundesratsbeschlüsse als bundesrätliche Vollmachtenverordnungen zu bezeichnen; dementsprechend heißt dann das auf Grund der Vollmachten gesetzte Recht Vollmachtenrecht Vgl. auch M a r t i : a. a. 0. 3 AS 55, 769.


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Dezembersession hin über die von ihm in Ausführung dieses Beschlusses getroffenen Maßnahmen Bericht zu erstatten. Die Bundesversammlung entscheidet darüber, ob diese Maßnahmen weiter in Kraft bleiben sollen. Zur Vorberatung der bundesrätlichen Berichte haben die Räte gemäß Art. 6 des VOllmachtenbeschlusses ständige Kommissionen zu bestellen; diesen hat der Bundesrat wichtige Maßnahmen vor ihrem Erlaß womöglich zur Begutachtung vorzulegen.


§ 1, Das Wesen des Vollm.achtenbeschlusses. I. Mit dem Vollmachtenbeschluß vom 30. August 1939 hat die Bun.desversammlung dem Bundesrat in allererster Linie Kompetenzen zur Rechtssetzung eingeräumt. Denn die zur Behauptung der Sicherheit, Unabhängigkeit und Neutralität der Schweiz sowie zur Wahrung der wirtschaftlichen Interessen und des Kredites des Landes und zur Sicherung des Lebensunterhaltes erforderlichen Maßnahmen werden außer in militärischen Aufgeboten vorab in Rechtssätzen bestehen. Diese Rechtssätze haben zu bestimmen, wie der Einzelne sich für die Erreichung der im Vollmachtenbeschluß umschriebenen Zwecke zu verhalten habe. Daß es sich bei diesen Maßnahmen vorab um Rechtssätze handelt, folgt aus der Natur der Dinge. Nicht nur das rechtsstaatliche Prinzip der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung, sondern auch die Notwendigkeit einer rationellen Verwaltung, also das Ordnungsprinzip der Verw~ltung, führen eben dazu, daß die Tätigkeit der Verwaltungsbehörden im modernen Staat inhaltlich durch generelle abstrakte Normen bestimmt sein muß 1 • Und zwar handelt es sich naturgemäß bei diesen Rechtssätzen, die die Zwecke des Vollmachtenbeschlusses zu verwirklichen haben, vorab um primäre Rechtssätze; das sind aber Rechtsnormen, deren Gegenstand bisher noch keine Regelung· erfahren hat, und die daher im gewaltentrennenden Staate grundsätzlich vom Gesetzgeber zu erlassen sind. Daß hier primäre Rechtssätze in Frage kommen, erscheint selbstverständlich, denn die Vollmachtenzwecke lassen sich nur durch Setzung neuen Rechts erreichen: Zum Erlaß primärer· Rechtssätze ist jedoch der Bundesrat auf Grund der Bundesverfassung grundsätzlich nicht befugt. Die normalen Rechtssetzungskompetenzen des Bundesrates bestehen nämlich in ·der Hauptsache lediglich in der Befugnis zum Erlaß von Vollziehungsverordnungen; infolgedessen könnte der Bundesrat im Bereiche der Vollmachten ohne die Einräumung einer besonderen Zuständigkeit zur primären Rechtssetzung kaum legiferieren und daher die Vollmachtenzwecke nicht verwirklichen. So stellen denn auch die 1 Ganz analog erscheint heute das Gewaltentrennungsprinzip nicht nur als rechtsstaatlicher Grundsatz, sondern auch als eine Maxime der Arbeitsteilung zwischen den Staatsorganen. Insofern hat das Gewaltentrennungsprinzip eine gewisse Zweckwandlung erfal;lren.


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§ 1. Das Wesen des Vollmachtenbeschlusses.

auf Grund des Vollmachtenbeschlusses getroffenen Maßnahmen in erster Linie Rechtssätze dar 2• Zu den Maßnahmen, zu deren Ergreifung der Bundesrat bevollmächtigt worden ist, gehören außerdem auch alle Verwaltungshandlungen, durch die die Zwecke des Vollmachtenbeschlusses unmittelbar, d. h. ohne Rechtssetzung verwirklicht werden können und die nicht schon ohnehin in die bundesrätlichen Zuständigkeiten fallen. Große praktische Bedeutung haben die Vollmachten nach dieser Richtung jedoch nicht, da der Bundesrat als oberste leitende und vollziehende Behörde der Eidgenossenschaft 3 bereits die meisten Verwaltungskompetenzen in sich vereinigt 4• Es kommen hier einzelne Regi~rungskompetenzen der Bundesversammlung in Frage, wie diejenigen im Gebiete der auswärtigen Angelegenheiten, der inneren Sicherheit und Ordnung sowie des Militärwesens 5 • 6• II. Ist der Bundesrat auf Grund der Vollmachten zur primären Rechtssetzung befugt, so erhebt sich dann die Frage, in welchem Verhältnis seine primären Rechtssätze zur Bundesverfassung und zum Bundesgesetzesrecht stehen. Sind ja die primären Rechtssätze nach der Bundesverfassung in der Hauptsache solche der Gesetzesstufe oder Verfassungsstufe .. Stehen nun auch die gestützt auf den Vollmachtenbeschluß gesetzten prhnären Rechtssätze des Bundesrates auf der Gesetzes- oder Verfassungsstufe, so daß sie. der Bundesverfassung und dem Bundesgesetzesrecht derogieren dürfen? · Es ist nun zweifellos der Sinn des Vollmachtenbeschlusses, daß der Bundesrat in Ausübung dieser ihm durch den genannten Beschluß erteilten Rechtssetzungs- und Regierungskompetenzen nicht mehr unbedingt an das geltende Bundesgesetzesrecht und an die Bundesverfassung gebunden sein soll. Wären nämlich gemäß dem Vollmachtenbeschluß das Bundesgesetzesrecht und die Bundesverfassung für den Bundesrat unter allen Umständen verbindlich, so könnten die Zwecke, die er auf Grund der Vollmachten zu verfolgen hat, wohl nicht immer verwirklicht werden. Die Abweichung vom geltenden Bundesgesetzesrecht und von der Bundesverfassung kann sich näm2

Vgl. unten S. 70 ff. Art. 95 BV. 4 · Vgl. Art. 102 BV. 5 Art. 85 Ziff. 6, 7, 8 und 9 BV. 6 Die Kompetenz zur Dekretierung von Ausgaben und zur Aufnahme von Anleihen, die gemäß Art. 85 Ziff. 10 BV ebenfalls der Bundesversammlung zusteht, wird dem Bundesrat im Vollmachtenbeschluß noch ausdrücklich eingeräumt. 3


§ 1. Das Wesen des Vollmachtenbeschlusses.

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lieh für die Erreichung der Vollmachtenzwecke, das ist für die Abwehr von Notständen des Staates, als .unumgänglich notwendig erweisen. Dies hat denn auch die Erfahrung gezeigt. So wäre z. B. die Wahrung der wirtschaftlichen Interessen des Landes und die Sicherung des Lebensunterhaltes während des Krieges ohne Beeinträchtigung der Handels- und Gewerbefreiheit kaum möglich. Ja schon auf Grund des Wortlautes des Vollmachtenbeschlusses ergibt sich eine solche Kompetenz des Bundesrates. Die Nichtbindung des Bundesrates an Verfassung und Gesetz kann auch aus den sogenannten Gesetzesmaterialien abgeleitet werden. So wurde in der Bundesversammlung anläßlich der Beratung des Vollmachtenbeschlusses ausdrücklich betont, daß der Bundesrat in Ausübung seiner Vollmachten wenn nötig von der geltenden Bundesgesetzgebung sowie von der Bundesverfassung abweichen dürfe 7 • Einen analogen Standpunkt nimmt auch der Bundesrat in der Botschaft zum Vollmachtenbeschluß ein 8 • Auch der Vollmachtenbeschluß vom Jahre 1914 wurde in diesem Sinne verstanden und gehandhabt 9 • Ist aber der Bundesrat im Bereiche des .Vollmachtenbeschlusses nicht mehr unbedingt an das Bundesgesetzesrecht und an die Bundesverfassung gebunden, so kann er das geltende Bundesgesetzesrecht und die Bundesverfassung insoweit abändern bzw. aufheben. Denn die Nichtbindung an die Bundesverfassung und an die Gesetze kann in nichts anderem bestehen, als in der Befugnis zur Abänderung bzw. Aufhebung dieser Normen. Der Bundesrat ist insofern mit anderen Worten auf Grund der Vollmachten zur Setzung von primären Rechtssätzen der Verfassungstufe und Gesetzesstufe im Sinne der Bundesverfassung berechtigt, während normalerweise im gewaltentrennenden Staate und umsomehr in der gewaltentrennenden Referendumsdemokratie, als welche die Eidgenossenschaft erscheint, die Exekutive grundsätzlich lediglich zur Rechtssetzung auf der Verordnungsstufe zuständig ist. Wenn aber der Bundesrat auf Grund der Vollmachten Normen der Gesetzes- und Verfassungsstufe setzen darf 10, so erscheint er in den Sachgebieten des Vollmachtenbeschlusses als einfacher Bundesgesetzgeber und als Verfassungsgesetzgeber im Sinne der Bundesverfassung. 7 Stenographische Bulletins der Bundesversammlung, 1939, Ständerat S. 545; Nationalrat S. 522. 8 BBI 1939 II 214. Vgl. auch BGer 68 II 320. 9 BGer 41 I 553. 10 So setzt z. B. der Bundesrat Normen der Verfassungsstufe, wenn er in bestimmten Materien die Gewerbefreiheit beschränkt, so z. B. durch die Einführung des Befähigungsnachweises für das Gewerbe; vgl. unten S. 78.


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Das will heißen, daß der Vollmachtenbeschluß die. verfassungsmäßigen Zuständigkeiten des Bundesrates 11 auf Kosten des ordentlichen Gesetzgebers und des Verfassungsgesetzgebers, das heißt von Bundesversammlung, Volk und Ständen, erweitert hat. Der Vollmachtenbeschluß erscheint spmit im Verhältnis zur Bundesverfassung als eine neue Zuständigkeitsordnung. Er bildet mit Bezug auf seine ,Sachgebiete gleich dem Vollmachtenbeschluß von 1914 vom Standpunkt der geltenden Bundesverfassung aus eine neue Bundesverfassung. Denn als Verfassung im materiellen Sinn kommt vorab die oberste Zuständigkeitsordnung des Landes in Betracht. Diese neue Bundesverfassung in der Gestalt des Vollmachtenbeschlusses hat nun aber nicht etwa bestimmte Verfassungsvorschriften oder gar die Bundesverfassung als Ganzes. formell außer Kraft gesetzt; präziser ausgedrückt, der Vollmachtenbeschluß ermächtigt den Bundesrat nicht zur formellen Änderung oder Außerkraftsetzung von Verfassungsbestimmungen oder der ganzen Bundesverfassung, auch nicht etwa in provisorischer Weise. Ebensowenig ist der Bundesrat auf Grund der Vollmachten zur formellen Änderung oder Außerkraftsetzung von Gesetzesbestimmungen berechtigt. Auf Grund des Vollmachtenbeschlusses besitzt der Bundesrat vielmehr lediglich die Befugnis zur zeitweiligen materiellen. Abänderung bzw. Außerkraftsetzung, das ist aber zur materiellen totalen oder partiellen Suspension 12 von Vorschriften der Bundesverfassung und des Bundesgesetzrechts während der Zeit der. Geltung dieses Beschlusses. Dies genügt für die Erreichung der Vollmachtenzwecke. Wenn der Bundesrat in einer Vollmachtenverordnung von einer Gesetzes- oder Verfassungsvorschrift ganz oder zum Teil abweicht und eine Materie in eiriem entgegengesetzten Sinne regelt, so wird eben diese Bestimmung während der Zeit der Geltung des bundesrätlichen Erlasses von ihm nicht mehr befolgt; die betreffende Vorschrift steht dann insofern nicht mehr in soziologischer Geltung, während sie normativ weiter gilt, da sie nicht formell außer Kraft gesetzt worden ist; dies ist der Sinn der materiellen Suspension 13 • Für die Gebiete, mit Bezug auf welche das Verfassungsrecht und Gesetzesrecht nicht materiell suspendiert ist, gelten Verfassung und Gesetz nicht nur normativ, sondern auch soziologisch 11

Art. 95 und 102 BV. Vgl. meine Arbeit: Die gegenwärtige Verfassungslage der Eidgenossenschaft, Schweizerische Hochschulzeitung 1942 S. 142. 13 So gilt z. B. die Niederlassungsfreiheit normativ weiter, auch wenn sie nach bestimmten Richtungen, so zum Zwecke der Bekämpfung der Wohnungsnot, nicht mehr beachtet wird, also materiell suspendiert ist. 12


§ 1. Das Wesen des Vol,lmachtenbeschlusses.

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weiter; die materielle Suspension soll eben lediglich die Bedeutung einer Ausnahme haben 14• Dies folgt ohne weiteres aus dem Sinn des Vollmachtenbeschlusses, der ein Abgehen von der Bundesverfassung allein zum Zwecke der Abwehr von Notständen des Staates zuläßt 15• Der Vollmachtenbeschluß besitzt somit keine formelle Verfassungskraft oder Gesetzeskraft, und dies gilt dementsprechend auch mit Bezug auf die sich auf den Vollmachtenbeschluß stützenden verfassungsvertretenden und gesetzesvertretenden Vollmachtenverordnungen. Und zwar bildet der Vollmachtenbeschluß, indem er nur materielle verfassungsändernde und gesetzesändernde Wirkung besitzt, eine außerordentliche Bundesverfassung 16• Anderseits ist er nur eine provisorische außerordentliche Verfassung, da er lediglich eine beschränkte Geltungsdauer hat 17 • Ihrem Inhalte nach stellt diese provisorische außerordentliche Bundesverfassung, ·vom Standpunkt der ordentlichen Bundesverfassung aus betrachtet, eine autoritäre und unfreiheitliehe Verfassung dar, da sie den Bundesrat zur materiellen Suspension der in der Bundesverfassung verankerten_ Referendumsdemokratie, Freiheitsrechte und föderalistischen Ordnung des Landes ermächtigt. Derartige außerordentliche provisorische Bundesverfassungen bilden allerdings auch diejenigen dringlichen Bundesbeschlüsse der dreißiger Jahre, die den Bundesrat ebenfalls zur materiellen Suspension von Normen der Gesetzes- und Verfassungsstufe ermächtigten 18 • Diese Tatsache kommt allerdings nicht recht zum Bewußtsein, weil 14 Die Suspension der Verfassung im Sinne der materiellen Außerkraftsetzung ist mit der Durchbrechung der Verfassung identisch; vgl. darüber Jacobi, Veröffentlichungen der deutschen Staatsrechtslehrer, Heft 1 S. 109. Insofern die Durchbrechung der Verfassung durch Rechtssätze erfolgt, wie in casu, ist jedoch der Ausdruek Suspension vorzuziehen; denn die Durchbrechung durch Rechtssätze konsumiert sich nicht wie diejenige durch Einzelakt, sondern bildet einen dauernden Zustand. 15 Vgl. unten S. 27 ff. 16 Eine ordentliche provisorische Verfassung wäre der Vollmachtenbeschluß in dem F.alle, daß er formelle verfassungsändernde und gesetzesändernde Wirkung hätte. 11 Vgl. unten S. 30. 1 18 Vgl. z. B. BB über die Beschränkung der Einfuhr vom 23. Dezember 1931 (AS 47, 785), ersetzt durch BB über wirtschaftliche Maßnahmen gegenüber dem Auslande vom 14.0ktober 1933 (AS 49, 811; 51, 792), BB über die Finanzvollmachten vom 13. Oktober 1933 (AS 49, 839), BB über wirtschaftliche Notmaßnahmen vom -19. September 1936 (AS 52, 749) usw. Vgl. dazu meine Arbeit: Verfassungsrecht und Verfassungspraxis, in der Festgabe Fleiner, 1937 s. 64 ff.


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§ 1. Das Wesen des Vollmachtenbeschlusses.

die Sachgebiete dieser dringlichen Bundesbeschlüsse im Verhältnis zum Bereich des Vollmachtenbeschlusses sehr eng begrenzt sind. Der Unterschied zwischen beiden ist aber lediglich ein quantitativer. III. Allerdings weist die provisorische außerordentliche Bundesverfassung im Sinne des Vollmachtenbeschlusses von 1939 im Verhältnis zur ordentlichenBundesverfassungvon 1874 eineformaleBesonderheit auf. Die Verfassung verteilt als Grundordnung und damit oberste Zuständigkeitsordnung des Staates die staatlichen Aufgaben einschließlich der verfassungsändernden Funktion 19 unter die verschiedenen Staatsorgane; sie weist diesen ihre Kompetenzen zu 20 • Der Voll~ach­ tenbeschluß stellt hingegen, formal betrachtet, eine Delegation von verfassungsmäßig schon bestehenden Rechtssetzungskompetenzen dar, indem er eben, wie gesehen, dem Bundesrat diesbezügliche Kompetenzen erteilt. Er enthält mit anderen Worten nicht eine Zuweisung , von Kompetenzen an den Bundesrat, sondern eine Verschiebung der 1 verfassungsmäßig bestimmten Zuständigkeitsgrenzen zwischen Bundesversammlung, Volk und Ständen einerseits und Bundesrat ande1 rerseits im Sinne einer Beschränkung der Kompetenzen der Bundesversammlung, des Volkes und der Stände und einer Erweiterung derjenigen des Bundesrates 21, und bedeutet somit, wie gesehen 22, eine provisorische materielle Abänderung der Bundesverfassung. Der Vollmachtenbeschluß geht also davon aus, daß die Bundesversammlung im Besitze der Kompetenzen, die sie delegiert, sei; er setzt also, eine Kompetenzordnung voraus, während die ordentliche Verfassung als oberste gesetzte Norm eines Staates keine solche Zuständigkeitsordnung ·zur Voraussetzung hat. An und für sich wäre diese formale Ausgestaltung der provisorischenaußerordentlichen Bundesverfassung im Sinne einer Delegation nicht unbedingt notwendig gewesen. Die Bundesversammlung hätte eine Konzentration der Macht in der Hand der Exekutive während

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So· setzen z. B. die Art. 118 ff. BV die Bundesversammlung, Volk und Stände als notwendige Organe der Verfassungsrevision ein. 20 Vgl. darüberTri e p e I: Delegation und Mandat im öffentlichen Recht, 1943, s. 60 ff. ' 21 Vgl. über diesen Begriff der Gesetzesdelegation meine Arbeit: Verordnungsrecht und Gesetzesdelegation S. 24 ff.; K u h n e : Das Problem der Delegation und Subdelegation von Kompetenzen der Staatsorgane, Zürich. Diss. 1941 S. 30 ff. M a s n a t a : La deU~gation de la competerice legislative, Lausanner Diss. 1942 S. 95 f. Ganz analog faßt neuerdings auch T r i e p e I : a. a. 0. S. 83 die Delegation als Abschiebung und Zuschiebung von Kompetenzen auf. 22 V gl. oben S. 12.


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des Krieges anstatt in der Form einer Vollmachtenerteilung auch in der Gestalt vornehmen können, daß bestimmt worden wäre, der Bundesrat habe alle für die Unabhängigkeit, Sicherheit und Neutralität der Schweiz und für die Wahrung des Kredites, der wirtschaftlichen Interessen des Landes sowie für die Sicherung des Lebensunterhaltes erforderlichen Maßnahmen zu treffen. Mit andern Worten, an Stelle einet Verschiebung von Kompetenzgrenzen zugunsten des Bundesrates hätte auch eine Zuweisung von Kompetenzen an diesen erfolgen können. In beiden Fällen l~egt eine provisorische außerordentliche Bundesverfassung im Sinne der Erteilung der Kompetenz an den Bundesrat zur materiellen Suspension der ordentlichen Bundesverfassung bei Erfüllung bestimmter Voraussetzungen vor. Faktisch kommt es .daher auf dasselbe heraus, welchem der beiden Vv..,. ege man den Vorzug gibt. Wenn die Delegationsform gewählt wurde, so ist dies offensichtlich wohl aus dem Grunde geschehen, weil damit das Provisorium, der außerordentliche Charakter einer derartigen Machtkonzentration beim Bundesrat besonders betont werden sollte. Das Wesen dieser neuen Zuständigkeitsordnung als provisorische außerordentliche Bundesverfassung findet auf diese Weise beredten Ausdruck. Es erscheint politisch betrachtet auch nicht von demselben Gewicht, was für die Referendumsdemokratie von besonderer Bedeutung ist, ob die Bundesversamml~ng dem Bundesrat Vollmachten erteilt, oder ob sie ihm einfach provisorische Kompetenzen auf der Gesetzes- und Verfassungsstufe zuweist. Letzteres würde zweifellos von größerer politischer Tragweite sein un'd die Zukunft noch mehr präjudizieren. . IV. Stellt der Vollmachtenbeschluß eine provisorische außerordentliche Bundesverfassung dar, so erscheint infolgedessen die Bundesversammlung als provisorischer außerordentlicher Verfassungsgesetzgeber. Und zwar besitzt das Bundesparlament in diesem Rahmen nicht nur die verfassungsgebende, sondern auch die verfassungsändernde Gewalt; das will heissen, der Vollmachtenbeschluß von 1939 kann allein durch die Bundesversammlung formell abgeändert oder aufgehoben werden. Er bildet sonüt eine starre außerordentliche Bundesverfassung. Denn weder aus dem Wortlaut des Vollmachtenbeschlusses noch aus den Gesetzesmaterialien zu diesem läßt sich eine Kompetenz des Bundesrates zu einer Abänderung oder Aufhebung des Vollmachtenbeschlusses entnehmen. Daher kann dieser Beschluß als Ho:P.eitsakt der obersten Bundesbehörde nur durch contrarius actus abgeändert oder aufgehoben werden. Ja auch aus den Gesetzesmaterialien zum Vollmachtenbeschluß geht hervor, daß


§ 1. Das Wesen des Vollmachtenbeschlusses.

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sich die Bundesversammlung die Befugnis zur Abänderung und Aufhebung des genannten Beschlusses vorbehalten und diesem damit die formelle Beschlußkraft verliehen hat 23 • 24• 25 • · V. Rein äußerlich hat die Bundesversammlung dem Charakter des Vollmachtenbeschlusses als provisorische außerordentliche Bundesverfassung Aq.sdruck gegeben in der· Tatsache, daß dieser Bundesbeschluß im Gegensatz zum Vollmachtenbeschluß von 1914 nicht zu einem allgemeinverbindlichen dringlichen Bundesbeschluß im Sinne des Art. .89 BV gestempelt worden ist, obwohl er vom Standpunkt der Bundesverfassung aus betrachtet eine außergewöhnliche allgemeine Tragweite_ besitzt und zweifellos zeitlich dringlich war. W eieher Erlaß der Bundesversammlung könnte denn auch von größerer Tragweite sein als ein solcher von materiell verfassungsändernder Natur? Mit der Wahl dieser Form des Vollmachtenbeschlusses wollte man nämlich dem Umstande Rechnung tragen, daß die Bundesversammlung mit dem Erlaß des Vollmachtenbeschlusses als provisorischer außerordentlicher Verfassungsgesetzgeber, der nicht mehr an die Bundesverfassung gebunden ist, amtet, und sich daher auch nicht auf das Dringlichkeitsrecht der Bundesverfassung stützt 26 • Es erscheint aber fraglich, ob der Vollmachtenbeschluß sich als ein Bundesbeschluß sui generis, gewissermaßen als ein Superbundesbeschluß 27 darstellt. Denn der Vollmachtenbeschluß ist im· normalen, fur Bundesgesetze und Bundesbeschlüsse vorgesehenen Verfahren zustande gekommen 28 • Es ist infolgedessen anzunehmen, daß er einen Typus von Bundesbeschlüssen bildet, den das Bundesrecht vorsieht. Die Bundesverfassung kennt nun allgemein verbindliche Bundesbeschlüsse dringlicher oder nicht dringlicher Natur und einfache Bundesbeschlüsse 29 • Dabei steht es im freien Ermessen der Bundesversammlung, wann sie ihre Erlasse als allgemeinverbindliche nicht 23

Vgl. Sten.Bull. 1939, Nationalrat S. 523. Analog wie die Bundesverfassung auf Grund ihrer Revisionsvorschriften die formelle Verfassungskraft besitzt, indem die Verfassungsrevision nur durch die verfassungsgebende Gewalt erfolgen kann. 25 Eine Ermächtigung an den Bundesrat zur Abänderung und damit auch zur Erweiterung seiner Vollmachten war angesichts des weiten Umfangs derselben (vgl. darüber unten S. 27 ff.) auch gar nicht nötig. 26 Das sich im Rahmen der Bundesverfassung zu halten hat. Vgl. unten 8.38. ' 27 Wie der Vollmachtenbeschluß in einer Seminarübung bezeichnet worden ist. 28 Art. 89 Abs. 1 BV; Art. 3 ff. des Geschäftsverkehrsgesetzes von 1902. 29 Art. 89 BV; F 1 einer : Bundesstaatsrecht, S. 401. 24


§ 2. Der Inhalt des Vollmachtenbeschlusses.

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dringliche bzw. dringliche Bundesbeschlüsse oder als einfache Bundesbeschlüsse behandeln will 30• In den beiden letzten Fällen ist dann das fakultative Referendum ausgeschlossen. Nachdem nun der· Vollmachtenbeschluß weder die Referendumsklausel noch die Dringlichkeitsklausel enthält, kann er nach Maßgabe des geltenden Bundesrechts offensichtlich nur ein einfacher Bundesbeschluß sein. Diese Auffassung steht im Einklang mit Art. 2 des Referendumsgesetzes von 1874, der verlangt, daß wenn ein Bundesbeschluß nicht als allgemeinverbindlich behandelt werden soll, dies dem Beschluß ausdrücklich beizufügen sei. Dies ist nämlich geschehen, indem Art 7 des Vollmachtenbeschlusses bestimmt, da'ß dieser sofort in Kraft trete 31 • Diese Feststellung ist, wie unten noch zu zeigen sein wird 32, von prinzipieller Bedeutung. Allerdings hätte die Bundesversammlung im Vollmachtenbeschluß die Bundesverfassung auch nach der Richtung materiell suspendieren können, daß sie einen neuen Typus von Bundesbeschluß eingeführt und den Vollmachtenbeschluß als solchen bezeichnet hätte. Dies ist aber offensiebtlieh nicht geschehen. Aus den Gesetzesmaterialien ergibt sich nämlich nur, daß man den Vollmachtenbeschluß nicht atff das Dringlichkeitsrecht der Bundesverfassung stützen wollte 33 •

§ 2. Der Inhalt des Vollmachtenbeschlusses. Was nun den I n h a I t der Delegation des Vollmachtenbeschlusses des näheren anbetrifft, so ist zwischen dessen formaler und sachlicher Seite zu unterscheiden. I. 1. In formaler Hinsicht ist zunächst zu sagen, daß die in einer Verfassung den Organen der Rechtssetzung eingeräumten Kompetenzen im allgemeinen Ermächtigungen und nicht Obliegenheiten darstellen 1 • Es liegt somit im freien Ermessen dieser Organe, ob und in welchem Umfange sie von ihrer Zuständigkeit Gebrauch machen wollen. Dieses freie Ermessen ist aber nicht schrankenlos; es hört, 30 Art. 2 des BG von 1874 betreffend Volksabstimmung über Bundesgesetze und Bundesbeschlüsse. 31 Unrichtig m. E. BGer 60 II 320. 32 Vgl. unten S. 64. 33 Vgl. unten S. 38 Anm. 13. 1 Vgl. darüber meine Arbeit: Das Staatsrecht der Kantone S. 182 f. Ermächtigung ist hier nicht nur im Sinne von Vollmachtenerteilung auf Grund einer Delegation, sondern auch im Sinne von Zuweisung von Kompetenzen zu verstehen.

2 G i a c o m e t t i , Vollmachtenregime; ·


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§ 2. Der Inhalt des Vollmachtenbeschlusses.

auch wenn die Initiative zur Rechtssetzung ausschließlich bei ihnen liegen sollte, naturgemäß dort auf, wo die Untätigkeit der RechtSsetzungsorgane sich für die öffentlichen Interessen schädlich auszuwirken beginnt. In einem solchen Falle muß dann das Rechtssetzungsorgan tätig werden. Das Gegenteil könnte ja die Funktionsunfähigkeit des Staates auf der obersten Stufe seiner Willensbildung zur Folge haben. Die den Organen der Rechtssetzung eingeräumte Kompetenz bildet somit nur eine relative Ermächtigung zum Erlaß von Rechtssätzen, die auf eine Obliegenheit des betreffenden Organes hinauslaufen kann, wenn diese auch lediglich eine Iex imperfecta bildet. Diesem Umstand trägt der Vollmachtenbeschluß von vorneherein Rechnung, indem die Bundesversammlung dem Bundesrat Yollmacht und Auf t r a g zur Ergreifung der notwendigen Maßnahmen im Sachbereich des VOllmachtenbeschlusses erteilt 2• Es wird hier expressis verbis ausgesprochen, daß die bundesrätlichen Kompetenzen nicht nur Ermächtigungen darstellen, sondern auch Obliegenheiten sein können. Unbedingt notwendig war diese, wie gesehen, nicht. Die Frage, wann das eine oder das andere zutrifft, mit anderen W orten, wo das freie Ermessen des Bundesrates zur Rechtssetzung aufhört, . ist aber generell _kaum zu beantworten. Das hängt naturgemäß von den näheren Umständen des einzelnen Falles ab. Allgemein läßt sich höchstens sagen, daß der Bundesrat dann zum Einschreiten .verpflichtet ist, wenn eine unmittelbare oder wahrscheinliche Gefahr auf einem der Sachgebiete des Vollmachtenbeschlusses droht. 2. Die dem Bundesrat durch den Vollmachtenbeschluß eingeräuinten Zuständigkeiten im Sinne von Ermächtigungen oder Obliegenheiten sind ferner meines Erachtens ausschließliche und nicht konkurrierende Kompetenzen. Das will heißen, die Bundesversammlung darf die Zuständigkeiten, die sie im Vollmachtenbeschluß dem Bundesrat delegiert hat, nicht noch selber neben dem Bundesrat unter Berufung auf das Notrecht ausüben, so daß die bundesrätliche Zuständigkeit in einem solchen Falle zu weichen hätte. Die Delegation ist mit anderen Worten eine devolvierende und nicht eine konservierende 3 • Dies folgt daraus, daß der Vollmachtenbeschluß keinen ausdrücklichen Vorbehalt zugunsten der Bundesversammlung enthält. Allerdings erscheint der Fall denkbar, daß sich die Bundesversammlung stillschweigend vorbehalten hätte, die dem Bundesrat delegierten Zuständigkeiten bei Erfüllung der Voraussetzungen des Vollmachten2

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Art. 3 des Vollmachtenbeschlusses. Vgl. über diese BegriffeTri e p e I: a. a. 0. S. 53 ff.


§ 2. Der Inhalt des Vollmachtenbeschlusses.

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beschlusses noch selber in Konkurrenz mit dem Bundesrat auszuüben. Aber auch dies trifft meines Erachtens kaum zu. Aus dem Sinn der Vollmachtenerteilung im Art. 3 des Vollmachtenbeschlusses sowie aus den näheren Umständen, unter denen dieser Beschluß erlassen w.orden ist, ergibt sich vielmehr das Gegenteil. Der Zweck der Vollmachten ist die Konzentration der Macht bei der Exekutive behufs Abwehr der dem Lande im Zusammenhange mit dem Krieg mobenden Gefahren. Dies folgt auch aus den Gesetzesmaterialien. So hat der Bundesrat in seiner Botschaft vom 29. August 1939 über Maßnahmen zum Schutze des Landes und zur Aufrechterhaltung der Neutralität 4 Vollmachten verlangt, um jederzeit diejenigen Maßnahmen rechtzeitig treffen zu können, die aus den Ereignissen erforderlich sind. Dabei sah er schon in seinem Beschlussesentwurfe vor, daß die bundesrätlichen Maßnahmen auf Grund der Vollmachten der Genehmigung der Bundesversammlung unterliegen sollen, damit diese ein Mitbestimmungsrecht über die Anwendung der von ihr erteilten Vollmachten hätte. Der Vorbehalt dieses Genehmigungsrechtes deutet nun klar darauf hin, daß die Bundesversammlung in den Sachgebieten der Vollmachten nicht neben dem Bundesrat unter Anrufung des Notrechtes legiferieren soll. Ebenso wurde in den Räten bei Beha~dlung des Entwurfes zum Vollmachtenbeschluß ausgeführt, daß in solchen schweren Zeiten ein Organ im Lande sein müsse, das jederzeit und sofort die dringlichen, unaufschiebbaren Maßnahmen ergreifen soll. Als solches Organ komme nur der Bundesrat in Frage. Daher müsse die Bundesversammlung ihm die nötigen Vollmachten erteilen. Sie trete damit dem Bundesrat einen Teil der eigenen Kompetenzen ab 5 • Auch dem Wesen des Vollmachtenbeschlusses als einer provisorischen außerordentlichen Bundesverfassung entspricht wohl die Ausschließlichkeit der bundesrätlichen Kompetenzen. Eine konkurrierende Kompetenz von Bundesversammlung und Bundesrat im Sachgebiete des VOllmachtenbeschlusses wäre auch praktisch kaum tragbar und würde zu einer Doppelspurigkeit und zu einer Verwischung der Verantwortlichkeiten führen 6• Die Bundesversammlung darf somit gestützt auf das Notrecht im Sachbereich des Vollmachtenbeschlusses erst dann legiferieren, nachdem sie die von ihr dem Bundesrat erteilten Vollmachten entsprechend abgeändert bzw. auf4 .

BBl 1939 II 213 ff. Stenogr. Bulletins, 1939. Ständerat S. 545 (Votum des Berichterstatters Schöpfer); Nationalrat S. 522 f. (Votum des Berichterstatters Nietlisbach). 6 Stenogr; Bulletins, 1944, Ständerat S. 128 (Votum von Bundesrat Stampfli). 5


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§ 2. Der Inhalt des Vollmachtenbeschlusses.

gehoben hat 7• Auf diesem Standpunkt steht auch die Praxis, inden1 die Bundesversammlung meines Wissens die delegierten Kompetenzen bisher nicht selber in Anspruch genommen hat 8 • 9• Hingegen kanndie Bundesversammlung auch im Sachgebiete der Vollmachten bei Nichtgebrauch derselben durch den Bundesrat ihre verfassungsmäßigen Kompetenzen ausüben und z. B. Bunde.sgesetze sowie bei zeitlicher Dringlichkeit dringliche Bundesbeschlüsse intra constitutionem erlassen oder eine Verfassungsrevision in die Wege leiten. 3. Obwohl die bundesrätlichen Kompetenzen auf Grund des Vollmachtenbeschlusses ausschließliche sind, ist die Bundesversammlung bei der Ausübung der Vollmachten durch den Bundesrat von der Rechtssetzung und Regierungstätigkeit im Sachbereich dieses Beschlusses nicht ganz ausgeschlossen. Ihr steht vielmehr als Ausgleich für die Ausschließlichkeit der auf dem Vollmachtenbeschluß beruhenden bundesrätlichen Zuständigkeiten eine gewissen Kontrolle über die Handhabung der Vollmachten zu. Damit soll die oberste Gewalt der Bundesversammlung auch im Vollmachtenbereich gesichert werden. Und zwar besitzt die Bundesversammlung nach zwei Richtungen ein derartiges Kontrollrecht. a) So hat der Bundesrat, wie oben gesehen, gemäß Art. 5 des Vollmachtenbeschlusses d~r Bundesversammlung jeweils auf .die Juniund Dezembersession über die von ihm in Ausführung dieses Beschlusses getroffenen Maßnahmen Bericht zu erstatten. Diese unterliegen der Pr_üfung des Parlamentes. Dabei sind zur Vorberatung dieser Berichte ständige Kommissionen der beiden . Räte, sogenannte 7 Im Ständerat wurde denn auch die Änderung des Vollmachtenbeschlusses in dem Sinne postuliert, daß wichtige Noterlasse, die nicht dringlich sind, von der Bundesversammlung erlassen werden sollen. Sten. Bull. 1944, Ständerat (Votum Klöti). Solche Noterlasse des Parlamentes auf Grund des abgeänderten Vollmachtenbeschlusses könnte dann die Bundesversammlung, da hier Notrecht angerufen wird, gleich dem Vollmachtenbeschluß in eine beliebige Form kleiden. Vgl. über diese Frage Sten.Bull. 1944, StänderatS. 116 ff. und 126 ff. 8 Vgl. Sten.Bull. 1944, Ständerat S. 118 (Votum Klöti). 9 Allerdings ist in der Bundesversammlung schon der Standpunkt vertreten worden, daß diese die Kompetenzen, die sie dem Bundesrat delegiert ·hat, auch in Anspruch nehmen könne, daß somit die Delegation des Vollmachtenbeschlusses als konservierende Delegation zu betrachten sei. Vgl. Sten. Bull. 1942, Nationalrat S. 266 (Votum Meierhans); Analog auch Sten. Bull. 1944, Nationalrat S. 348 (Votum Favre). Diese Auffassung liegt zweifellos auch der iin Ständerat eingebrachten Motion Piller zugrunde, laut welcher die Räte sich besondere Vollmachten auf wirtschaftlichem Gebiete hätten erteilen sollen; vgl. Sten.Bull. 1942, Nationalrat S. 1 ff.


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Vollmachtenkommissionen, zu bestellen. Die Prüfung der Bundesversammlung bezieht sich, wie es aus der allgemeinen Fassung des Art. 5 des Vollmachtenbeschlusses zweifellos hervorgeht, sowohl auf die Übereinstimmung der bundesrätlichen 1\faßnahmen mit dem Vollmachtenbeschluß als auch auf die Zweckmäßigkeit dieser MaßnahDien 10• Dies allein entspricht der ratio dieser Genehmigung, durch welche eben der Bundesversammlung eine ·Mitwirkung bei der Notrechtssetzung eingeräumt werden soll 11• Eine Rechtskontrolle der Vollmachtenverordnungen allein wäre kaum eine solche Beteiligung an der Notrechtssetzung, denn diese Rechtskontrolle steht auch den1 Richter zu 11 a. Auf Grund dieser Prüfung entscheidet die Bundesversammlung darüber, ob die getroffenen Maßnahmen weiter in Kraft bleiben sollen. Dabei kann die Bundesversammlung dem ganzen Erlaß oder nur einzelnen Teilen desselben ihre Zusthnmung geben oder nicht 12 • Der Bundesversammlung ist somit auf Grund der Vollmachten ein nachträgliches Genehmigungsrecht 13 hinsichtlich. der bundesrätlichen Maßnahmen eingeräumt. Das Bundesparlament befindet, indem es eben bestimmt, ob diese Maßnahmen weiter in Kraft bleiben sollen oder nicht, nachträglich über das rechtliche Schicksal derselben. Die Genehmigung bzw. Nichtg~nehmigung der bundesrätlichen Maßnahmen durch die Bundesversammlung ist daher konstitutiver Natur. Die konstitutive Wirkung dieser Genehmigung erscheint aber nicht als absolut, sondern nur als relativ, indem nicht die Rechtsgültigkeit der bundesrätlichen Maßnahmen schlechthin, sondern .lediglich die Weiterdauer der Rechtsgültigkeit, das ist der normativen Geltung dieser Maßnahmen, von der Genehmigung abhängig gemacht wird. Juristisch betrachtet handelt es sich somit bei dieser Genehmigungs- bzw. Nichtgenehmigungskompetenz der Bundesversammlung darum, daß die vom Bundesrat auf Grund der Vollmachten erlassenen verbindlichen Rechtssätze 14 kraft Art. 5 des Vollmachtenbeschlusses mit dem Vorbehalt der Nichtgenehmigung durch die beiden Räte als auflösende Bedingung versehen sind. Wenn die Resolutivbedingung eintritt, also die Bundes10

In diesem Sinne auch M a r t i : a. a. 0. S. 29. Vgl. oben S. 19. lla Vgl. unten S. 68. 12 Vgl. Sten.Bull. 1941, Ständerat S. 42. 13 Vgl. über die Genehmigung von Verordnungen die im Manuskript vorliegende Zürcher Dissertation von W. Christ: Die Genehmigung von Verordnungen der Exekutive durch die Legislative, 1945. 14 Und Regierungsakte, die in die Kompetenz der Bundesversammlung fallen. 11


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versammlung die Genehmigung nicht erteilt, so treten damit die be. treffenden bundesrätlichen Maßnahmen ipso jure formell außer Kraft, das heißt, ihre normative Geltung fällt dahin. Diese Außerkraftsetzung wirkt aber nur ex tune; dies folgt eben daraus, daß die Bundesversammlung gemäß Art. 5 des VOllmachtenbeschlusses darüber entscheidet, ob die auf Grund der Vollmachten erlassenen MaHnahmenweiter in Kraft bleiben sollen. Die Bundesversammlung übt somit bei Nichtgenehmigung von bundesrätlichen Verordnungen die Funktion eines negativen Rechtssetzers aus. Aus Gründen der Rechtssicherheit wird aber auch eine ausdrückliche Aufhebung der außer Kraft gesetzten Vollmachtenverordnungen durch. den Bundesrat und deren Publikation in der Gesetzessammlung erfolgen müssen 15 • Genehmigt hingegen die Bundesversammlung die bundesrätlichen Rechtssätze, so fällt damit die Resolutivbedingung dahin und di~ auflösendbedingt verbindliche Vollmachtenverordnung des Bundesrates wird zu einer unbedingt verbindlichen. Die von der Bundesversammlung genehmigten bundesrätlichen MaHnahmen werden also durch die Genehmigung, obwohl die Bundesversammlung mit der Prüfung und Genehmigung dieser Erlasse ein Stück positiver Rechtssetzung ausübt, weder Akte der Bundesversammlung, z. B. dringliche 6undesbeschlüsse 16, noch etwa zusammengesetzte Rechtssetzungsakte, d. h. Rechtssetzungsakte der Bundesversammlung und des Bundesrates 17 • Sie verbleiben vielmehr bundesrätliche MaHnahmen, die der Bundesrat nach Belieben ändern oder widerrufen kann. Die Rechtssetzungstätigkeit der Bundesversammlung besteht eben im Falle der Genehmigung auHer in der Prüfung der Vollmachtenverordnungen lediglich in der Beseitigung der Resol.utivbedingung, mit der diese Erlasse behaftet sind. Wären die genehmigten Vollmachtenverordnungen zusammengesetzte Rechtssetzungsakte, so könnten sie auch nur durch Bundesversammlung und Bundesrat zusammen aufgehoben oder abgeändert werden. Dies ist aber in der Praxis nicht der Fall und würde auch kaum dem Sinne des Vollmachtenbeschlusses entsprechen. Es wäre auch praktisch 15 In diesem Sinne ist wohl die in den Räten vertretene Auffassung zu verstehen, daß bundesrätliche Vollmachtenverordnungen durch die Bundesversammlung nicht aufgehoben werden dürfen, sondern daß letztere nur zu beschließen habe, ob diese Erlasse weiter in Kraft bleiben sollen. Vgl. Sten.Bull. 1941, Nationalrat S. 187. 16 Wie schon behauptet worden ist. 11 Diesen Standpunkt vertritt z. B. W. Christ a. a. 0. Vgl. über -diese Frage auch R ü e g g; Die Verordnung im Kanton Zürich, Zürcher Diss. 1927, s. 100. 1


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kaum tragbar und sonderbar, wenn der Bundesrat Vollmachtenverordnungen wohl erlassen, aber nur unter Mitwirkung der Bundesversammlung -aufheben dürfte. Dementsprechend erfolgt die Genehmigung durch die Bundesversammlung formlos 18 und wird nicht in d~r Gesetzessammlung publiziert. Wie die übrigen Akte der Bundesversammlung bedarf selbstverständlich auch die Genehmigung der bundesrätlichen Vollmachtenverordnungen eines übereinstimmenden Beschlusses der beiden Räte 19 • Wenn nun im Genehmigungsverfahren diese Übereinstimmung nicht erzielt werden kann, indem der eine Rat genehmigt, der andere aber nicht, und die beiden Kammern auf ihrem entgegengesetzten Standpunkt beharren 20, so daß eine Einigung nicht möglich ist, so hat die Bundesversammlung damit der bundesrätlichen Maßnahme die Genemigung versagt und die Vollmachtenverordnung fällt infolgedessen dahin 21 • 22 • Der Entscheid über die Weitergeltung der bundesrätlichen Maßnahmen, dem wie gesehen jede Vollmachtenverordnung untersteht, ist hier negativ ausgefallen. Anders würden die Dinge liegen, wenn der Bundesversammlung nur ein absolutes Veto gegenüber den Vollmachtenverordnungen zustünde. Da wie gesehen jede Maßnahme der Bundesversammlung eines übereinstimmenden Beschlusses beider Räte bedarf, könnte auch dieses lediglich auf Grund eines übereinstimmenden Beschlusses von Nationalrat und Ständerat ausgeübt werden; kommt ein solcher nicht zustande, so kann die Einlegung des Veto nicht erfolgen und die Vollmachtenverordnung bleibt infolgedessen in Kraft 23 • 18

Wie die Verhandlungen in den Räten laut Sten.Bull. zeigen. Art. 89, Abs.l BV. Eine Ausnahme besteht nur im Falle des Art. 92 BV (Vereinigte Bundesversammlung), des Art. 102, letzter Absatz BV und der Geschäftsreglemente der beiden Räte. Vgl. B u r c k h a r d t : Kommentar der Bundesverfassung, S. 704. 20 Während des Einigungsverfahrens bleibt die Maßnahme in Kraft, da ein Entscheid der Bundesversammlung noch nicht vorliegt; der eine Rat übt hier kein Vetorecht aus. Anderer Ansicht P e s t a 1 o z z i : Die Notgesetzgebung, Zürcher Diss. 1945, S. 112. · 21 Nicht damit zu verwechseln ist die Zurückstellung einer bundesrätlichen Maßnahme durch die Bundesversammlung; vgl. unten S. 75. Diese berührt deren Verbindlichkeit nicht. · 22 So ist wohl die Frage, die Johannes Huber : Parlamentarische Kontrolle in der Kriegszeit, Die Schweiz, ein nationales Jahrbuch, 1944, S. 41, nach der Wirkung stellt, die es hätte, wenn die beiden Räte sich einmal in bezug auf eine Vollmachtenordnung nicht einigen könnten, zu beantworten. In diesem Sinne auch M·a r ti: a. a.O. S. 29 und Christ: a. a. 0. 23 In diesem Sinne auch C h r i s t. 19


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Anderseits bleiben die bundesrätlichen Maßnahmen, solange sie der Bundesversammlung nicht zur Prüfung und Genehmigung vorgelegt worden sind, in Kraft; denn in diesem Falle ist eben der Entscheid der Bundesversammlung über die Weiterdauer der Geltung solcher Maßnahmen noch nicht erfolgt 24, 25 • In der Kompetenz der Bundesversammlung zur Genehmigung bzw. Nichtgenehmigung der sich auf die Vollmachten stützenden bundesrätlichen Maßnahmen ist aber nicht auch deren Befugnis zur Abänderung solcher Maßnahmen enthalten 26 • Dies folgt ohne weiteres aus Art. 5, Abs. 2 des Vollmachtenbeschlusses, wonach die Bundesversammlung nur zu entscheiden hat, ob die auf Grund dieses Beschlusses ergriffenen Maßnahmen weiter in Kraft bleiben sollen oder nicht. Der Ausschluß einer solchen Befugnis ergibt sich aber auch schon aus der Tatsache, daß die dem Bundesrat eingeräumten Kompetenzen ausschließliche sind 27 • Daher vermag die Bundesversammlung den Bundesrat auch nicht zu einer solchen Änderung anzuhalten. Die Bundesversammlung kann lediglich den Bundesrat unverbindlich zur Abänderung seiner Maßnahmen einladen und inzwischen deren Prüfung aussetzen 28, 29 • b) Neben der nachträglichen besteht aber auch eine gewisse präventive parlamentarische Kontrolle der Handhabung der Vollmachten durch den Bundesrat. Ein wenn auch nur mittelbares Prüfungsrecht gegenüber den auf Gru;nd des Vollmachtenbeschlusses ergehenden 24 Im Falle der Nichtvorlegung oder der verspäteten Vorlegung zur Genehmigung würde der Bundesrat dem Vollmachtenbeschluß zuwiderhandeln. 25 In der Praxis werden mitunter bundesrätliche Vollmachtenverordnungen, wie Steuerbeschlüsse, schon vor ihrer Inkraftsetzung den Räten zur Genehmigung vorgelegt; vgl. J. Huber : a. a. 0. S. 42. Damit wird die nachträgliche Genehmigung durch eine vorgängige ersetzt, und die diesbezügliche bundesrätliche Verordnung ist vor der Genehmigung nicht mehr resolutiv, sondern suspensiv bedingt. Vgl. dazuPest a I o z z i: a. a. 0. S.lll. 26 Vgl. J. H u b e r : a. a. 0. S. 36. In diesem Sinne auch di~ Praxis; vgl. z. B. Sten.BuU. 1943, Nationalrat S. 276. 27 Vg.I. oben S. 18 ff. 28 Vgl. z. B. solche Fälle im Sten.Bull. 1941, Ständerat S. 42 f. 29 ' Die Genehmigungs- bzw. Nichtgenehmigungskompetenz der Bundesversammlung war im Vollmachtenbeschluß von 1914 nicht vorgesehen. Es bestand damals nur die normale parlamentarische Kontrolle gemäß Art. 85, Ziff. 11 und Art. 102, Ziff. 16 BV. Erst der abgeänderte Vollmachtenbeschluß von 1919 (AS 35, 255) hat dieses Genehmigungsrecht eingeführt. Vgl. über Fälle des Genehmigungsvorbehaltes in Delegationen von Bund~­ gesetzen und Bundesbeschlüssen B ur c k h a r d t : Kommentar der Bundesverfassung S. 667.


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bundesrätlichen Maßnahmen besitzt nämlich die Bundesversammlung auch nach der Richtung, daß der Bundesrat den parlamentarischen Vollmachtenkommissionen wichtige Beschlüsse vor ihrem Erlaß womöglich zur Begutachtung vorzulegen hat 30 • Allerdings handelt es sich hier nur: um konsultative Funktionen der Vollmachtenkommissionen, an deren Ansichten der Bundesrat in der Anwendung der Vollmachten nicht gebunden ist 31. Auf Grund ihrer Begutachtungsbefugnisse sollen die VOllmachtenkommissionen als Bindeglied zwischen Bundesrat und Parlament dienen und die Prärogativen der Bundesversammlung nach Möglichkeit .wahren 32 • 4. Es erhebt sich dann noch die Fr~ge, ob der Bundesrat die ihm durch den Vollmachtenbeschluß delegierten ausschließlichen Kompetenzen weiter delegieren, also eine Subdelegation vornehmen dürfe oder nicht. Wie die Gesetzesdelegation eine .Änderung der Verfassung bildet 33, bedeutet eine solche Subdelegation eine .Änderung des Vollmachtenbeschlusses. Denn sie stellt eine Zuschiebung der durch diesen Beschluß dem Bundesrat eingeräumten Zuständigkeiten an den Subdelegatar dar. Rechtssätze können aber nur dann durch eine der erlassenden Behörde untergeordnete Stelle abgeändert werden, wenn sie nicht die formelle Geltungskraft ·der Rechtsnormen dieser Stufe besitzen oder wenn sie sonst deren Abänderung durch eine untere Instanz vorsehen 34 • Der Vollmachtenbeschluß bildet, wie oben bemerkt 35, eine starre außerordentliche Bundesverfassung. Infolgedessen kann eine Delegation der sich auf den Vollmachtenbeschluß stützenden Kompetenzen, vom Standpunkt dieses Erlasses aus betrachtet, nur dann rechtlich zulässig sein, wenn der Vollmachtenbeschluß die Subdelegation zuläßt. Ausdrücklich ist dies nun nicht geschehen. Ob die Zulässigkeit der Subdelegation auf dem Wege der Auslegung des Vollmachtenbeschlusses bejaht werden kann, erscheint problematisch. 30 Art. 6, Abs. 2 des VoHmachtenbeschlusses von 1939. Auch diese Art der parlamentarischen Kontrolle bestand unter dem Vollmachtenregime von 1914 nicht. Sie figurierte auch nicht im bundesrätlichen Entwurf zum Vollmachtenbeschluß von 1939, sondern wurde .erst auf Antrag der Sozialdemokraten in diesen aufgenommen; vgl. Sten.Bull. 1939, Nationalrat S. 522 ff. 31 Sten.Bull. 1939, Nationalrat S. 523. 32 Sten.Bull. 1939, Nationalrat S. 523. Vgl. darüberPest a 1 o z z i: a. a. 0. s. 116 ff. 33 Vgl. darüber meine Arbeit: Das Staatsrecht der Kantone, S. 493. 114 So erscheint z. B. die Gesetzesdelegation dann rechtlich zulässig, wenn die Verfassung labil ist oder wenn sie die Gesetzesdelegation vorsieht. 35 Vgl. oben S. 15.


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War es der Wille der Bundesversammlung, daß der Bundesrat seine außerordentlichen Rechtssetzungskompetenzen unteren Organen soll übertragen dürfen? Handelt es sich ja dabei unter anderem um die Subdelegation der bundesrätlichen Zuständigkeit zur materiellen Abänderung von Verfassung und Gesetz. Man kann bezweifeln, ob es dem Sinn der im Vollmachtenbeschluß erfolgten Vollmachtenerteilung entspricht, wenn der Bundesrat diese wichtigste staatliche Funktion der Rechtssetzung auf der Verfassungs- und Gesetzesstufe, die ihm nur außerordentlicherweise übertragen worden ist, an untere Organe delegiert, so daß auch Departemente und andere eidgenössische Amtsstellen als Verfassungsgesetzgeber und einfacher Bundesgesetzgeber amten können 36 • Es ist auf Grund der Gesetzesmaterialien eher anzunehmen, daß die Bundesversammlung diese wichtigste Kompetenz dem Bundesrat als solchem übertragen wollte 37• Durch die Möglichkeit einer solchen Subdelegation kann auch das Kontrollrecht der Bundesversammlung gegenüber den bundesrätlichen Maßnahmen 38 in seiner Anwendbarkeit weitgehend beschränkt werden, da der Prüfung und Genehmigung der Bundesversammlung nur die Vollmachtenverordnungen des Bundesrates unterstehen 39 • Der Kontrolle und Genehmigung der eidgenössischen Räte unterliegen im Falle von Subdelegationen nur noch die Delegationsnormen der Vollmachten" verordnungen, nicht aber die auf Grund dieser Delegationsnormen vom Delegatar erlassenen Rechtssätze. Diese bes-chränkte Anwendbarkeit des Kontrollrechtes der Bundesversammlung könnte dann lediglich durch Nichtgenehmigung solcher Delegationsnormen in den bundesrätlichen Vollmachtenverordnungen verhindert werden. Hingegen kann man sich fragen, ob nicht der Vollmachtenbeschluß seinem Sinne nach den Bundesrat ermächtige, unteren Verwaltungsstellen sowie den Kantonen die Kompetenz zum Erlaß von Vollziehungsverordnungen zu seinen verfassungsvertretenden und gesetzesvertretenden Vollmachtenverordnungen zu erteilen. Diese Frage ist wohl zu bejahen. · Die Subdelegation erscheint hier unentbehrlich. Denn der Bundesrat ist kaum in der Lage, die Fülle von Maßnahmen, zu denen er ~uf Grund der Vollmachten befugt und verpflichtet ist, selber zu treffen. Er muß sich entlasten und auf die Setzung der pri36

Analog auch P. Lachen a I: La separation des pouvoirs, Verhandlungen des schweizerischen Juristenvereins 1943, S. 382 a. Anderer ~nsicht hingegen· M a r t i : a. a. 0. S. 27. 37 Vgl. Sten.Bull. 1939, Nationalrat S. 522 f.; Ständerat S. 545. 38 Vgl. darüber oben S. 20 ff. 39 Art. 5, Abs. 1 des Vollmachtenbeschlusses.


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mären Rechtssätze beschränken können. Dies gilt vorab hinsichtlich der Maßnahmen zur Wahrung der wirtschaftlichen Interessen des Landes und zur Sicherung des Lebensunterhaltes 40 • II. 1. Was den näheren Inhalt der Delegation des Vollmachtenbeschlusses in sachlicher Hinsicht anbetrifft, so ist zunächst zu sagen, daß sich die in diesem Beschluß dem Bundesrat eingeräumten ausschließlichen Kompetenzen nur auf bestimmte Sachgebiete beziehen. Mit anderen Worten, die Vollmachten sollen ganz bestimmten Zwekken dienen. Der Bundesrat darf nämlich, wie oben schon gesehen, gemäß Art. 3 des Vollmachtenbeschlusses Maßnahmen zum Zwecke der Behauptung, der Sicherheit, Unabhängigkeit und Neutralität der Schweiz, der Wahrung des Kredites und der wirtschaftlichen Interessen des Landes sowie zur Sicherung des Lebensunterhaltes ergreifen. Der Bereich der Vollmachten ist somit gewissermaßen ein vierfacher: er umfaßt den Staatsschutz nach außen im Sinne der Landesverteidigung und der Außenpolitik, den Staatsschutz nach innen, das Finanzwesen und die Wirtschaft. Der Kompetenzbereich des Bundesrates auf Grund der Vollmachten erscheint somit sehr umfassend; ja dessen· Umfang läßt sich angesichts der sehr unpräzisen Umschreibung der Sachgebiete der bundesrätlichen Vollmachten im Bundesbeschluß von 1939 naturgemäß überhaupt nicht genau bestimmen. Ob der Bundesrat in einer Materie auf Grund der Vollmachten sachlich zuständig ist, bildet infolgedessen vielfach eine schwierige Auslegungsfrage. Je nachdem die Vorschriften des Art. 3 des Vollmachtenbeschlusses über dessen Sachgebiete larger oder enger interpretiert werden, erscheint somit der Umfang der Vollmachten größer oder kleiner. Was läßt sich z. B. nicht alles unter Maßnahmen zur Wahrung der wirtschaftlichen Interessen des Landes und zur Sicherung des Lebensunterhaltes verstehen! Der Bundesrat besitzt also in diesem Sachbereich der Vollmachten ein sehr weites Feld freien Ermessens. Obwohl dieses somit sachlich nicht unbegrenzt ist, wie ja überhaupt jede Organkompetenz begrifflich begrenzt sein muß, soll sie eine Zuständigkeit sein 40 a, sind dessen Schranken schwer zu ziehen, da, wie gesehen, die Ansteckung der Grenzen des Vollmachtenbereiches im Einzelfall schwierig erscheint. Innerhalb dieses Sachbereiches kann 40

Auch nach Tri e p e 1: a. a. 0. S. 126 versteht sich eine Subdelegation nicht von selbst. 40 a So enthält denn auch Art. 3 des Vollmachtenbeschlusses von 1939 den Ausdruck "unbeschränkte Vollmachten", der irrtümlicherweise im Vollmachtenbeschluß von 1914 figurierte, nichJ.


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der Bundesrat Maßnahmen treffen, d. h. in der Hauptsache Rechtssätze erlassen 41 • 2. Anderseits darf aber der Bundesrat in diesem Rahmen des Vollmachtenbereiches, wie Art. 3 des Vollmachtenbeschlusses bestimmt, nur die er f o r der I i c h e n Maßnahmen treffen. Er muß sich somit auf das Notwendige beschränken 42 • Dies erscheint auch selbstverständlich, da es sich eben beim Vollmachtenbeschluß um eine provisorische außerordentliche Bundesverfassung und infolgedessen bei den Vollmachten um außerordentliche Kompetenzen des Bundesrates handelt, auf Grund welcher er die Bundesverfassung sprengen und damit die Rechtssetzung der verfassungsmäßigen Bundesorgane stilllegen kann. Gleich dem Begriff der Sachgebiete der Vollmachten· ist jedoch auch derjenige der erforderlichen Maßnahmen, die der Bundesrat im Vollmachtenbereich ergreifen darf, sehr unpräzis, so daß auch nach dieser -Richtung das freie Ermessen des Bundesrates überaus umfassend erscheint. Während .nun aber der Bundesrat, wie gesehen, in der näheren Bestimmung des im Voilmachtenbeschluß umschriebenen Sachgebietes frei ist 4a, liegt die Bestimmung der im Volmachtenbereich erforderlichen Maßnahmen nicht ausschließlich in seinem freien Ermessen. Der Bundesrat darf vielmehr nur solche Maßnahmen im Sachgebiete der Vollmachten als erforderlich ans.e})en und daher ergreifen, die drei bestimmte Bedingungen erfüllen. Diese Bedingungen bilden somit neben den Sachgebieten der Vollmachten weitere Schranken des bundesrätlichen freien Ermessen in der Handhabung der Vollmachten. a) Eine solche Schranke des bundesrätlichen freien Ermessens besteht zunächst darin, daß· der Bundesrat nur solche Maßnahmen zum Zwecke der Behauptung der Sicherheit, Unabhängigkeit u,nd Neutralität der Schweiz, zur Wahrung des Kredites und der wirtschaftlichen Interessen des Lande~ sowie zur Sicherung des Lebensunterhaltes erlassen darf, die irgendwie durch den K r i e g b e d i n g t sind. Kriegsbedingte Maßnahmen sind aber solche, die einer durch den Krieg verursachten, mitverursachten oder sonstwie positiv beeinflußten Not der Allgemeinheit oder eines bestimmten Bevölkerungskreises steuern 44• Erforderliche Maßnahmen im Sinne des Vollmacht~nVgl. oben S. 9 f. In diesem Sinne sprach sich auch der Referent der ständerätlichen Kommission zur Vorberatung des Vollmachtenbeschlussesentwurfes aus. Sten.Bull. 1939, Ständerat S. 545~ 43 Willkür vorbehalten; vgl. unten S. 32. 44 Vgl. auch L a u t n e r : System des schweizerischen Kriegswirtschaftsrechtes, S. 161. 41

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beschlusses sind also kriegsbedingte Maßnahmen. Der Bundesrat ist somit auf Grund seiner Vollmachten zur Regelung solcher Materien aus dem Sachgebiete des Bundesbeschlusses von 1939, die mit dem Krieg nichts zu tun haben, nicht befugt. Denn er hat diese Vollmachten zum Zwecke des Schutzes des Landes und der Erhaltung der Neutralität während des gegenwärtigen Krieges erhalten. Ohne Krieg wäre eine solche Vollmachtenerteilung nicht erfolgt. Dies ergibt sich ohne weiteres aus den näheren Umständen, unter denen der Vollmachtenbeschluß ergangen ist; datiert er ja vom 30. August 1939. Daß der Bundesrat auf Grund der Vollmachten nur kriegsbedingte Maßnahmen .ergreifen darf, ersieht man auch aus den Gesetzesmaterialien. So ersuchte der Bundesrat in seiner Botschaft an die Bundesversammlung vom 29. August 1939 über Maßnahmen zum Schutze des Landes und zur Aufrechterhaltung der Neutralität 45 um eine allgemeine Vollmacht, wie zu Beginn des Weltkrieges von 1914, um jederzeit diejenigen Maßnahmen treffen zu können, die "aus den Ereignissen erforderlich'' sind. Ebenso wurde bei der Beratung des Vollmachtenbeschlusses vom Kommissionsreferenten im Ständerat ausgeführt, daß solche bundesrätliche Maßnahmen selbstverständlich nur so lange in Frage kommen, als gestörte kriegsähnliche oder kriegefische Verhältnisse bestehen 46 • Desgleichen wurde in den eidgenössischen Räten bei Behandlung der. bundesrätlichen Vollmachtenberichte die Kriegsbedingtheit einzelner Maßnahmen des Bundesrates immer wieder in Frage gestellt 47 • 48 • Allerdings kann die Frage nach der Kriegs45

BBl 1939 II 214. Sten.Bull. 1939, Ständerat S. 543 (Referent Schöpfer). 47 Vgl. z. B. Sten.Bull. 1941,. Nationalrat S. 35 7; Sten.Bull. 1943, Nationalrat S. 29 ff. und 265, Ständerat S. 165 ff. 48 Unrichtig ist meines Erachtens die Auffassung von M a r t i : a. a. 0. S. 16, wonach entscheidendes Kriterium für den Gebrauch von Vollmachten nicht die Tatsache sei, ob die Schwierigkeiten, denen auf dem Vollmachtenweg begegnet werden soll, durch den Krieg verursacht worden sind, sondern vielmehr der Umstand, ob diese Schwierigkeiten das Durchhalten der Schweiz erschweren. Von jeder auftauchenden Schwierigkeit ließe sich nämlich letzteres irgendwie sagen. Auf diese Weise würde eine bundesrätliche Allmacht begründet. Der Bundesrat könnte z. B. die bundesstaatliche Ord" nung suspendieren, so die Kantone provisorisch in ihrer Tätigkeit einstellen, weil sie für das Durchhalten des Landes Schwierigkeiten bieten, indem dieses Durchhalten lelchter wäre, wenn das Land ganz zentralistisch von Bern aus regiert würde. Oder der Bundesrat dü~fte alle Volksabstimmungen verbieten, weil die Referendumskampagnen und Volkswahlen zu Spannungen führen und damit das Durchhalten des Landes erschweren. Oder 46


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bedingtheil einer Maßnahme im Einzelfall schwierig zu beantworten und damit weitgehend eine Ermessensfrage sein. Ist der Bundesrat nur auf die Ergreifung kriegsbedingter Maßnahmen beschränkt, so ist damit auch schon gesagt, daß der zeitliche Geltungsbereich seiner VOllmachtenverordnungen einer Begrenzung unterliegt. Diese dürfen nur so lange in Geltung stehen, als sie einer durch den Krieg bewirkten N~tlage zu steuern haben 49 • Daher dürfen die bundesrätlichen Maßnahmen, wenn überhaupt, dann nur kurz befristet sein. Denn bei einer längeren Befristung könnte der Fall eintreten, daß die Vollma~htenverordnungen auch noch zu ·einer Zeit in Geltung stehen, in der es keine durch den Krieg bedingte Not abzuwehren gibt. , b) Eine weitere Schranke des freien bundesrätlichen Ermessens bei der Ergreifung von Maßnahmen im Sachgebiete der Vollmachten besteht sodann nach der Richtung, daß der Bundesrat nur solche durch den Krieg bedingte Maßnahmen treffen ~arf, die z e i t I i c h d r in gI ich sind, so daß das Verfahren der ordentlichen Gesetzgebung oder Verfassungsrevision ohne Schaden für das Ganze nicht eingehalten werden könnte. Erforderliche Maßnahmen im Sinne des Vollmachtenbeschlusses sind also nur solche kriegsbedingten Maßnahmen, die zugleich zeitlich dringlich erscheinen. Denn wenn die Maßnahmen nicht zeitlich dringlich sind, so erübrigt sich die Beschreitung des Vollmachtenweges. Die Recht&setzung in den Sachgebieten des Vollmachtenbeschlusses kann dann ebenso gut auf dem Wege der normalen Gesetzgebung oder der Verfassungsrevision erfolgen, so daß sich ein Abgehen von der Verfassung nicht mehr rechtfertigt. Dien~n ja die Vollmachten, wie jede Notrechtskompetenz, grundsätzlich der Abkürzung des Rechtssetzungsverfahrens für den Fall, daß die· Maßnahmen zeitlich keinen Aufschub ertragen 50 • Auch von bundesrätlicher Seite ist schon darauf hingewiesen worden, daß die zeitliche der Bundesrat hätte dann die Befugnis, die Eigentumsordnung zu suspendieren, weil die wirtschaftlichen Unterschiede soziale Spannungen auslösen, so daß das Durchhalten der Schweiz dadurch erschwert wird, usw. Man sieht, zu welchen Konsequenien die These, wonach das finale und nicht das kausale Moment für den Gebrauch der Vollmachten entscheidend sei, führen kann. 49 Es sollte daher nicht möglich sein, daß einzelne Vollmachtenverordnungen jahrzehntelang in Geltung stehen, wie dies z. B. bezüglich des Bundesratsbeschlusses über die Luftschiffahrt von 1920 (AS 36, 171) der Fall ist, der heute noch gilt. 50 Vgl. dazu mein Staatsrecht der Kantone, S. 507.


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Dringlichkeit Erfordernis für die Vollmachtenverordnungen sei 51 • Der gleiche Standpunkt ist auch in der Bundesversammlung anläßlich der Beratung des Vollmachtenbeschlussesentwurfes vertreten worden 52• Auch von ihrer Notrechtskompetenz im Sinne der Zuständigkeit zum Erlaß dringlicher Bundesbeschlüsse, die sich innerhalb der Verfassung bewegen, darf die Bundesversammlung gemäß Art. 89, Abs. 2 BV nur bei zeitlicher Dringlichkeit Gebrauch machen. Allerdings ist auch die Frage der zeitlichen Dringlichkeit der einzelnen Maßnahmen in Ausübung der Vollmachten nicht immer leicht zu lösen, so daß das freie Ermessen des Bundesrates auch nach dieser Seite sehr umfassend erscheint. Allein in dem Falle, daß die verfassungsmäßigen notwendigen Faktoren der Rechtssetzung, Bundesversammlung, Volk und Stände, faktisch an der Ausübung ihrer Funktionen verhindert wären, was wohl lediglich bei einer Verwicklung der Schweiz in den Krieg in Frage kommen könnte, hätte der Bundesrat im Sachbereich der Vollmachten auch die Befugnis zur Setzung von kriegsbedingten Verordnungen, die nicht zeitlich dringlich erscheinen. Das Gleiche muß gelten auch für den Fall, daß eine öffentliche Beratung und Beschlußfassung mit Bezug auf kriegsbedingte Erlasse und damit eine Referendumskampagne aus höheren Gründen der Staatsraison wirklich unmöglich erscheinen sollte. Angesichts dieses grundsätzlichen Erfordernisses der zeitlichen Dringlichkeit für die VOllmachtenverordnungen darf der Bundesrat um so weniger solche Maßnahmen treffen, die sich erst nach der Kriegszeit auswirken würden 53 • Denn diese sind am allerwenigsten zeitlich dringlich M, 55. 51 "Ohne Vorliegen zeitlicher Dringlichkeit werden Sie im konkreten Falle dem Bundesrat kaum das Recht zum Erlaß eines Volhnachtenbeschlusses zuerkennen wollen." (Votum von Bundesrat Stampfli.) Sten.Bull. 1941, Nationalrat S. 328. 52 So führte der Referent im Ständerate aus, daß es im Begriff und in der Natur des Notrechtes liege, daß nur die absolut erforderlichen und u na u f s c h i e b b a r e n Maßnahmen getroffen werden. In schweren Zeiten müsse ein Organ im Lande vorhanden sein, das jederzeit und sofortdringI i c h u n a u f s c h i e b b a r e Maßnahmen treffen könne. Sten.Bull. 1939, Ständerat S. 545. (Von mir gesperrt.) 53 Analog im Ergebnis auch M a r t i : a. a. 0. S. 17. 54 Solche Maßnahmen wären unter Umständen auch nicht kriegsbedingt. 55 Nach M a r t i: a. a. 0. S. 17 ist die zeitliche Dringlichkeit nicht Erfordernis für den Gebrauch der Vollmachten, weil die Vollmachten nicht nur den Weg der ordentlichen Gesetzgebung abkürzen, sondern absichtlich in


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c) Die weitere Schranke des bundesrätlichen freien Ermessens ·bei der Handhabung der Vollmachten in deren Sachgebieten besteht sodann darin, daß die kriegsbedingten, zeitlich dringlichen Maßna_hmen des Bundesrates nur solche Mittel füt die Erreichung des erstrebten Zweckes anwenden' dürfen, die ver h ä I t n i s mäßig sind 56, d. h. die nicht über das notwendige Maß staatlichen EinsehreHeus hinausgehen. Dieses rechtsstaatliche Prinzip der Verhältnismäßigkeit der staatlichen Eingriffe muß auch unter dem Vollmachtenregime gelten.· So würde es z. B. diesem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit widersprechen, wenn bei der Handhabung der Vollmachten ohne Notwendigkeit von den Freiheitsrechten abgegangen würde. Ob eine Maßnahme verhältnismäßig scheint oder nicht, ist aber naturgemäß wiederum weitgehend Ermessensfrage. Um so weniger dürfen selbstverständlich solche Mittel zur Anwendung kommen, mit denen die Vollmachtenzwecke überhaupt nicht erreicht werden können. Als erforderliche Vollmachten im Sinne des Vollmachtenbeschlusses erscheinen somit zusammenfassend grundsätzlich kriegsbedingte und zeitlich dringliche Maßnahmen, die verhältnismäßig sind. Die offensichtliche Überschreitung einer der vier erwähnten Schranken der bundesrätlichen Vollmachten bedeutet Willkür. Das Willkürverbot ist selbstverständlich auch in der außerordentlichen Bundesverfassung im Sinne des Vollmachtenbeschlusses niedergelegt. Denn es entspricht der ratio jeder Zuständigkeitsordnung, daß der einzelne Kompetenzträger nur· die ihm übertragenen Kompetenzen ausübe. Ansonst wäre eine Zuständigkeitsordnung nicht sinnvoll. Bei einem Vollmachtenregime mit derart umfassenden Vollmachten ist nun die Gefahr der Ausartung in Willkür besonders groß. Anderseits ist die Grenze der Willkür im Gebiete der Vollmachtenangesichts ihres weiten Umfanges schwer zu ziehen. Auch hier besteht eine Gefahr der Willkür. . 3. Innerhalb der skizzierten Schranken der Vollmachten besitzt der Bundesrat ~rmessensfreiheit. In diesem Rahmen darf er primäre Rechtssätze erlassen und dabei das geltende Bundesgesetzesrecht materiell suspendieren. In dieser Kompetenz des B.undesrates zur Rechtssetzung auf der Gesetzesstufe ist aber notwendigerweis~ zugleich das Ermessen des Bundesrates stellen wollen, welche Maßnahmen während der Kriegszeit zum Wohle des Landes erforderlich sind. Damit würde jedoch der Bundesrat auch nach dieser Richtung auf Grund seiner Vollmachten juristische Allmacht besitzen. Der Nachweis, daß der Vollmachtenbeschluß diesen Sinn habe, wird nicht erbracht. 56 Analog auch .M a r t i: a. a. 0. S. 16.


§ 2. Der Inhalt des Vollmachtenbeschlusses.

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seine Befugnis zur materiellen Suspension der Bestimmungen der Bundesverfassung über die einfache Bundesgesetzgebung und damit aber auch der Revisionsvorschriften der Bundesverfassung nach dieser Seite enthalten; denn der. Bundesrat suspendiert durch Ausübung von Funktionen des Bundesgesetzgebers zugleich auch den Verfassungsgesetzgeber, der gemäß den Revisionsvorschriften allein eine Änderung der Verfassungsbestimmungen über die Bundesgesetzgebung vornehmen darf, materiell in seinem Amte. Der Bundesrat ist hier insoweit zur Abkürzung des Verfahrens der einfachen Bundesgesetzgebung sowie des Verfahrens der Verfassungsrevision bezüglich der Verfassungsbestimmungen über die einfache Bund,esgesetzgebung befugt. Er darf als materieller Bundesgesetzgeber amten. Seine Vollmachtenverordnungen können infolgedessen materielle Gesetzeskraft besitzen und werden in der Regel auch diesen Charakter haben, da der Bundesrat, wie gesehen, sonst ·primäre Rechtssätze im Sinne von gesetzesvertretenden und gesetzesändernden Verordnungen, die im Vollmachtenbereich vorab in Frage kommen, kaum erlassen dürfte 57• Darüber hinaus darf der Bundesrat innert der oben umschriebenen Schranken der Vollmachten bei der Ausübung seiner Funktionen als materieller Gesetzgeber auch die anderen Verfassungsbestimmungen und damit zugleich die Revisionsvorschriften der Bundesverfassung nach allen Seiten hin 58 materiell suspendieren. Der Bundesrat ist, mit · anderen Worten, insofern zur Abkürzung des Verfahrens der Verfassungsrevision in allen Verfassungsmaterien ermächtigt 59 • Er darf als materieller Verfassungsgesetzgeber an Stelle von' Bundesversammlung, Volk und Ständen amten. Seine Vollmachtenverordnungen können dementsprechend auch materielle Verfassungskraft haben. Sie müsse~ sich im Rahmen der oben skizzierten Schranken an die verfassul,lgsmäßige kantonale Kompetenzsphäre nicht halten und brauchen die Freiheitsrechte nicht zu beachten. Ebenso können die Voltmachtenverordnungen die Organisation der Bundesbehörden materiell ändern. Eines allerqings vermag der Bundesrat, vom Standpunkt des Vollmachtenbeschlusses aus betrachtet, in Ausübung seiner Vollmachten 57

Vgl. oben S. 10 f. Und nicht nur hinsichtlich der Änderung der Verfassungsvorschriften über die Bundesgesetzgebung. 59 Vgl. darüber meine Arbeit: Verfassungsrecht und Verfassungspraxis in der Festgabe Fleiner, 1937, S. 45 ff., sowie mein Staatsrecht der Kantone, s. 506 ff. 58

3 G i a c o m e t t i , Vollmachtenregime.


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nicht, nämlich die Bundesversammlung selber als außerordentlichen materiellen Verfassungsgesetzgeber, d. h. in ihren Funktionen, die sich auf den Vollmachtenbeschluß beziehen, wie in der Kontrolle der Vollmachtenverordnungen oder in der Änderung bzw. A"';Ifhebung des Vollmachtenbeschlusses, materiell zu suspendieren. Denn dies würde bedeuten, .daß der Bundesrat seine Vollmachten verewigen und die parlamentarische Kontrolle des Vollmachtenregimes ausschalten dürfte. Das wäre aber eine Verletzung des Vollmachtenbeschlusses. Denn an den Vollmachtenbeschluß ist der Bundesrat unter allen Umständen gebunden. Dieser ist die Zuständigkeitsordnung im Gebiete der bundesrätlichen Vollmachten. Der Vollmachtenbeschluß ermächtigt als ·außerordentliche Verfassung den Bundesrat, unter bestimmten Bedingungen von der Bundesverfassung, nicht aber vom Vollmachtenbeschluß selber abzugehen. Als starre außerordentliche Bundesverfassung kann ja der Vollmachtenbeschluß durch den Bundesrat auch nicht formell suspendiert werden; ebenso wenig erscheint eine materielle Suspension möglich, falls der Beschluß nicht eine solche zuläßt, was nicht zutrifft. Gleich demordentlichen ist eben auch der außerordentliche Bundesverfassungsgesetzgeber nicht relativiert; das will heißen, ebenso wenig wie der ordentliche Verfassungsgesetzgeber vom Standpunkt der Bundesverfassung formell oder materiell absetz-· bar erscheint, ebenso wen1g ist es auch die Bundesversammlung vom Standpunkt des Vollmachtenbeschlusses. Aber auch so besitzt der Bundesrat auf Grund der Vollmachten eine umfassende, nur durch die geschilderten Schranken seiner Vollmachten begrenzte kommissarische Diktaturgewalt

§ 3. Die Legalität des Vollmachtenbeschlusses. I. In den vorausgehenden Ausführungen wurde der Vollmachtenbeschluß einer immanenten Betrachtung unterzogen, ohne Rücksicht auf die Frage seiner Rechtmäßigkeit, das will heißen, ohne ihn mit dem Maßstabe einer anderen Norm zu messen. Nach der auch in der Schweiz bis heute herrschenden Rechtsstaatsvorstellung muß sich nun aber jeder Hoheitsakt grundsätzlich auf Rechtsnormen stützen können. Daher entsteht auch das Problem der Legalität des Vollmachtenbeschlusses. Diese Frage würde sich allerdings dann nicht stellen:, wenn der Vollmachtenbeschluß eine neue ordentliche Bundesverfassung wäre, die die bisherige Bundesverfassung .formell ersetzt hätte. Denn über


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einer Staatsverfassung steht keine höhere gesetzte Norm - es wäre denn, daß man sich auf den Standpunkt des Primates der Völkerrechtsordnung stellen würde- aus der di~ Verfassung ihre Legalität schöpfen könnte. Eine neue formelle Verfassung kann lediglich in dem. Sinne mit dem Maßstabe des gesetzten Rechts gemessen werden, daß man die Frage nach der formalrechtlichen Rechtskontinuität, d. h. das Problem aufwirft, ob die neue Verfassung nach Maßgabe der Revisionsvorschriften der aufgehobenen bisherigen Verfassung erlas·· sen worden ist oder nicht. Allerdings muß, soll die ~ ormativität der Verfassung gewahrt .werden, auch das Staatsgrundgesetz wie jeder andere gesetzte Rechtssatz einen normativen Geltungsgrund haben. Und zwar ist die Verbindlichkeit der Verfassung in einer vorausgesetzten formalen oder zugleich auch materialen Grundnorm zu erblicken 1 • Der Vollmachtenbeschluß von 1939 stellt aber, wie oben gesehen, vom Standpunkt der Bundesverfassung aus betrachtet, keine neue ordentliche Bundesverfassung, die die bisherige Bundesverfassung formell ersetzt, dar. Er bildet vielmehr nur eine außerordentliche Bundesverfassung; er ermächtigt lediglich den Bundesrat zur materiellen Suspension von Verfassungsvorschriften innert bestimmter Schranken. Die Existenz, das heißt aber die normative Weitergeltung der Bundesverfassung selber wird jedoch durch diesen Vollmachtenbeschluß nicht berührt, auch wenn einzelne ihrer Vorschriften materiell außer Kraft gesetzt, also nicht mehr befolgt werden. Infolgedessen ist auch der Vollmachtenbeschluß nach dein Maßstab der Bundesverfassung zu messen. Und zwar erhebt sich, da der Schöpfer des Vollmachtenbeschlusses, die Bundesversammlung, ein von der ordentlichen Bundesverfassung unmittelbar eingesetztes und mit Kompetenzen ausgestattetes Bundesorgan ist, die Frage, ob die Bundesversammlung auf Grund der ordentlichen Bundesverfassung auch die Zuständigkeit zum Erlaß dieses Vollmachtenbeschlusses besaß. Die Frage der Rechtmäßigkeit des Vollmachtenbeschlusses ist somit identisch mit derjenigen seiner Kompetenzmäßigkeit. Da aber der Vollmachtenbeschluß kein materielles Recht, sondern lediglich eine Delegation an den Bundesrat enthält 2, so ist die Frage seiner Kompetenzmäßigkeit gleichbedeutend mit dein Problem der Kompetenzmäßigkeit einer solchen Delegation. 1

Vgl. mein Staatsrecht der Kantone S. 20 ff. und die dort erwähnte Literatur. 2 Vgl. oben S. 14.


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Das Problem der Legalität der bundesrätlichen Vollmachten bildet denn auch die wichtigste Frage, die heute der schweizerischen Staatsrechtswissenschaft aufgegeben ist; dieses Problem ist von allergrößter grundsätzlicher und praktischer Tragweite. Um so merkwürdiger mag die Tatsache erscheinen, daß man sich in der Schweiz mit dieser Frage unter der Herrschaft des gegenwärtigen VOllmachtenregimes relativ wenig befaßt hat 3 • An diese Dinge wird nicht gerne gerührt. Die Vollmachten sind gewissermaßen Tabu. Sie erscheinen für viele gleichsam als jenseits von Gut und Böse stehend. Auch in der Bundesversammlung wurde im Gegensatz zur Zeit des ersten Weltkrieges die Frage der Legalität der Vollmachten anläßtich der Prüfung der Vollmachtenverordnungen kaum erörtert 4 • Dieser Umstand· ist wohl zum Teil daraus zu erklären, daß das heutige Vollmachtenregime nicht etwas absolut Neues darstellt, sondern unmittelbar an die Dringlichkeitspraxis der Dreißig er Jahre, die zum Teil ebenfalls von der Bundesverfassung abweicht 5 , anknüpft . . II. Nur vereinzelt wird in Doktrin und Praxis, insbesondere heute 6, die Legalität des Vollmachtenbeschlusses nach dem Maßstabe der Bundesverfassung gemessen. Dabei wird die Rechtsgrundlage der Vollmachten vorab im Art. 2 und im Art. 85, Ziff. 6 und 7 BV erblickt7. 3

Im letzten Kriege hat man sich um dieses Problem viel mehr bemüht. Vgl. Anm. 4, 6 und 7. 4 Vgl. über die Erörterung dieser Frage im Schoße der Bundesversammlung unter dem Vollmachtenregime von 1914 H. T i n g s t e n : Les pieins pouvoirs 1934, S. 76 ff. (Übersetzung aus dem Schwedischen). 5 Vgl. meine Arbeit: Verfassungsrecht und Verfassungspraxis, a. a. 0. s. 61 ff. 6 Im Gegensatz zur Zeit des ersten Weltkrieges. Vgl. eine Übersicht der Auffassungen von Theorie und Praxis über die Frage der Legalität des Notrec;Iltes im Bunde R. M a 1ez i e u x : Les pieins pouvoirs en Suisse, 1942 s. 56 ff. 7 So v. W a 1 d k i r c h : Die Notverordnungen im schweizerischen Bundesrecht, Berner Diss. 1915, S. 19 ff., der die Notrechtskompetenz der Bundesversammlung aus Art. 2 in Verbindung mit Art. 85 Ziff. 6 und 7 der Bundesverfassung entnimmt. Analog ursprünglich auch W. B ur c k h a r d t , der sich auf Art. 85 und 102· BV stützt; vgl. Zeitschrift für schweizerisches Recht, nF. Bd. 35 S. 618 a ff. Eine ähnliche Auffassung vertritt gegenwärtig S c h i n d 1 er , der die Rechtsgrundlage des Vollmachtenbeschlusses in Art. 2 und 71 BV erblickt (vgl. Neue Zürcher Zeitung 1943, Nr. 1669 und 1670), und neuerdings ganz allgemein das Notrecht als in der Bundesverfassung verwurzelt ansieht; vgl. Verhandlungen des schweizerischen Juristenvereins, 1943, S. 651 a ff. In dieseJ.:t Zusammenhang gehört auch die


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In der I;Iauptsache behandeln Theorie und Staatsrechtspraxis dieses Legalitätsproblem nach anderen Kriterien. So wird ganz vereinzelt in der Literatur die Kompetenz der Bundesversammlung zum Erlaß des Vollmachtenbeschlusses als Gewohnheitsbildung angesehen 8 • Ferner begründet die Doktrin die Notrechtskon1petenz der Bundesversammlung vielfach naturrechtlich 9 • Als rechtliche Grundlage der Vollmachten wird weiter auch das Rechtsbewußtsein bzw. die Rechtsüberzeugung des Volkes, das den Vollmachten zugestimmt habe, angesehen 10 • Außerdem wird die Legalität des Vollmachtenbeschlusses - wie These von Na w i a s k y, wonach das Notstandsrecht als Grundprinzip für anormale Zeiten zu den für das positive Recht maßgebenden GTundvorstellungen gehört; vgl. Verhandlungen des schweiz. Juristenvereins, 1943, S. 654 a ff. Ebenso scheint auch die staatsrechtliche Praxis vereinzelt das Notrecht aus der Bundesverfassung, SOßUS deren vernünftigem Sinn abzuleiten: vgl. Rebe r: Das Notrecht des Staates, Berner Diss. 1938, S. 22. 8 So Fa V r e: Le droit de necessite de l'Etat, Neuenburger Diss. 1937, s. 33 ff. 9 Vgl. H ö r n i : De l'Etat de necessite en droit public federal suisse. Genfer Diss. 1917, S.18; Fleiner: Bundesstaatsrecht S. 217 (Diese Zuständigkeit ergebe sich aus dem Wesen des Staates) ; 0 s w a l d : Die Gewaltentrennung im schweiz. Staatsrecht, Verhandlungen des Schweiz. Juristenvereins, 1943, S. 524 a (Der Staat komme ohne Anerkennung allgerneinet natürlicher Pflichten nicht aus; diese ergeben sich schon aus dem naturrechtlichen Satz, daß die verantwortliche Obrigkeit berechtigt sein muß, alles zu tun, was zur Erfüllung ihrer Aufgaben nötig ist). Auch in der ausländischen Literatur wird das Notrecht mitunter naturrechtlich begründet; vgl. B 1 u n t s c h 1 i : Allgemeines Staatsrecht, 3. Aufl., 2. Bd., S. 114 ff., sowie Staatswört~rbuch Bd. 2, S. 742 ff.; Gerber: Grundzüge des deutschen Staatsrechts, 3. Aufl., S. 42. Analog auch Haurio u : Recit de droit constitutionnel, 2. Aufl., S. 451 ff. 10 Vgl. La ·c h e n a 1 : a. a. 0. S. 359 a und 642 a: "Impose par la necessite et accepte comme telle par la volonte generale il (sc. Je regime des pieins pouvoirs) puise dans cette manifestation tacite de la conscience publique son caractere de droit public pour le moment non ecrit. 11 en a la valeur juridique et la force ·obligatoire. '' Ebenso vertritt auch 0 s w a I d diese Auffassung neben dem naturrechtliehen Standpunkt, a. a. 0. S. 523 a und 637 a: "Insoweit das Staatsnotrecht vom Rechtsbewußtsein eines ganzen Volkes und seiner verantwortlichen Behörden getragen ist, besitzt es den vollen Wesensgehalt des Rechts." Analog auch Pestal o z z i: a. a. 0. S. 41 u. 132. Im ähnlichen Sinne offensichtlich auch Ho m berge r: Das Tatsächliche als Element der Rechtsbildung, Zeitschrift des Hernischen Juristenvereins Bd. 77 S. 12 ff., wonach vorab die rechtsbildende geistige Kraft im Volke das Notrecht geschaffen habe.


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der darauf beruhenden Notrechtssetzung - mit der Erwägung begründet, daß dieser Beschluß eine unter Mißachtung der Revisionsvorschriften der Bundesverfassung zustande gekommene neue formelle Verfassungsbestimmung sei; er besitze den gleichen Geltungsgrund wie die Bundesverfassung; dieser Geltungsgrund wird in der Tatsache der Anwendung und Durchsetzung des Vollmachtenbeschlusses erblickt 11 ; dieser setze sich nämlich gleich der Bundesverfassung durch. In der Staatsrechtspraxis sodann wird die Kompetenz der Bundesversammlung zur Erteilung der Vollmachten gewissermaßen als etwas Selbstverständliches angesehen. So besteht nach der Auffassung des Bundesrates ein neben der Bundesverfassung geltendes Notrecht des Staates, das die Bundesbehörden ermächtigt, hn Falle eines staatlichen Notstandes vom Staatsgrundgesetz abzuweichen 12• Ebenso wurde in der Bundesversammlung anläßlich der Behandlung des Vollmachtenbeschlussesentwurfes die Zuständigkeit zum Erlaß dieses Beschlusses auf das nicht geschriebene Gesetz des Notrechtes, auf das kein · Staat in Zeiten der Gefahr verzichten könne, gestützt 13 • Dementsprechend ist auch der Vollmachtenbeschluß von 1939, wie schon gesehen, in dem Sinne von der Bundesverfassung gelöst worden, daß er nicht im Art. 89 BV, der ja ein Notrecht intra constitutionem enthält, verankert wurde 14• Dieser Auffassung der Praxis über die Legalität der Vollmachten schloß sich unter dem Vollmachtenregime von 1914 auch das Bundesgericht an 15, während seine heutige Stellungnahme 11 Das gleiche gilt auch vom selbständigen Notverordnungsrecht des Bundesrates. So M a r t i : a. a. 0. S. 23 ff. sowie M a r t i : Das Verordnungsrecht des Bundesrates, 1944, S. 132 ff. 12 Vgl. z. B. BBl 1939 I 539. Vgl. für den Vollmachtenbeschluß von 1914 z. B. BBl 1916 I 122. Dieses ungeschriebene Notrecht neben der Bundesverfassung wurde auch in den dreißiger Jahren zur Rechtfertigung dringlicher Bundesbeschlüsse zur Geltung gebracht; vgl. BBl 1933 II 285 sowie meine Arbeit: Verfassungsrecht und Verfassungspraxis a. a. 0. S. 61. . 13 Sten.Bull. 1939, Nationalrat S. 522. (Votum Nietlispach.) 14 Vgl. oben S. 16. 15 Vgl. z. B. BGer 41 I 553: " - Enfin ii n'est pas non plus exact de pretendre que 1' Assemblee federale n'a pas pu autoriser le Conseil federal a s'affranchir des regles constitutionnelles qui en temps ordinaire s'imposent a 1' observation des autorites. Bien que Ia Constitution ne renferme pas de disposition formelle dans ce sens, il n' est pas douteux que lorsque, par suite · de circonstances exceptionnelles, le Conseil federal est charge de prendre toutes mesures exceptionnelles necessaires pour le bien public menace, il ne saurait etre lie par Ia Constitution dans cette reuvre indispensable."


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nicht mehr so eindeutig erscheint 16 • Insofern die Staatsrechtspraxis mit der genannten Stellungnahme eine rechtliche Begründung des Vollmachtenbeschlusses bezweckt 17, bringt auch sie ein naturrechtliebes Notrecht zur Geltung. Allerdings ist die Praxis in dieser Frage nicht einheitlich. Es werden zugleich mehrere juristische Begründungen der Legalität der Vollmachten gegeben. So hat es mitunter den Anschein, als ob die Praxis das Notrecht aus der Notwendigkeit ableite, so daß letzten Endes als Recht erscheint, was vernünftig ist 18 • III. Der Maßstab für die Beurteilung der Kompetenzmäßigkeit des Vollmachtenbeschlusses kann nach meinem Dafürhalten, entgegen der erwähnten Doktrin und Praxis, wie oben bereits vorausgesetzt wurde 19 , allein die Bundesverfassung sein. Nur eine solche Stellungnahme erscheint der Vorstellung vom Rechtsstaate 20 gemäß. Eine Notrechtskompetenz, das heißt die Befugnis zur Abkürzung des Gesetzgebungs- und des . Verfassungsgesetzgebungsverfahrens zwecks Abwehr eines staatlichen Notstandes 21 kann der Bundesversammlung oder dem Bundesrat lediglich dann zustehen, wen~ die Bundesverfassung sie vorsieht. Denn die Bundesverfassung bildet die oberste Zuständigkeitsordnung des Landes 22 • Sie hat die obersten Bundesorgane eingesetzt und die staatlichen Funktionen, in der Hauptsache nach Maßgab~ des Gewaltentrennungsprinzips, unter sie verteilt. Die Staatstätigkeiten werden dementsprechend durch die Bundesverfassung in Kompetenzen der verschiedenen Bundesorgane zusam16 So beschränkt sich das Bundesgericht im BGer 68 II 320 auf den Hinweis darauf, daß laut Sten.Bull. 1939, Nationalrat S. 522, Ständerat 544 die Bundesversammlung beim Erlaß des Volh~achtenbeschlusses sich auf eine Iex non scriptaberufen habe. 17 Vgl. unten S. 58. 18 Vgl. z. B. BBI 1937 III 19: "Soweit die Not eine Abweichung von der Bundesverfassung erheische, darf das Notrecht vom normalen Verfassungsrecht abweichen und eine solche Abweichung ist rechtmäßig.'' Vgt auch Rebe r : a. a. 0., S. 22 f. 19 Vgl. oben S. 35. 20 · Vgl. über den Rechtsstaat neuerdings W. K ä g i : Rechtsstaat, Sozialstaat, sozialer Rechtsstaat. Die Schweiz, Jahrbuch der Neuen Helvetischen Gesellschaft, 1945. 21 Vgl. mein Staatsrecht der Kantone, S. 507. Diese Kompetenz wird auch Notrecht schlechthin genannt, obwohl darunter auch das auf Grund dieser Zuständigkeit gesetzte Recht verstanden wird. 22 Sie ist Zuständigkeitsordnung auch in dem weiteren Sinne, daß sie die Kompetenzen zwischen Bund und Kantonen verteilt, und eine Ordnung des Verhältnisses zwischen Staat und Individuum in der Gestalt der Freiheitsreche enthält.


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mengefaßt. Die einzelne Bundesbehörde besitzt infolgedessen nur diejenigen Zuständigkeiten, die die Bundesverfassung ihr einräumt. Diese den Bundesbehörden gezogene Kompetenzgrenze ist für sie unüberschreitbar, da die Bundesverfassung starr ist. Die Unverbrüchlichkeit der Kompetenzgrenzen ist der Sinn jeder geschriebenen starren Verfassung. Die Kompetenzmäßigkeit der staatlichen Funktionen stellt somit das erste Prinzip dar, das sich aus der Bundesverfassung als Zuständigkeitsordnung ergibt. Sie bildet mit dem Gewaltentrennungsprinzip 23 und dem materiellen Legalitätsprinzip, das ist dem Grundsatz der inhaltlichen Rechtmäßigkeit der Rechtsprechungsund Verwaltungsakte sowie der materiellen Verfassungsmäßigkeit der Gesetze und Verordnungen, den Bestand des schweizerischen Rechtsstaates in formellem Sinne. Dieses formelle und materielle Legalitätsprinzip ist seinerseits eine Ausstrahlung der freiheitlichen Staatsidee, die die Bundesverfassung verwirklicht hat und zugleich deren Garantie. Die freiheitliche Staatsidee der Schweiz im Sinne der Freiheit der Kantone 24 sowie der individuellen und politischen Freiheit der Bürger kann nämlich allein bei Bindung der Bundesbehörden an das Recht, vorab an die Bundesverfassung, gewahrt werden. Nur in dem Falle, daß der Bund ein formeller Rechtsstaat im Sinne der Kompetenzmäßigkeit UJ.ld der materiellen Rechtmäßigkeit der staatlichen Funktionen ist, können föderalistische, individuelle und politische Freiheit auf die Länge bestehen und das Individuum somit gegen staatliche Willkürakte geschützt sein. Der formelle Rechtsstaat bildet eben die notwendige ideelle und praktische Ergänzung des föderalistischen und demokratischen Staates und des materiellen Rechtsstaates, das ist des Staates, der Freiheitsrechte des Individuums gewährleistet. Der formelle ·Rechtsstaat allein kann auch eine Rechtskultur sichern. Aus dem Gesagten folgt, daß es für den Bund keine Legalität außerhalb der Bundesverfassung geben kann 25 • Im entgegengesetzten Falle würde die Bundesverfassung als oberste Zuständigkeitsordnung gegenstandslos werden. Es können vernünftigerDer Gru~dsatz der Kompetenzmäßigkeit der staatlichen Funktionen braucht an sich nicht auf das Gewaltentrennungsprinzip ausgerichtet zu sein. Die Verfassung kann die Staatstätigkeiten auch anders ve;rteilen als nach Maßgabe der Gewaltentrennung. Die geschriebene Verfassung ist aber in der Regel eine gewalte~trennende. 24 Vgl. darüber W. K ä g i : Vom Sinn des Föderalismus, Die Schweiz, Jahrbuch der N euen Helvetischen Gesellschaft, 1944. 25 Darum kann eine staatliche Strukturwandlung rechtlich besehen auch · nur auf dem Wege der Verfassungsrevision erfolgen. 23


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weise auch nicht mehrere sich widersprechende Zuständigkeitsordnungen in normativer Geltung stehen: Dementsprechend kann eine Notrechtskompetenz, die nicht irgendwie auf der Bundesverfassung beruht, kein Recht sein. Extra constitutionem nulla salus. Diese rechtsstaatliche Einstellung entspricht auch durchaus der modernen Doktrin. Den meisten Vertretern der Staatsrechtswissenschaft unserer Zeit 26, die zu dieser Frage in·' g~undsätzlicher Weise Stellung nehmen, erscheint es als selbstverständlich, daß eine Notrechtskompetenz von Staatsorganen nur dann rechtlich zulässig ist, wenn die Verfassung sie vorsieht;;27 • 26 Vgl. über die Ausnahmen oben S. 3 7. Die ältere deutsche Doktrin stand diesbezüglich zum Teil auf naturrechtlichem Boden; sie stellte sich dar als eine Auswirkung des monarchistischen Prinzips. 21 Vgl. z. B. M e y er - Ans c h ü t z : Lehrbuch des deutschen Staatsrechts, 7. Aufl. S. 30 Anm. d: "Wenn ferner die Legislative verfassungswidrig handelt, das heißt ein Gesetz ohne Wahrung der Formen der Verfassungsänderung erläßt, so ist dies gleichfalls ein durch keinen Notstand zu rechtfertigendes Unrecht", sowie S. 708 Anm. 17: "Wenn eine Verfassung wie die Reichsverfassung über das Institut des Notverordnungsrechts schweigt, so ist damit gesagt, daß sie diese Einrichtung hat verwerfen wollen.'' G. Je ll in e k: Allgemeine Staatslehre, 3. Aufl. S. 359: "An dem Faktum der staatlichen Existenz hat alles Recht seine unübersteigliche Schranke. Daher kann eine Abänderung in den Grundlagen des staatlichen Lebens zwar recht vernichtend sein, dem Recht wohnt aber niemals die Macht inne, den Gang des Staatswesens in kritischer Zeit zu bestimmen. Um e k I a t an t e V er I e t z u n g e n der S t a a t s o r d n n g zu b e s c h ö n i g e n , h a t m an d i e K a t e g o r i e des S t a a t s n o t r e c h t e s a n g e w e n d e t , die d o c h n u r e i n a n d e r e r Au s d r u c k f ü .r d e n S a t z ist, d a ß M a c h t vor Recht geht" (von mir gesperrt). Ans c h ü t z: Verwaltungsarchiv, Band 5 S. 22 ff.: "Ein Zwan'g, der hiernach Unrecht ist, wird nicht dadurch Recht, daß ihn die Behörde im Notstand ausübt ... " "Auch die Not verleiht kein Recht, das Recht zu brechen." Tri e p. e I : Die Kompetenzen des Bundesstaates und die geschriebene Verfassung, Festgabe für Laband, 2. Band, S. 324 ff. (der darauf hinweist, daß verfassungsrechtlich schlechterdings nichts selbstverständlich sei, mag ein Staatsakt politisch auch notwendig sein). T h o m a : Der Vorbehalt der Legislative und d~s Prinzip der Gesetzmäßigkeit von Verwaltung und Rechtssprechung, Handbuch des deutschen Staatsrechts, Bd.'2 S. 231: "Darüber" (über das Notrecht des Reichspräsidenten, gemäß der Weimarer Verfassung) ."hinausgehende, mit Berufung auf irgend eine ,Not' begründete Maßnahmen einer Reichsleitung oder Landesregierung kann der Jurist nicht als rechtmäßig bezeichnen. Sie wären Verfassungsverletzungen. Gewiß ist denkbar, daß ein rechtssatzverletzendes Vorgehen einer Reichs- oder Landesstelle außerordentlicherweise in so hohem Maße durch sogenannte politische Notwendigkeit gerechtfertigt erschiene, daß Parlament und öffe:ntliche Meinung sie dulden und selbst die Gerichte sie gelten lassen. Aber vor dem J;orum juristischen Urteils bliebe

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Besteht keine der Bundesverfassung gleichwertige Rechtsquelle, ist diese vielmehr einziger Maßstab für die Beurteilung der Frage der Legalität des Vollmachtenbeschlusses, so kann die Kompetenz der Bundesversammlung zur Erteilung der Vollmachten an den Bundesdieses Vorgehen rechtsverletzend - ein Staatsnot r e eh t über das verfassungsrechtlich regulierte kann es im geordneten republikanischen Verfassungsstaate nicht geben. K eIsen: Allgemeine Staatslehre S. 157: Man spricht von einem Staatsnotrecht und argumentiert etwa in der Weise: Der Staat muß eben leben und wemi dies auf rechtmäßigem Wege unmöglich ist, sind die höchsten Organe. des Staates verpflichtet, alles zu tun, um den Staat zu erhalten. Dabei handelt es sich natürlich nur um ein politischnaturrechtliches Raisonnement, das sich - wie gewöhnlich - als positives Recht zu geben versucht." Merk I: Allgemeines Verwaltungsrecht, S. 167: "Im Grunde ist dies" (nämlich das Recht der Verwaltung zum Bruche der Rechtsschranken, falls die salus publica dies gebieterisch verlangt) "eine unvollziehbare Vorstellung, denn ein Rechtsbruch kann niemals rechtlich möglich sein." W a I d e c k er : Allgemeine Staatslehre, S. 463. W. B ur c k h a r d t : Die Organisation der Rechtsgemeinschaft, S. 193 (der ebenfalls betont, daß das sogenannte Staatsnotrecht als die Rechtfertigung des rechtswidrigen Gebrauchs der einmal gegebenen Staatsmacht juristisch unmöglich sei). Weiter sagt B u r c k h a r d t in seinem Kommentar der BundesverfassungS. 670, daß die Verfassungsmäßigkeit des Notrechtes nur am geltenden Verfassungsrecht gemessen werden könne, und daß wer an ein außer der Verfassung geltendes Notrecht appelliert, damit die Verfassungswidrigkeit schon zugibt. Ta t a r in Tarn e y d e n : Werdendes Staatsrecht, S. 17 " ... jedem Staat ist gestaUende Prärogative einerseits, rettendes Notrecht andererseits immanent; dieses Notrecht ist aber gar kein ,Recht', sondern eben nur Notstand: es ist machthandeln um der nationalen Selbstbehauptung willen ... "Grau: Die Diktaturgewalt des Reichspräsidenten, Handbuch des deutschen Staatsrechts, Bd. 2 S. 276. S t r e I er: in der Zeitschrift für vergleichende Rechtswissenschaft, Bd. 48 S. 385. Auch in der älteren deutschen Literatur, wie bei Ar n d t : Staatsrecht S. 200 und R ö n n er : Staatsrecht des deutschen Reiches, Bd. 2 S. 56 wird dieser Standpunkt vertreten. Vgl. ferner aus der französischen Literatur Es mein- Nezard: Elements de droit constitutionnel, 8. Aufl. 2. Bd. S. 90: "Sans doute, le droit public d'un pays peut organiser les competences des organes ou des agents publies de maniere a ce qu'au moment d'une crise ou d'une guerre, les röles respectifs de ces organes soient modifies; Ia Constitution peut prevoir ellememe des substitutions de competence; eile peut laisser au Parlement Ia faculte d' en realiser par voie legislative, soit par des autorisations expresses, soit par des renonciations a excercer ses attributions sur des matieres determinees, en laissaut le champ libre au gouvernement. Mais si ces modifications n' ont pas ete prevues qu rendues possibles par Ia loi constitutionnelle, Ies actes accomplis par un agent public en dehors de sa competence constitutionnelle ou legale sont nuls comme entaches d'illegalite; ... Ce n'est pas a dire qu'a un moment donne un gouvernement ne soit contraint, par Ie souci de ses devoirs, de sortir de ses attributions, de prendre en fait une


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rat nicht aus irgendwelchem Naturrecht - dieses tritt ja in verschiedenen Schattierungen, so als katholisches, protestantisches, rationalistisches Naturrecht, auf - abgeleitet werden. Eine naturrechtliehe Grundlegung des Notrechtes überschreitet überhaupt die Grenzen rechtswissenschaftlicher Erkenntnis. Denn das Naturrecht ist Metaphysik, Glaube 28 • Als ethisches Wertsystem kann es überdies auch nicht unmittelbare rechtliche Verbindlichkeit haben 29 , sondern nur den Sinn eines Postulates an den Gesetzgeber besitzen 30 • Allerdings wird die staatliche Rechtsordnung, soll sie sich durchsetzen können, den herrschenden ethischen Anschauungen entsprechen, das Gerechtigkeitsideal ihrer Zeit verwirklichen müssen. Ein naturrechtliebes Verfassungsrecht neben der geschriebenen Staatsverfassung würde nicht nur zur Rechtsunsicherheit führen, sondern allmählich die staatliche Organisation über . den Haufen werfen und infolgedessen die Staatsform aus den Angeln heben. Die Berufung auf ein naturrechtliches Notrecht kann daher auch zur Anrufung eines Widerstandsrechtes führen. Gehört ja auch dieses dem Arsenal des mesure indispensable au salut de l'Etat, dont il imposera I' execution par la force publique mais il n' en commettra pas moins une illegalite ... " D u g u i t: Traite de Droit constitutionnel, 8. Aufl. 3. Bd. S. 96 ff. Ca r r e d c M a 1 b er g : Contribution a la theorie generale de l'Etat, Bd. 1 S. 620: "Dans le systeme de l'Etat de droit il ne peut se concevoir comme moyens de droit pour la defense des interets etatiques que ceux qui sont mis a la disposition des Autorites constituees par la Constitution ou par les loi." Je z e: L'executive en temps de guerre, S. 118: "Le juriste doit considerer comme illegal, inconstitutionnel tous les actes accomplis en violation des competences constitutionnelles ou legales ... " B a r t h e 1 e m y Du e z : Traite de droit constitutionnel, 2. Aufl. S. 242 ff.: " ... L' etat de neces~~te n' est pas une theorie juridique mais seulement une theorie politique, qui dans les rapports du parlement et du gouvernement rend l'illegalite excusable . . . L' acte accompli en vertu de la theorie de la necessite reste illegal ou inconstitutionnel ... " 28 So erscheint z. B. die Gerechtigkeitslehre E. B r u n n e r s als ein Glaube an schöpfungsmäßige Prinzipien. 29 Vgl. E. Brunn er: GerechtigkeitS. 110: " ... Die nun einmal geltenden Rechtssätze des· Staates müssen das Monopol der Rechtsverbindlichkeit besitzen, das Naturrecht darf keine Rechtsverbindlichkeit für sich in Anspruch nehmen ..." 30 Vgl. E. Brunne r: a. a. 0. 236: "Kein juristischer Formalismus und keine historisierenden Argumente gegen das Naturrecht können die Tatsache beseitigen, daß es Forderungen der Gerchtigkeit gibt, die in Gesetze zu fassen Aufgabe des gerechten Gesetzgebers ist;" vgl. auch S. 246: "Es gibt zwar nur staatliches Recht, aber vorstaatliche, außerstaatliche Gerechtigkeitsforderungen."


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Naturrechtes an. Es ist denn auch oft so, daß der Jurist, wenn er nicht weiter kommt, sich auf Naturrecht beruft. Analog verhält es sich auch mit der Auffassung, daß die Notrechtskompetenz ihre Grundlage im Rechtsbewußtsein des Volkes, in der Volksüberzeugung, die ein solches Notrecht billige, habe. Gewiß bilden diese Faktoren einen wichtigen Faktor in der Demokratie; sie sind aber nicht selber Rechtsquelle, sondern stellen nur die soziologische Bedingung für die Entstehung von Recht im demokratischen Staat dar. Recht in der Demokratie kann nur diejenige Volksüberzeugung sein, die nach Maßgabe der Verfassung in bestimmte Rechtssatzformen gegossen worden ist. Ansonst würden sich ja die Institute des Referendums und der Volksinitiative erübrigen. Darüber hinaus ist aber noch zu sagen, daß es sich überhaupt nicht sicher feststellen läßt, ob das Rechtsbewußtsein des Volkes bzw. die Volksüberzeugung die Vollmachten als solche bzw. deren Anwendung billige 31• Vielleicht entspricht nur der Vollmachtenbeschluß an sich der Volksüberzeugung, während dessen Handhabung nicht nach allen Seiten vom Rechtsbewußtsein des Volkes getragen sein mag. Der fehlende Wi:derspruch des Volkes gegenüber einer· staatlichen Maßnahme kann somit wohl kaum ohne weiteres als Ausdruck der Volksüberzeugung von der Rechtmäßigkeit des staatlichen Handeins angesehen werden 31• Er kann unter Umständen vielleicht auch das Gegenteil bedeuten. Eine solche Vorstellung der Volksüberzeugung als Rechtsquelle mutet romantisch an. Ebensowenig ist selbstverständlich, wenn keine der Bundesverfassung gleichwertige Rechtsquelle besteht, die rechtliche Begründung des Notrechtes mit dem Hinweis auf seine Vernünftigkeit haltbar; ja für den, der in rechtsstaatliehen Kategorien denkt, erscheint eine solche Auffassung geradezu ungeheuerlich; denn jede vernünftige Maßnahme ließe sich auf diese Weise rechtlich rechtfertigen 32 , was der Willkür Tür und Tor öffnen würde. Diese Auffassung erinnert an den berühmten Ausspruch: "Not kennt kein Gebot." Ich kann daher kaum glauben, daß die Praxis die Rechtmäßigkeit des Notrechtes wirklich in seiner Vernünftigkeit erblicken wolle. Zu der Theorie der rechtlichen Rechtfertigung des Notrechtes mit der Tatsache seiner Anwendung und Durchsetzung ist zu sagen, daß damit jede verfassungswidrige Maßnahme der Bundesve:rsam~lung 31 Vgl. über diese Frage Ho Istein: Die Lehre von der öffentlichrechtlichen Eigentumsbeschränkung, S. 22. 32 Vgl. dazu auch R e b er : a. a. 0. S. _23.


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oder des Bundesrates, die angewendet wird und sich durchsetzt, legal wäre. Denn jede solche verfassungswidrige Maßnahme würde nach dieser Auffassung gleich dem Vollmachtenbeschluß eine unter Mißachtung der Revisionsvorschriften der Bundesverfassung zustande gekommene neue formelle Verfassungsbestimmung im Sinne einer formellen Suspension der Bundesverfassung oder der Ermächtigung dazu bedeuten. Der Unterschied zwischen dem Vollmachtenbeschluß und solchen verfassungswidrigen Maßnahmen von Bundesversammlung und Bundesrat, die angewendet werden und sich durchsetzen, bestünde lediglich im Umfange der Verfassungssuspension, während die rechtliche Grundlage in beiden Fällen die gleiche, eben die Tat· sache der Anwendung und Durchsetzung der Maßnahmen, wäre. Die Bundesversammlung würde somit nach dieser Auffassung, da die Legalität ihrer Maßnahmen sich danach nicht nach Maßgabe der Bundesverfassung,· sondern nach Maßgabe ihrer Anwendbarkeit und Durchsetzbarkeil beurteilt, juristisch allmächtig, also ein princeps legibus solutus sein; denn alle ihre Maßnahmen würden legal sein, da sämtliche angewendet werden und sich durchsetzen, nachdem eine richterliche Kontrolle der Akte der Bundesversammlung nicht in Frage kommt 33 • Das gleiche würde von denjenigen verfassungswidrigen Maßnahmen des Bundesrates gelten, die der richterlichen Prüfung entzogen sind. Insoweit hätte das Faktische somit normative Kraft. Infolgedessen -wäre aber das Recht letzten Endes identisch mit Macht. Diese Machttheorie setzt, indem sie die Legalität des Vollmachtenbeschlusses mit dem Maßstab seiner Anwendbarkeit und Durchsetzbarkeil, also mit diesem Beschluß selber mißt 34, die materielle Suspension von Verfassungsvorschriften, zu der dieser Beschluß einzig ermächtigt 34a, mit der Verfassung'sersetzung, d. h. mit der Beseitigung der Verfassung und der verfassungsgebenden Gewalt und Schaffung einer neuen Verfassung durch· einen neuen Verfassungsgesetzgeber auf die gleiche Stufe 35• Die Verbindlichkeit einer neuen Verfassung und die 33

Vgl. unten S. 63. Dies ist, wie wenn man sich am eigenen Schopfe aus dem Sumpfe zie-· hen wollte. · 34 a Vgl. oben S. 12. 35 Eine an.aloge Gleichsetzung liegt meines Erachtens auch der Lehre, die die Legalität des Notrechtes aus dem völkerrechtlichen Prinzip der Effektivität ableiten will, zugrunde. Dieser Grundsatz soll nach K e l s e n : Reine Rechtslehre, S. 71 und Allgemeine Staatslehre, S. 128 der normative Geltungsgrund der jeweiligen staatlichen Ordnung von dauernder Wirksamkeit, also der Staatsverfassung, nicht aber selbstverständlich jeder verfassungswidrigen Maßnahme sein. Nur die Verfassung, die eine andere ersetzt, nicht 34


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Kompetenz der neuen verfassungsgebenden Gewalt lassen sich nun allerdings bei der Verfassungsersetzung nicht aus einer höheren gesetzten Norm ableiten. Hier kann man dann sagen, daß eine solche Verfassung gilt, weil sie angewendet wird und sich durchsetzt, wobei nur eine soziologische Geltung in Frage kommt. Dementsprechend ist der Verfassungsgesetzgeber juristisch allmächtig 36• Bei der materiellen Verfassungssuspension, wie sie bei den bundesrätlichen Vollmachten in Frage kommt, setzt hingegen der staatliche Akt, in unserem Falle der Vollmachtenbeschluß, der Verfassungsvorschriften materiell suspendiert bzw. die Ermächtigung hiezu erteilt, notwendigerweise die Verfassung voraus, und die Legalität dieses Aktes läßt sich somit nur nach Maßgabe der zu suspendierenden Verfassung beurteilen 37, während im Gegensatz hiezu die Rechtmäßigkeit der neuen Verfassung bei der Verfassungsersetzung nicht nach dem Maßstabe der beseitigten Verfassung gemessen werden kann. Mit anderen Worten, das Organ, das Verfassungsvorschriften materiell aber der Akt, der eine Verfassung lediglich verletzt, kann mit anderen Worten auf diese Ursprungsnorm zurückgeführt werden. Ansonst ließe sich mit Hilfe ,der Grundnorm jede Verfassungswidrigkeit legalisieren. 36 Allerdings muß, soll die Normativität des Rechtes nicht preisgegeben und das Recht nicht aus der Macht abgeleitet werden, was juristisch unmöglich erscheint, der normative Geltungsgrund der Staatsverfassung in einer vorausgesetzten formalen oder materialen Grundnorm - wenn man sich nicht auf den Standpunkt des Primates der Völkerrechtsordnung stellt erblickt werden. Eine materielle Ursprungsnorm wäre dann auch eine metaphysische Schranke der juristischen Allmacht des Verfassungsgesetzgebers. Nur in diesem Sinne ließe sich sagen, daß die verfassungsgebende Gewalt nicht juristisch allmächtig sei, während sie es im Sinne des positiven Rechtes ist, so lange die Staatssouveränität besteht. 37 Dies anerkennt auch M a r t i·: a. a. 0. S. 13 ff. - im Widerspruch zu seiner These, - wenn er ausführt, daß es eine absolute Schranke für die Vollmachten gebe, nämlich die, daß sie den Bundesrat nicht ermächtigen können, die bündische Struktur der Eidgenossenschaft aufzuheben und die kantonalen Behörden vollkommen auszuschalten und vom Zwecke des Bundes abzuwenden. Damit werden ja die Vollmachten nach bestimmten Richtungen an die Bundesverfassung gebunden. Auch nach einer anderen Richtung ist die Auffassung von Marti inkonsequent, insofern nämlich einerseits der Standpunkt vertreten wird, daß der Vollmachtenbeschluß formell Verfassungsrecht enthalte, weil er die Bundesverfassung von 1874 abändere, andererseits aber ausgeführt wird (S. 23 f.), daß nach Aufhebung des Vollmachtenbeschlusses die alte Bundesverfassung ohne weiteres in Kraft trete. Denn wenn der Vollmachtenbeschluß die Bundesverfassung formell abändert, was meines Erachtens nicht richtig ist, kann dann diese nur durch contrarius ~ctus. wieder in Kraft gesetzt werden.


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suspendiert hzw. die Ermächtigung dazu erteilt, in ~nserem Falle die Bundesversammlung, ist durch die zu suspendierende Verfassung eingesetzt und seine Kompetenzen werden durch diese bestimmt, so daß die Frage der Zuständigkeit dieses Organs zur Suspension der Verfassung allein nach Maßgabe der letzteren beantwortet werden muß 38 • Weiche Wandlung der Theorie des Notrechts seit dem letzten Weltkrieg! Ausgehend vom rechtsstaatliehen Bestreben auf Verankerung des Vollmachtenbeschlusses in der Bundesverfassung ist die Doktrin über Naturrecht und Romantik bei der ~Iachttheorie der normativen Kraft des Faktischen gelandet 39 • Diese verschiedenen entgegengesetzten Auffassungen über die Legalität der Vollmachten lassen denn auch sehr deutlich die Problematik der Verfassungsmäßigkeit des Vollmachtenbeschlusses erkennen 39 a. IV. Kann auf Grund der vorstehenden Ausführungen die Frage der Legalität der Vollmachten nur nach Maßgabe der Bundesverfassung beurteilt werden, so erhebt sich dann das weitere Problem, ob diese irgendwie eine Kompetenz der Bundesversammlung zum Erlaß des Vollmachtenbeschlusses vorsehe. Diese Frage ist, da der Vollmachtenbeschluß die Form einer Delegation aufweist 40, wie schon bemerkt, i?entisch mit dem Problem der Kon1petenzmäßigkeit dieser Delegation. An und für sich erscheint nun die Delegation von Kompetenzen durch ein Organ an ein anderes nur dann legal, wenn die Verfassung sie vorsieht; die Gesetzesdelegation ist außerdem auch dann zulässig, wenn die Staatsverfassung keine erhöhte formelle Gesetzeskraft besitzt. Denn die Delegation bildet eine Verschiebung der verfassungsmäßigen Kompetenzgrenzen zwischen Deleganten und Delegatar durch den Deleganten; also stellt die Gesetzesdelegation an die Verwaltung eine solche Verschiebung· zwischen dem Gesetzgeber und der Exekutive auf dem Wege der Gesetzgebung dar. Infolgedessen bildet die Delegation eine materielle Abänderung von Zuständigkeitsvorschriften der Verfassung durch Gesetz, Verordnung oder Einzelakt Sie wider38

Die These, daß die Bundesversammlung ein Repräsentant der verfas·· sungsgebenden Gewalt sei, ist eine politische Konzeption, die naturgemäß über die V~rfassungsmäßigkeit des Vollmachtenbeschlusses nichts aussagt. 39 Oder dort gestrandet? 39 a Dies zeigt sich um so eindeutiger, wenn der gleiche Autor im seihen Atemzug die Legalität des Notrechts sowohl mit dem Naturrecht als mit der Volksüberzeugung zu begründen versucht; vgl. oben S. 37 Anm. 9 und 10. 40 Vgl. oben S. 14.


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spricht zudem der Logik der liberaldemokratischen Verfassung 41 • Nach der Bundesverfassung erscheint nun die Delegation von Kompetenzen als unzulässig, da d,as Grundgesetz der Eidgenossenschaft eine starre Verfassung ist und solche Delegationen nicht vorsieht 42• Um so weniger kann grundsätzlich die Bundesverfassung eine Delegation im Sinne des Vollmachtenbeschlusses zulassen. Denn diese geht noch viel weiter. Hier erfolgt nämlich eine Verschiebung der Kompetenzgrenzen zwischen Verfassungsgesetzgeber und Bundesrat sowie zwischen Gesetzgeber und Bundesrat und nicht zwischen Bundesversammlung und Bundesrat durch die Bundesversammlung.Mit anderen Worten, die Bundesversammlung delegiert im Vollmachtenbeschluß in der Hauptsache Kompetenzen des Gesetzgebers und des Verfassung·sgesetzgebers und nicht eigene Zuständigkeiten 43, während es sich bei der echten Delegation um eine solche von Kompetenzen des Dele.;. ganten handelt 44• Hingegen erhebt sich die Frage, ob die Bundesverfassung nicht · außerordentlicherweise, d. h. für den Fall eines staatlichen Notstan · des eine Kompetenz der Bundesversammlung zur Rechtssetzung auf der Gesetzes- und Verfassungsstufe, das ist zur Ausübung der Befugnisse des Gesetzgebers und des Verfassungsgesetzgebers vorsehe und im Zusammenhange damit auch eine Delegation dieser Zuständigkeit an den Bundesrat zulasse. Ich vermag nun eine derartige Notrechtskompetenz der Bundesversammlung in der Bundesverfassung nicht zu finden. Art. 2 BV, auf den man sich beruft 45 , und der bestimmt, daß der Bund zum Zwecke· habe, die Behauptung der Unabhängigkeit des Vaterlandes nach außen, die Handhabung von Ruhe und Ordnung im Innern, den Schutz der Freiheit und R~chte der Eidgenossen . und die Beförderung ihrer gemeinsamen Wohlfahrt, kann als Not41 Vgt über das Problem der rechtlichen Zulässigkeit der Gesetzesdelegation mein Staatsrecht der Kantone, S. 493 sowie meine Arbeit: Verordnungsrecht und Gesetzesdelegation S. 35; Kuh n e: a. a. 0. S. 157 ff.; M as n a t a : a. a. 0. S. 20 ff. Tri e p e I : a. a. 0. S. 112 ff. 42 Auch nachTri e p el: a. a. 0. S. 112 ff. erscheint die Gesetzesdelegation in Staaten mit Gewaltentrennung grundsätzlich als ausgeschlosseN. 43 Auch die Gesetzgebungskompetenzen sind angesichts des fakultativen Referendums nicht ausschließliche Kompetenzen der Bundesversammlung; deren Delegation darf infolgedessen, ihre Zulässigkeit vorausgesetzt, nur durch Bundesgesetz oder allgemeinverbindlichen nicht dringlichen Bundesbeschluß erfolgen. 44 Vgl. dazu Tri e p e I : a. a. 0. S. 83. 45 Vgl. oben S. 36.


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standsartikelkaum in Frage kommen 46 • Denn Art. 2 BV müßte als Notrechtsartikel eine entsprechende Kompetenz der Bundesversammlung vorsehen, bei einem staatlichen Notstand von der Bundesverfassung abzuweichen bzw. den Bundesrat hiezu zu ermächtigen, so daß diese Verfassungsvorschrift im Falle einer staatlichen Not den anderen Verfassungsartikeln vorgehen würde. Art. 2 BV begründet jedoch keine solchen Kompetenzen, so daß er nicht die rechtliche Tragweite einer Iex specialis im Verhältnis zu den anderen Verfassungsbestimmungen haben kann. Ja Art. 2 BV enthält überhaupt keinen-. Rechtssatz 47 , sonder:n lediglich eine Aufzählung der Bundeszwecke. Diese sind der Entstehungsgrund der Bundesverfassung. Mit der Bundesverfassung, genauer gesagt, mit den Art. 3 ff. der Bundesverfassung hat der Verfassungsgesetzgeber die Ordnung schaffen wollen, auf Grund welcher die Eidgenossenschaft ihre im Art. 2 BV aufgezählten Zwecke erfüllen soll 48 • Die Bundesbehörden können daher die Bundeszwecke nur mittels der Kompetenzen, die ihnen die Bundesverfassung eingeräumt hat, verfolgen. Und zwar kommen als Verfassungsbestimmungen, die die Zuständigkeiten der politischen Bundesbehörden umschreiben, die Art. 85 und 101 BV in Betracht. Diese Artikel räumen ihrerseits der Bundesversammlung ebenfalls keine Notrechtskompetenz im Sinne der Befugnis zum Erlaß des Vollmachtenbeschlusses ein. Auch die Ziffern 6 und 7 des Art. 85 BV, die als Grundlage hiefür angeführt werden 49, und die der Bundesversammlung die Zuständigkeit zur Ergreifung von Maßregeln für die äußere Sicherheit, für die Behauptung der Unabhängigkeit und Neutralität der Schweiz, für die innere Sicherheit, für Handhabung von Ruhe und Ordnung erteilen, können kaum als Rechtsgrundlage des Vollmachtenbeschlusses in Frage kommen. Diese Zuständigkeiten besitzt nämlich die Bundesversammlung nur unter bestimmten Vorbehalten. Denn gemäß Art. 71 BV ist die Bundesversammlung an die Rechte des Volkes und der Kantone im Sinne der ,Art. 89 und 121 BV gebunden. Die Bundesversammlung verfügt somit bei Ergreifung 46

Vgl. darüber meinen Aufsatz: Die Abwertung des schweizerischen Verfassungsbegriffes, Sonntagsblatt der Basler Nachrichten, 1942 Nr. 46. 47 F l ein er : Bundesstaatsrecht, S. 43. B ur c k h a r d t : Kommentar der Bundesverfassung, 3. Aufl. S. 11; Tin g s t e n : a. a. 0. S. 111; Carre de Malberg: a. a. 0. S. 613. 48 Vgl. darüber auch Tingsten: a. a. 0. S. 112; Reber: a. a. 0. s. 20 ff. 49 Vgl. oben S. 36. 4 G i a c o m e t t i , Vollmachtenregime.


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von Maßnahmen im Sinne des Art. 85 Ziff. 6 und 7 BV nicht über die gesetzgebende und verfassungsgesetzgebende Gewalt. Daher darf sie die verfassungsgebende und gesetzgebende Gewalt selbstverständlich auch nicht an den Bundesrat delegieren 50 • Allerdings ist die Bundesversammlung bei zeitlicher Dringlichkeit befugt, solche Maßnahmen. in Form von dringlichen Bundesbeschlüssen nach Maßgabe des Art. 89 Abs. 2 BV zu treffen. Diese müssen sich aber im Rahmen der Bundesverfassung halten 51 • Daß die Bundesversan1mlung bei Ergreifung von Maßnahmen im Sinne des. Art. 85 Ziff. 6 und 7 BV nicht die kantonale Kompetenzsphäre beeinträchtigen darf, ergibt sich außerdem auch aus Art. 84 BV; darnach haben Nationalrat und Ständerat alle Gegenstände zu behandeln, die nach dem Inhalt der Bundesverfassung in die Kompetenz des Bundes gehören. Aber auch für den Fall, daß die Zuständigkeiten der Bundesversammlung im Sinne des Art. 85 Ziff. 6 und 7 BV nicht durch die Rechte des Volkes und der Kantone begrenzt wären, könnten diese Verfassungsvorschriften kaum die Rechtsgrundlage für Vollmachten auf dem wirtschaftlichen und sozialen Gebiete bilden; denn sie beziehen sich nur auf die Materien der Außenpolitik, der Landesverteidigung und der Sicherheitspolizei. Ebenso wenig besitzt aber der Bundesrat gemäß den analogen Bestimmungen des Art. 102 Ziff. 9 und 10 BV eine selbständige Notrechtskompetenz. Denn ganz abgesehen davon, daß es sehr fraglich erscheint, ob dem Bundesrat auf Grund der genannten Vorschrift überhaupt eine Rechtssetzungskompetenz zusteht, was ich verneine 52 , wäre er bei deren Handhabung an die Bundesverfassung gebunden. Denn Art. 102, Abs. 1 BV bestimmt ausdrücklich, daß der Bundesrat seine Kompetenzen nur innert der Schranken der Bundesverfassung besitze. Der Bundesrat darf infolgedessen nicht gestützt auf die ge50 Analog auch Tin g s t en: a. a. 0. S. 112; Ca r r e de MaIberg: a. a. 0. Bd. 1 S. 614 f.; Rehe r: a. a. 0. S. 20 ff. M a r ti: Der Vollmachten·· beschluß, S. 20 Anm. 52. 51 Vgl. meine Arbeit: Verfassungsrecht und Verfassungspraxis, a. a. 0. s. 60. 52 Vgl. meine Arbeiten: Das selbständige Verordnungsrecht des Bundesrates, Schweizerische Juristenzeitung, 1935 S. 257. Zur Frage der Verfassungsmäßigkeit eines selbständigen Polizeiverordnungsrechts des Bundesrates, Schweiz. Juristenzeitung, 1935, S. 369. Anderer Ansicht S c hin d I er : Die selbständige · Polizeiverordnung nach schweizerischem Staatsrecht, Schweizer Juristenzeitung 1935 S. 305 ff.; M a r t i : Das Verordnungsrecht des Bundesrates, S. 111 ff.


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nannte Verfassungsbestimmung im Falle eines Notstandes als Gesetzgeber oder gar Verfassungsgesetzgeber amten. Auch aus irgendwelchen anderen Verfassungsartikeln läßt sich meines Erachtens eine Notrechtskompetenz der Bundesversammlung oder des Bundesrates nicht ableiten. Desgleichen kann das Notrecht nicht schlechthin aus dem Sinne der Bundesverfassung abgeleitet werden 513 • Allerdings bilden die tragenden Ideen der Bundesverfassung eine wichtige Grundlage für die Auslegung der einzelnen Verfassungsvorschriften. Deren Interpretation hat unter Zugrundelegung dieser staatsrechtlichen Ideen zu erfolgen 54 • Diese können aber nicht selber Kompetenzen begründen. Mit der Gewinnung von Kompetenzen aus dem Sinn der Bundesverfassung ohne Zugrundelegung eines bestimmten Verfassungsartikels könnten Dinge in die Verfassung hineininterpretiert werden, die nicht darin stehen. Enthält die Bundesverfassung keine Notrechtskompetenz der Bundesversammlung, so ergibt sich daraus, daß letzterer nach Maßgabe der Bundesverfassung auch keine Befugnis zum Erlaß des Vollmachtenbeschlusses zustehen kann 55 • Denn die Bundesversammlung besitzt eben auf Grund der Bundesverfassung nicht die in diesem Beschluß dem Bundesrate delegierten Zuständigkeiten zur Rechtssetzung auf der Gesetzesstufe und damit zur materiellen Suspension von Gesetzesrecht und des Gesetzesreferendums gen1äß Art. 89 BV sowie zur materiellen Suspension anderer Verfassungsbestimmungen. Nur der Verfassungsgesetzgeber, also Bundesversammlung, Volk und Stände hätten daher diese Delegation vornehmen dürfen. Allerdings wäre es denkbar, daß die Bundesverfassung die Bundesversammlung zur Delegation der verfassunggebenden und gesetzgebenden Gewalt an den Bundesrat im Fall eines Notstandes ermächtigen würde, ohne daß sie selber in einer solchen Notlage diese Kompetenzen ausüben könnte., Das ist aber selbstverständlich auch nicht der Fall. Aus keiner Verfassungsvorschrift läßt sich eine solche Zu53

Eine Kompetenz läßt sich nur aus dem Sinn der einzeinen Norm gewinnen. 54 Vgl. mein Staatsrecht der Kantone, S. 66. 55 Diesbezüglich ist man heute in der Doktrin ziemlich einig. Vgl. in diesem Sinne außer den oben erwähntenAutoreD (obenS. 37 f.), die die Rechtsgrundlage des Vollmachtenbeschlusses außerhalb der Bundesverfassung erblicken, z. B. Ca r r e de MaIberg : a. a. 0. Bd. 1 S. 616 und 618 f. (Anmerkung); Tin g s t e n: a. a. 0. S. 107 ff. Wackernage I: a. a. 0. S. 185; H. H u b e r : Constitution et droit de necessite, Suisse contemporaine 1943 s. 326. R e b e r : a. a. 0. S. 29.


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ständigkeit der Bundesversammlung zur Delegation der ihr nicht zustehenden Rechtssetzungsbefugnisse auf der Verfassungs- und Gesetzesstufe an den Bundesrat zwecks Abwehr eines Notstandes entnehmen. Infolgedessen war, da wie gesehen die Kompetenzmäßigkeit des Vollmachtenbeschlusses nur mit dem Maßstabe der Bundesverfassung gemessen werden kann, die Bundesversammlung zum Erlaß des Vollmachtenbeschlusses überhaupt nicht zuständig. Ist aber die im Vollmachtenbeschluß enthaltene Delegation kompetenzwidrig, durfte, mit andern Worten, die Bundesversammlung dem Bundesrat derartige Kompetenzen, die sie selber nicht besitzt, nicht übertragen, so ergibt sich daraus, daß vom Standpunkt der Bundesverfassung der Vollmachtenbeschluß auch keine echte Delegation bildet, da der Delegant, wie oben gesehen 56 , nur eigene Kompetenzen delegieren kann. Der Vollmachtenbeschluß hat aber anderseits auch nicht die Bedeutung einer unverbindlichen Feststellung eines selbständigen bundesrätlichen Notrechtes 57 ; denn auch ein solches sieht die Bundesverfassung, wie schon bemerkt 58, nicht vor.. Der Vollmachtenbeschluß erscheint vielmehr als eine verfassungswidrige Verschiebung von Kompetenzen des Bundesgesetzgebers und Verfassungsgesetzgebers durch die Bundesversammlung zugunsten des Bundesrates und bildet insofern eine unechte Delegation. Er steht verfassungsrechtlich in der Luft 59 • Dementsprechend erscheint auch das gesamte darauf gestützte Volln1achtenrecht als verfassungswidrig. Dieser Verfassungsbruch bedeutet aber nicht die Verletzung irgend einer beliebigen Verfassungsnorm. Damit werden vielmehr die freiheitlichen grundlegenden Prinzipien der Bundesverfassung, die Säulen der eidgenössischen Ordnung, nämlich die Gewaltentrennung, die Freiheit der Kantone, die individuelle Freiheit und ·die politische Freiheit der Bürger schwer in Mitleidenschaft gezogen - was von höchster politischer Bedeutung ist. Gegen die hier vertretene Auffassung der Illegalität des Vollmachtenbeschlusses und der darauf gestützten NotrechtsgesetzgebuJ.?.g wird nun der Einwand erhoben, daß in einem solchen Falle die Mitglie56

Vgl. oben S. 4:8. Eine solche Auffassung wurde z. B. von P i 11 e r am Schweizerischen Juristentag von 1943 vertreten; vgL Verhandlungen des schweiz. Juristenvereins.1943 S. 648; Vgl. auch Sten.Bull. 1944 Ständerat S. 122 (Votum Piller). 58 Vgl. oben S~ 50. 59 Vgl. meinen Aufsatz: Die gegenwärtige Verfassungslage der Eidgenossenschaft, Schweiz. Hochschulzeitung 1942 S. 146. 57


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der der Bundesversammlung und des Bundesrates sich zivilrechtlich und strafrechtlich verantwortlich machen würden; niemand sei aber bis jetzt auf den Gedanken gekommen, daß die politischen Bundesbehörden für diese Erlasse zivil- und strafrechtlich zur Verantwortung gezogen werden könnten; infolgedessen bestehe auch kein Bedürfnis für ein Indemnitätsgesetz. Dieses Moment sei ein Beweis der Legalität des Notrechtes 60 • Dieser Einwand ist, ganz abgesehen davon, daß ein solcher Um~tand für die Legalität des Vollmachtenbeschlusses nichts beweisen würde, unbegründet. Denn die Möglichkeit, die Behördenmitglieder diesbezüglich zur Verantwortung zu ziehen, erscheint rechtlich ohnehin ausgeschlossen. Eine gerichtliche Verfolgung der Mitglieder der Bundesversammlung wegen des Vollmachtenbeschlusses wäre ja nach dem Verantwortlichkeitsgesetz 61 nur durch Beschluß der Bundesversammlung möglich. Ein solcher Beschluß ist aber ja ganz undenkbar, nachdem der Vollmachtenbeschluß von der Bundesversammlung selber erlassen wurde. Die Bundesversammlung würde dadurch eine gerichtliche Verfolgung gegen sich selber, genauer gesagt, gegen ihre Mitglieder, die den Vollmachten zugestimn1t haben, anheben. Desgleichen wäre eine gerichtliche Verfolgung der Bundesratsmitglieder wegen ihrer Vollmachtenverordnungen auf Grund des Verantwortlichkeitsgesetzes 62 allein durch Beschluß der Bundesversammlung möglich. Auch dies ~rscheint jedoch unvorstellbar, nachdem die Bundesversammlung den Bundesnil zur Notrechtssetzung ermächtigt hat 63 • Ist aber eine gerichtliche Verfolgung der Mitglieder des Bundesrates wegen seiner Vollmachtenvetordnungen nur durch Beschluß der Bundesversammlung zulässig, so kann auch ein sogenanntes Indemnitätsgesetz gar nicht in Frage kommen, gleichgültig ob der Bundesrat Noterlasse von sich aus oder gestützt auf parlamentarische Vollmachten erläßt. Im letzteren Falle wäre ein Indemnitätsgesetz ohnehin unnötig 64 • 60

So Lachen a I : a. a. 0. S. 360 a; analog auch M a r t i : Das Verordnungsrecht des Bundesrates, S. 134. 61 Art. 17. 62 Art. 18. 63 The01:etisch denkbar wäre dies höchstens in dem Falle, daß der Bundesrat sich über die Verweigerung der Genehmigung einer Vollmachtenverordnung durch die Bundesversammlung hinwegsetzen und diese weiter anwenden würde. 64 Abe~ auch im theoretischen Falle der Zulassung einer solchen Klage gegen Behördenmitglieder durch die Bundesversammlung wäre die Mög., Iiehkeil einer gerichtlichen Beurteilung nicht ganz sicher. Denn diese Klage müßte laut Verantwortlichkeitsgesetz vom .Bundesgericht beurteilt werden.


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Die hier vertretene Auffassung der Illegalität des Notrechtes in der Eidgenossenschaft bewegt sich auf der rechtsstaatliehen Ebene; ja, sie muß nach den obigen Ausführungen für das rechtsstaatliche Denken als eine Selbstverständlichkeit erscheinen 65 • Auf diesem Standpunkt der Illegalität des Notrechtes im Bunde steht denn auch eine ganze Reihe schweizerischer Autoren. So führt B I um e n s t e i n 66 mit Bezug auf den dringlichen Bundesbeschluß vom 13. Oktober 1933 über die Finanzvollmachten 67, der gleich dem Vollmachtenbeschluß von 1939 unter Anrufung eines ungeschriebenen Notrechtes erlassen worden ist 68, aus: " . . . . . Ein derartiges Notrecht wäre begrifflich als verfassungsmäßiges wohl denkbar. Nur müßte es seine Begründung in der Verfassung selber finden ..... " "Wenn die Verfassung derartige Kompetenzen vorsieht, so bestimmt sie mehr oder weniger präzis die Voraussetzungen ihrer Anwendung. Verzichtet sie dagegen auf eine derartige Vorschrift, so legt sie den Willen an den Tag, daß die Behörden mit den ordentlichen verfassungsmäßigen Mitteln auskommen sollen. Ebensowenig wird man ernsthafterweise das vom Bundesrat in Anspruch genommene Notrecht als ein sogenanntes ungeschriebenes Notrecht im Sinne der Naturrechtslehre, wie ein findiger Politiker es bezeichnete, anrufen können. Die Grundrechte des modernen Rechtsstaates stehen in seiner Verfassung. Diese kann von den obersten Behörden gehalten oder überschritten werden~ Tun sie das letztere, so stellen sie sich außerhalb der Verfassung. Eine rechtliche oder gar verfassungsmäßige Begründung für diesen Schritt ist schlechterdings nicht zu finden. Dieser kann vielmehr höchstens moralisch gerechtfertigt werden ..... " Das Bundesgericht erachtet sich aber als an den Vollmachtenbeschluß und an die Vollmachtenverordnungen gebunden. Vgl. darüber unt~n S. 64 ff. Allerdings wäre wohl anzunehmen, daß das Bundesgericht im Falle eines derartigen. Beschlusses der Bundesversammlung diese Praxis aufgeben würde. 65 Diese r'echtsstaatliche Auffassung hat entgegen einer gegenteiligen Ansicht mit den eigentlichen Thesen der reinen Rechtslehre, die eine juristische Erkenntnistheorie ist, nichts zu tun. Sie ist so alt wie der Rechtsstaat :selber. Allerdings stehen auch die Vertreter der reinen Rechtslehre auf rechtsstaatliehen Boden. 66 Das Steuerrecht der Finanzvollmachten, Archiv für schweiz. Abgaberecht, Bd. 2, S. 225 ff. 67 AS 49, 839. 68 So daß das gleiche Problem vorliegt.


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Den gleichen Standpunkt vertritt auch S e c r e t an 69 • Ebenso ist nach Rehe r 70 der Vollmachtenbeschluß von 1914 verfassungswidrig und damit widerrechtlich. Ebenso steht meines Erachtens auch W. B ur c k h a r d t auf diesem Standpunkt, wenn er ausführt, daß falls das Notrecht aus einer Verfassungsbestimmung herausgelesen werden könne, dies die Art. 85, Ziff. 6 und 7, sowie Art. 102, Ziff. 9 und 10 BV seien, daß man aber zweifeln könne, ob die Bundesverfassung in den unscheinbaren Ziffern der Art. 85 und 102 BV den politischen Bundesbehörden so weitgehende Macht geben wollte; dann seien die Notverordnungen dem positiven Verfassungsrecht zuwider gewesen 71 • Infolgedessen erscheint das Notrecht auch nach der Ansicht B u r c k h a r d t s überhaupt illegal, denn nach seinen weiteren Ausführungen an derselben Stelle 72 kann die Rechtmäßigkeit des Notrechtes nur am geltenden Verfassungsrecht gemessen werden. Desgleichen läßt sich nach H. H u b e r 73 das Notrecht juristisch nicht begründen. Eine analoge Auffassung vertritt auch W a c k e r n a g e 1 74 • Darüber hinaus verneint auch die ausländische Doktrin, die sich mit dieser Frage abgegeben hat, die Illegalität des Notrechtes in der Eidgenossenschaft. Ja alle ausländischen Autoren, die zu diesem Problem besonders Stellung genommen haben, und darunter figurieren sehr berühmte Namen, kommen, soweit ich die ausländische Literatur zu überblicken vermag, zu diesem negativen Ergebnis. Auf diesen Umstand ist meines Erachtens b~sonderes Gewicht zur legen; denn der ausländische Jurist hat naturgemäß mehr Distanz zu diesen Dingen als der Schweizer; sind ja verfassungsrechtliche Fragen meistens zugleich hochpolitische Fragen 75 • 6 1l L'initiative populaire cantonale et Ia. Iegislation de crise; Recueil de travaux publie par Ia Faculte de droit a l'occasion de l'assemblee de Ia societe suisse des juristes a Lausanne 1934, S. 138 ff. 70 a. a. 0. S. 23. 71 Kommentar S. 670. Mit dem weiteren Satz Bur c k h a r d t s, daß es sich dann frage, ob diese Verletzung des geltenden Rechtes mit der Unzulänglichkeit des geltenden Rechtes vor dem Forum der Gerichte entschuldigt werden könne, wird das Problem nach der politischen Rechtfertigung des Notrechts aufgeworfen; vgl. unten S; 57 f. 72 73 a. a. 0. S. 670. a. a. 0. S. 326 ff. 74 a. a. 0. S. 185, wenn er ausführt, daß es immer etwas 'Gezwungenes sei, die Notstandsmaßnahmen der Bundesversammlung juristisch begründen zu wollen; es führe dies leicht zu einer Aufweichung der bestehenden verfassungsrechtlichen Ordnung. · 75 Die Stellungnahme dieser ausländischen Autoren bezieht sich allerdings auf den Vollmachtenbeschluß von 1914. Das Problem war aber naturgemäß damals dasselbe wie im Jahre 193.3 und heute.


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§ 3. Die Legalität des Vollmachtenheschlusses.

So verneinen sowohl E s m e in - N e z a r d 76 als C a r r e d e M a 1 b e r g 77 in eingehenden Ausführungen und in Widerlegung der juristischen Rechtfertigungstheorien die Legalität des Vollmachtenbeschlusses von 1914. (Ich bedaure sehr, die eingehende Stellungnahme dieser bedeutenden Juristen, insbesondere diejenige Carre de Malbergs, aus Raumgründen nicht wörtlich wiedergeben zu können.) Zum selben Resultate gelangen auch J e z e und T in g s t e n , die dem VOllmachtenregime in den verschiedenen Ländern besondere Studien gewidmet haben. So sagt Jeze 78 unter anderem: "Juridiquement l'arrete federal pris par !'Assemblee federale le 3 aoftt 1914 est inconstitutionnel au point de vue de la legislation positive de la Suisse et irregulier d'apres le droit public general" ... . . . "le Notrecht n'est pas autre chose qu'une these politique revetue de formes juridiques". Ebenso führt Tin g s t e n 79 , der die Möglichkeit der Ableitung des Notrechtes aus der Bundesverfassung eingehend prüft, unter anderem aus: "En ce qui concerne la situation de la legislation suisse des pieins pouvoirs vis-a-vis de la constitution, on est oblige de conclure, en partant des dispositions generales precedemment signalees de cette constitution et admettant ainsi que nous allons voir, qu'une disposition constitutionnelle speciale n'ait pas justifiee les mesures prises, que cette legislation etait inconstitutionnelle ... " Ferner bemerken B a r t h e 1 e m y- D u e z 80 nach Erwähnung des Standpunktes des Bundesgerichtes, wonach· der Bundesrat auf Grund der Vollmachten auch Maßnahmen contra constitutionen1 ergreifen. könne 81 : "Il est surprenant de retrouver dans un pays de vieille democratie, a constitutionnalisme developpe, une these qui est une survivance du principe monarchique. Son existence ne peut s'y expliquer que par l'influence de la doctrine allemande." Es erscheint wohl zweifelhaft, ob nach alledem die oben entwickelte re.chtsstaatliche Auffassung der Illegalität des Notrechtes in der . Eidgenossenschaft als Formalismus, dogmatisches Vorurteil, Ungereimtheit 82 oder gar als Anwurf 83 bezeichnet werden könne. 76 77 78 82 83

79 a. a. 0. Bd. 2, S. 95 ff. a. a. 0. S. 105. 80 a. a. 0. Bd. 1 S. 610 ff, a. a. 0. S. 243. 81 a. a. 0. S. 124. Vgl. oben S. 38 Anm. 15. Vgl. 0 s w a 1 d : a. a. 0. S. 523 a und 524 a. Vgl. Oswald: a. a. 0. S. 520a. (Indirekt).


§ 3. Die Legalität des Vollmachtenbeschlusses.

Möge die Staatsrechtswissenschaft nie die Rolle des Chors in der antiken Tragödie spielen! V. Sind die Vollmachten und das darauf gestützte Vollmachtenrecht nicht legal, so bildet anderseits das Vollmachtenregime der Kriegszeit als solches - wenn auch nicht in seinem ganzen Umfange 84 - eine politische Notwendigkeit, bedingt durch die schwierige Lage unseres Landes inmitten des kriegführenden Europa. Die Bundesbehörden können in Kriegszeiten ohne Vollmachten nicht auskommen. Das normale Rechtssetzungsverfahren, ganz insbesondere der Apparat des Rechtssetzungsverfahrens . der Referendumsdemokratie erscheint eben bei einem staatlichen Notstande in Kriegszei.ten, der rasche, für das öffentliche Wohl unumgänglich notwendige Maßnahmen _erfordert, vielfach unzulänglich 85 • Vollends in dem Falle, wo eine Gefährdung der staatlichen Existenz nur durch Mißachtung der Verfassungsvorschriften abgewehrt werden kann; muß selbstverständlich der Staat von der Verfassung abweichen. Auch die Staatsverfassung ist eben, wie alles Recht, nicht Selbstzweck, sondern Mittel zum Zweck. Im Falle eines wirklichen staatlichen Notstandes 86 läßt sich das Vollmachtenregime somit politisch rechtfertigen; es erscheint dann legitim 87 • Das Notrecht bildet beim Vorhandensein eines echten staatlichen Notstandes gleich der schweizerischen Neutralitätspolitik eine Maxime der höheren Staatsraison 88 • 89 • Alle Autoren, die die Legalität des Notrechtes für die Eidgenossenschaft verneinen, bejahen denn auch dessen politische Notwendigkeit im Falle eines echten Notstandes des Staates 90 • 84

Vgl. unten S. 76 ff. Nicht politisch gerechtfertigt war hingegen in der Hauptsache nach meiner Ansicht das Vollmachtenregime der Dreißigerjahre. 85 Darauf weist· auch H. H u b er : a. a. 0. S. 324 insbesondere hin. Das Notrecht ist eben ein Institut des gewaltentrennenden Staates; vgl. meih Staatsrecht der Kantone S. 506. 86 Vgl. darüber oben S. 28 ff. 87 Vgl. meine Arbeit: Die gegenwärtige Verfassungslage der Eidgenossenschaft, Schweizerische Hochschulzeitung 1942 S. 146. Vgl. nunmehr eingehender darüber: H. Hub e r : a. a. 0. S. 329 ff. 88 Wobei Staatsraison in einem Kleinstaat naturgemäß nicht identisch ist mit machtpolitischen Interessen, sondern mit Staatswohl. 89 Damit soll allerdings die Problematik der Staatsraison für die zwischenstaatlichen Beziehungen nicht verkannt werden. 90 Vgl. z. B. B 1 um e n s te in: a. a. 0. S. 227. Besonders eingehend Wackernage I : a. a. 0. S. 183 ff.; Rebe r: a. a. 0. S. 41 ff., der das Notrecht als politisch-ethisches Prinzip bezeichnet; Bur c k h a r d t: a. a. 0. S. 670 (vgl. dazu Wackernagel: a. a. Ö. S. 186), Carre de Malberg: a. a. 0. S. 620 f.; T i n g s t e n : a. a. 0. S. 104.


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§ 3. Die Legalität des Vollmachtenbeschlusses.

Sind die Vollmachten grundsätzlich politisch zu rechtfertigen, so heißt es offene Türen einrennen, wenn man der rechtsstaatliehen Auffassung, die die Legalität des Vollmachtenbeschlusses verneint, Verkennung der vitalen Interessen vorwirft 91• Auf diese Weise wird das Problem der rechtlichen Rechtfertigung der Vollmachten mit der Frage der politischen Notwendigkeit dieser Vollmachten vermengt und damit das Problem der Legalität des Notrechtes falsch gestellt. Dies ist daraus zu erklären, daß eben die Tendenz besteht, bei der Diskussion über die Legalität des Notrechtes juristische und politische Erwägungen durcheinander zu werfen, welche Gefahr allerdings angesichts der hochpolitischen Bedeutung dieser -Rechtsfrage nahe liegt, während selbstverständlich die Frage der rechtlichen Begründung der Vollmachten von derjenigen der politischen Notwendigkeit derselben scharf unterschieden werden muß. Was notwendig erscheint, ist noch lange nicht immer rechtmäßig. Ja, man kann sich fragen, ob letzten Endes manche Versuche der juristischen Begründung der Vollmachten außerhalb der Bundesverfassung nicht vief.:. mehr lediglich den Sinn einer politischen Rechtfertigung haben. Ist .z. B. die Auffassung, auf Grund welcher das Notrecht aus einem dem Staate inhärenten Recht auf Selbsterhaltung abgeleitet wird, nicht eher als ein in juristische Form gekleidetes politisches Argument zu verstehen? 92 Dies scheint bezüglich der Staatsrechtspraxis ziemlich eindeutig der Fall zu sein 93• 94 • Erscheint das Vollmachtenregime grundsätzlich als eine politische Notwendigkeit, so ließe sich fragen, ob es noch viel Sinn habe, nach seiner Rechtmäßigkeit zu forschen, wie hier geschehen ist. Vom wis91

Vg. z. B. 0 s w a l d : a. a. 0. S. 524 a. Vgl. darüber eingehend W a c k er n a g e l : a. a. S. S. 186 ff. 93 Vgl. z. B. BBl 1939 I 539 ff., wo unter anderem ausgeführt wird: "Die Rechtfertigung des ungeschriebenen Notrechts ergibt sich aus der Überlegung, daß die verfassungsmäßigen Rechte der Bürger und die verfassungsmäßigen Kompetenzen den Bestand des Staatswesens zur Voraussetzung haben. Geht die Eidgenossenschaft unter, so geht damit auch die Verfassung zugrunde und dann ist es auch mit den Freiheitsrechten von Bund und Kanton aus." Bilden diese an sich zutreffenden Ausführungen nicht lediglich eine poli · tische Rechtfertigung des Notrechtes? 94 Ebenso glaube ich, daß F l einer, der klassische Vertreter und Verfechter der Rechtsstaatsidee in der Schweiz, für den die Bundesverfassung ein rocher de bronce ist, mit seiner Ableitung des Notrechtes aus dem dem Staate inhärenten Selbsterhaltungstrieb (Bundesstaatsrecht S. 217) nur eine politische Rechtfertigung desselben bezweckt habe. 92


§ 3. Die Legalität des Vollmachtenbeschlusses.

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senschaftliehen Standpunkt aus muß jedoch diese Frage ohne weiteres bejaht werden. Ja, für die Rechtswissenschaft stellt sich dieses Problem überhaupt nicht. Denn für sie ist selbstverständlich die Forschung Selbstzweck. Es muß daher höchstes Anliegen einer freien Staatsrechtswissenschaft sein, die Verfassungspraxis auf ihre Übereinstimmung mit dem Verfassungsrecht zu prüfen. Ja, dem rechtsstaatlichen Denken muß ''sich dieses Legalitätsproblem geradezu aufdrängen. Der Jurist wird infolged~ssen auch in einer staatlichen Notlage juristisch denken und sagen, was nach seiner Überzeugung legal ist und was nicht. Es ist dann in letzterem Fall Sache der verantwortlichen Behörden, den politischen Entscheid darüber zu fällen, ob die staatliche Notlage ein Abgehen von der Verfassung politisch rechtfertige oder nicht. Aber auch unter einem politischen Gesichtspunkt ist da's Problem der Legalität des Notrechtes durchaus sinnvoll. Ja, die Feststellung und Betonung der Illegalität der Vollmachten ist meines Erachtens von großem staatspolitischem und ideellem .Wert 95 • Betrachtet man nämlich, wie die Tendenz in der Praxis und Theorie zeigt, die Maßnahmen, die P?litisch notwendig sind, ohne weiteres als legal, mögen sie verfassungsmäßig sein oder nicht, erscheint mit anderen Worten deren Rechtmäßigkeit als selbstverständlich, so wird auf diese Weise der Wille zur Norm immer mehr geschwächt. Damit geht aber der Sinn der Verfassung, das ist der Legalität allmählich verloren und der Rechtsstaatsgedanke verblaßt. Infolgedessen wird dann die Bundesverfassung relativiert, gewissermaßen abgewertet. Diese Gefahr erscheint um so größer, da das Notrecht nicht nur in Kriegszeiten angerufen wird, sondern in der Gestalt der Dringlichkeitspraxis der Dreißiger Jahre schon zur Begründung aller möglichen Maßnahmen gedient hat 96 • Erfolgt aber eine Relativierung der Bundesverfassung, so besteht dann die Gefahr der Gelegenheitsgesetzgebung und damit _der staatlichen Willkür; denn die Gelegenheitsgesetzgebung trägt eine dezisionistische Tendenz, nämlich das Streben· nach normfreier Entscheidung für den Einzelfall in sich. Darüber hinaus wird mit einer derartigen Abwertung der Verfassung auch die von der Bundesverfassung getragene freiheitliche Staatsidee der Schweiz beeinträchtigt und damit die Freiheit der Kantone sowie die 95 Vgl. zum Folgenden meine Arbeiten: Verfassungsrecht und Verfassungspraxis, a. a. 0. S. 81 ff. und: Die gegenwärtige Verfassungslage der Eidgenossenschaft, a. a. 0. S.147, sowie W. K aegi: Ende des Verfassungsstaates? Basler Nachrichten 1940, Beilage zu Nr. 290. 96 Vgl. meine Arbeit: Verfassungsrecht .und Verfassungspraxis a. a. 0.


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§ 3. Die Legalität des Vollmachtenbeschlusses.

individuelle und politische Freiheit der Bürger gefährdet. Denn die bundesstaatliche Struktur des Landes, Freiheitsrechte und Demokratie können, wie das heutige Vollmachtenregime denn auch mit großer Eindringlichkeit zeigt 97 , nur bei Bindung der Behörden an die Verfassung bestehen. Mit der Gefährdung dieser wesentlichen Elemente der Bundesverfassung wird jedoch zugleich das Wesen der Eidgenossenschaft selber getroffen, da die föderalistische, liberaldemokratische Struktur die einzige n1ögliche politische Lebensform der Schweiz bildet. Ist aber das Wesen der Eidgenossenschaft getroffen, so wird damit auch ihr innerer Sinn in Frage gestellt. Darum muß man sich immer dessen bewußt sein, daß das gegenwärtige Vollmachtenregime ein an sich - nicht in seinem ganzen Umfange 98 politisch gerechtfertigter, aber illegaler Ausnahmezustand ist. Infolgedessen ist das Vollmachtenregime mit dem Dahinfallen seiner Voraussetzungen unverzüglich abzubauen und zu beseitigen. Dies zu betonen erscheint am Ausgang des Krieges besonders vonnöten 98 a. Die gleiche Wirkung wie die Bejahung der Legalität des Vollmachtenregimes wird aber auf die Länge in noch viel intensiverem Maße auch diese verfassungswidrige Lage selber auslösen 99 • Ist das Vollmachtenregime wie gesehen zwar politisch notwendig aber nicht legal, so zeigt die Tatsache, daß die geltende Bundesverfassung keine Notrechtskompetenzen enthält, die Unzulänglichkeit des Staatsgrundgesetzes nach dieser Richtung. Die Bundesverfassung enthält insofern eine unechte Lücke. Infolgedessen muß der Rechtsstaat naturgemäß das Bestreben auf Beseitigung der auf Grund des Vollmachtenregimes bestehenden hochgradigen Spannung zwischen -Recht und Wirklichkeit haben. Eine grundlegende Sta;:ttsrechtsform nach dem Vorbilde des heutigen autoritären Vollmachtenregimes kommt allerdings für die Schweiz von vornherein nicht in Frage. Für eine derartige Totalrevision der Verfassung fehlen in der Eidgenossenschaft alle politischen und seelis<!hen Voraussetzungen. 97

Vgl. unten S. 70 ff. Vgl. unten S. 76 ff. 98 a So führt der Bundesrat in seiner Botschaft vom 1 7. September 193 7 über das Volksbegehren für die Erweiterung der Verfassungsgerichtsbarkeit (BBI 1937 III 21) aus: "Die Dauer der Noterlasse braucht nicht schlechthin mit der D;:mer der Gefahr zusammenzufallen; es ist nämlich nicht von vornherein ausgeschlo~sen, daß schon vor dem Aufhören der, Gefahr der ordentliche Weg der Rechtssetzung beschritten werden kann und daß auf diese Weise Noterlasse durch ordentliches Recht abgelöst werden können." 99 Vgl. unten S. 82 f. 98


§ 4. Die Verbindlichkeit des Vollmachtenrechtes.

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In Betracht kommt vielmehr neben einzelnen Teiltevisionen auf Grund der in der Kriegszeit gemachten Erfahrungen die Aufnahme eines neuen Artikels in die Bundesverfassung, der besondere Kompetenzen der Bundesbehörden für den Fall eines staatlichen Notstandes in Kriegszeiten vorsieht, und damit ein verfassungsmäßiges staatliches Handeln auch für Notzeiten sicherstellt 100 • 101• Gewiß mag ein solcher Notrechtsartikel gewisse V nzukömmlicl)keiten nach sich ziehen 102, gewiß zeigen auch die vielen Vorschläge zu einem solchen Verfassungsartikel die Problematik einer solchen Lösung 103• Diese Nachteile wiegen aber meines Erachtens kaum schwer gegenüber einem illegalen Verfassungszustand, der auf die Länge der Rechtsstaatsideeernstlich Eintrag tut und damit den Rechtsstaat selber allmählich untergräbt; dies um so mehr, wenn man die illegale Situation auf Grund des VOllmachtenregimes nicht als solche anerkennen will.

§ 4. Die Verbindlichkeit des Vollmachtenrechtes. I. Ist die Illegalität des Vollmachtenregimes wie gesehen von großer grundsätzlicher staatspoliti.scher Tragweite, so erhebt sich dann noch die weitere Frage, ob diese Verfassungswidrigkeit auch unmittelbar praktische Bedeutung habe, das heißt, ob die auf Grund des illegalen VOllmachtenbeschlusses ergehenden illegalenNoterlasse für denN ormadressaten eigentlich rechtsverbindlich seien oder nicht. Es liegt hier eine Teilfrage aus dem Problem der Folgen fehlerhafter d. h. rechtswidriger Staatsakte vor_. Es wird nun die Auffassung vertreten, daß Illegalität und Rechtsverbindlichkeit von Staatsakten sich aus100

Einen solchen Notrechtsartikel postulierte insbesondere auch F 1 e in er. Vgl. F 1 einer: Ziele und Wege einer eidgenössischen Verfassungsrevision, 1934 S.10. F 1 einer: Die Prüfung der Verfassungsmäßigkeit der Bundesgesetze durch den !lichter, Verhandlungen des schweiz. Juristentages 1934 S. '17a. 10 1 ' Allerdings wird damit selbstverständlich.eine hundertprozentige Garantie nicht gewährt; dies liegt aber in der Natur der Dinge und gilt für jede Norm. ' 102 So kann er bei enger Umschreibung der Notrechtskompetenzen unzulänglich sein oder es kann bei zu allgemeiner Formulierung dieses Notstandsartikels die Gefahr seines Mißbrauches bestehen. Vgl. über diese Frage eingehend R e b er : , "a. a. 0. S. 94 ff. sowie Wackernage I : a. a. 0. s. 182 f. 103 Vgl. eine Zusammenstellung dieser Vorschläge bei Rebe r: a. a. 0. S. 77 ff. und bei M a 1 ez i e u x : a. a. 0. S. 130 ff.


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§ 4. Die Verbindlichkeit des Volhnachtenrechtes.

schließen 1 . Das hätte logischerweise zur Folge, daß die Notverordnungen als unverbindlich, das ist als ursprünglich nichtig angesehen werden müßten, so daß der Normadressat ihnen den Gehorsam verweigern könnte 2• Diese These ist aber in dieser Allgemeinheit nicht haltbar 3 • Sie ist letzten Endes eine Ausstrahlung jener formalen Verwaltungsrechtslehre, die in Anlehnung an die gemeinrechtliche Doktrin d'avon ausgeht, daß gewisse schwere Rechtsmängel von Verwaltungsakten logischerweise die ursprüngliche Nichtigkeit dieser Hoheitsakte nach sich ziehen 4• Ob ein rechtswidriger Staatsakt ursprünglich nichtig ist oder nicht, läßt sich jedoch allein nach Maßgabe des positiven Rechtes beurteilen 5• Das positive Recht kann nun an fehlerhafte Staatsakte noch andere Rechtsfolgen als die ursprüngliche Nichtigkeit· knüpfen, wie die Vernichtbarkeit ex tune (nachträgliche Nichtigkeit) oder ex nunc auf Grund eines Rechtsmittels, das ist ·die sogenannte Anfechtbarkeit, sowie die Nichtanwendbarkeit, den Widerruf usw. Ja, es sieht überhaupt kaum die ursprüngliche Nichtigkeit fehlerhafter Staatsakte vor 6• Il. Die~ gilt nun auch mit Bezug auf die Rechtsätze. Als Folgen fehlerhafter Rechtssätze kommen im positiven Recht außer dem Widerruf und dem seltenen Fall der Anfechtbarkeil 7 vorab die Nichtanwendbarkeit im Einzelfall auf Grund des akzessorischen richterlichen Prüfungsrechtes in Betracht. Die l!nverbindlichkeit eines rechtswidrigen Rechtssatzes kann mit anderen Worten nur durch das hiefür zuständige Staatsorgan in verbindlicher Weise ausgesprochen werden 8 • Die rechtswidrige Norm ist' somit bis .zur Kassation oder Nichtanwendung für den Normadressaten verbindlich. Das positive Recht schließt nun aber vielfach die richterliche Prüfung der Rechtssätze, so vorab der Gesetze aus, so daß der rechts1

So N a w i a s k y : a. a. 0. S. 656 a. So Zoller: a.a.O.S.lllff. 3 In diesem Sinne auch Je z e : a. a. 0. S. 118 und Tin g s t e n a. a. 0. S.l18. 4 Vgl. darüber v. H i p p e I : Untersuchungen zum Problem des fehlerhaften Staatsaktes, S. 4 ff. sowie Im b o den : Der nichtige Staatsakt, S. 6 f. 5 Bzw. bei staatlichen Einzelakten auf. Grund der Wertung der konkreten Interessenlage; vgl. v. Hippe I: a. a. 0. S. 71 ff. 6 Vgl. I m b o d e n : a. a. 0. S. 62. Die Nichtigkeit ist fast immer nur eine nachträgliche im Sinne der Vernichtbarkeit ei tune. 7 So sind die kantonalen Gesetze und Verordnungen mit der staatsrechtlichen Beschwerde wegen Verletzung verfassungsmäßiger Rechte beim Bundesgericht anfechtbar; Art. 84 OG. 8 Vgl. Imboden: a.a.O. S.43 An~.26. 2


§ 4. Die Verbindlichkeit des Vollmachtenrechtes.

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widrige Rechtssatz überhaupt verbindlich bleibt 9 • Die Rechtsverbindlichkeit der rechtswidrigen Normen bis zu ihrer Kassation oder Nichtanwendung erscheint auch als selbstverständlich. Denn auch der rechtswidrige Staatsakt ist ein Staatsakt, da er von Staatsorganen gesetzt worden ist; es kann infolgedessen dem Normadressaten 10 nicht die Entscheidung -darüber, ob ein Staatsakt Mängel aufweise und daher befolgt werden solle oder nicht, überlassen werden; dies würde die Rechtssicherheit untergraben und zum Chaos führen. Der Einzelne handelt somit auf eigene Gefahr, wenn er eine Norm wegen Rechtswidrigkeit nicht befolgt 11• Wenn die zuständigen Instanzen nachträglich die Rechtmäßigkeit des betreffenden Rechtssatzes bejaht, so wird dann ihm gegenüber eine Sanktion ergriffen. Für die Bundesverordnungen, ~ mit Ausnahme der dringlichen Bundesbeschlüsse- als welche sich formal auch die auf dem Vollmachtenbeschluß beruhenden Noterlasse darstellen, kommt als Folge von Rechtsmängeln 12 die Nichtanwendbarkeit auf Grund des akzessorischen richterlichen Prüfungsrechts in Frage, während die richterliche Prüfung der Bundesgesetze ausgeschlossen ist, diese also auch bei Verfassungswidrigkeit rechtsverbindlich bleiben 13• Gemäß Art. 113 letzter Absatz BV. sind nämlich die Bundesverordnungen durch die anwendenden Behörden vorfrageweise auf ihre Anwendbarkeit überprüfbar taa. Der Grad dieser Überprüfungsbefugnis ist aber je nach der Natur der zu überprüfenden Verordnung verschieden. Insoweit die Bundesverordnungen auf Gesetzesdelegationen beruhen, also unselbständige Verordnungen geset~esvertretender oder vollziehender Natur darstellen, kann sich angesichts des Art. 113 Abs. 3 BV die richterliche Prüfung nur darauf beziehen, ob sich diese Erlasse im Rahmen der Delegationsnorm bewegen, nicht aber darauf, ob sie in diesem Rahmen verfassungsmäßig seien. Ansonst würde ja der Richter indirekt die Verfassungsmäßigkeit. der Delegationsgesetze überprüfen, was er nicht darf. Das. Bundesgericht kann somit mit anderen Wor9

Es sei denn, daß nicht die Möglichkeit der Anfechtung besteht. Der ein Einzelner oder eine Behörde ist. So ist z. B. Adressat des Vollmachtenbeschlusses der Bundesrat; der Vollmachtenbeschluß ist für ihn verbindlich. 11 Vgl. K e I s e n : Allgemeine Staatslehre, S. 292. 12 Außer dem Widerruf und der Kassation in der Kompetenzgerichtsbarkeit des Bundesgerichtes (Art. 113 Ziff. 1 BV.) 13 Art. 113 letzter Absatz BV. 13 a Vgl. meine Arbeit: Die Verfassungsgerichtsbarkeit des Bundesgerichtes, S. 90 f. 10


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§ 4. Die Verbindlichkeit des Vollmachtenrechtes.

ten die unselbständigen Bundesverordnungen lediglich auf ihre Gesetzmäßigkeit und auf ihre ursprüngliche Verfassungsmäßigkeit prüfen; eine Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit der gesetzmäßigen unselbständigen Verordnungen, also der abgeleiteten · Verfassungsmäßigkeit derselben, steht ihm hingegen nicht zu 14• Bei selbständigen Bundesverordnungen ist hingegen die richterliche Prüfungsbefugnis unbeschränkt. III. Wie im letzten Weltkriege 15 hat das Bundesgericht auch unter der Herrschaft des geltenden Vollmachtenbeschlusses eine Überprüfung der bundesrätlichen Vollmachtenverordnungen auf ihre abgeleitete Verfassungsmäßigkeit abgelehnt 16 • Da die Vollmachtenverordnungen auf dem Vollmachtenbeschluß beruhen, also unselbständig sind, würde es sich nämlich bei einer solchen Prüfung ihrer abgeleiteten Verfassungsmäßigkeit indirekt um die Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit des Vollmacht{mbeschlusses selber handeln. Das Bundesgericht erachtet sich aber an den Vollmachtenbeschlu13 gebunden, obwohl dieser im Gegensatz zu demjenigen von 1914 nicht die Form eines allgemeinverbindlichen Bundesbeschlusses auf .. weist. Dieser Standpunkt wird mit dem Hinweis darauf begründet, daß es sich bei ,diesem Erlaß materiell gesehen ebenfalls um einen allgemeinverbindlichen Bundesbeschluß handelt 17 • Unanfechtbar erscheint allerdings diese Auffassung nicht 18• Daher kann auch die bundesgerichtliche Prüfung der .sich auf bundesrätliche Vollmachtenverordnungen stützenden Verordnungen unterer Amtsstellen auf ihre abgeleitete Verfassungsmäßigkeit nur insofern ·in Frage kommen, als damit nicht auch eine indirekte Kontrolle des Vollmachtenbeschlusses erfolgt, sondern lediglich die Prüfung der ursprünglichen Verfassungsmäßigkeit der subdelegierendeil Vollmachtenverordnung in Betracht fällt. Politisch betrachtet ist es al.:. lerdings sehr verständlich, daß das Bundesgericht die hochpolitische Verantwortung für das Notrecht den politischen Bundesbehörden 14

Vgl. meine. Arbeit: Die Verfassungsgerichtsbarkeit des Bundesgerichtes

s. 90 f. 15

Vgl. BGer 44 I 350. Vgl. BGer 68 II 320. 17 Vgl. BGer 68 II 320: "Le Tribunal federal est lie par l'arrete federal du 30 aoftt 1939 et ill'est nonobstant le fait que cet arrete n'a pas ete muni de la clause d'urgence, car il ne s' en agit pas moins, faute d'une declaration contraire (art. 2 LF du 17 juin 1874) d'un arrete de portee generale, deliberement soustrait en tant que ,loi de necessite' au referendum (,le present arrete entre immediaterneut en vigueur')." 18 Vgl. oben S. 17. 16


§ 4. Die Verbindlichkeit des Vollmachtenrechtes.

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überläßt, auch wenn es m. E. den Vollmachtenbeschluß auf seine Rechtmäßigkeit überprüfen dürfte. 19 • Wenn die Bundesversammlung als höchste Bundesbehörde die Erteilung von Vollmachten an den Bundesrat aus Gründen der höheren Staatsraison als politische Notwendigkeit ansieht, so kann das Bundesgericht ihr kaum in die Arme fallen und diesen schweren politischen Entscheid für sich vindizieren. Ist· das Bundesgericht an den Vollmachtenbeschluß gebunden, so gilt dies selbstverständlich auch für jede andere Behörde, die bundesrätliche Vollmachtenverordnungen oder Erlasse unterer Amtsstellen, die sich darauf stützen, anzuwenden hat. Vom Standpunkt der Illegalität des Vollmachtenbeschlusses und der darauf beruhenden Noterlasse des Bundesrates urid der Bundesverwaltung aus betrachtet hat aber die Bindung des Bundesgerichts und der anderen rechtsanwendenden Behörden an den· Vollmachtenbeschluß die Bedeutung, daß der illegale Vollmachtenbeschluß und die darauf beruhenden illegalen Notverordnungen wegen ihrer abgeleiteten Illegalität nicht unverbindlich erklärt werden können. Sie bleiben vielmehr für die Normadressaten verbindlich 20 • IV. Können die sich auf den Vollmachtenbeschluß stützenden Noterlasse des Bundesrates und der unteren Amtsstellen wegen ihrer abgeleiteten Verfassungswidrigkeit nicht unverbindlich erklärt werden, so entsteht dann die weitere Frage, ob eine Unverbindlicherklärung auch dann ausgeschlossen ist, wenn diese Notverordnungen sich nicht mehr im Rahmen des Vollmachtenbeschlusses bewegen. Mit anderen Worten, darf die rechtsanwendende Behörde die Notverordnungen auf ihre Vollmachtenbeschlußmäßigkeit überprüfen und ihnen die Anwendung versagen und damit deren Nichtverbindlichkeit aussprechen, wenn sie die Grenzen des Vollmachtenbeschlusses überschreiten? Allerdings wird die richterliche Prüfung der Übereinstimmung der Notverordnungen des Bundesrates und seiner Amtsstellen mit dem Vollmachtenbeschluß praktisch nicht von großer Bedeutung sein können, da der Maßstab für die richterliclie 19

Vgl. oben S. 17. Die Unverbindlichkeit des illegalen Vollmachtenbeschlusses könnte auch bei dessen Überprüfbarkeil durch das Bundesgericht nicht direkt ausgesprochen werden, da dieses nicht in die Lage käme, seine Nichtverbindlichkeit zu erklären, .indem das Bundesgericht diesen Beschluß nicht unmittelbar anzuwenden hat. Es könnte dessen Verfassungsmäßigkeit nur indirekt, d. h. anläßlich der Überprüfung der abgeleiteten Verfassungsmäßig. keit der Vollmachtenverordnungen kontroll~eren. 20

5 G i a c o m e t t i , Vollmachtenregime. ·


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Kontrolle, nämlich der Vollmachtenbeschluß, wie schon oben gesehen :n, inhaltlich sehr unpräzis ist, ja in gewissem Sinne eine Blankettnorm bildet. Indem aber der Vollmachtenbeschluß den bundesrätlichen Vollmachten, wenn auch in sehr umfassender Weise, doch Grenzen gesetzt hat 22, erscheint wenigstens eine richterliche Kontrolle darüber, ob nicht die Notverordnungen die Schranken dieses Beschlusses offensichtlich überschreiten,. praktisch doch möglich. Das Bundesgericht hat nun aber - wie im· letzten Kriege - die vorfrageweise Überprüfung der Vollmachtenverordnungen auf ihre Übereinstimmung mit dem Vollmachtenbeschluß abgelehnt 23 • Auch die Vollmachtenverordnungen, die sich offensichtlich nicht im Rahmen des Vollmachtenbeschlusses halten, also vom Standpunkt desselben :;tus betrachtet als willkürlich ange~ehen werden müssen 2\ bleiben für_ die Normadressaten verbindlich 25 • Infolgedessen. muß dies auch für die Noterlasse unterer Amtsstellen, die den Rahmen des Vollmachtenbeschlusses offensichtlich sprengen, der Fall sein 26 • Der Ausschluß der richterlichen Überprüfung der Vollmachtenverordnungen auf ihre Übereinstimmung mit der Delegationsnorm, den1 Vollmachtenbeschluß, läßt sich nun allerdings nicht mit der Erwägung begründen, daß insofern eben diese Verordnungen die Genehmigung der Bundesversammlung erhalten haben, sie für das Bundesgericht verbindlich seien, da der Vollmachtenbeschluß mit dem Vorbehalt dieser Genehmigung der bundesrätlichen Noterlasse die Bundesversammlung zur authentischen Interpretation des Vollmachtenbeschlusses ermächtigt habe 27 • Denn dies würde, da der Vollmachtenbeschluß eiri ausschließlicher Akt der Bundesversammlung ist, darauf hinauslaufen, 21

Vgl. oben S. 27 ff. Vgl. oben S. 27 ff. 23 Vgl. BGer '68 II 320 ff. Vgl. für das Vollmachtenregime von 1914 BGer 41 I 551; 44 I 89; 46 I 389; 56 I 416. 24 Vgl. darüber oben S. 32. 25 Auch nach der Auffassung von H a ab : Krisenrecht, S. 8, war das verfassungswidrige Krisenrecht der Dreißiger Jahre verbindlich. 26 Ob das Bundesgericht diese Frage der Überprüfbarkeil von Noterlassen unterer Amtsstellen auf deren Übereinstimmung mit dem Vollmachtenbeschluß schon entschieden hat, entzieht sich meiner Kenntnis. 27 Diesen Standpunkt nahm die frühere bundesgerichtliche Praxis bezüglich einzelner dringlicher Bundesbeschlüsse, die dem Bundesrat ebenfalls Vollmachten unter. dem Vorbehalt der Genehmigung der bundesrätlichen Vollmachtenverordnungen durch die Bundesversammlung erteilten, ein; vgl. BGer 61 I 362 ff. 22


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daß die Bundesversammlung sich selber die Ermächtigung zur authentischen Auslegung des Vollmachtenbeschlusses erteilt hätte. Die Bundesversammlung kann sich aber logischerweise nicht selber zu etwas ermächtigen. Außerdem bedeutet die Genehmigung der bundesrätlichen Noterlasse durch die Bundesversammlung überhaupt keine authentische Interpretation des Vollmachtenbeschlusses; denn die authentische Auslegung eines Rechtssatzes ist nur in der Form dieses Rechtssatzes möglich 28 • Die Genehmigung der bundesrätlichen Vollmachtenverordnungen durch die Bundesversammlung erfolgt jedoch nicht in derselben Form, in der der Vollmachtenbeschluß ergangen ist, das heißt nach Maßgabe des Geschäftsverkehrsgesetzes; sie ist vielmehr formlos und wird auch nicht in der Gesetzessammlung veröffentlicht. Angesichts des Umstandes, daß diese Genehmigung überdies nur eine formale ist 29 , muß man sich auch fragen, ob darin überhaupt eine Interpretation des Vollmachtenbeschlusses durch die Bundesversammlung erblickt werden könne. Wenn das Bundesgericht gemäß Art. 113 letzter Absatz BV nicht einmal an einfache Bundesbeschlüsse rechtssetzender Natur gebunden ist, so können wohl um so weniger bundesrätliche Vollmachtenve:rordnungen, wie auch andere l;mndesrätliche Verordnungen, die die Genehmigung der Bundesversammlung erhalten haben, für dieses verbindlich sein. Denn hier ist die Bundesversammlung nicht alleiniger Rechtssetzer, wie bei den einfachen Bundesbeschlüssen, sondern nur ein ge,vissermaßen untergeordneter Faktor der Rechtssetzung 30 • Die Bindung des Bundes·gerichtes an den Vollmachtenbeschluß schließt somit die richterliche Überprüfung der Vollmachtenverordnungen auf .ihre ·Übereinstimmung mit diesem Beschluß nicht aus. Denn der Vollmachtenbeschluß hat eben das richterliche Prüfungsrecht nicht aufgehoben. Mit den1 Genehmigungsvorbehalt will sich die Legislative vielmehr, wie oben ausgeführt 31, eine Mitwirkung bei der Notrechtssetzung sichern, also vorab die Zweckmäßigkeit der Vollmachtenverordnungen prüfen, d. h. sich den politischen Entscheid in der Frage nachträglich vorbehalten 32 • Nur im Falle eines Ausschlusses des richterlichen Prüfungsrechtes durch den Vollmachtenbeschluß könnte das Bundesgericht, da es sich wie gesehen an diesen Beschluß. für gebunden erachtet, die 28

Vgl. meine Arbeit: Verfassungsrecht und Verfassungspraxis, ·S. 80. Vgl. unten S. 74. 30 Vgl. oben S. 22. 31 Vgl.oben S.l9. 32 Dies übersieht meines Erachtens M a r t i : Das Verordnungsrecht des Bundesrates. 29


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Noterlasse auf ihre Übereinstimmung mit dem genannten Vollmachtenbeschluß nicht überprüfen. Allerdings bestünde die Möglichkeit einer Suspendierung des richterlichen Prüfungsrechtes im Sinne des Art. 113 letzter Absatz BV bezüglich der Noterlasse durch bundesrätliche Vollmachtenverordnung, obwohl dies politisch kaum vorstellbar erscheint. Aber auch eine derartige Vollmachtenverordnung wäre nach dem Gesagten selbstverständlich auf ihre Übereinstimmung mit dem Vollmachtenbes_chluß überprüfbar. Auf diesem Standpunkt, daß die Genehmigung der bundesrätlichen Vollmachtenverordnungen für das Bundesgericht nicht verbindlich ist, steht heute offensichtlich auch die bundesgerichtliche Praxis 33• Die Ablehnung der richterlichen Überprüfung der bundesrätlichen Vollmachtenverordnungen auf ihre Übereinstimmung mit dem Vollmachtenbeschluß wird vom Bundesgericht vielmehr mit dem Hinweis darauf begründet, daß diese Verordnungen Gesetzescharakter haben, da die Bundesversammlung, im Vollmachtenbeschluß dem Bundesrat das Gesetzgebungsrecht delegiert habe 34 • 35 , das Bundesgericht jedoch gemäß Art. 113 letzter Absatz an die Bundesgesetze gebunden sei. Dies ist allerdings richtig 36• Eine solche formale Auslegung des Art. 113 letzter Absatz BV entspricht aber wohl kaum dem Sinn dieser Verfassungsvorschrift, die den Vorrang von Bundesversammlung und Volk gegenüber dem Bundesgericht wahren wollte 37 • Auch vom Standpunkt der Bundesverfassung aus betrachtet dürfte somit das Bundesgericht meines Erachtens die sich auf den Vollmachtenbeschluß stützenden Verordnungen auf ihre Übereinstimmung mit diesem.Beschluß prüfen 38• Die Auffassung der einzelnen Abteilungen des Bundesgerichtes bezüglich der Zulässigkeil der richterlichen Kontrolle der Vollmachtenverordnungen scheint denn auch trotz bisheriger Ablehnung die33

Vgl. BGer 64 I 373 f.; 68 II 321. Vgl. BGer 68 II 322: "Ces mesures" (sc. du conseil federal) "ont des l'abord force de loi." Diesen Standpunkt vertrat das Bundesgericht auch im letzten Weltkrieg; vgl. oben S. 38 Anm. 15. 35 Hingegen erscheint angesichts dieser Stellungnahme die Prüfung der Noterlasse unterer Amtsstellen auf ihre Übereinstimmung mit den Vollmachtenverordnungen, auf denen sie beruhen, möglich. 36 Vgl. oben S. 63. Zu formal wohl M a r t i: a. a. 0. S. 159. 37 Vgl. meine Arbeit: Die Verfassungsgerichtsbarkeit des Bundesgerichtes, S. 44 und 91. 38 Vgl. auch Ruck : Schweizerisches Staatsrecht, S. 128 sowie meine Arbeit: Die Verfassungsgerichtsbarkeit <;les Bundesgerichtes, S. 91. 34


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ser Überprüfung nicht einheitlich zu sein 39 • 40 • Diese Kontrolle könnte sich allerdings angesichts ·des umfassenden freien Ermessens des Bundesrates nur auf offensichtliche Überschreitungen des Rahmens des Vollmachtenbeschlusses beziehen 41 • Trotzdem ist es im rechtsstaatliehen und staatspolitischen Interesse zu bedauern, daß das Bundesgericht bisher diese akzessorische Überprüfung, die sicherlich schon durch ihre präventive Wirkung manche Exzesse der Vollmachtenpraxis 42 hätte verhindern können, nicht vorgenommen hat. 39

So hat die staatsrechtliche Abteilung bisher diese Frage offen gelassen, vgl. BGer 68 l i 320-321 und 322 oben, während die verwaltungsgerichtliche Kammer die Zulässigkeil der Kontrolle verneint; BGer 68 II 322 oben. Nicht ganz klar erscheint der Entscheid der ersten zivilrechtliehen Abteilung im BGer 68 li S. 308 ff. Auf Seite 320-321 wird ausgeführt: "Le Tribunat federal ne peut revoir non plus les arretes rendus par le Conseil federal sur Ia base des pouvoirs qu'il tient de l'AF de 1939, dans toute la mesure en tout CaS Oll les dispositions prises n' excedent pas manifesterneut Je cadre de Ia delegation (cf.. arrets non publies de Ia Cour de droit public du 8 novembre 1940 dans Ia cause von Büren, du 24 janvier 1941 dans la cause Rietschi, du 2 mai 1941 dans la cause Hürzeler, du 8 mai 1942 dans Ia cause Glauser." Weiter unten heißt es aber: "Mais ces mesures ont des l'abord force de loi et meme dans l'hypothese d'un exces de pouvoir s'imposeraient au tribunal federal .... '' 40 Bundesrichter Stauf f er führt in seiner Arbeit: Ehe und Heimat, Schweiz. Juristenzeitung, Jahrgang 39 S. 269 ff. auf· S. 274 bei der Besprechung der Frage, ob der Bundesrat gestützt au:f die Vollmachten im Bundesratsbeschluß von 1941 über das Schweizerbürgerrecht Vorschriften über das Bürgerrecht der Schweizerin, die einen Ausländer heiratet, erlassen durfte, aus: "Das Bundesgericht hat sich bis jetzt auf den Boden gestellt, daß ·es durch die Bundesratsbeschlüsse, die sich auf den Vollmachtenbeschluß vom 30. August 1939 stützen, wie durch Gesetze gebunden sei ... Diese Auffassung ist indessen nicht unangefochten geblieben, und es läßt sich mit guten Gründen auch eine andere Ansicht vertreten (vgl. die Wiedergabe der Auffassung der bundesgerichtliehen Minderheit in Nr. 3 der Handelszeitung vom 21. Januar 1943). Vollmachtenüberschreitungen der vorliegenden Art dürften geeignet sein, der strengen Auffassung, die dem Bundesgerichte ein gewisses Überprüfungsrecht einräumen möchte, Anhänger zuzuführen." 41 Vgl. oben S. 66. Vgl. F 1 e i n e r : Die Prüfung der Verfassungsmäßigkeil der Gesetze 'durch den Richter, Verhandlungen des schweiz. Juristenvereins 1934 S. 17 a. Analog auch die staatsrechtliche Abteilung des Bundesgerichts, BGer 68 II 320 ff. 42 Vgl. unten S. 76 ff.


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§ 5. Die Anwendung des Vollmachtenbeschlusses.

§ 5. Die Anwendung des Vollmachtenbeschlusses. I. Der Bundesrat hat von den ihm eingeräumten Vollmachten in sehr umfassender Weise Gebrauch- gemacht. So hat er vorab die Vorschriften der Bundesverfassung P,ber die Bundesgesetzgebung und damit über die Revision der Bundesverfassung nach dieser Seite materiell weitgehend suspendiert und in großem Umfange die Funktionen des einfachen Bundesgesetzgebers übernommen. Ja die Setzung primärer Rechtssätze, d. h. solcher der Gesetzesstufe, erfolgt heute in der Hauptsache auf Grund der Vollmachten. Neue Bundesgesetze sind zur Seltenheit geworden. Das fakultative Gesetzesreferendum kommt im allgemeinen nur noch bei Vorlagen, die von lan.. ger Hand -vorbereitet sind, in Frage 1 . Hand in Hand damit geht eine weitgehende materielle Suspensi<~n des geltenden Bundesgesetzrechtes, so z. B. von Normen des Privatrechts 2, des Schuldbetreibungsrechtes, des Strafgesetzbuches, des Bundesverwaltuh.gsrechtes. Ja, das gesamte Bundesrecht ist mit notrechtliehen Normen durchsetzt. Zugleich hat der Bundesrat auf Grund der-Vollmachten auch die materiellen Bestimmungen der Bundesverfassung im Sinne der Freiheitsrechte und der Abgrenzung der kantonalen von der Bundessphäre und damit zugleich die RevisiQnsvorschriften der Bundesverfassung nach dieser Richtung in umfassender Weise suspendiert. So ist vorab die Handdels- und Gewerbefreiheit und im Zusammenhange damit die Eigentums- und Vertragsfreiheit - die zivilrechtliche Seite der ersteren 3 - auf vielen.· Gebieten, durch das Kriegswirtschaftsrecht materiell außer Kraft gesetzt worden 4 • Die freie Wirtschaft wird je länger je mehr durch eine gelenkte Wirtschaft ersetzt 5 ; Ebenso wurden die Preß-, Vereins- und Versammlungsfreiheit, die die funktionelle c

1

Vgl. z. B. das Bundesgesetz über den unlauteren Wettbewerb sowie das Bundesgesetz über die Reorganisation der Bundesbahnen. 2 So z. B. in weitgehendem Maße im Gebiete der Wohnungsmiete, des Agrarrechtes,, hier in der Gestalt vorab des kriegswirtscha.ftlichen Bodenrechts usw. 3 Vgl. über die Frage der Beziehurigen -zwischen Gewerbefreiheit und Vertragsfreiheit R. B in d s c h e d l e r : Handels- und Gewerbefreiheit und Vertragsfreiheit, Schweiz. Juristenzeitung, 38. Band S. 292 ff. 4 Vgl. Beispiele bei. S p ahn : Staatsmacht und Individualsphäre, S. 222 ff~ 5 Vgl. die eingehende Darstellung des Kriegswirtschaftsrechtes von J. L a u t n e r , ·a. a. 0. 6 Vgl. mein Staatsrecht der Kantone, S. 167.


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Grundlage der Demokratie bilden 6, nach vielen Richtungen hin materiell suspendiert 7, und desgleichen die persönliche Freiheit 8 • Ferner ermächtigte der Bundesrat die Kantone zur Suspension der Niederlassungsfreiheil nach bestimmten Richtungen 9 • Des weiteren hält sich der Bundesrat nicht mehr an die Verfassungsvorschrift über die grundsätzliche Kompetenzausscheidung zwischen Bund und Kantonen; kraftwelcher dem Bund nur diejenigen Kompetenzen zustehen, die die Bundesverfassung ihm einräumt 10• Er legiferiert vielmehr auch über Gegenstände, die nach Maßgabe der Bundesverfassung in den kantonalen Kompetenzbereich gehören. Das ist z. B. der Fall mit Bezug auf die bundesrätlichen Steuerbeschlüsse, wie die Beschlüsse über Wehropfer, Wehrsteuer, Kriegsgewinnsteuer, Umsatzsteuer, Verrechnungssteuer, zu deren Erlaß die· Eidgenossenschaft verfassungsrechtlich nicht kompetent war. Ebenso wird durch Vollmachtenverordnungen in das materielle kantonale Recht eingegriffen 10a. Verfassungsabstimmungen finden dementsprechend höchstens noch im Falle von Volksinitiativbegehren statt. Ja auch diese werden in der Hauptsache zurüc~gehalten, das heißt, nicht innert angemessener Frist zur Abstimmung gebracht 11, so daß die Ausübung des Verfassungsinitiativrechtes des Volkes sich praktisch nicht mehr recht aus7

Vgl. z. B. BRB vom 8. September 1939 über den Schutz der Sicherheit des Landes im Gebiete des Nachrichtendienstes sowie Grunderla,ß dazu; BRB vom 30. Dezember 1941 betreffend die Überwachung der politischen, militärischen oder wirtschaftlichen Schriften; BRB vom 30. Dezember 1941 über die Neugründung von Zeitungen, Zeitschriften sowie von Presse- und Nachrichtenagenturen~ BRB vom 30. Mai 1940 betreffend die Überwachung der schw~izerischen Presse; BRB vom 9. Juli 1940 über' die Kontrolle der politischen Versammlungen; BRB vom 20. November 1940 über die Auflösung der kommunistischen Part~i der Schweiz usw. Vgl. über das Kriegspresserecht: Schind I er: Das Presserecht in der Kriegszeit, Schweiz. Juristenzeitung, Band 39 S. 4 77 ff. 8 Vgl. z. B. die Verordnung vom 22. September 1939-16. April 1940 über die Wahrung der Sicherheit des Landes. 9 Vgl. BRB vqm 15. Oktober ·1941 betr. Maßnahmen gegen die Wohnungsnot, Art. 1 und 19 ff.; BRB vom 29. Juli 1942 über die Beschränkung der Freizügigkeit im Kanton Genf. 10 Art. 3 BV. 10 a Einen besonders schweren Eingriff in das kantonale Steuerrecht bilden die Steueramnestien des Bundes. 11 Gemäß Art. 8 des BG von 1892 über das Verfahren bei Volksbegehren und Abstimmungen betr. Revision der :aundesverfassung hat die Bundesversammlung solche Volksbegehren inner~ Jahresfrist zu behandeln.


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wirken kann 12 • So sind gegenwärtig 13 solcher Verfassungsinitiativen des Volkes noch unerledigt 13 • II. Die Ausübung der Funktionen des Gesetzgebers und negativen Verfassungsgesetzgebers auf Grund der Vollmachten erfolgt nun aber nicht ausschließlich durch den Bundesrat. Die Verhältnisse haben vielmehr eine Arbeitsteilung gefordert, so daß auch die Departemente und deren .Ämter, vereinzelt auch die Kantone, zur Notrechtssetzung herangezogen werden. Dies geschieht dadurch, daß der Bundesrat in Form vom Subdelegationen in den Vollmachtenverordnungen diese Amtsstellen bzw. die Kantone nicht nur zum Erlaß von Ausführungsverordnungen sondern auch von gesetzes- und verfassungsvertretenden Verordnungen ermächtigt. .Dabei werden vielfach die Vollmachten der Departemente und der unteren Amtsstellen nach dem Vorbild des Vollmachtenbeschlusses in den Subdelegationen sehr umfassend im Sinne von Generalklauseln umschrieben, so daß auch die Grenzen dieser Zuständigkeiten schwer zu bestimmen sind 14• Auch die Departemente delegieren teilweise die erhaltenen Rechtssetzungskompetenzen an ihre .Ämter. In der Regel erfolgt diese Weiterdelegation auf Grund einer ausdrücklichen Ermächti12

Suspendiert ist dieses Recht nicht, da ja solche Volksinitiativen lanciert werden können. 13 Vgl. BBl 1944 I 1579 ff .. 14 Vgl. z. B. Art. 1 des BRB vom 8. September 1939 über die Sicherheit des Landes im Gebiete des Nachrichtenwesens (AS 55, 909): "Das Armeekommando wird beauftragt, zur Wahrung der inneren und äußeren Sicherheit des Landes und zur Aufrechterhaltung der Neutralität die Veröffentlichung und Übermittlung von Nachrichten und Äußerungen, insbesondere durch Post, Telegraph, Telephon, Presse, Presse- und Nachrichtenagenturen, Radio, Film und Bild zu überwachen und die erforderlichen Maßnahmen zu treffen.'' (Diese können gemäß Art. 7 in Warnungen, in allgemeinen oder besonderen Verboten, in Konzessionsentzug usw. bestehen.) Vgl. auchERB über denFähigkeitsnachweis fürdie Eröffnung vonBetrieben im Gewerbe vom 16. Februar 1945 (AS 61, 93), der bestimmt, daß im öffentlichen Interesse in bestimmten Zweigen des Gewerbes, mit Ausnahme des Detailhandels und des Gastwirtschaftsgewerbes, die infolge von Kriegseinflüssen in ihrer' Existenz bedroht sind, die .Eröffnung von Betrieben vom Besitz eines -Fähigkeitsausweises abhängig gemacht werden kann, und es dem Volkswirtschaftsdepartement überläßt, welche Erwerbszweige diesem Bundesbeschluß unterstellt werden dürfen. Vgl. weiter z. B. BRB vom 17. Oktober 1939 über die Sicherstellung der Landesversorgung (AS 55, 1131); BRB vom 25. Juni 1940 über die Sicherstellung von Volk und Heer mit technischen Rohstoffen, Halb- und Fertigfabrikaten (AS 56, 971) usw., die ebenfalls derartige Generalklauseln enthalten.


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gung des Bundesrates. Ja, diese Bundesämter delegieren häufig ihre auf diese Weise erhaltenen Zuständigkeiten zur Rechtssetzung an ihnen subordinierte Amtsstellen weiter. Es findet also eine zweite, ja eine dritte Subdelegation statt. Die Notverordnungen, die nicht vom Bundesrat ausgehen, werden als Verfügungen oder Weisungen bezeichnet. Dabei konzentriert sich die Rechtssetzung vor allem naturgemäß beim Volkswirtschaftsdepartement und seinen kriegswirtschaftlichen Ämtern. Ja, im Gebiete des Kriegswirtschaftsrechtes wird die eigentliche Rechtssetzung je länger je mehr in die unteren Amtsstellen verlegt 15• Dank diesem umfassenden Stufenbau von Subdelegationen~ der allerdings schon aus der Zeit des letzten Weltkrieges bekannt ist und in sachlich beschränkterem Umfang bereits auf Grund der Dringlichkeitspraxis der Bundesversammlung besteht 15a, besitzen wir gegenwärtig im Bunde eine Fülle von einfachen, Gesetzgebern und negativen Verfassungsgesetzgebern. 111. Mit dieser Konzentration der Rechtssetzungsgewalt bei der Verwaltung und der weitgehenden materiellen Suspension der verfassungsmäßigen Verhältnisordnung zwischen Einzelnem und Staat sowie zwischen Bund und Kantonen werden aber nicht nur kantonale, individuelle und politische Freiheit, die drei Fundamente der Bundesverfassung, in intensivem Maße ausgeschaltet. Hand in Hand damit geht notwendig-erweise auch eine Minderung der Stellung der Bundesversammlung einher 16 • Das Bundesparlament wird immer mehr auf Kontrollfunktionen beschränkt. Selbst ihr Budgetrecht übt die Bundesversammlung nur noch sehr beschränkt aus. Der Bundesvoranschlag, der den Vollmachtenhereich beschlägt und ungefähr vier Fünftel des Gesamtbudgets ausmacht 17, ist der Prüfung und Genehmigung der Bundesversammlung entzogen 18 • Insofern die Kontrolle das Vollmachtenregime betrifft, ist sie in der Hauptsache überdies nicht mehr öffent15 15

a

Vgl. Lau tner: ·a. a. 0. S.169f. Vgl. meine Arbeit: Verfassungsrecht und Verfassungspraxis, a. a. 0.,

s. 66 ff. 16

.

Vgl. meine Arbeit: Die gegenwärtige Verfassungslage der Eidgenossenschaft, Schweiz. Hochschulzeitung 1942, S. 142 f. 17 Vgl. BBl 1944 I 1386. 18 Die außerordentlichen Voranschläge betr. die kriegswirtschaftliche Organisation, die verschiedenen· Maßnahmen zum Schutze des Landes und der Aufrechterhaltung der Neutralität sowie betr. die Ausgaben für den Aktivdienst und die Verstärkung der I~andesverteidigung sind aber wenigstens für das Jahr 1944 deri parlamentarischen Finanzkommissionen zur Begut-· achtung vorgelegt worden; BBl 1944 I 138.3 f.


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lieh, sondern in die parlamentarischen Vollmachtenkommissionen verlegt. In diesen konzentriert sich denn auch gegenwärtig das parlamentarische Schwergewicht. Die Vollmachtenkommissionen üben die eigentliche Kontrolle über das Vollmachtenrecht aus und begutachten auch einzelne wichtige bundesrätliche Maßnahmen vor ihrem Erlaß 19• In ihrem Schoße berichtet der Bundesrat auch über die Lage des Landes und erstattet auf Verlangen Bericht über die Anwendung bestimmter Vollmachtenverordnungen. Die Vollmachtenkommis·· sionen sind auf diese Weise gewissermaßen in die Staatsaffären eingeweiht 20, und dementsprechend liegt ihnen eine gewisse Schweigepflicht gegenüber den anderen Ratsmitgliedern ob 21 • Infolgedessen haben sich allmählich gleichsam zwei Klassen von Parlamentariern ausgebildet: diejenige der Vollmachtenkommissionsmitglieder und diejenige der anderen Ratsmitglieder. Man kann sich fragen, ob diese Sachlage nicht wenigstens teilweise durch Abhaltung geheimer parlamentarischer Sitzungen hätte vermieden werden können 22 • Eine große Bremse für die Vollmachtenmaschinerie stellen die Vollmachtenkommissionen.allerdings kaum dar 23 • Noch viel weniger hat sich naturgemäß .die Kontrolle der Notverordnungen durch die Bundesversammlung selber, soweit man die Dinge übersehen kann 24, ausgewirkt und im allgemeinen auch keine hohen Wellen geschlagen. Diese Kontrolle ist im Wesentlichen eine mehr nur formale geblieben. Die einzelnen Bundesratsbeschlüsse werden in Verbindung mit der Prüfung der bundesrätlichen Vollmachte!Jberichte auf Grund des Referates eines Vollmachtenkommissionsmitglie~es in der Regel ohne materielle Beratung genehmigt 25 • Dabei darf allerdings nicht verkannt werden, daß manche Vollmach19 Vgl. z. B. Sten.Bull. 1944, Nationalrat S. 186. Allerdings scheint dies nur in beschränktem Umfange der Fall zu sein. Von über 400 Verordnungen wurden bis Juni 1944. kaum 10 zur Begutachtung der ständerätlichen Vollmachtenkommission vorgelegt; vgl. Sten.Bull. 1944, Ständerat S. 69. 20 Aber, wie es scheint, auch nur in geringem Maße, wie im Nationalrat konstatiert wurde; vgl. Sten.Bull. 1942, Nationalrat S. 102 (Votum J. Huber). 21 Dies war vorab in den ersten Kriegsjahren der Fall. 22 Diese capitis deminutio des Parlamentes gegenüber den Vollmachtenkommissionen wurde auch schon in der Bundesversammlung gerügt; vgl. Sten.Bull. 1944, Ständerat S. 69 (Votum Petrig). 23 Sonst wären bisher kaum beinahe alle zur Genehmigung vorgelegten Bundesratsbeschlüsse anstandslos genehmigt worden; vgl. unten S. 75. Vgl. z. B. Sten.Bull. 1944, Nationalrat S. 188 ff. 24 Auf Grund der Stenographischen Bulletins der Bundesversammlung. 25 Vgl. z. B. Sten.Bull. 1944, Natio11alrat S. 431 ff., Ständerat S. 203 ff.


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tenverordnung in den Räten Opposition auslöste und zu heftigen Diskussionen 26 sowie zu Postulaten und Interpellationen über grundsätzliche Fragen des Vollmachtenrechtes führte 27 • Die auf Grund der Vollmachten ergangenen VOllmachtenverordnungen sind bis heute ausnahmslos genehmigt worden. In vereinzelten Fällen wurden sie zurückgestellt 28 • Die Nichtgenehmigung im Sinne der Außerkraftsetzung von Vollmachtenverordnungen kommt praktisch nicht vor. Dies erscheint in gewissem Sinne auch verständlich; denn eine eingehende materielle Beratung und Prüfung der einzelnen Bundesratsbeschlüsse ist nämlich in vielen Fällen faktisch gar nicht möglich, da die Unterlagen hiefür fehlen, indem z. B. die Gründe für den Erlaß von Vollmachtenverordnungen den Ratsmitgliedern nicht bekannt sind 29 • 30 • Außerdem steht die Bundesversamml~ng bei der Prüfung der Vollmachtenverordnungen gewissermaßen vor einem fait accompli, da diese Erlasse zur Zeit ihrer Prüfung durch das Parlament ja schon in Geltung sind, so daß deren Nichtgenehmigung praktisch sehr schwierig, ja kaum möglich erscheint 31 • 32• 33 • Andrerseits ist die parlamentarische Kontrolle des VOllmachtenregimes nur 26

Vgl. z. B. Sten.Bull. 1943, Ständerat S. 165 ff. (teilweise Suspendierung der Niederlassungsfreiheit für den Kanton Genf (Votum Klöti); vgl. diesbezüglich auch Nationalrat 1943, S. 29 ff.; Sten.Bull. 1940, NationalratS. 104 ff. (Preßzensur) (Votum Oeri, Feldmann, Meyerhans, Oprecht). Eine Minderheit wollte den Bundesratsbesc.hluß über den Schlitz des Landes im Gebiete des Nachrichtenwesens nicht genehmigen; vgl. Sten.Bull. 1940, Nationalrat S. 96; Sten.Bull. 1942, Nationalrat S. 110 ff.; Sten.Bull. 1943, Nationalrat S. 264 ff. Ausbürgerung) S. 275 (Preßzensur usw.). 27 Vgl. z. B. die Interpellation Duttweiler und das Postulat Zellweger über die verfassungsmäßigen Rechte; Sten.Bull. 1944, Nationalrat S. 163 ff. 28 Vgl. z. B. Sten.Bull. 1943, Nationalrat S. 186. · 29 Dies wurde im Nationalrat auch konstatiert; vgl. Sten.Bull. 1942, Nationalrat S. 101 (Votum Niederhauser). 30 Die bundesrätlichen Vollmachtenberichte sind im allgemeinen auch sehr knapp gehalten, wie auch in der Bundesversammlung schon festgestellt worden ist; vgl. Sten.Bull. 1944, Ständerat S. 67 (Votum Petrig). 31 Vgl.. dazu Sten.Bull. 1944, Ständerat S. 71 (Votum von Bundesrat von Steiger). · 32 Ein gewisser Ausgleich hiefür bildet die Möglichkeit der Konsultation der Vollmachtenkommissionen. 33 In einem Leitartikel der Neuen Zürcher Zeitung: "Besser als ihr Ruf", 1944 Nr. 379, wird in der parlamentarischen Kontrolle der Vollmachtenverordnungen eine Art obligatorisches Referendum, eine mittelbare Volksbefragung, erblickt. ( !) Gleichzeitig wird aber in diesem Aufsatz ausgeführt, daß die Bundesversammlung alle Vollmachtenverordnungen "geschluckt" habe. Ist das das obligatorische Referendum, die mittelbare Volksbefragung?


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eine partielle; sie umfaßt nicht das gesamte Vollmachtenrecht. Angesichts der weitgehenden Subdelegationen ~n Departemente und untere Amtsstellen 34 ist nämlich ein wesentlicher Teil der materiellen Notrechtssetzung der Überprüfung durch die Bundesversammlung überhaupt entzogen. Die Kontrolle des Bundesparlamentes bezieht sich im Gebiete der Notrechtssetzung der Departemente und deren Ämter lediglich auf die Delegationsnormen des Bundesrates, deren Trag-weite jedoch -infolge ihrer häufigen Blankettnatur vielfach ·gar nicht übersehen werden kann. Auch über die Noterlasse der Departemente und unterer Amtsstellen sollte im Sinne des Art. 5 des Vollmachtenbeschlusses die parlamentarische Kontrolle bestehen 35 • IV. Inwieweit sich die Praxis bei der Handhabung der Vollmachten in den oben umschriebenen Grenzen des VOllmachtenbeschlusses gehalten hat, ist schwer zu sagen. Handelt es sich ja dabei angesichts des umfassenden freien Ermessens, das dem Bundesrat durch den Bundesbeschluß von 1939 eingeräumt worden ist 36, in weitge4endem Maße um Ermessensfragen. Es kann daher beim Problem, ob die Praxis die Schranken der Vollmachten innegehalten habe, in _der Hauptsache nur um die Frage der offensichtlichen Überschreitung dieses freien Ermessens, also der willkürlichen Ausüb~ng der Vollmachten gehen. Die Beantwortung dieser Frage wäre aber angesichts- der Fülle von Notverordnungen, die bis heute ergangen sind, höchstens auf Grund eingehender Untersuchungen möglich. Solche offensichtliche Überschreitungen der Vollmachten sind aber beim Erlaß von Notverordnungen oder bei deren Handhabung zweifellos vorgekommen. Insbesondere die Kriegsbedingtheit oder gar die zeitliche Dringlichkeit mancher Noterlasse erscheint kaum ersichtlich. Es mögen hier nur einzelne wenige hervorstechende Fälle zur Illustration angeführt werden. So fällt der Bundesratsbeschluß vom derung der Vorschriften über Erwerb bürgerrechts 37, wenigstens insofern er lust des Schweizerbürgerrechts durch 34

11. November 1941 über Änund Verlust des SchweizerVorschriften über den Vereine Schweizerin, die einen

Vgl. oben S. 72 f. Wenigstens indirekt besteht allerdings eine solche Kontrolle in dem Sinne, daß der Bundesrat auf Verlangen den Vollmachtenkommissionen Bericht über die Anwendung einzelner Vollmachtenverordnungen erstattet. Vgl. oben S. 74. 36 Vgl. oben S. 27 ff. 37 AS 57, 1257. 35


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Ausländer heiratet, aufstellt, meines Erachtens überhaupt aus dem Sachbereich der Vollmachten 38 • So war der Bundesratsbeschluß vom 29. Juli .1942 über die Beschränkung der Freizügigkeit im Kanton Genf 39 , der für diesen Kanton die Niederlassungsfreiheit weitgehend materiell suspendiert, meines Erachtens keineswegs kriegsbedingt und zeitlich dringlich 40• 41 • Aus welchen Gründen sodann der Bundesratsbeschluß vom 27. Juni 1944 betreffend Förderung der Tierzucht 42 , der im Interesse der Zuchtförderung die allgemeine Anerkennungspflicht für männliche ·Zuchttiere einführt, auf den Vollmachtenbeschluß gestützt werden konnte, erscheint mir wohl überhaupt nicht ersichtlich 43 • Das gleiche gilt meines Erachtens für den Bundesratsbeschluß vom 30. Mai 1942 über die Bezüge und die Versicherung des Bundespersonals 44 • 45 • 38

So auch Stauf f er : a. a. 0. S. 274. AS 58, 726. 40 Begründet wurde diese Maßnahme unter anderem. mit der Gefährdung Genfs durch den BRB über Maßnahmen gegen die Wohnungsnot vom 15. Oktober 1941, indem Arbeitslose nach Genf ziehen würden, wenn sie zufolge Wohnungsnot in den andern Kantonen nicht unterkommen. Es sollte dadurch · ein Gleichgewicht gegen den Wohnungsnotbeschluß geschaffen werden. Sten.Bull. 1943, Ständerat S. 165 ff., Nationalrat S. 29 ff. Dies ist aber keine Abwehr einer drohenden Gefahr, sondern nur einer entfernt möglichen Gefahr; infolgedessen ist die Kriegsbedingtheit und die zeitliche Dringlichkeit der Maßnahme nicht gegeben. Das wäre nur dann der Fall, wenn infolge Zuzug auch in Genf Wohnungsnot entstanden wäre oder drohen würde. 41 Allerdings können zum Schutze exponierter Landesgegenden Abweichungen von der grundsätzlichen verfassungsmäßigen Ordnung nötig werden. So habe ich selber ein besonderes Statut für den Kanton Tessin in dieser Materie befürwortet: Vgl. meinen Aufsatz: Die Erhaltung der sprachlichen und kulturellen ItaUanita der Südschweiz, Neue Schweizer Rundschau 1935, S. 257 ff. Ein solches Sonderrecht kann aber selbstverständlich nur auf dem Wege der Verfassungsrevision .geschaffen werden, es wäre denn, daß die Voraussetzungen der Vollmachten für die Ergreifung einer solchen Maßnahme erfüllt wären, was im vorliegenden Falle nicht zutrifft. 42 AS 60, 428: 43 In der Bundesversammlung wurde diese Vollmachtenverordnung in der Hauptsache mit dem Hinweis darauf begründet, daß die Anerkennungspflicht ein altes Postulat der Tierzuchtverbände sei. Sten.Bull. 1944, Ständerat S. 230. 44 AS 57, 61 7. 45 Die Versicherungskasse war schon längst sanierungsbedürftig. Vgl. darüber mein Gutachten in der Post-, Zoll- und Telegraphenzeitung, 1941 Nr. 49. 39


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Besonders schwerwiegende Fälle von Überschreitungen der Vollmachten kommen sodann auf wirtschaftlichem Gebiete in Frage. So sind nach meinem Dafürhalten die Voraussetzungen des Vollmachtenbeschlusses keineswegs erfüllt mit Bezug auf den Bundesratsbeschluß vom 16. Februar 1945 über den Fähigkeitsausweis für die Eröffnung von Betrieben im Gewerbe 46 , der eine schwere Beeinträchtigung der Gewerbefreiheit, ja Ansätze zu einer Zunftverfassung enthält 47 ; es kann wohl weder von einer Kriegsbedingtheit noch von einer zeitlichen Dringlichkeit dieser Maßnahme die Rede sein 48 , 4u. Ebenso bilden meines Erachtens einzelne bundesrätliche Vollmachtenverordnungen wirtschaftlicher Natur, die dringliche Bundesbeschlüsse aus den Dreißigerjahren verlängern bzw. ersetzen, eine Überschreitung der Vollmachten, da diese Verlängerung bzw. Ersetzung kaum als kriegsbedingte und zeitlich dringliche Maßnahme erscheint. So waren beispielsweise nach meinem Dafürhalten keine kriegsbedingte zeitlich dringliche Maßnahmen der Bundesratsbeschluß vom, 17. Dezember 1943 über die Verlängerung der Geltungsdauer der vorübergehenden rechtlichen Schutzmaßnahmen für notleidende Bauern 50, der Bundesratsbeschluß vom 27. Dezember 1944 über Maßnahmen zum Schutze des Schuhmachergewerbes 51, der Bundesratsbeschluß vom 27. Dezember 1944 über die Eröffnung und· Erweiterung von Warenhäusern 52, die die entsprechenden dringlichen Bundesbeschlüsse ersetzen, während der Bundesratsbeschluß vom 17. März und 3. November 1939 über Maßnahmen zur weiteren Förderung des Ackerbaues 53 zwar kriegsbedingt, aber, nicht zeitlich dringlich erscheint. Infolgedessen war der Vollmachtenweg in diesen Fällen nicht zulässig. Da anderseits die Verlängerung dieser Bundesbeschlüsse auch nicht mehr als zeitlich dringlich im Sinne des Art. 89 Bv· angesehen werden kann 54 , nachdem genügend Zeit für deren Überführung in die nor46

AS 61, 93. Nur wer den Meistertitel hat, soll bestimmte Gewerbe ausüben dürfen. 48 In diesem Sinne auch Basler Nachrichten 1944 Nr. 78. 49 Eine analoge wirtschaftspolitische Maßnahme ::;teilt m. E. der BRB vom 12. Juli 1944 über den .Weinhandel dar (AS 60, 467), der sich zu Unrecht auf das BG von 1905 betr. den Verkehr mit Lebensmitteln und Gebrauchsgegenständen stützt. 50 AS 59, 986. 51 AS 60, 894. 52 AS 60, 902. 53 AS 60, 721. 54 Das Verhältnis zwischen den zeitlich dringlichen Hechtssätzen des Bundesrates auf Grund der Vollmachten und der Bundesversammlung gemäß 47


§ 5. Die Anwendung des Vollmachtenbeschlusses.

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male Gesetzgebung bestand, so hätte diese Verlängerung wenigstens in der Form eines provisorischen Referendumsbeschlusses erfolgen sollen, obwohl der einzige verfassungsmäßige Weg derjenige der Verfassungsrevision ist, da diese Bundesbeschlüsse der Gewerbefreiheit widersprechen. Diesen Weg des provisorischen Referendumsbeschlusses wollte denn auch der Bundesrat mit Bezug auf die Verlängerung des Bundesbeschlusses vom 6. April1939 über die Maßnahmen zur weiteren Förderung des Ackerbaues gehen 55 , auf welchen Vorschlag jedoch die Bundesversammlung nicht eintrat 56 • Auch der dringliche Bundesbeschluß über die Verbindlicherklärung von Gesamtarbeitsverträgen vom 1. Oktober 1941. 57 wurde durch Referendumsbeschluß vom 23. Juni 1943 verlängert 58 • Die materielle Verfassungswidrigkeit dieser dringlichen Bundesbeschlüsse infolge Widerspruch zu Art. 31 BV wird mit deren Verlängerung auf dem Vollmachtenwege nicht geheilt, wie man vielfach meint. Im Gegenteil, damit wird gleichsam der Teufel mit Beelzebub ausgetrieben. Denn die Vollma:chtenverordnungen, die diese dringlichen Bundesbeschlüsse verlängern, sind zweifach rechtswidrig: sie verstoßen einerseits gegen die Bundesverfassung, da das Notrecht, wie oben ausgeführt, illegal ist; anderseits gehen sie über den Rahmen des Vollmachtenbeschlusses hinaus, da die Voraussetzungen für den .Ge·· brauch der Vollmachten in diesem Falle, wie gesehen, nicht erfüllt sind. Es en~pricht eben immer noch mehr der Bundesverfassung, wenn man diese verfassungswidrigen Erlasse auf dem normalen Weg der Bundesgesetzgebung als auf Grund der Vollmachten verlängert. Eine gewisse Tendenz auf Umwandlung des Dringlichkeitsrechts auf wirtSchaftlichem Gebiet in Vollmachtenrecht macht sich hier bemerkbar. Damit wird aber die Verfassungskrise, die Art. 89 BV besteht darin, daß der Bundesrat zeitlich, dringliche Normen, die kriegsbedingt sind und die Sachgebiete der Vollmachten betreffen, ohne Rücksicht auf ihre Verfassungsmäßigkeit erlassen darf, während im übrigen die Bundesversammlung zum Erlaß zeitlich dringlicher Normen zuständig ist - in der Fon~ des dringlichen Bundesbeschlusses - , wobei sie sich aber intra constjtutionem zu bewegen hat. 55 Mit seiner Vorlage eines allgemein verbindlichen nicht dringlichen Bundesbeschlusses über die Sicherstellung der Landesversorgung mit Erzeugnissen der Landwirtschaft für die Kriegs- und Nachkriegszeit, BBl., 1944 I 209. 56 Sten.Bull. 1944, Nat.Rat. S. 325 ff., Ständerat S. 9 ff. 57 AS 57, 1106. 58 AS 59, 855.


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durch die Dringlichkeitspraxis der Dreißigerjahre ausgelöst worden ist 59, selbstverständlich nicht aus der Welt geschaffen~ Die durch Flucht in das Dringlichkeitsrecht ausgelöste Krise wird vielmehr durch eine Flucht in das Vollmachtenrecht noch verschärft. Ein grelles Licht auf die krisenhafte Lage der Referendumsdemokratie im Bunde werfen die anläßlich der Beratung der oben erwähnten bundesrätlichen Referendumsvorlage über die Sicherstellung der Landesversorgung mit Erzeugnissen der Landwirtschaft 60 im Ständerat gefallenen Worte: "Die Vorlage, welche vor. uns liegt, scheint mir doch zu wichtig und zu notwendig zu sein, als daß wir es auf das Referendum oder gar eine Volksabstimmung ankommen lassen dürfen. Wir kennen ja die Mentalität eines Volkes 61 • 62 ." Wichtige und notwendige Maßnamen gehören somit nicht unter das Referendum. Was soll denn noch dem Referendum unterstehen? Ist das nicht eine Bankerrotterklärung der Referendumsdemokratie? 63 Durch die Ergreifung solcher nicht kriegsbedingter und zeitlich dringlicher wirtschaftlicher Maßnahmen im Sinne vorab der Verlängerung der erwähnten dringlichen Bundesbeschlüsse sowie der Einführung des Befähigungsausweises für das Gewerbe auf dem Vollmachtenweg wird auch die Revision des Art. 31 BV weitgehend präjudiziert; ja es wird dadurch eine "kalte" Revision der Wirtschaftsver. fassung eingeleitet. Durch eine solche Praxis werden die einzelnen Interessengruppen geradezu an der Bundesverfassung desinteressiert; denn Sonderin~eressen lassen sich naturgemäß auf dem Vollmachtenweg viel eher verwirklichen als auf dem v~rfassungsmäßigen Wege der Gesetzgebung und Verfassungsrevision. Es liegt dann nahe, daß den einzelnen Gruppen das als verfassungsmäßig bzw. als vollmachtenbeschlußmäßig erscheint, was ihren Interessen am besten dient. Legalitätsfragen werden somit zu Interessenfragen degradiert. So kann man denn auch öfters beobachten, daß sich die verschiedenen 59

Vgl. dazu meine Arbeit: Verfassungsrecht und Verfassungspraxis a. a. 46 ff. 60 Welche Vorlage der Bundesrat, nachdem er sie dem Referendum unterstellen wollte, zweifellos nicht als zeitlich dringlich ansah. 61 Sten.Bull. 1944, Ständerat S.llß (Votum Walker). 62 Ein ähnlicher Standpunkt wurde auch im Nat.Rat anläßlich der Behandlung derselben Vorlage vertreten: "Le projet, par ailleur, est trop important, indispensable et urgent tout a la fois pour qu' on se risque a un referendum. '' Sten.Bull. 1944, N at.Rat S. 330 (Votum Quartenoud). 63 Die Konsequenz dieser Auffassung müßte eine schleunige Abschaffung der Referendumsdemokratie sein, -. wenn das politisch möglich wäre. 0.

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Interessengruppen bei Geltendmachung ihrer Interessen auf die Bundesverfassung oder auf das Notrecht berufen, je nachdem ihnen das eine oder das andere besser paßt. Allerdings ist die Überschreitung der Vollmachten auf wirtschaftlichem Gebiet von der Bundesversammlung gebilligt worden, indem sie dem Vollmachtenbeschluß diesbezüglich eine "large" lnterpretation gegeben hat 64• Rechtlich ist dies aber irrelevant, da keine authentische Auslegung des Vollmachtenbeschlusses in Frage kommt. Die Bundesversammlung unterstützt dadurch die Vorwegnahme der Revision des Art. 31 BV auf dem Voll~achtenweg. Ferner erhebt sich die Frage, ob die weitgehende Ausschaltung des Parlamentes aus dem Budgetwesen 65 mit dem Vollmachtenbeschluß im Einklang steht. Wäre es nicht möglich gewesen, die Voranschläge auf Grund des Vollmachtenrechtes der Bundesversammlung in geheimer Sitzung vorzulegen? Es erscheint als eine merkwürdige Situation, daß das Bundesparlament zwar die gesamte Staatsrechnung zu genehmigen hat 66 , aber nur einen relativ kleinen Teil des Budgets aufstellen darf. Desgleichen drängt sich die Frage auf, ob die Nichterledigung der vielen hängigen Volksinitiativen 67 als eine negative Notstandsmaßnahme im· Rahmen des Vollmachtenbeschlusses aufgefaßt werden kann. Dies ließe sich wohl höchstens mit Bezug auf diejenigen Verfassungsinitiativen, deren Gegenstand schon eine Regelung durch das Vollmachtenrecht erfahren hat, annehmen 68 • Aber auch das trifft meines Erachtens kaum zu. Denn mit solchen Volksbegehren will man nicht einer durch den Krieg bedingten Notlage steuern, das Vollmachtenrecht somit abändern, sondern die Verfassung revidieren. Die Erledigung solcher Volksbegehren kann daher den Bundesrat in der Handhabung der Vollmachten nicht hemmen·. Denn er hat die Möglichkeit, einen auf einer Volksinitiative· beruhenden neuen Verfassungsartikel bei Erfüllung der Voraussetzungen des Vollmachtenbeschlusses materiell zu suspendieren. Auch in der Nichterledigung der vielen hängigen Volksinitiativen zeigt sich deutlich die Krise der Referendumsdemokratie. 64

Vgl. Sten.Bull. 1942 Nat.Rat S. 238. Vgl. oben S. 73. 66 Vgl. z. B. BB vom 20. Juni 1944 über die eidg. Staatsrechnung von 1943, wo· die ordentliche wie die außerordentliche Rechnung abgenommen wurde; BBI 1944 I 623. 67 Vgl. oben S. 71 f 1 68 Auf diesem Standpunkt steht anscheinend die Praxis; vgl. R e b e r : a. a. 0. S. 104 f. 65

6 Giacometti, Vollmachtenregime,


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V. Aber auch insofern eine offensichtliche Überschreitung der Grenzen des Vollmachtenbeschlusses nicht in Betracht kommt, erhebt sich das Problem, ob in der Handhabung der Vollmachten immer das richtige Maß eingehalten worden ist. So kann man zunächst die Frage aufwerfen, ob die Notrechtspraxis in der Beeinträchtigung der freiheitlichen Grundlagen des Landes, so vorab der persönlichen Freiheit, der Preß-,· Vereins- und Versammlungsfreiheit sowie der politischen Rechte 69 nicht mitunter zu weit gegangen sei. Hätte die Schweiz die Fackel der Freiheit im verdunkelten Europa nicht heller leuchten lassen sollen? Allerdings mußte es aus Gründen der Staatsraison dem Schweizer, trotzder Gefahr einer moralischen Abstumpfung, verwehrt bleiben, der Stimme seines Gewissens in den schrecklichen Geschehnissen unserer·Tage laut Ausdruck zu geben 69 a. Ferner läßt sich fragen, ob bei der Handhabung der Vollmachten außer i~ qualitativer nicht auch in quantitativer Hinsicht das notwendige Maß überschritten worden sei. Die Notrechtssetzung hat nämlich einen sehr hohen Grad von Intensität erreicht. Ein ununterbrochener Strom von Noterlassen überflutet das Land 70 • Ein Damm, der diese Fluten aufhalten würde, besteht nicht 71 • Es wird auf allen möglichen Gebieten reglementiert; der staatlichen Fürsorgemaßnahmen und Eingriffe in die Lebensverhältnisse des Einzelnen, vorab in die wirtschaftliche Freiheit, in die Eigentumsfreiheit und in die persönliche Freiheit, ist kein Ende. Der Einzelne kennt sich in der Fülle der Normen, die überdies ständigem Wechsel unterliegen, nicht mehr aus und weiß vielfach nicht mehr, was er darf und was nicht. Und trotzdem kann er sich auf den Rechtsirrtum nicht berufen 72 • 69

Durch Ausschaltung des normalen Rechtssetzungsverfahrens, das in das fakultative oder obligatorische Referendum ausmündet, infolge einer solchen intensiven Ausübung der Vollmachten. 69 a Man kann sich aber allerdings fragen, ob die Zensur nicht nach manchen Richtungen zu weit gegangen sei. 70 So wurden bis Juni 1944 441 Vollmachtenverordnungen des. Bundesrates dem Nationalrat zur Genehmigung vorgelegt; Sten.Bul. 1944, Nat.Rat S. 186. Dazu kommentausende von Noterlassen der Departemente und der unteren Amtsstellen. 71 Weder die Bundesversammlung noch das Bundesgericht stellen einen solchen Damm dar; vgl. oben S. 64 ff. und 74 f. 72 Vgl. Ha ab a. a. 0. S. 19. Art. 18 u. 20 StrGB. Eine Ausnahme besteht nunmehr allerdings im kriegswirtschaftlichen Strafrecht, indem gemäß Art. 4 Abs. 2 des BRB vom 17. Oktober 1944 über das kriegswirtschaftliche Strafrecht und die kriegswirtschaftliche Strafrechtspflege (AS 60, 641) eine kriegswirtschaftliche Widerhandlung dann vorsätzlich verübt wird, wenn sie mit Wissen und Willen sowie in Kenntnis der Rechtswidrigkeit erfolgt.


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Das führt naturgemäß zu einem Mißbehagen und zu einem Gefühl der Rechtsunsicherheit, und zwar umsomehr, als die Noterlasse vielfach sehr generell 73 gehalten und redaktionell nicht immer sorgfältig redigiert sind 74 . Dieser Umstand sowie der Charakter der Notgesetzgebung als Spezial- und Gelegenheitsgesetzgebung 75 bewirken selbstverständlich außerdem eine Gefährdung der Rechtsgleichheit76. Dieses Übermaß von Freiheitsbeschränkungen und diese Hypertrophie der Notrechtssetzung bergen die Gefahr in sich, daß das Individuum infolge Nichtbetätigung der Freiheit sich allmählich dieser Freiheit entwöhne 77 und damit der Vermassung, die eine kriegsbedingte Erscheinung ist und nur eine solche sein sollte, immer mehr anheimfalle, der Staatsallmacht immer intensiver seine Persönlichkeit opfere. Diese Hypertrophie autoritärer Rechtssetzung wirkt sich außerdem zentralistisch aus und belastet damit die föderalistische Struktur des Landes. Der autoritäre polizeistaatliche Geist, der ein solches Übermaß von Freiheitsbeschränkung und Notrechtssetzung naturgemäß züchtet, und der heute umgeht, scheint sich auch dauernd im Lande niederlassen zu wollen 78. 73

Vgl. oben S. 72. Ein Monstrum juristischer Formulierung bildet z. B. der BRB vom 28. November 1939 betr. Dienstbefreiung der gedeckten diensttauglichen Zuchtbuch~tuten im Aktivdienst (AS 55, 1449), der die diensttauglichen Stuten, die im Zuchtbuch einer Pferdezuchtgenossenschaft eingetragen sind, von der Dienstpflicht im Aktivdienst befreit, und alle anderen diensttauglichen Stuten als dienstpflichtig erklärt. (!) , 75 Vgl. oben S, 27 ff. 76 Vgl. Beispiele solcher Verstöße gegen Art. 4 BV bei S p ahn : Staatsmacht und Individualsphäre, S. 207 ff. (nicht alle dort angeführten Fälle stellen jedoch meines Erachtens solche Verstöße dar). 77 Symptomatisch dafür scheint mir z. B. die Auffassung zu sein, wonach die parlamentarische Kontrolle des Vollmachtenrechts eine Art obligatorisches Referendum, eine mittelbare Volksbefragung sei; vgl. oben S. 75 Anm; 33. 78 Symptomatisch hiefür erscheint z. B. die Vorschrift des Art. 2 des BRB vom 27. Februar ·1945 betr. Maßnahmen zum Schutze der verfassungsmäßigen Ordnung und die Aufhebung der Parteiverbote (AS 61, 117), die die öffentliche in gemeiner Weise erfolgende oder fortgesetzte Herabwürdigung der Staatsbehörden oder ihrer Mitglieder, insbesondere die Aufstellung und Verbreitung unwahrer oder entstellender Behauptungen tatsächlicher Art unter Strafe stellt. Diese kautschukartige Majestätsbeleidigungsvorschrift ein Novum im Bundesrecht-könnte nämlich in ihrer Handhabung unter Umständen zu einer Gefährdung der Meinungsäußerungsfreiheit führen. Wenn auch ein gewisser Behördenschutz i~ diesen Zeiten als notwendig er74


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VI. Dieses umfassende Vollmachtenrecht stattet auch diejenigen Verwaltungsbehörden, die nicht selber zur Rechtssetzung berufen sind, sondern lediglich die Noterlasse zu vollziehen haben, naturgemäß mit einer großen Machtfülle gegenüber dem Einzelnen aus. Dies gilt vorab für die Kriegswirtschaftsämter. Rechtschutzgarantien außerhalb der Verwaltung gegen unrichtige oder willkürliche Anwendung des Vollmachtenrechts durch die Verwaltungsbehörden im Einzelfall bestehen aber im allgemeinei:J- nicht 79 • Die Verwaltungsakte· der ·Verwaltungsbehörden sind in der Hauptsache im Gebiete des Vollmachtenrechts nicht an eine unabhängige richterliche Behörde weiterziehbar. ·Die bundesgerichtliche Verwaltungsgerichtsbarkeit kommt lediglich für Steuerstreitsachen auf dem Gebiete des Vollmachtenrechts in Frage. Ja vorab in den Materien des Kriegswirfschaftsrechtes ist in sehr großem Umfange auch die Beschwerde an den Bundesrat oder sogar an das Departement ausgeschlossen 80 • Das Fehlen. einer umfassenden eidgenössischen Verwaltungsgerichtsbarkeit, wie sie vor allem Fleiner postuliert hatte, wird vom Einzelnen scheinen mag, so sollten die entsprechenden Vorschriften jedenfalls präziser formuliert werden. · Ein. derartiges Symptom bedeutet auch der im Ständerat gemachte Vorschlag auf Aufrechterhaltung des obligatorischen Arbeitsdienstes in der Landwirstchaft für Jünglinge und Mädchen nach dem Krieg als dauernde Einrichtung. Vgl. dazu sowie über die kollektivistischen Tendenzen im Lande überhaupt das Referat von P i c t e t an der Uelegiertenversammlung des schweizerischen Handels- und Industrievereins vom 30. September 1944, Protokoll S. 28. Charakteristisch für die Vermassungstendenzen ist auch die vom Nationalrat angenommene Motion auf obligatorische Röntgenuntersuchung der Gesamtbevölkerung; man stelle sich vor, das gesamte Schweizervolk unter Strafandrohung vor dem Röntgenapparat. Dies bedeutet auch eine Untergrabung des ärztlichen Berufsgeheimnisses, eines Grundpfeilers der individualärztlichen 'Tätigkeit (vgl. darüber L ö f f 1 er : Aktuelle Gruppenmedizin, ihre Grundlagen und Grenzen, Festgabe für Max Huber, 1945 S. 198, 200) und der Beginn der Verstaatlichung des ärztlichen Berufes. Symptomatisch für die polizeistaatliehen Tendenzen erscheint au,ch der Entwurf zu einem BRB über die Erhaltung des landwirtschaftlichen. Grundbesitzes; vgl. darüber den Aufsatz von B.H.: Bemühungen um eine schweize.rische Agrargesetzgebung, Neue Zürcher Zeitung, 1945, Nr. 285. 79 Unabhängige richterliche Instanzen bestehen z. B. auf dem Gebiete der Lohn- und Verdienstersatzordnung sowie der Pressezensur. 80 Vgl. M a s n a t a ·: Quelques reflexions a propos du systeme des recours administratifs en droit federal de I' economie de guerre, Schweiz. Juristenzeitung, 41. Jahrgang S. 33 ff.


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in dieser Zeit einer Hypertrophie der Verwaltungsrechtssetzung und der damit verbundenen überbordenden Machtfülle der Verwaltung gan:z besonders empfunden. Diese große Lücke des schweizerischen Rechtsstaates wiegt heute um so schwerer, da die Verwaltungsbehörden unter dem Vollmachtenregime 81 nicht nur Verwaltungsrichter, sondern auch Gesetzgeber sind. Das will heißen, die Verwaltung hat als Verwaltungsrichter über die richtige Anwendung der eigenen Rechtssätze zu wachen. Die Gewaltenvereinigung bei der Exekutive ist damit vollendet. Und zwar gilt dies nicht nur in dem Sinne, daß die untere Verwaltungsstelle als Verwaltungsrichter über die richtige Anwendung der ~echtssätze einer höheren Verwaltungsbehörde zu wachen hat. Das gilt vielmehr auch wörtlich: Die Venyaltungsbehörde hat vielfach als Verwaltungsrichter die Verwaltungsakte auf ihre Übereinstimmung mit den eigenen Rechtssätzen zu überprüfen 82 • Man kann dann insofern von einer Gewaltenvereinigung im eigentlichen Sinne sprechen. Damit wird das Individuum der Verwaltung ganz ausgeliefert, denn diese ist naturgemäß in der Auslegung ihrer Rechtssätze viel freier als in der Anwendung der Normen der Gesetzesstufe. Die Verwaltung kann infolgedessen in weitem Maße ihren Rechtssätzen die Tragweite geben, · die sie will. Die Bindung des Verwaltungsrichters an generelle Normen wird somit materiell weitgehend beseitigt 82a. Die Rechtsprechung nähert sich. insoweit der normfreien Entscheidung, ganz insbesondere, wenn die Rechtssätze sehr generell gehalten sind 83 • Eine solche Ver81 Wie schon auf Grund der Dringlichkeitspraxis, wo die dringlichen Bundesbeschlüsse vielfach umfassende Delegationen an die Verwaltung enthalten. 82 So hat z. B. der Bundesrat oder das Departement oder ein Bundesamt als Rekursbehörde die Übereinstimmung von Verfügungen unterer Amtsstellen mit seinen Verordnungen zu überprüfen. So überprüft der Bundesrat bei der Beurteilung von Beschwerden gegen Ausbürgerungen die richtige Anwendung der Bundesratsbeschlüsse von 1941 und 1943, die die Ausbürgerung vorsehen. 82 a Dasselbe gilt, wenn die Verwaltungsbehörde in ihrer materiellen Ver·waltungstätigkeit die eigenen Rechtssätze anzuwenden hat. 83 So kann z. B. der Bundesrat bei Beurteilung von Beschwerden gegen Ausbürgerungen gemäß dem BRB vom 11. November 1941 über das Schweizerbürgerrecht der sehr generell gehaltenen Vorschrift des Art. 3 Abs. 1 des BRB von 1941, wonach der Doppelbürger des Bürgerrechts verlustig erklärt werden kann, wenn sein Verhalten den Interessen oder dem Ansehen der Schweiz nachteilig ist, die ihm gutscheinende Bedeutung beilegen. Dasselbe gilt bezüglich des Art. 1 des BRB vom 18 .. Mai 1943 über Ausbürgerung.


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waltungsrechtsprechung ist, was Montesquieu "pouvoir arbitraire" nannte 84• Der Kreis ist somit geschlossen; man kehrt zum autoritären gewaltenmonistischen Polizeistaat, von dem man kommt, zurück 85 • 86 •. 84

Esprit des lois Buch 11 Kap. 6. So weist auch M a r t i: a. a. 0. S. 89 darauf hin, daß vom Notverordnungsrecht historisch ein direkter Weg zurück zum absoluten Staat führe. 86 Den rechtsstaatliehen Anforderungen widerspricht es auch, wenn in der Strafrechtspflege im Gebiete des Kriegswirtschaftsrechtes die Untersuchung durch den Strafuntersuchungsdienst des eidg. Volkswirtschaftsdepartements erfolgt und als Überweisungs- und Einstellungsbehörde das Generalsekretariat des eidg. Volkswirtschaftsdepartements amtet; Art. 76 u. $2 des BRB vom 17. Oktober 1944. 85

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Das Staatsrecht der schw-eizerischen Kantone von

Dr. Z. Giacometti Professor des öffentlichen Rechtes an der Universität Zürich

561 Seiten. In Ganzleinwand geb. Fr. 28."Der Verfasser scheint mit seinem Werk zwei verschiedene Zwecke verfolgt zu haben. Er wollte das geltende Verfassungsrecht der Kantone darstellen, aber auch seine eigene · Staatstheorie auf die Kantone übertragen und so ein Stück allgemeines Staatsrecht vermitteln. Aus diesem doppelten Zweck erklärt sich die große Reichhaltigkeit dieses Buches; der Leser findet sozusagen in jedem Abschnitt immer wieder ausführliche rechtstheoretische Erörterungen ... Unter dem Staatsrecht versteht Giacometti das Verfassungsrecht der Kantone. Eine Darstellung des kantonalen Verwaltungsrechtes darf also nicht erwartet werden, hebt doch nach einem bekannten Wort das Verwaltungsrecht erst an, wo das Staatsrecht aufhört. Doch bietet auch die Darstellung des Verfassungsrechtes dem Praktiker eine Fülle von Aufschlüssen und Anregungen. Das Werk charakterisiert sich s.odann nicht als Vergleichung des kantonalen Rechtsstoffes., sondern als Sammlung desselben. Die Vergleichung bleibt dem Leser überlassen. A1s Sammlung und Verarbeitung aber ist die Leistung von einzigartiger, minuziöser Vollständigkeit, und wo eine Auswahl getroffen werden mußte, ist sie gewissenhaft und untadelig. Die sorgfältige Umschau in allen Kantonen und Sichtung alles denkbaren Materials sind vielleicht der größte Vorzug des. Buches, auf das unser Land und ·seine Rechtswissenschaft stolz sein dürfen, weil es inmitten des zerstörenden Krieges aufbauende Kulturarbeit bedeutet." (Bundesrichter Dr. Huber in Schweiz. Juristen-Zeitung.)

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Die Verfassungsgerichtsharkeit des Schweizerischen Bundesgerichts (Die staatsrechtliche Beschwerde) von

Dr. Z. Giacometti Professor des öffentlichen Rechts an der Universität Zürich 282 Seiten -

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Aus einigen Pressestimmen: B u n d es r i c h t e r D r. Kirchhofe r schreibt in der "Schweizerischen Juristenzeitung": Auch fürdenjenigen, der seit Jahren in der Verfassungsgerichtsbarkeit drin steht, bedeutet die Darstellung von Giacometti Förderung und Bereicherung. Sie ist ein unentbehrlicher Wegweiser für ·alle diejenigen~ die sich theoretisch oder praktisch mit dem staatsrechtlichen Rekurs zu· befassen haben. Bundesrichter D r. Hans Huber urteilt darüber in der "Neuen Zürch~r Zeitung": Der Arbeit von Giacometti gebührt der Dank und die Anerkennung der ,schweizerischen Juristenwelt.. Besonders hervorzuheben ist die vollständige Bearbeitung der bundesgerichtliehen Rechtsprechung, die in der Praxis große Dienste leisten wird und die klare Systematik des Buches. Prof. D r. B 1 u rri e n s t ein berichtet in· der "Monatsschrift für bernisches Verwaltungsrecht und Notariatswesen": Das Buch ist eine außerordentlich erfreuliche Bereicherung .der schweizerischen Staatsrechtswissenschaft Aber auch der Praktiker findet darin alles, was für ihn hinsichtlich der staatsrechtlichen Beschwerde wichtig und wissenswert ist.

.Das öffentliche Recht der Schweizerischen Eidgenossenschaft Sammlung der wichtigsten Bundesgesetze, Bundesbeschlüsse und Bundesverordnungen st.aätsrechtlichen und verwaltungsrechtlichen Inhalts. Systematisch zusammengestellt, mit Verweisungen und Sachregister versehen, von

Dr. Z. Giacometti Professor des öffentlichen Rechts an der Universität Zürich Zweite Auflage. 1239 Seiten -

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