4 minute read

1 Einführung

Next Article
2 Symbolisierung

2 Symbolisierung

Wie kommt der Mensch zu neuen Erkenntnissen? Wie kommt er zu Aussagen, die das Weltverständnis um bisher nie gedachte Sichtweisen erweitern? Wie gelingt es, fundamental neue Zusammenhänge zu denken? Fragen wie diese haben schon viele Menschen bewegt.

Aber nicht nur aussergewöhnlich Begabte können die Erforschung all dieser Fragen voranbringen. Manchmal geschehen historische Ereignisse, die solche Auseinandersetzungen vorantreiben. Russlands erfolgreiche Beförderung des ersten künstlichen Erdsatelliten «Sputnik 1 » ins Weltall zum Beispiel hatte eine schockartige Wirkung auf die übrige Welt. Aufgrund des russischen Vorsprungs löste der sogenannte «Sputnikschock» 1957 in den USA und in der Folge auch im westlichen Europa eine Intensivierung der Kreativitätsforschung in verschiedenen Disziplinen aus (Landau 1984, Matussek 1974). In der Psychologie wurde der kreative Vorgang vor allem aus phänomenologischer, sozialpsychologischer und pädagogischer Sicht untersucht.

Advertisement

In der vorliegenden Arbeit wird innovatives Schaffen aus intrapsychischer Sicht zu erhellen versucht. Was geschieht beim kreativen Vorgang in der menschlichen Psyche? Was begünstigt innovatives Denken psychodynamisch im Innern des Schöpfers ? Nicht selten wird von wissenschaftlich oder künstlerisch tätigen Menschen berichtet, die nach langer, mühseliger und ergebnisloser Forschung plötzlich eine Eingebung haben, die sie zu neuen Ideen führt.

So hatte August Kekulé, Professor für Chemie in Genf, 1865 bekanntlich einen bedeutsamen Traum, der in die Geschichte einging. Er schildert ihn so: «Ich drehte meinen Lehnstuhl dem Feuer zu und döste ein. Im Traum wirbelten wieder die Atome vor meinen Augen herum, die kleineren Gruppen diesmal bescheiden im Hintergrund. Mein geistiges Auge, durch viele derartige Visionen geschärft, konnte nun grössere Strukturen mannigfaltiger Anordnung unterscheiden, lange Reihen, zum Teil eng geschlossen, alle in

schlangengleicher Bewegung verschlungen und verflochten. Aber siehe, was war das? Eine der Schlangen hatte ihren eigenen Schwanz erfasst, ihre Gestalt wirbelte spöttisch vor meinen Augen. Wie vom Blitz getroffen, wachte ich auf.» (Kekulé in: Koestler 1966, S. 118 f.)

Das Bild der sich in den eigenen Schwanz beissenden Schlange führte Kekulé im Übergang zwischen Traum- und Wachzustand zu einer bahnbrechenden Entdeckung in der organischen Chemie: nämlich, dass Moleküle bestimmter organischer Verbindungen keine offenen Strukturen darstellen, sondern geschlossene Ketten oder Ringe bilden. Wie wurde diese überraschende Einsicht möglich? Was passierte da intrapsychisch? Was ereignete sich im Traumgeschehen, das im bewussten Denken nicht gelungen ist? Offensichtlich spielt der durchlässige Zustand zwischen Schlafen, Träumen und Wachsein eine besondere Rolle.

Wir wissen auch, dass Leonardo da Vinci vor über 500 Jahren seine Malergesellen dazu anhielt, durch bestimmte Übungen in einen tagträumerischen Zustand zu gelangen. So sollten sie etwa Mauern mit Flecken oder unterschiedlichen Steinen betrachten und auf die sich dabei unwillkürlich einstellenden Vorstellungen achten. Dieses Vorgehen, so da Vinci, könne die Fantasie und die Einbildungskraft («una nova inventione di speculatione ») anregen (Reinhardt 2018, S. 193). Tatsächlich werden wir uns in solch spielerischem Tun – sei es im Betrachten vorbeiziehender Wolken, zerklüfteter Berglandschaften oder knorriger Wurzelstrünke – unserer Assoziationen und Vorstellungen eher bewusst.

In ähnlichem Sinne schrieb Friedrich Schiller in einem Brief an seinen Freund Gottfried Körner, der sich beklagte, schriftstellerisch nichts zustande zu bringen: «Der Grund Deiner Klagen liegt, wie mir scheint, in dem Zwang, den Dein Verstand Deiner Imagination auferlegte. […] Es scheint nicht gut und dem Schöpfungswerke der Seele nachteilig zu sein, wenn der Verstand die zuströmenden Ideen, gleichsam an den Toren schon zu scharf mustert. […] Bei einem schöpferischen Kopfe hingegen, däucht mir, hat der Verstand seine Wache von den Toren zurückgezogen, die Ideen stürzen pêle-mêle herein, und alsdann erst übersieht und mustert er den grossen Haufen.» (Schiller, 1. Dezember 1788)

Eine vorschnell zensurierende innere Kritik behindert schöpferisches Arbeiten. Im Gegensatz dazu sollen Ideen ungefiltert zuströmen dürfen – in einem « pêle-mêle», also bunt durcheinander, so wie es gerade kommt. Sig-

mund Freud zitiert Schillers Empfehlung im Zusammenhang mit der Erläuterung freischwebender Aufmerksamkeit und Assoziationstätigkeit (Freud 1900a, S. 107), worauf wir zurückkommen werden. Vincent Van Gogh bezeichnet diesen durchlässigen assoziativen Zustand mit « hellsichtig» (Van Gogh 1988, 3. Band, S. 332), und Antoni Tàpies spricht von «nicht gelenktem Denken» (Tàpies 1976, S. 186). Was passiert im Schöpfer während dem assoziativ zuströmenden, nicht gelenkten Denken? Wie lässt sich aus den bunten, ungeordneten Gedanken und Vorstellungen schöpferisches und innovatives Denken generieren? Bevor wir diesen Fragen nachgehen, möchten wir aber wissen: Was sind Vorstellungen? Was beinhalten sie und wie entstehen sie? Oder umfassender betrachtet: Wie entwickelt sich das Denken? Eine spannende Frage, die sich wiederholt stellen wird.

Ich beginne mit der Frage, wie innere Vorstellungen, Repräsentanzen und Symbole entstehen, also mit dem Vorgang der Symbolisierung. Anschliessend untersuche ich die Bedeutung der zwischenmenschlichen Beziehung für Symbolisierungsprozesse. Dabei betrachte ich die Entstehung innerer Repräsentanzen sowohl aus psychoanalytischer Sicht als auch aus der Perspektive der Säuglingsforschung. Es folgt die Diskussion von Symbolisierungsvorgängen in der psychoanalytischen Praxis, die ich mit Fallvignetten veranschauliche. Aufgrund meiner psychoanalytisch-psychotherapeutischen Erfahrung begründe ich die Bedeutung sinnlichen Erlebens für Symbolisierungen. Die Ausführungen zur Behandlungstechnik bei Patienten mit einer identitären Störung führen zur Thematik der Metapher.

Nach einem historischen Abriss zur Metapher fokussiere ich auf Erkenntnisse des Philosophen Hans Blumenberg, anschliessend auf Gedanken aktueller Philosophen. Danach untersuche ich Vorgänge des künstlerischen Schaffens sowie Freuds Gedanken zur inneren Verwandtschaft von hysterischem Symptom, Traum und künstlerischer Produktion als «Verkörperung». Letzteres führt zur Diskussion der Einheit von Körper und Geist. Schliesslich thematisiere ich die Anforderung des Ichs, Erregungen psychisch zu binden, um dann meine Schlussfolgerungen und zusammenfassende Gedanken zu formulieren.

Nachdem ich mich jahrzehntelang mit diesen Themen beschäftigt habe, ist es mir ein Anliegen, früher formulierte Gedanken – vor allem in den Kapiteln 3 und 4 – wieder aufzunehmen, zu überarbeiten und zu ergänzen, um sie in

aktualisierter Form in einen umfassenderen Zusammenhang zu stellen. Da ich das Feld dieser Betrachtung sehr weit fasse und aus unterschiedlichen Blickwinkeln betrachte, sind Querverweise und allfällige Wiederholungen unumgänglich. (Um den Lesefluss zu erleichtern, benutze ich im Text generell nur die männliche Form; die weibliche Form, sowie alle weiteren Ausrichtungen sind dabei immer mit gemeint.)

This article is from: