Literarischer Monat, 8, Oktober 2012

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ISSN 2235-0535

monat

Ausgabe 08 Oktober 2012 CHF 9.90 / Euro 6,90

literarischer

sonderBeilage «schweizer monat» | freie sicht auf neue bÜcher

«Christian Kracht ist Schweizer» Eine Begegnung mit dem jüngsten Klassiker der Confoederatio Helvetica

Der Kokovore und die Reichskulturkammer Exklusiv: bisher unveröffentlichter Ausschnitt aus dem Originalmanuskript von Christian Krachts «Imperium»

Das Ende der Ironie? Johannes Birgfeld, Claude D. Conter und Christof Moser über Popliteratur und Popjournalismus in der Schweiz


FOTO ANDREAS ZIHLER GRAFIK DANA BADULESCU

! s o n a i P r et ) t r u a ( u For s h w i n P i a n o Q Ge

s d n o p es D é r d An th r i W n li Stefa e g n E in m a j n e B g n u e h C Mischa

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ürich Z 8 0 0 aus, 8 r 2012 e b m ZKO H e 5. Nov , g a t n Mo Uhr 20.00

Moderation: Alexander Gligorijevic ZKO-Billettkasse: 0848 84 88 44, billettkasse@zko.ch, www.zko.ch Schulen gratis, Jugendliche (U30) CHF 10.–, Erwachsene CHF 50.–


Literarischer Oktober

Editorial

Liebe Leser

Michael Wiederstein Kulturredaktor

08

Da schreibe ein «widerlich arroganter Schnösel» an «banalen Reisenotizen», fand der Tages-Anzeiger zu Faserland. Ein immerhin «subtiler Splatterroman» sei sein zweites Buch 1979, fand die TAZ. Ein «Stahlgewitter für die VIP-Lounge» (ZEIT) sei Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten, der dritte Roman, und mehr noch, so die Frankfurter Rundschau: «einfach schwachsinnig». Beim letzten Wurf, Imperium, schoss sich das Feuilleton bequem auf die Personalie Christian Kracht ein. Dabei vergass man im Spiegel kurz, zwischen Autor und Erzähler zu unterscheiden, unterstellte Kracht in wirren Formeln, sich «ausserhalb des demokratischen Diskurses» zu bewegen. Solche Anschuldigungen genügen in Deutschland bekanntlich, um schlafende Hunde zu wecken. «Plagiat!», rief dann zum Schluss noch irgendein Schriftsteller, der auch schon über Kokosnüsse geschrieben hatte – beide Nebelkerzen initiierten eine rührselige Menschenkette durch alle Feuilletons. Und Kracht? Der sagte nichts, bloss seine Deutschlandreise ab. Auf die einstweilige Inquisition folgte der Publikumserfolg (das Buch wird in 15 Sprachen übersetzt und schon bald verfilmt), folgte eine Art feuilletonistischer Heiligsprechung. So wurde schon Faserland zum «Kultbuch», zum «Gründungsphänomen» des «Literatur-Pop» (Moritz Bassler), so wie Imperium dieser Tage als «Reanimation des grossen Abenteuerromans» firmiert. Was lernen wir daraus? Bei Christian Kracht finden wir keine einfachen Geschichten oder Erzählgegenstände, die sich intellektuell redlich auf wenigen Seiten ausschlachten lassen (auch in dieser Ausgabe nicht), auch kein immergleiches literarisches Prinzip, das sich allein an den Wänden des grossen «Ironie»-Waschsalons kondensieren liesse. Doch wir können sagen: Das ist anspruchsvolle und gleichzeitig erfolgreiche Literatur, die gehaltvoll, aber zugleich süffig-spielerisch und (über)blendend daherkommt. Literatur mithin, die die in den Köpfen gezogenen Grenzen von sogenannter Hoch- und Popkultur sprengt. Wir haben dem Künstler Christian Kracht deshalb eine Ausgabe dieses Magazins gewidmet. Ich wünsche Ihnen viel Vergnügen!

Gomringer: Die grosse Freiheit

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Monnerat: Zahnputzfarbtupfer

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«Christian Kracht ist Schweizer» – Rivella, Lebensreform und das Elend mit dem Pop Literarische Kurzkritik

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Kurze Sätze über Grate: Aus der Enge der Berge

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Kolumne: Literarisches Periskop

Die grosse Freiheit von Nora Gomringer

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Nora Gomringer ist Lyrikerin und Slam-Poetin. Sie leitet das internationale Künstlerhaus «Villa Concordia» in Bamberg.

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ch bleibe bei der Freiheit. Grosses Thema. Joachim Gauck formuliert sie als Auftrag in Minibuchformat und setzt ihr auch die Toleranz an die Seite. Beide marschieren einträchtig (idealisiert) durch unsere Zeiten. Dann sehe ich einen Film, der einem das Blut stocken lässt: «Michael» vom österreichischen Regisseur Markus Schleinzer. Ein pädophiler Versicherungsmann «hält» sich einen Buben im Keller. Das ist so schauerlich, so endgültig und eindeutig-uneindeutig grausam, dass man diese Maschine aus Zweisamkeit mit entsetztem Staunen beobachtet. Und Freiheit wird auf einmal eine sehr entfernte Gaukelei. Dann denke ich an die Gäste des Kinos in Aurora, Texas, und die grosse Freiheit, sich ein Kinoticket kaufen zu können, die grosse Freiheit, sich eine Waffe samt Munition kaufen zu können, die grosse Freiheit, die Blumen zum Angedenken an einen erschossenen Freund ablegen zu dürfen. Es scheint: Freiheit hat mit «etwas tun können» und «etwas dürfen» zu tun. Die grosse Freiheit ist dann: Etwas wann und wo auch immer durchführen zu können und zu dürfen. Auf dem Kreml «Pussy Riot» betreiben, dem Papst ein böses «Titanic»-Cover widmen, Wildblumen pflücken, mit Schleier Kurzstrecken laufen und mit Badekappe Judo treiben, das darf man, wenn man sich die Freiheit nimmt, es zu tun. Heikle Sache. Weil da in dem Ausdruck «Ich nehme mir die Freiheit» quasi auch schon die fatale Folge beschrieben wird. Als wäre also die Freiheit nicht eine exogene Riesenblase, sondern die eigene, endogene Schwimmblase. In mir ist Freiheit, die ich mir nehme, um eine Tat durchzuführen, die sie mir dann endgültig nimmt. Eine Melange von Innen- und Aussenfreiheit. Paradoxerweise lese ich gerade viel Jean Paul, der ja immer wanderte und im wahrsten Sinne Wege suchte und sich infolge dessen ganz andere Freiheiten genommen hat. In einem Interview musste ich gerade mit meinem Vater Fragen zum Thema «Freiheit» beantworten. Wir waren sehr einig im Gedanken, dass man Freiheit ja eigentlich erst bemerkt, wenn sie einem fehlt. Was fehlt einem eigentlich, wenn man sich so eine Waffe mit Munition, eine Maske und dazu noch am selben Abend ein Kinoticket kauft? �


Kolumne: trucs, machins, choses

Zahnputzfarbtupfer von Roger Monnerat

I

Roger Monnerat ist Schriftsteller und ­Liedermacher. Er lebt in Basel. Von ihm zuletzt erschienen: «Am Ende der Rhein. Vom Verschwinden der Realien im Hafen von Rotterdam». Zürich: édition sacré, 2012.

n meinem langen Leben habe ich nur einen Verkehrsunfall gehabt. Ich stiess auf dem Fahrrad mit einem Auto zusammen. Das Fahrrad war ein Kinderfahrrad. Das Auto war aus Blech. Es war rot. Es war ein Cabriolet. Es war ein Tretauto. Es gehörte dem Sohn des Milchmanns von nebenan. Beim Zusammenprall flog ich über die Lenkstange davon. Ich landete auf der Oberlippe und den vier vorderen Zähnen des Oberkiefers. Den vier Milchzähnen. Die nachwachsenden richtigen Zähne nahmen sich danach alle Freiheiten. Sie wuchsen zu gross, sie wuchsen schief, sie wuchsen versetzt, sie wuchsen übereinander. Ich bekam eine Spange. Es tat weh. Ich stiess beim Sprechen an. Ich bekam Erröten. Ich wurde ständig pupurrot. In Inseraten gab es Mittel gegen Erröten. Aber in der Wirklichkeit? Erst mit 21, nach der Geburt meiner Tochter, hörte das Erröten auf. Dafür gab’s wieder etwas Schreckliches. In der Volkszahnklinik hob mich ein politischer Flüchtling aus Ungarn am unteren vorderen Weisheitszahn links, den er mit der Zange gefasst hatte, aus dem Zahnarztstuhl und wartete, bis sich mein Körper von meinem Weisheitszahn löste und in den Stuhl zurückplumpste. Es dauerte lange. Es dauerte lange, bis ich ein entspanntes Verhältnis zu meinen Zähnen fand und sie gut und lang zu putzen begann. Eventuell zu gut und zu lang. Vor allem mit zu viel Kraft, wie mir meine Zahnhygienikerin später sagte. Ich hätte meine Zähne «richtiggehend heruntergeschrubbt». Sie empfahl mir einen Vibrator mit Bürstchen. Damals wurde mir bewusst, wie voller Wut ich mein Leben lang gewesen bin, und auch, dass die meisten Leute zu wenig oder die falsche Wut in sich haben, dafür aber zu viel Ungeduld – vor allem die Kinder –, weshalb sie die Zähne nur ganz kurz und ohne Überzeugung bürsten. Das liesse sich ändern, denn – nun ja – ausgerechnet ein Monnerat, nämlich Bernard Monnerat aus Fribourg, hat am 16. Februar 1978 eine Zahnpaste mit chemischem Zeitgeber patentieren lassen. Bei der Zahnreinigung, schreibt er, sei die Zahnpaste bekanntlich vernachlässigbar. Worauf es ankomme, sei das Bürsten. Das lange, gleichmässige Bürsten ohne viel Druck und aus lockerer Hand heraus. Bei seiner Zahnpaste ist lang genug gebürstet, wenn die Farbe des Zahnputzschaums von Gelb in Purpurrot umschlägt. In Purpurrot! Das ist natürlich grundfalsch. Eine Zahnpaste darf nicht rot werden. Sie muss farbig beginnen – am besten schwarz – und dann schneeweiss werden. �

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«Christian Kracht ist Schweizer» Rivella, Lebensreform und das Elend mit dem Pop

Christian Kracht und die Schweiz – eine ziemlich einseitige Liebe. Dabei sind seine Bücher so originell wie auflagenträchtig, seine Reportagen Leitstern für eine ganze Generation von Journalisten, seine Auftritte auch hierzulande immer ausverkauft. Ja, er ist so etwas wie ein nachklassischer Klassiker. Beste Voraussetzungen für ein Füllhorn an Preis und Ehr, allein: die Schweiz zaudert. Warum? Wer ist dieser Herr? Was macht sein Schaffen aus? Und wieso versteht ihn bei uns niemand?

1 Der

Schweizer Schriftsteller Christian Kracht?

von Jörg Döring

2 …um

der reinen Unterhaltung willen…

von Johannes Birgfeld und Claude D. Conter

3 Der

Rivellatrinker

von Michael Wiederstein

4 Imperium von Christian Kracht

5 Die

Sache mit der Sauberkeit

von Christof Moser

6 Der

falsche Jahrgang

von Peter Preissle

Brief von Hermann Hesse an Thomas Mann, Januar 1953 Lieber Thomas Mann. Mit Ihrem lieben Brief haben Sie mir sehr wohlgetan, ich bin dankbar dafür. Eine neue Erzählung von Ihnen der Vollendung nahe zu wissen, ist auch ein Plus; man hat wieder etwas, worauf man sich freut und neugierig ist. Ein merkwürdiges Geheimnis ist es um unser Gefühl (denn es ist durchaus auch das meine), es sei unser Werk nicht zum «Eigentlichen» zu zählen, nicht zum absolut Gültigen und Echten, zum Klassischen und Fortdauernden. Zum Teil beruht dies Gefühl ja auf etwas Objektivem, auf der Tatsache, dass die Echten und Grossen, die Klassischen, eben jene Probe überstanden haben, die den Lebenden noch bevorsteht. Sie haben die Periode, da die Welt ihrer satt war und neue Grössen rühmte und die ja oft recht lang dauern kann, überlebt, sie sind aus dem Grab und der Versenkung wieder auferstanden. […] H.H. Ausschnitt aus: Hermann Hesse: Briefe über sich selbst und das eigene Werk. In: Schweizer Monatshefte Jg. 36, H. 6, S. 455.

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Introessay

1D er

Schweizer Schriftsteller Christian Kracht?

von Jörg Döring

«C

Jörg Döring ist Professor für Neuere deutsche Philologie, Medien- und Kulturwissenschaft an der Universität Siegen. Er leitet das DFG-Forschungsprojekt «Die Adlon-Tapes: Zur Textgenese von ‹Tristesse Royale›». Das Projekt erschliesst der Forschung die wichtigste Quelle zur Textentstehung eines der massgeblichen Werke der neueren deutschen Popliteratur: 14 Stunden Tonbandmitschnitt einer Zusammenkunft der Autoren Joachim Bessing, Christian Kracht, Eckhart Nickel, Alexander v. Schönburg und Benjamin v. Stuckrad-Barre im Berliner Hotel Adlon (1999).

hristian Kracht ist Schweizer», so steht es in neueren Publikationen des Autors. Reicht aber dafür sein Schweizer Pass, auf den er sich gern beruft? Und: ist der Schweizer Pass das letzte wahre Statussymbol? Davon jedenfalls wusste Kracht seine damaligen Mitstreiter aus dem «popkulturellen Quintett» schon 1999 zu überzeugen. Bis zu seinem 12. Lebensjahr wächst Kracht tatsächlich im Berner Oberland auf. Danach lebt er das Leben eines globalisierten Bildungsnomaden: Privatschulen in Kanada und am Bodensee, Studium in New York, Redakteur bei der Zeitschrift Tempo in Hamburg; ein unstetes Wanderleben führt der heute 45jährige seit 1995: New Delhi, Bangkok, Tibet, Kathmandu, Berlin-Mitte, Buenos Aires, Kenia. Dieser Lebensstil und überlegene Weltkenntnis sind entschieden sein ästhetisches Basiskapital. Gerüchte über seinen sagenhaften Reichtum nährt er dabei beharrlich. Sein Vater war Generalbevollmächtigter beim Axel-Springer-Verlag, dem Schreckenskonzern der westdeutschen Linken seit 1968. Auch wenn Kracht die Popliteratur hinter sich gelassen haben will, beherrscht er bis heute die Kunst der vollendeten Selbstinszenierung: In seinen Anfängen als Romancier war er der Popstarautor, der sich als Model für Peek & Cloppenburg vermarkten liess; heute ist er ein Trickster der andeutungsvollen Selbstverbergung. Keiner weiss, wo er gerade lebt, woran er arbeitet, aus welcher Richtung er angereist ist, wer seine Freunde sind. Strategische Beziehungen zu Germanisten pflegt er wie einst Hofmannsthal, damit sie – scheinbar unironisch – über «Leben und Werk» berichten. Sein Maskenspiel wird mittlerweile exegetisch begleitet. Das «Verschwinden» oder der «Rock»: das seien die beiden einzigen Alternativen, um der «ironic hell» der 1990er Jahre zu entgehen – darin war sich das popkulturelle Quintett in Tristesse Royale seinerzeit einig. Es scheint, als hätte Kracht das Verschwinden gewählt und dessen Modus unterdessen ästhetisch vervollkommnet. Als Autor ist er aber unbestreitbar auf dem weit ersichtlichen Höhenkamm der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur angelangt. Faserland (1995), Fanal der neueren deutschen Popliteratur, gehört mittlerweile zum Lesekanon der gymnasialen Oberstufe in deutschen Bundesländern. In diesem ersten Roman reist ein wohlstandsverwahrloster Erzähler quer durch ein Marken- und Partydeutschland in die Schweiz. Der zweite Roman 1979 (2001) spielt im Iran der Khomeini-Revolution und endet nicht, bevor der Erzähler, ein westlicher Decadent, seinen Frieden in einem chinesischen Arbeitslager gefunden hat. Das Buch wurde seinerzeit in der Harald-Schmidt-Show als prophetische Vorwegnahme der Ereignisse des 11. September 2001 gefeiert. Krachts dritter Roman Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten (2008) ist eine kontrafaktische Geschichtserzählung über die Schweiz als leninscher Sowjetstaat, nach 100 Jahren Krieg mit den faschistischen Achsenmächten Deutschland und England. Das Schweizer Feuilleton nahm sie mehrheitlich achselzuckend zur Kenntnis. Aber die Debatte um seinen aktuellen Roman Imperium (2012), in dem ein bis an die Grenze der Stilparodie epigonaler Thomas-Mann-Erzähler die Geschichte des Kokosnusspropheten August Engelhardt erzählt, war dann dank eines Kommentars des beim gleichen Verlag publizierenden Journalisten Georg Diez und eines anschliessenden Feuilletonsturms wieder so absurd, dass man beinahe hätte glauben können, sie sei von Kracht selbst inszeniert. So viel Aufruhr und Verschwörungstheorie mobilisiert zurzeit kein anderer deutschsprachiger und erst recht kein Schweizer Gegenwartsautor. Die folgenden Seiten widmen sich seinem Schaffen. �

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Essay

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...um der reinen Unterhaltung willen...

von Johannes Birgfeld und Claude D. Conter

Scheinwelten, Ironie und jede Menge Krieg: das Werk Christian Krachts wimmelt nur so von falschen Fährten, kaum sichtbaren Stolperfallen und Lockrufen interpretatorischer Abgründe. Warum es sich dennoch lohnt, die Lektüre zu wagen.

D

as Ausklingen des 20. Jahrhunderts begleitete Christian Kracht 1999 mit zwei Publikationen. In Berlin erschien im UllsteinVerlag die Aufzeichnung eines längeren, womöglich so nie geführten Gesprächs zwischen Joachim Bessing, Eckhart Nickel, Alexander von Schönburg, Benjamin von Stuckrad-Barre und Christian Kracht. Tristesse Royale war der Titel des Bandes, königliche Traurigkeit. Darin antwortete Kracht auf Alexander von Schönburgs Feststellung «Also ist Politik Scheinwelt. Mode ist Scheinwelt» sowie auf dessen Suche nach einer Lösung des Problems: «Es gibt noch einen anderen Ausweg, und das ist wiederum der Krieg.» Im gleichen Jahr verlegte die Stuttgarter Deutsche VerlagsAnstalt einen von Kracht herausgegebenen Sammelband mit Erzählungen: Mesopotamia. Ernste Geschichten am Ende des Jahrtausends. Auf dem Buchrücken prangte ein seither vieldiskutiertes Zitat von Jarvis Cocker: «Irony is over. Bye Bye.» In einem der wenigen Interviews, die Kracht gegeben hat, bat ihn im Juni 2000 der Tagesspiegel um eine Erläuterung seiner Replik auf Schönburgs Klage in Tristesse Royale: «Ich muss wohl eine Art Auslöschung gemeint haben, die Ausrufung eines Ausnahmezustandes: Zusammengekauerte Gestalten sitzen nackt am Strassenrand und ritzen sich beschämt mit Tonscherben die Arme auf, andere Menschen stolpern durch Städte auf der Suche nach Salz, das Kilo Rindfleisch kostet bei Spar in Berlin-Mitte 600 Mark.» Irony is over. Ironie bezeichnet als literarisches Verfahren im grundlegendsten Sinn eine Redeweise, wonach das Gegenteil des eigentlichen Wortsinns gemeint ist. Sie drückt Distanz aus – und einen Standpunkt besseren Wissens. Gegenüber der erzählten Welt und den in ihr gefangenen Figuren signalisiert sie neben einem quantitativen einen qualitativen Wissensvorsprung, über die eigentlich relevanten Einsichten zu verfügen, und sei es nur jene Johannes Birgfeld und Claude D. Conter sind Germanisten. Johannes Birgfeld ist Studienrat im Hochschuldienst in Neuerer deutscher Literaturwissenschaft an der Universität des Saarlandes. Zuvor unterrichtete er in Bamberg, Sewanee, Oxford und Saarbrücken. Claude D. Conter ist Direktor des Centre national de littérature in Mersch (Luxemburg). Sie sind die Herausgeber des Briefwechsels zwischen Christian Kracht und David Woodard, «Five Years» (Wehrhahn, 2011), und des Sammelbandes «Christian Kracht: Zu Leben und Werk» (Kiepenheuer & Witsch, 2009).

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von der Sinnleere der Welt, der manch Zeitgenosse ins Gesicht zu schauen sich nicht recht traut. Leser, die etwa Thomas Mann nicht schätzen, finden mitunter gerade dies besonders störend. Ein berühmtes Beispiel: «Ein einfacher junger Mensch reiste im Hochsommer von Hamburg, seiner Vaterstadt, nach DavosPlatz im Graubündischen. Er fuhr auf Besuch für drei Wochen. Von Hamburg bis dort hinauf, das ist aber eine weite Reise; zu weit eigentlich im Verhältnis zu einem so kurzen Aufenthalt.» Auf einer ähnlichen Route wie Hans Castorp im Zauberberg reist auch der Erzähler in Christian Krachts erstem Roman Faserland (1995): nicht exakt von Hamburg nach Davos-Platz, aber doch ähnlich genug von Sylt nach Zürich. Als er nach sieben von acht Kapiteln in der Schweiz ankommt, liegt eine unerquickliche Odyssee hinter ihm: Auf Partys und in Clubs in Hamburg, Frankfurt, Heidelberg oder München rauchend und trinkend durch eine Welt von Drogenrausch und Sex irrend, sind alle Bemühungen um Nähe und Kontakt zu Freunden und Bekannten gescheitert. In der Schweiz jedoch hellt sich die Stimmung umgehend auf: «Zürich ist schön. Hier gab es nie einen Krieg [...]. Die Bäume sind schön und manchmal rauschen sie, und das Bier, das schmeckt ganz anders.» Und wenig später: «Ich denke daran, dass die Schweiz ein so grosses Nivellierland ist, ein Teil Deutschlands, in dem alles nicht so schlimm ist. Vielleicht sollte ich hier wohnen, denke ich. Die Menschen sind auch auf eine ganz bestimmte Art attraktiver. Die Frauen haben so komische Himmelfahrtsnasen, und sie tragen alle Kleidung, die japanisch aussieht. Alles erscheint mir hier ehrlicher und klarer und vor allem offensichtlicher. Vielleicht ist die Schweiz ja eine Lösung für alles.» Die Schweiz als Utopie aber scheitert. Faserland endet, wie Thomas Manns Zauberberg, mit dem wahrscheinlichen Tod des Protagonisten. Der Abschied von Hans Castorp gleicht dabei im Ton seiner Begrüssung: «Fahr wohl – du lebest nun oder bleibest! Deine Aussichten sind schlecht; das arge Tanzvergnügen, worein du gerissen bist, dauert noch manches Sündenjährchen, und wir möchten nicht hoch wetten, dass du davonkommst.» Manns ironisch-distanzierter Erzähler entledigt sich seines Protagonisten, nur er selbst bleibt zurück. Kracht wählt einen anderen Weg: Sein Erzähler sucht vergeblich nachts auf dem Kilchberger Friedhof das Grab von Thomas Mann. Schliesslich beobachtet er einen


Christian Kracht, photographiert von Julian Baumann.

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Essay

Hund, und es scheint, als erleichtere sich der just auf Manns Grab. Dann geht es hinab zum See, er mietet ein Boot, «ob er mich auf die andere Seite des Sees rudern würde». Der Leser bleibt beim Erzähler, mit ihm steigt er ins Boot: «Bald sind wir in der Mitte des Sees. Schon bald.» Finis. Keine Distanz. Der Krieg 2008 erscheint Christian Krachts dritter Roman Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten. Er spielt im Jahr 2010, dem 96. Jahr des Weltkrieges, der 1914 mit der Ermordung des österreichischen Thronfolgers seinen Ausgang nahm. Der Roman entwirft eine Alternativgeschichte des 20. Jahrhunderts, in der eine Schweizer Sowjetrepublik als politische Grossmacht agiert – ein Entwurf, der für einmal Charles-Ferdinand Ramuz’ Beobachtung von der geringen politischen Bedeutung der Schweiz im Essay Besoin de grandeur umkehrt. Und doch bleibt alles allzu vertraut: der Rassismus, der Kolonialismus, die Bomben, der Antisemitismus, die Gewalt im Namen der Ideologie, der ewige Krieg, angebliche Wunderwaffen, die Vergeblichkeit der Weltverbesserung. Eine Vielzahl literarischer Texte wurde als direkt oder indirekt zitierte Quelle für die im Roman entworfene Welt ausgemacht, darunter Joseph Conrads Heart of Darkness (1902). Der Bezug liegt auf der Hand, doch Kracht variiert Wesentliches: Wie bei Conrad erweist sich in Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten der Auftrag, einen zwischen Genialität und Wahnsinn schwankenden Vertreter der Staatsmacht zu verhaften, als zentraler Auslöser der Handlung. Das Herz der Finsternis aber liegt bei Conrad im Zentrum Afrikas, im Kongo. Kracht kehrt die Bewegung um und schickt einen afrikanischen Parteikommissär aus Afrika in die Schweiz, erst nach «Neu-Bern», dann ins Réduit, das Zentrum der Macht, das in die Alpen gebaute Stollenwerk als Symbol Schweizer Wehrhaftigkeit. Deutsche Zeppeline bombardieren schliesslich die Alpenfestung, Europa scheint dem Untergang geweiht. Am Ende verlässt der Erzähler Europa und kehrt in die Savanne Afrikas zurück, dorthin, von wo einst die Eroberung der Welt durch den Menschen begann. Und er ist nicht allein: «Ganze Städte wurden indes über Nacht verlassen, und ihre afrikanischen Einwohner kehrten, einer stillen Völkerwanderung gleich, zurück in die Dörfer. Der Schweizer Architekt, der sie so sorgfältig am Reissbrett geplant und hatte erbauen lassen, reiste mit dem Luftschiff in die leeren urbanen Zentren Ostafrikas.» Und weiter: «Der Architekt, ein Welschschweizer mit Namen Jeanneret, stand machtlos und stumm im leeren Administrationsgebäude [...] und [...], nachdem er eine ganze Nacht alleine durch seine dunkle und menschenleere Schweiz gelaufen war, warf frühmorgens das Ende eines Seiles über eine von ihm selbst entworfene, stählerne Strassenlaterne und erhängte sich [...]. Er hing ein paar Tage, dann assen Hyänen seine Füsse.» Abtritt Le Corbusier und die Moderne. Irony is over. 10

Die Schweiz Die Schweiz ist nicht nur in Christian Krachts literarischem Werk breit präsent – in Faserland, Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten, in Tristesse Royale und in New Wave; die Kronenhalle und das Café Odeon besichtigen Kracht und Eckhart Nickel in Ferien für immer. Die angenehmsten Orte der Welt. 2008 ist Kracht Gründungsmitglied und Stiftungsrat der Zürcher Eiger-Stiftung, mit David Woodard präsentiert er Woodards «Dreamachine» im Cabaret Voltaire in Zürich. Es ist konsequent, dass Kracht 2012 die Dozentur für Weltliteratur an der Universität Köln zugesprochen wurde ebenso wie der Literaturpreis des Kantons Bern. Und Krachts Verhältnis zur Schweiz? Die Schweizer Literaturwissenschafter Franka Marquardt und Patrick Bühler haben gezeigt1, dass das verklärende Bild, das sich der Erzähler in Faserland von der Schweiz als Nivellierland bzw. als idyllisches Refugium für Deutsche entwirft, ein traditioneller Topos der Schweizwahrnehmung aus deutscher Sicht ist – ein Klischee also, keine Utopie, kein «Zion, the kingdom of Jah, the Mothership, die Arche eben», wie Kracht in New Wave im Gespräch Die Schweiz mit Joachim Bessing sein Vaterland bezeichnet. Der Protagonist in Faserland bekennt, als er von seinen Schullektüren berichtet: «Thomas Mann habe ich auch in der Schule lesen müssen, aber seine Bücher haben mir Spass gemacht. [...] Diese Bücher waren nicht so dämlich wie die von Frisch oder Hesse oder Dürrenmatt.» Es ist natürlich kein Zufall, dass der Schweizer Kracht diese Trias der Schweizer Literatur zum Vergleich heranzieht. Während Kracht sich allgemein zu Dürrenmatt zurückhaltend äussert und ihn mit Hermann Hesse eine Hassliebe verbindet, betont er gegenüber Frisch Distanz: «Ich habe Max Frisch ja leider nie gelesen» oder «Frisch ist mir leider völlig fremd geblieben». Eine Provokation? Wohl kaum. Eher dürfte, so muss es scheinen, die Idee, die Schweiz literarisch in eine kolonialisierende Sowjetrepublik zu verwandeln, Befremdungspotential bergen. Schliesslich wird Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten auf dem Buchrücken als «Der grosse Schweiz-Roman!» angekündigt. Doch das Réduit ist hohl, und auch wenn der Vierwaldstättersee erwähnt wird, ein Gründungsmythos wird nicht neu erzählt. Im Gegenteil: die SSR geht unter. Finis. Die Unterhaltung Christian Krachts Bücher stecken voller Verweise auf die Weltliteratur, auf Comics, Filme, Romane, Künstler, Philosophen, Gedichte, Songs. Für Germanisten könnten sie eine Lebensversicherung sein – wieder und wieder lassen sich neue Spuren entdecken, ausschreiten, vermessen und nach ihrer Christian Kracht. Zu Leben und Werk. Hg. v. Johannes Birgfeld & Claude D. Conter. Köln: Kiepenheuer & Witsch 2009.

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Bedeutung befragen. Der ungehemmten Recherchierlust aber steht dreierlei entgegen: Zum einen verrät Kracht gerne, meist direkt mit der Publikation, jene Texte, die Spuren hinterlassen haben. Zweitens lässt Kracht nicht nach zu betonen, dass er vor allem eines sein will: ein Unterhaltungsschriftsteller. Drittens schliesslich sind alle Romane Krachts, besonders der gerade erschienene, in der Südsee spielende, Imperium, wirklich ausgesprochen unterhaltsam, ja mitunter regelrecht lustig. Vielleicht also hat Kracht recht. Vielleicht ist er wirklich vor allem ein Unterhaltungsschriftsteller. Nur, was für einer dann genau? Eines ist gewiss: Kracht ist einer der literarisch avanciertesten Erzähler deutscher Sprache, spätestens seit Imperium, einem aus Stilimitaten und Handlungszitaten aus den verschiedensten Quellen des 20. Jahrhunderts komponierten Pastiche und zugleich einer urkomischen Parabel auf den notwendigen Untergang aller Utopien und Imperien. Die in Imperium auftretende Ironie ist eine auf dem Weg der Stilimitate geborgte, die sich nicht gegen den Protagonisten August Engelhardt selbst richtet, sondern gegen die literarische Tradition. Anders als Thomas Mann hat Kracht bisher keine seiner Figuren verraten oder im Stich gelassen. So komisch seine Romane sind, sie sind dabei zugleich zutiefst ernst. Krachts Texte sind Literatur und Parodie auf die Literatur zugleich, sie sind Abgesang auf die Welt und Simulation eines Abgesangs, sie sind Text und Pose im gleichen Atemzug. Und wozu das alles? In dem bereits zitierten, im Juni 2000 im Tagesspiegel publizierten Interview (das womöglich Kracht mit sich selbst geführt hat) findet sich eine Antwort: «Verstehen wir Sie richtig? Über Inhalte reden muss allein deshalb schiefgehen, weil schon so oft darüber geredet worden ist? – Ja, absolut. Das Sprechen über Inhalte ist zum Scheitern verurteilt. Man produziert immer nur Missverständnisse. – Führt dieser Blick auf das Leben nicht zwangsläufig in die Depression? – Nein, denn das Sprechen um der reinen Unterhaltung willen ist ja noch möglich: Vortäuschen, verstecken, Unsinn erzählen, das sind alles Mechanismen, die noch gut funktionieren.» Der Freund Vom Herbst 2004 bis zum Sommer 2006 erschien beim AxelSpringer-Verlag eines der ungewöhnlichsten Zeitschriftenprojekte der letzten Jahre. Von Beginn an auf acht Hefte begrenzt, zeichneten Eckhart Nickel und Christian Kracht als Herausgeber verantwortlich für die Literaturzeitschrift Der Freund. Sitz der Redaktion: Kathmandu in Nepal. Verkaufspreis: 10 Euro. Das Format war ungewöhnlich – gross und fast quadratisch –, das Papier angenehm dick und cremeweiss, der Satz grosszügig und abwechslungsreich (ein-, zwei- oder dreispaltig). Zeichnungen und Abbildungen ergänzten in grosser Zahl die abgedruckten Reportagen, Erzählungen, Essays. Das Themenspektrum war ungewöhnlich weit, das erste Heft etwa vereinte so unterschied-

liche Beiträger wie Rem Koolhaas, Moritz von Uslar, Albert Ostermaier, Rebecca Casati, Rafael Horzon, Vladimir Sorokin oder Jenny Erpenbeck. Sorokin präsentierte «Rezepte» für ein Bankett, für einen «Salat aus Neujahrsfotografien», für «Damenhandschuhe in Aspik», «Filzhutschinken» oder einen «Fahrradsattel im Pelz». Von Erpenbeck erschien hingegen die Erzählung Vater Mutter Kind, von Ostermaier das Gedicht Panik, Rem Koolhaas steuerte den Essay Junkspace. Eine ellenlange Analyse im übelriechenden Raum der Unzumutbarkeit bei. Wer die Hefte genau in den Blick nahm, für den hielten sie zudem kleine Geschenke bereit: Stets fand sich auf dem Heftrücken ein kurzes Motto – ein Filmtitel oder eine Songzeile –, ein zweites zierte die Innenseite des Rückumschlages, zudem enthielt jede Ausgabe eine Widmung (Dan Treacy, Christopher Reeve, Dave Eggers, Anne Frank, Benedikt XVI., Stanley Kubrick, Edie Bouvier Beale, David Lynch). Artikel wurden mit einer knappen Übersicht der nachfolgend diskutierten Themen eingeleitet. Im Kopf der Leser entstanden so Listen, die der Germanist Moritz Bassler als rhetorische Listen bezeichnet hat: Ihr Reiz liegt gerade darin, dass sie nicht Unterbegriffe zu einem Oberbegriff vereinen, sondern dazu auffordern, subtile Zusammenhänge erst zu entdecken oder zu konstruieren und die Verrätselung, die durch die nach Deutung rufenden Listen entsteht, als Form der ästhetischen Verdichtung zu geniessen, die wie in einem Gedicht neue Zusammenhänge erst erzeugt. Wer das Glück hat, alle acht Hefte des Freunds zu besitzen, wird sie nicht wieder hergeben wollen. Wer zudem ein regelmässiger Leser Krachts ist, der wird wissen, dass er auch mit dem Freund einen klassischen Kracht erworben hat: Der Freund ist eine Literaturzeitschrift, und er ist keine. Sein Design beeindruckt und ist doch, ohne jeden Versuch des Verbergens, entlang von Dave Eggers The Believer entwickelt. Einige Beiträge sind unter falschem Namen geschrieben, andere sind von ihren Verfassern in jeder Hinsicht ernst gemeint. Das Verweissystem der Hefte erzeugt poetische Verdichtung und verweist doch auf nichts. Vielleicht lautet die Grundannahme der Arbeiten von Christian Kracht in der Tat, dass das Sprechen über Inhalte scheitern muss und dass nur noch «Vortäuschen, verstecken, Unsinn erzählen» als Optionen bleiben. Wenn man weiter die Rede vom Ende der Ironie einmal ernst nimmt, also den Verzicht auf einen überlegenen Standpunkt, dann entsteht eine ganz eigene und ganz zeitgemässe Literatur: Sie erzählt mit aller Radikalität vom Ende der Illusionen, sie stellt sich in keine Distanz zu dieser traurigen Bilanz, sie weiss keinen Ausweg – ausser dem des ästhetischen und intellektuellen Vergnügens des Vortäuschens, des kunstvollen und offengelegten Fälschens, der lustvollen Übertreibung, des Unsinns, des Vergnügtseins inmitten des Abgrunds. Auf die Schweiz darf man neidisch sein, dass ein Autor, der das beherrscht, ihren Pass besitzt. � 11


Primärtext

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Imperium

Bisher unveröffentlichtes Ende von Kapitel XIII von Christian Kracht

Der Nürnberger Apothekersohn August Engelhardt reist zu Beginn des 20. Jahrhunderts in die Südseekolonie Deutsch-Neuguinea, um dort eine Kokosplantage zu betreiben. Die Kokosnuss, so glaubt Engelhardt, sei eine göttliche Frucht, von ihr ausschliesslich könne und solle sich der Mensch ernähren, um wahre Erfüllung zu finden. Aus dieser Überzeugung leitet er eine neue Form des Lebens ab, den «Kokovorismus». Schon bald stossen seine reformerischen Ideen auch im fortschrittsmüden Deutschland auf offene Ohren – und Engelhardt bekommt Besuch…

I

n dieser Zeit, in der nichts geschehen will, so dass man abwartet, was am Horizont dräut, tauchen unvermittelt zwei deutsche Kunstmaler in Rabaul auf; die Herren Emil Nolde und Max Pechstein. Beide haben herkömmlichen Sicht- und Malweisen abgeschworen und empfinden sich als Erneuerer eines im vorigen Jahrhundert stehengebliebenen, hoffnungslos antiquierten Kunstbegriffs, ja, vor allem die Franzosen und ihre verkopften, windelweichen Klecksereien gilt es zu überwinden. Pechstein trägt jeden Tag kurze Hosen. Sie werden herumgereicht, es dreht sich das Karussell der Empfänge und Abenddarbietungen, tagsüber zieht sich Nolde meist ein paar hundert Meter in den nahen Urwald zurück, um einige, mit heftigem Strich geführte Skizzen anzufertigen. Pechstein fährt, als er sich zu langweilen beginnt, sich empfehlend mit dem Dampfer Richtung Palau, während Nolde, als ihm seine Zigarren ausgehen, nach Kabakon übersetzt, da er gehört hat, dort drüben wohne ein Deutscher im Zustand der Umnachtung, dieser sei aber harmlos und führe das einfache Leben eines nackten Eingeborenen. Man versteht sich, so gut es eben geht, und spricht über die zukünftigen Möglichkeiten der Kunst – Engelhardt klagt seine alte Litanei, dass es wohl sein Schicksal sei, unverstanden zu sterben, vergessen, spurlos. Nolde nickt verständnisvoll, sagt, daran seien doch wohl die Juden schuld, und bittet, einer plötzlichen, heftigen Eingebung folgend, ihn in Öl malen zu dürfen, am Strand unter einer orangeroten Abendwolke sitzend, eine Schneckenmuschel, halb zum Horn erhoben, in der daumenlosen Hand; nun ist Engelhardt wirklich Kunstwerk geworden. Das Gemälde geht zwar in den Wirren des Ersten Weltkriegs verloren, aber wiederum fünfzehn Jahre später wird sich Nolde, der sich selbst inzwischen gedanklich zum ersten Volksmaler der neuen Machthaber stilisiert hat, an das Bild erinnern und eine Skizze aus der Erinnerung anfertigen, und beginnen, anhand dieser Zeichnung

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das Ölportrait von Engelhardt erneut zu malen; ohne Hast, mit ausführlicher Farbendeckung entsteht diese Tafel, es ist wohl, so sagt er sich, sein bestes Werk. Als es fertig ist, lädt er Gauleiter Hinrich Lohse zum Tee mit Kluntjes nach Seebüll, man versichert sich gegenseitiger Hochachtung, der Künstler führt den Politiker in sein Atelier, und während Ada Nolde ein Tablett mit Aquavit und Pils hereinbringt, inspiziert Lohse, stümperhafte, langgezogene Oohs und Aahs von sich gebend, die Arbeit, setzt sich hin, steht wieder auf, schluckt ein Glas Schnaps, geht um die Staffelei herum, sich dabei eine mentale Notiz machend, den Maler sobald als möglich bei der Reichskulturkammer anzuzeigen. Nolde bringt den leicht Angeheiterten zur Tür, man schüttelt einander lange und innig die Hände. Man versagt Lohse, der später Reichskommissar Ostland werden und in Riga, Wilna, Minsk und Reval viehisch herrschen wird, nach dem Kriege zu seiner Bestrafung lediglich die Pensionsbezüge. Gegen die verfemten Pechstein, Tappert, Schmidt-Rottluff, Kirchner, Barlach, Weber, die freilich über grösseres Talent verfügen als Nolde, hat er jahrelang erfolgreich intrigiert, es nützt nichts, man belegt ihn ebenfalls mit Pinselverbot, räumt die Museen aus, zerstört ein paar Bilder, bis es jemand in der Reichsstelle für Aussenhandel dämmert, wie viele Schweizer Franken man für die Klecksereien (im Grunde, so sagt man, ausgedehnt aneinandergereihte Farbflächen, in denen manchmal ein Mund oder ein Hund zu erkennen ist, manchmal eine Wolke, Blumen, selten eine Menschengruppe – ein Kind hätte so malen können) erzielen kann, und so werden diejenigen Gemälde, die man nicht vernichtet hat, ins Ausland verkauft. Das zweite Portrait August Engelhardts geht an einen privaten Sammler in Mexiko-Stadt, in dessen Haus es bis heute hängt, über einer Anrichte, auf der in einer Vase jeden Tag frisch geschnittene Rosen verblühen. Nolde, der er, seit er denken kann, gegen die Juden propagiert und der davon überzeugt ist, seine Malerei sei die Speerspitze einer neuen teutonischen Ästhetik, kann es sich nicht erklären, dass seine Bilder derartig nicht in die neue Zeit passen. Er verfällt in eine tiefe Depression, malt heimlich, wartet ab, wie so viele Opportunisten seiner Zeit, bis zum Finis Germaniae. �

Christian Kracht ist Schriftsteller und lebt in Kenia. Zuletzt von ihm erschienen: «Imperium» (Kiepenheuer & Witsch, 2012). Der vorliegende Textabschnitt wurde von Christian Kracht aus der deutschen Ausgabe des Buches gestrichen. Er erscheint hier erstmals. Erschienen ist «Imperium» auch als Hörbuch bei Roof Music, gelesen von Dominik Graf. Die «deutsche Südseeballade» wird ausserdem bald verfilmt. Wir danken Christian Kracht für die freundliche Abdruckgenehmigung.

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Essay

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Der Rivellatrinker

Eine Begegnung mit Schriftsteller Christian Kracht kann so ziemlich alles sein. Diesmal war es zuerst eine Flucht, dann ein bibliophiler Ausflug nach Nepal und schliesslich ein Gespräch über die Hoffnung darauf, dass Ascona bald um eine Skurrilität reicher ist. von Michael Wiederstein

E

r bläst das Gespräch gleich ab, denke ich. So angespannt ist er. Der 45jährige im blauen Poloshirt mustert mich kritisch, sieht sich kurz um, dann streicht er sich die lange blonde Haarsträhne aus der Stirn, die auf den kostenlosen Verlagsphotos neuerlich so schön inszeniert ist, steckt sich eine Mentholzigarette der Marke «Salem» an und lehnt sich zurück. Christian Kracht ist nicht nur begehrter Schriftsteller, sondern während seines Besuchs der Solothurner Literaturtage ein noch begehrteres Photomotiv. Doch von dem Rummel und Blitzlichtgewitter um seine Person hält er nichts: Anlässlich seiner Lesungen im Jahr 2012 war das Photographieren untersagt, Videos gab es schon gar nicht. Der Photograph, der Kracht bis vor wenigen Minuten in der Manier eines Paparazzo belästigte, hatte für Krachts Pochen auf Privatsphäre kein Verständnis. Auch nach mehrmaligem Hinweis seitens des Schriftstellers, die Kamera aus seinem Gesicht zu nehmen, tanzte er weiter um Kracht herum, drückte ab, knipste verwackelte Serien. Kracht drehte sich um, wollte den Schauplatz verlassen, hob schützend den Arm, versuchte irgendwann, den penetranten Herrn wegzuschieben – vergeblich. Er wurde dafür beschimpft. Kracht zeigte Nerven, fluchte zurück. Irgendwie surreal, geht’s doch um einen Autor, um einen, der schreibt. Nun sitzt er mir gegenüber, Rivella trinkend und endlich auch freundlich lächelnd. Der lästige Herr mit dem Objektiv ist verschwunden, lamentierend, aber mit einigen unscharfen Schüssen, die er über eine grosse Onlineplattform verkaufen will. Was zählt, ist das Resultat, die Trophäe, in diesem Fall das Photo einer Literaturikone. Das Portrait eines Phänomens. Ein Eskapist sammelt Eskapisten Christian Kracht gibt seit Jahren kaum noch Interviews. Er will nicht Gegenstand sein, will nicht

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pathologisiert werden. Zuletzt geschehen ist solches im Frühjahr dieses Jahres, als der Spiegel einen Artikel über ihn veröffentlichte, um ihn als «Türsteher der rechten Gedanken», was immer das sein mag, zu verunglimpfen. Der Briefwechsel Krachts mit dem Künstler David Woodard, der dem Journalisten Georg Diez zur «Beweisführung» diente, dreht sich dabei nicht um verquere Rassisten, wie Diez suggerierte, sondern um gesellschaftliche Aussenseiter, Eskapisten, also Konsensverweigerer aller Couleur – ganz abgesehen davon, dass es hier ebenfalls um Literatur geht, also um die Freiheit der Kunst, deren Instrumentalisierung übereifrige Publizisten gerne für eigene PR-Zwecke betreiben. Insgesamt war die Diskussion eine leidige Geschichte, definitiv nicht auf der Höhe des literarischen Werks. Oder besser: da ist einer dem raffinierten Schaffensmodus eines begabten Autors aufgesessen. Die Collage von Themen und Personen, mit der wir es (auch) im Briefwechsel zu tun haben, ist eine Leidenschaft Krachts: Da finden sich der Beat-Schriftsteller William S. Burroughs neben Satanist Aleister Crowley und UndergroundFilmemacher Kenneth Anger neben Theaterpunk Christoph Schlingensief. Auch die Herren Nietzsche und Wagner tauchen auf, die Beatles oder Kim Jong Il sind ebenfalls mit von der Partie – nicht zu vergessen: Dick Cheney, den David Woodard zur finanziellen Unterstützung der Rassistenkolonie «Nueva Germania» in Paraguay gewinnt. Es sind die Radikalen, die Genialen, die Ideologen und auch die Totalitären. Krachts Zugang zum Gegenstand ist entscheidend, wird aber ebenfalls von Diez verschwiegen: nicht nur dem Genialen, sondern auch dem Durchideologisierten und dem Totalitären nähert man sich am besten mit Humor und durch Hochregeln des Kontrasts, nur so wird bei letzteren die absurde Dimension greifbar, offenbart sich ihre Lächerlichkeit.


Der zitierte Briefwechsel dokumentiert die Korrespondenz Woodards mit Kracht zwischen 2004 und 2009. Zu Beginn dieser Zeit gibt Kracht gemeinsam mit dem Journalisten und Schriftsteller Eckhart Nickel von Kathmandu, dem Dach der Welt, aus die Zeitschrift Der Freund heraus, ein literarisches Sammelsurium, das noch andere, aber ebenso irrlichternde Geister wie Kurator Hans Ulrich Obrist neben Alpinist Reinhold Messner, die Schriftsteller Julia Franck und Alban Nikolai Herbst neben Grünen-Politiker Rezzo Schlauch versammelt. Zu den Illustratoren gehörte auch das schweizerische Künstlerduo Fischli & Weiss. David Woodard ist als Autor dabei. Der Künstler ist eine der streitbarsten Ikonen im Heft, zeichnet sich aber hier eher durch seine kunsttümelnde Absonderlichkeit aus als durch irgendeine politische Gesinnung. Die Kathmandu Library Mir gegenüber sitzt in diesem Moment also keineswegs ein ultrarechter Ideologe, sondern ein ziemlich sensibler Herr, der sicher zu viel raucht und einfach gut im Aufstöbern und Collagieren von Skurrilitäten ist. Wir unterhalten uns über die Schweiz, über das hässliche Berlin, aber vor allem über seine Zeit in Kathmandu, genauer: über die Redaktionsräumlichkeiten im «Hotel Sugat», die nur aus einem Laptop, einem Bett und einer eigens angelegten Bibliothek bestanden, der Kathmandu Library1. Sie ist auch so ein Beweis für Krachts kombinatorisches Händchen: zusammengetragen aus den wenigen Second-Hand-Buchhandlungen Kathmandus, angeblich jeden Tag ein neues Buch. Ein Asyl für die Restbestände der Trekker, die Nepal bereisten und vor dem Rückflug ins richtige Leben ihre Schinken – ursprünglich zur Überbrückung von Wartezeiten an der Bushaltestelle oder im Basislager gedacht – aus dem Rucksack nahmen und liegen liessen. Man hat es bei dieser Library mit einem destillierten Panorama der Reise- oder besser Eskapismusliteratur des 20. Jahrhunderts zu tun. Wiederum sammeln sich hier Aussenseiter, schrille Typen, jedenfalls ambivalente Existenzen. Wir treffen natürlich den eben erwähnten Burroughs wieder, machen aber auch Bekanntschaft mit Hunter S. Thompson, Christopher Isherwood, Jack Kerouac, Hermann Hesse und Hergé. Auch Henry-David Thoreau steht im Regal: Sein Walden, ein Klassiker der Aussteigerliteratur, steht direkt neben Homo Faber von Max Frisch, dem Kracht aber nach eigenen

Angaben nichts abgewinnen kann. Insgesamt, so Kracht, kommt die Library auf über 800 Werke, die sich über die Jahre angesammelt haben. Was damit passiert ist, nachdem es den Freund nun schon länger nicht mehr gebe, will ich wissen. Das Redaktionsbüro in Kathmandu sei vor wenigen Wochen von Eckhart Nickel geräumt worden, erfahre ich. Noch fällige Mietzahlungen wurden durch die Übereignung von Arbeitsmaterial (Laptop, Bett, Poster, Post-its) gemindert, die Bücher habe man aber nicht abgeben wollen. Also hat man sie ausfliegen lassen. In einem Container der Qatar Airways, nun sicher gelagert am Flughafen Frankfurt am Main. Und eine potentielle neue Heimat haben die Bücher auch schon gefunden: das Tessin. Auf nach Ascona! Die altehrwürdige Libreria della Rondine in Ascona soll es sein. 1946 eröffnet von Leo Kok, einem Pianisten und Komponisten aus Amsterdam, in der Casa Serodine an der Piazza San Pietro unweit des Borgos. Schon seit Jahren gestaltet sich der Betrieb der Libreria als schwierig, neuerdings steht sie zum Verkauf. Kracht sei ja noch nie in Ascona gewesen, beteuert er, aber er sei interessiert daran, das Antiquariat zu kaufen. Ob sein Geld für Geschäft und Auflagen reicht, kann Kracht heute nicht sagen, die Verhandlungen aber laufen. Nach der Lektüre von Imperium darf man behaupten: Ein besserer Ort als Ascona lässt sich für die Kathmandu Library und ihre versammelten Eskapisten kaum ausdenken. Zwar spielt die Südseeballade mehrere Tausend Kilometer entfernt vom Borgo, trotzdem ist die Menge an Verweisen auf den Monte Verità regelrecht erdrückend und die Riege an Exzentrikern, Aussteigern und Industrialisierungsverweigerern dort so prominent wie sonst wahrscheinlich an keinem Ort der Welt: Anarchisten, Revoluzzer, Künstler, Vegetarier und Einsiedler bevölkerten Ascona um die letzte Jahrhundertwende. Eines der prominentesten Zentren der Lebensreform entsteht um 1900, als vier weiss gewandete Weltverbesserer auf der Suche nach einem natürlicheren Leben den Hausberg Asconas für den Spottpreis von CHF 150 000 erwerben. Die kleine Libreria kostet auf 10 Jahre gepachtet heute etwa zwei Drittel davon, erfahre ich. Kein Schnäppchen, aber trotzdem: 1 Eine unvollständige Liste der Bücher findet sich auf www.derfreund.com/library.php

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Essay

Ascona wäre ein guter Ort für Krachts Bücher aus Kathmandu. Die Libreria ohnehin, dieses verwinkelte Buchparadies mit seinen engen Treppen, alten an die Wand genagelten Landkarten und staubigen Winkeln. Christian Kracht nippt an seinem Schweizer Kaltgetränk und kratzt sich am neuen, buschigen Bart. Den Erhalt der Libreria und der Kathmandu Library einer Stiftung oder dem Kanton Tessin zu überantworten, liegt ihm fern. Zu viel bürokratischer Aufwand. Ein «Guesthouse» wie das «Hotel Sugat» könne es werden, das sich dank Mundpropaganda bald einer gewissen Beliebtheit erfreue. Einzig: Gäste beherbergen und zwischen den Büchern schlafen, glaubt Kracht, könne man in der jetzigen Libreria wohl nicht. Schade, denn die Gäste könnten immerhin jeden Tag ein neues Buch hinzufügen, statt anderweitig für ein Obdach zu bezahlen – wie damals in Kathmandu. So weit die Idee. Ich schlage ihm vor, dass wir uns einmal in Ascona treffen, er sei ja nie wirklich dagewesen. Er nickt. Und überhaupt, meint Kracht, die Libreria und Ascona seien ja Gesprächsstoff für mehrere Interviews. Er schlägt vor, das Gespräch als Mailwechsel über die kommenden Monate zu vertiefen, ein gutes Schweizer Thema. Christian Kracht löscht dann bald die letzte Zigarette und verabschiedet sich, nicht aber ohne mir noch ein Kompliment für meine Schuhe zu machen. Die, so wird man anderntags bei mehreren grossen Schweizer Tageszeitungen lesen, waren ausschlaggebend dafür, dass er sich überhaupt zu mir setzte. Dann verschwindet er gutgelaunt in den Gassen Solothurns. Und wird – wie er mir später schreibt – dort dem lästigen Photographen noch einmal begegnen.

wer sie eigentlich sind. Die Lebensreformer sind eine Art Popphänomen geworden, noch bevor sie sich Kracht in Imperium zur Brust genommen hat, überlege ich. Ob das ein notwendiges Kriterium ist, um in seinen literarischen Collagen von Faserland bis Imperium eine Rolle zu spielen? Und dann kommt Kracht plötzlich noch einmal zurück, legt ein signiertes Exemplar von New Wave auf den Tisch, seinen Reportageband mit Texten aus der Zeit zwischen 1999 und 2006. Auf der ersten Seite des Paperbacks steht mit Kugelschreiber geschrieben: «Les meilleures interviews sont fait en silence.» Er greift die eben vergessene, beinahe noch gefüllte Flasche Rivella, verabschiedet sich nochmals, haucht ein «Salü», dann ist er wirklich verschwunden. Vielleicht nach München ans Set von Finsterworld. Der Film, ein «verstörender Blick auf die deutsche Gesellschaft», der in einem Nachdenken über die Gemeinsamkeiten der «Todesmaschinen Autobahn und Holocaust» wurzelt, entsteht unter der Regie seiner Frau und nach seinem Drehbuch. Er kommt 2013 in die Kinos. Als Tragikomödie, versteht sich. �

Keine Schublade für Herrn Kracht Ja, dass ein kulturelles Phänomen eine Art Ikon-Zustand im kollektiven Gedächtnis der Leser eingenommen hat, ist eine Voraussetzung für das Gelingen von Christian Krachts Texten.

Photos und Ikonen Auch der Maler Emil Nolde, von dem Kracht ab S. 12 dieser Ausgabe erzählt, kannte den «Berg der Wahrheit» wohl nur vom Hörensagen. Er schickte eine junge Tänzerin zu Rudolf von Laban, Begründer des Deutschen Ausdruckstanzes, der auf dem Monte Verità in den 1920ern eine Sommertanzschule betrieb, als alle anderen Reformer schon die Segel in Richtung Südsee gesetzt hatten. Mary Wigman erlebte in Ascona den Durchbruch, bis heute kann man dort Photokarten von ihr kaufen. Die echten Renner für nostalgische Busreisetouristen zeigen die Künstlerin stets leicht bekleidet. Ihr und Herrn von Laban, abgelichtet nebst drei mehrheitlich nackten, mit ihm tanzenden Schülerinnen am Ufer des Lago Maggiore, ist es zu verdanken, dass Ascona globale Berühmtheit erlangte, ja ein Synonym für Lebensreform und Aussteigertum wurde. Heute werden ihre Posen und ihr reformerischer Habitus per Post verschickt, ohne dass jemand wüsste, 16

Er katalysiert die oftmals hinter Chiffren versteckten Versatzstücke aus den verschiedensten Genres und Sachgebieten. Er kombiniert Ikone aus Hoch- und Subkultur zu einem eigenständigen und neuartigen Ganzen, das für jeden Betrachter einen eigenen Sinn oder Unsinn ergibt. Empfinden wir es als kommensurablen Unsinn, so nennen wir das auf eine erste Weise «Pop»: schlicht deshalb, weil es scheinbar leicht und lose, gut konsumierbar und ansprechend, vielleicht auch einmal infantil und derb daherkommt. Immerhin: es ist unterhaltsam. Was für die einen Leser flach, oberflächlich oder eben als blosser Unsinn daherkommt, kann mit dem jeweils passenden Hintergrundwissen aber auch im Kopf die Sektkorken knallen lassen. Für viele Leser geht aus dem Geflecht aus historischen, zeitgenössischen und sonstigen Referenzen nämlich gerade die Schönheit, ja eine ganz eigene Art der Literatur hervor. Diese Leser haben stets vom einen oder anderen, vielleicht


auch von allen Themen oder Personen aus Krachts Welt

sierung ihrer Protagonisten – und neuerdings auch

schon irgendwo gehört. Durch Lesen, durch Hören,

gleich der Autoren – soll nicht nur unser Lesen er-

durch Sehen, durch Er-Leben; im Geschichtsunterricht,

leichtern, sondern gleichzeitig und zunehmend auch

im Radio, im Fernsehen, in der eigenen Biographie.

unser Boulevardbedürfnis befriedigen. Die Bequem-

Je mehr sie wiederentdecken, desto höher der Genuss.

lichkeit der oben genannten Zunft hat dafür gesorgt,

Das ist dann die positiv konnotierte Popliteratur, wie sie

dass – im Gegensatz zur «Pop Art» im Kunstbetrieb –

Kracht in Abwandlungen schon länger perfektioniert:

sich das Label «Popliteratur» nicht zu einem Hoch-

Sie ist parteiisch und will recht behalten, korrespon-

wertbegriff weiterentwickeln konnte. Ihm haftet bis

diert auf mannigfache Weise mit dem eigenen, angeeig-

heute das Belanglose an, weil man die Schublade zu

neten Wissen. Wer in den vollen Genuss von Christian

voll gemacht hat.

Krachts Verweisliteratur kommen will, darf, so sehen

Christian Kracht ist, ganz leise und von vielen

wir, weder ausschliesslich germanistischer Sesselfurzer

Kritikern bis heute gern ignoriert oder diffamiert,

noch bloss weltgewandter Yuppie sein. Vielleicht hat

längst eine Ikone dieser Literatur im deutschsprachigen

Kracht beim Schreiben vielmehr das Leserideal eines

Raum geworden. Mit innovativen Texten, die immer

literarischen Weltbürgers im Kopf. Einen 35 Jahre alten

wieder eine Art Scharnierfunktion zwischen Hoch-

Thomas Mann des 21. Jahrhunderts vielleicht, der öfter

und Subkultur übernehmen. Dank der zunehmenden

auf Sylt war als an der Kurischen Nehrung.

Perfektion dieses Spagats ist es mittlerweile so,

Eine ganze Zunft von Wissenschaftern, Journalis-

dass Kracht die mit ihm in einer Schublade sitzende

ten und Lesern ist beim Label «Popliteratur» hängen-

Konkurrenz weit überragt. Dies übrigens mit allen

geblieben, benutzt es als Schublade für gefällige und

Vor- und Nachteilen für den feinen und zurückgezogen

selbstgenügsame Produkte, die sonst nirgendwo so

lebenden Autor selbst – aber zum uneingeschränkten

recht hinpassen. Eine geradezu chronische Pathologi-

Vorteil für uns Leser. �

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Essay

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Die Sache mit der Sauberkeit

Warum es zwischen Kreuzlingen und Göschenen keinen Popjournalismus mehr gibt. Eine Abrechnung von einem, der die wichtigsten Schweizer Redaktionen von innen kennt. von Christof Moser

V

or drei Jahren suchte eine Magazin-Journalistin nach Liftgeschichten. Es sollte um Begegnungen im Fahrstuhl gehen. Bestenfalls Sex. Um Gefühle der Beklemmung und den Klassiker: das Steckenbleiben. Ich erzählte ihr, wie ich in Teheran nach einer Party mit jungen Iranern betrunken und bekifft im Hotelaufzug stecken blieb. Gefangen auf 2x2 Metern, in einem isolierten Staat, der Konsumenten bewusstseinserweiternder Substanzen mit dem Tod bestraft. Ich kaute auf dem Kaugummi, den mir die iranischen Freunde beim Abschied in den Mund gesteckt hatten, um meine Fahne zu verschleiern, und schied hyperventilierend aus dem Bewusstsein. Ein paar Wochen später stand die Geschichte im Magazin. Das Kiffen kam darin nicht vor. Der Chefredaktor finde, sagte mir die Journalistin, Cannabis schade der Reputation des Berufsstands.

Christof Moser ist Bundeshauskorrespondent und Medienkritiker der Zeitung «Der Sonntag» sowie Redaktionsleitungsmitglied der Informationsplattform «Infosperber».

Den Rausch der Gefühle, das eigene Empfinden in seiner radikalen Subjektivität in Worte fassen. Sich in Geschichten auflösen, das Ich auflösen im Wir. Bestenfalls erbarmungslos scharfe Beobachtungen, die auch Selbstentblössung nicht scheuen. Autoren, die sich nicht zu schade sind, so weit zu gehen, bis es schmerzt und schmutzig wird, die flüchtige Momente festhalten, in denen das grosse Ganze aufblitzt. Das ist Popjournalismus. Literarischerzählerisches Chargieren mit den Leitdifferenzen zwischen Fakten und Fiktionen, zwischen Objektivität und Subjektivität kann Teil davon sein. Die Weltwoche war das letzte Schweizer Blatt, das den Zeitgeist auf bedruckten Seiten bändigte. Der Zeitpunkt, an dem sie sich davon verabschiedete, lässt sich nicht präzis bestimmen. Viele sahen ihn 2003 mit dem Wahlaufruf für die SVP gekommen. In den Jahren davor und auch noch danach blühte der Popjournalismus, die Weltwoche war der Hype.

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Albert Kuhns Popkritiken. David Signers ethnologische Expeditionen. Die Listen von Mathias Plüss. Eugen Sorgs Suche nach dem Bösen, seine erotische Vorliebe für das Wilde. Die leichte Feder von Bruno Ziauddin. Alles veredelt von Andreas Wellnitz, der die Artikel mit Bildern remixt, und Ingolf Gillmann, dem Textgott. Das Team um Roger Köppel liess einen Hauch von Tempo-Gefühl aufkommen. Tempo war das Mutterschiff des Popjournalismus. Marc Fischer schrieb dort zum Beispiel die unfassbar anmutig erzählte Geschichte darüber, wie er mit Topmodel Kate Moss einen Nachmittag in ihrem Pariser Hotelzimmer verbrachte. Das war 1995, ich 16 Jahre alt, und diese Geschichte mein erster journalistischer Feuchttraum. Jeden Monat holte ich mir Tempo am Dorfkiosk, etwas verschämt, den Nackten auf den Titeln wegen oder Zeilen wie: «Wie wichtig ist der Penis?» Der Journalist in mir erwachte mit Tempo. So war das bei vielen Journalisten meiner Generation. 1995 ist auch das Jahr, in dem Christian Kracht seinen Debütroman Faserland veröffentlicht. Gut zehn Jahre später, von 2004 bis 2006, gibt Kracht dann mit Der Freund das neue beste Magazin aller Zeiten heraus. Finanziert von Axel Springer, der Redaktionssitz in Kathmandu, Nepal. Womit auch bewiesen wäre: Hohe Berge und Popjournalismus schliessen sich nicht zwingend aus. Die Geschichte von Marc Fischer und Kate Moss ist eine der letzten Tempo-Geschichten. Es kündigen sich ernstere Zeiten an, für den Journalismus, überhaupt. Der Zeitgeist verändert sich. Tempo bleibt seltsam schrill, der Popjournalismus entdeckt seine konservative Seite. 1996 gehen in der Hamburger Redaktion die Lichter aus, und der Popjournalismus ist überall. Feuilletons deutscher Zeitungen prügeln sich um poppige Autoren. Köppel bringt als MagazinChef Popjournalismus 1997 in den Schweizer


Mainstream. Katapultiert den Geist des Schweizer Magazin-Journalismus, geprägt von grossen Namen wie Laure Wyss oder Niklaus Meienberg, in die flimmernde Gegenwart. Namen, die schon Popjournalismus machten, als er noch einfach «aufregender Journalismus» hiess. Köppels frischer Wind inspiriert die damals etwas angestaubte Weltwoche zu ihrem legendären Experiment, sechs Journalisten mit sechs verschiedenen Drogen zu versorgen und schreiben zu lassen. Im Jahr 2000 stolpert Roger Köppel fast über die gefälschten Texte von Tom Kummer, ein Jahr später übernimmt er die Weltwoche und konsolidiert den Popjournalismus als Stosstrupp des konservativen Eskapismus. Nein, Popjournalismus ist nicht nur Sex, Drogen, Innerlichkeit. Popjournalismus ist auch Politik. Geld. Geschwätz. Egoshooting. Scheitern. Popjournalismus ist eine Momentaufnahme, ein Spiegelbild der Gesellschaft, die sich in seinen Protagonisten erkennen kann. Und Popjournalismus würde, gäbe es ihn noch, die guten Fragen stellen, zum Beispiel diese hier: Wieso hat eine ganze Generation junger Schweizer Journalisten das Fühlen verlernt? Und warum lassen sich die Alten alle kaufen? 2006, als das Magazin Stil mit Haltung zu verwechseln beginnt, räumt Peer Teuwsen, der heute den Schweiz-Seiten der Zeit soliden Glanz verpasst, für Finn Canonica das Feld als Chefredaktor, der fortan ein Blatt verantwortet, das besser zu seinem Vornamen passen würde, mit dem er bei Tamedia im internen Telefonverzeichnis zu finden ist: Marco. Harmlos und bünzlig ist das Magazin unter Canonica geworden, versessen auf Kinder und Kindererziehung und dieses allgegenwärtige Abfeiern der Kunst des schönen Lebens, weit weg von Dringlichkeit und Dreck. Das Magazin verwurstet das linksliberale Zürcher Leitmotto «Erlaubt ist, was nicht stört» in gepflegte publizistische Langeweile. Kürzlich brachte das Zeit-Magazin eine sehr aufwühlende, sehr explizite Geschichte über junge Palästinenser, die sich in Tel Aviv als Stricher verdingen. Canonica quittierte die Geschichte der Konkurrenz intern mit einem «Pfui». Derselbe Finn Canonica dachte jüngst bei Facebook darüber nach, das Leben am Zürichberg, im Zürcher Seefeld, führe womöglich zu einer selbstreferenziellen Wahrnehmung der Welt, abgeschottet von der Realität. Damit bringt er das Magazin-

Problem ziemlich präzise auf den Punkt. «Es ist die Kauf-, nicht die Überzeugungskraft der Babyboomer, die das Antlitz der Gesellschaft verändert», schrieb Frank Schirrmacher. Die Magazin-Macher sind wie auf Eis gelegte, schlecht gewordene Austern, an denen keiner mehr schlürft. Die Sache mit dem Ich. Der Wirrniss aus Wahrheiten, Teilwahrheiten und Lügen, der Heuchelei, an der die Welt zugrunde geht, ein trotziges Ich entgegensetzen ist die Sache der Schweizer Journalisten nicht. Eine ganze Generation junger Journalisten macht Journalismus wie Banken ihre Finanzgeschäfte: kühl berechnend im Hintergrund, ohne eigenes Risiko. Die Sache mit dem Geld. Eine ganze Generation altgedienter Journalisten verschachert den Journalismus meistbietend. Walter de Gregorio, einst bester Interviewer im Land, schwindelt für Fifa-Chef Sepp Blatter seine ehemaligen Kollegen an. Jetzt wird ein Fifa-Magazin geplant, mit an Bord ist Christian Kämmerling, Erfinder des SZ-Magazins. Finn Canonica verzichtet lieber auf Reportagen, als dass er seinen Bonus riskieren würde, der an die Einhaltung des Magazin-Budgets gebunden ist. Die Sache mit der Sauberkeit. Daniel Ryser, einst poppiges Aushängeschild der WOZ, beim Magazin im grossen, schwarzen Nichts verschwunden, Träger eines Gonzo-Tattoos auf dem linken Oberarm, hat kürzlich in einer Reportage über das laotische Backpacker-Paradies Vang Vieng, die als Geschichte zehn Jahre zu spät gekommen ist und deshalb als Abgesang auf die Ära des Popjournalismus gelesen werden muss, den Sauberkeitswahn seines Vorgesetzten geradezu brillant karikiert. Ryser sitzt im Dunst des feuchten Dschungels, eine qualmende Opiumpfeife in der Hand, als sein Chef anruft: «Wie läuft es im Dschungel?», fragt er. «Ich kann grad nicht reden.» «Warum?» «Weil ich gerade Opium rauche.» «W ie bitte? Das geht nicht! Und das hat mit der Geschichte nichts zu tun. Komm sofort nach Hause!» Warum es in der Schweiz keinen Popjournalismus gibt? Frei nach Jean Ziegler: Die Schweiz schreibt weisser. Das Derbe, eine eigentlich urschweizerische Sache, geht unserer Journaille zunehmend ab. Es scheint, als würde, je schmutzigere Seiten der Schweiz zu Tage treten, der Journalismus immer sauberer, oberflächlicher und verschämter. � 19


Essay

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Der falsche Jahrgang

Schon bevor er 1977 das erste deutschsprachige Punk-Fanzine «No Fun» mitherausgibt, lebt Peter Preissle von und für Musik. Und fragt sich heute: Hiess Pop schon immer «Alles ist hörbar»? Ein Rückblick ins Zürich der frühen 60er Jahre. von Peter Preissle

E

s gibt keine unpopuläre Musik. Wir haben alles schon gehört. Jede Tonreihenfolge schon mal durchgespielt. Alles wird hörbar. Selbst ein Werk wie «Metal Machine Music» von Lou Reed. Die Daten: Doppelalbum Vinyl, vier Seiten, jede genau 16 Minuten und 1 Sekunde lang. Darin weder Melodie noch Rhythmus. Nur ein einziger langer Schwall von Rückkopplungen. Schwer hörbar – erst recht alle vier Seiten hintereinander. Und selbst dieses Werk ist heute populärer denn je. Ein Kultalbum. Gerade wegen seiner Radikalität. Wenn der alte Lou von den alten Velvet Underground nach einer langen Solokarriere auf einmal mit Metallica zusammenarbeitet und die Musikkritiker das gut finden, dann haben wir heute einen Toleranzwert erreicht, den niemand je für möglich gehalten hätte. Gotthard und Peter Zinsli. Das Rolling-Stones-Konzert im Letzigrundstadion 2003: ein älterer Herr mit StonesT-Shirt neben seinem Enkel oder Söhnchen in Slipknot-T-Shirt. Auch ich wollte das nochmal erleben. Wie das erste Mal 1973 in Bern – für das Konzert im Zürcher Hallenstadion 1967 war ich noch zu jung. Aber 2003, da ist es mir sehr bewusst geworden, wie sich das alles so schön angeglichen hat. Wie war das eigentlich in meiner Kindheit? Mit Jahrgang 1956 eigentlich zu jung für die Beatles und die Hippies, später dann für anderes wieder eher zu alt.

Peter Preissle ist Geschäftsführer der Mascotte Film AG, Organisator des Porn Film Festival in Zürich und war Mitherausgeber des Punk-Fanzines «No Fun».

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Ein Rückblick. Mitte der Fünfzigerjahre: eine Generation von Liberalen? Mutti 19, Papi 24. Wohnhaft bei den Eltern von Papi an der Rotwandstrasse, Kreis 4. Am 22. März 1956: Ich erscheine auf dieser Welt. Eltern verheiratet in Mischehe, getraut in der reformierten Kirche zu St. Jakob am Stauffacher, nicht in Weiss. Ich ebenfalls da getauft. Vater berufstätig, Mutter Hausfrau. Vater mag: Lionel Hampton, Gene Krupa und anderes Jazziges. Kann sich auch mit Rock’n’Roll anfreunden. Es geht voran: Die erste eigene Wohnung an der Zurlindenstrasse im Kreis 3, gleich vis-à-vis vom Schulhaus. Meine Schwester kommt an, und nach und nach auch der Drang meiner Eltern nach Ausgang wieder. Ich bekomme das in der Erscheinung eines Teenagers mit Pferdeschwanz mit: Trudi, die Babysitterin, wohnt in der Nachbarschaft und steht auf Rock’n’Roll. Mutti kauft regelmässig die Bravo. Sie kann zwar nicht lesen, findet aber die Bildli toll. Trudi übernimmt die alten Nummern und dekoriert ihr Zimmer damit. Trudi hat Geburtstag. Papi will ihr die Single «Wooden Heart» von Elvis Presley schenken, die gerade erschienen, aber wohl überall schon ausverkauft ist. Das muss 1960 gewesen sein. Laufen kann ich also schon, muss aber auch gleich recht tüchtig ran: So viele Musikalien- und Elektroläden von innen habe ich wohl auch danach nie mehr in so kurzer Zeit gesehen. Das einprägsamste Erlebnis meiner frühen Kindheit in Sachen Musik. Früh auch schon technisch begabt und bald ist der Wunsch nach einem Plattenspieler da. Den gab es aber nur bei den Eltern von Trudi – eingebaut in ein Musikmöbel. Türchen auf, Licht an und da war sie: die Herrlichkeit! Neben dem Plattenspieler ein Gestell für die Platten. Der Tonarm schon automatisch. Einfach wunderbar. Aber nicht zum Anfassen: «Wenn du dieses Türchen während eines Musikstücks öffnest, dann kommen Schlangen raus.» Ja, ich hab’s geglaubt und das Heiligtum in Ruhe gelassen.


YEAH YEAH YEAH Der Familie geht es besser: Vom Parterre im Kreis 3 in den Kreis 2 an die Hügelstrasse, 2. Stock. Mittlerweile in der Primarschule und die Beatles tönen schon überall herum. «YEAH YEAH YEAH» – im «Bambus» gibt es diese karierten Westen ohne Kragen. Die Beatles-Stiefeli – «Sie liebt mich» und «Komm, gib mir deine Hand!» auf Deutsch. Mutti kauft noch immer die Bravo und ich lerne damit lesen. Ganz interessant, was da so steht: Nein, noch keinen Doktor Sommer, übrigens grad gestorben, und auch keine Nackten. Schon eher Miniröcke. Auch die Starschnitte. Dann war da noch dieses Fest auf der Allmend: die Eltern in der Gartenwirtschaft und ich im Beatschuppen. Die Band in der Mitte und die Halbstarken toben auf diesem Unding von rotierender Tanzfläche. Voll laut und geile Action. Mehr als zuschauen lag für mich aber noch nicht drin. Papi fand die Beatles jetzt ganz toll, war aber bei den Rolling Stones nicht mehr so richtig dabei. Der Jagger ging ihm auf den Sack und Brian Jones war ihm zu weibisch. Endlich! Musik für mich. Die Stones! Einfach härter, bunter. Ein Haufen voller toller Hunde – im Gegensatz zu den Beatles, die immer so schön strahlten. Auch in der Primarschule: Beatles und Stones. Fans von beiden Seiten. Reges Reklamieren: «Meine Truppe ist eh viel besser!» Und dann das Konzert in Zürich. 1967. Keine Chance, als 11jähriger ins Hallenstadion zu kommen. Auch mit Papi nicht. Stattdessen bin ich im Lavater-Schulhaus in der Enge. Und die Rolling Stones im Hotel Ascot am Bahnhof Enge. Keine 500 Meter vom Schulzimmer entfernt. Folter. Nein, ich bin nicht von zu Hause abgehauen. Stattdessen die Einsicht: Ich bin zu spät geboren. Mittwochnachmittagsfreizeitverhalten Die Enge wurde immer enger und der Citydruck nahm zu. Im Rieterpark verteilte der Gärtner noch Ohrfeigen – Rasen betreten verboten. Aber es gab ja noch den Jelmoli mit seiner Plattenabteilung. Wirklich grossartig: Schallplatte aussuchen, dem Fräulein an der Plattenbar überreichen. Sie – die sahen immer aus wie Popstars – legt die Scheibe auf und weist uns zur Kabine, in der man zu dritt Platz nehmen konnte. So denn eine frei war. Sonst hiess es: ab an die halben Telefonhörer direkt an der Bar. Gab ja auch nichts zu reden, nur zu hören. Singleplatten, die kleinen Schwarzen, so um die CHF 3.90 oder CHF 4.50 je nach Laden das Stück. Sogar der Franz Carl Weber hatte eine Schallplattenbar. Sie liebten uns nicht so richtig, diese scharfen Bräute hinter dem Tresen, natürlich. Aber irgendwie schafften wir es immer mal wieder, das Geld zusammenzukratzen und uns so ein Teil zu kaufen. Die heissesten Typen, das waren die, die Platten für die Musikbox kauften oder auch schon auflegten. Die traten an den Tresen und die Maus dahinter strahlte ihr Strahlen. Dann langte sie nach unten zu der Box mit all den Singles, die sie für den Typen auf die Seite gelegt hatte. Ja, auch die sahen aus wie Popstars, hörten die Platten, taten wichtig. Kauften dann aber auch immer ganz schön ein. Nach der Arbeit haben die bestimmt mit den Bräuten von der Plattenbar rumgemacht (sagt man dem zwischenzeitlich nicht «Poppen»?). Um ein bisschen Eindruck zu schinden, kam es ja dann auch noch drauf an, welche Single du hörtest. Die Bee Gees waren viel zu harmlos – «Now I found, that the world is round». Mit «Hey Joe» vom guten alten Hendrix hatte man denn schon einen ganz anderen Stellenwert. Am peinlichsten: Hörer am Ohr, mitsingen und nichts merken – bis die Lady von der Theke mehr oder weniger höflich einschritt. Dann warst du der Loser. Und zu der Zeit nannte man das alles Pop. Im Radio der Mister Pop mit der Hitparade. Die Bravo voll out, das POP aber richtig in. Jeans, bei meinen Eltern eh nie ein Thema, hatte ich schon im Kindergarten. Das mit dem Haarschnitt war nur in der Schule ein Problem, bei gewissen Lehrkörpern. Ganz geil dann die Lammfelljacken in allen Farben und mit Stickereien. Die gab es am billigsten im «Tury». Klar, rochen die nach Lamm, aber richtig schlimm war es erst, wenn sie nass wurden. Bei Regen waren die Teile fast nicht auszuhalten. Es gab das «Pony», das «Marökkli», das «Türk», das «Bali». Aber für die waren wir einfach noch zu jung, sie liessen uns nicht rein. Also schon wieder falscher Jahrgang. Man lümmelt sich durch die City. Alkohol und Drogen, ja, man wusste, das gibt es. Man hat immerhin das POP gelesen. Sie durften noch ein bisschen warten. Töffli, auch zu jung, aber auch uninteressant. Ab und zu einen Batzen von den Eltern fürs Hallenbad. Dann die Badehose nassmachen als Beweis für die sportliche Tätigkeit und ab ins richtige Freizeitvergnügen: in die Plattenabteilungen der Warenhäuser. Das gesparte Eintrittsgeld für eine Single eintauschen. Zu Hause dann Erklärungsnot: Die B-Seite hat einen Kratz. Der Umschlag ist schon abgenutzt. So hat man sich dann die Primarschulzeit eingerichtet. Mit Musikhören. Mit Pop. � 21


Buch des Monats: Schweiz

Die Lügenwiese und das Absolute Christian Uetz: Sunderwarumbe – ein Schweizer Requiem. Zürich/Berlin: Secession, 2012.

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Michael Pfister ist Philosoph und ehemaliger Gastgeber der «Sternstunde Philosophie» im Schweizer Fernsehen. Er lebt in Küsnacht.

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ach der Athletenhymne eine Totenmesse. Eben noch hat der Thurgauer Schriftsteller Christian Uetz in der Person Roger Federers den absoluten Helden der Schweizer Sportgeschichte zungenzwinkernd gefeiert – jetzt erzählt er die Geschichte einer Männerfreundschaft als Hommage an den verstorbenen Älteren und als philosophisches Exerzitium auf der Suche nach nichts Geringerem als einem absolut freien Leben. Nach der Schneenacht vom 5. März 2006 stirbt in Romanshorn ein aus bäuerlichem Milieu stammender Philosoph und Privatgelehrter, der sich selber den nom de plume Hieronymus Sunderwarumbe gegeben hat – in Anspielung auf eine Predigt von Meister Eckhart. Die lebenslange Suche nach dem «ohne warum», nach Grundlosigkeit und Zweckfreiheit, mündet in ausufernden Archiven und 20 000 Seiten Aufzeichnungen, die Sunderwarumbe seinem jungen Freund Georg vermacht. Der ist der Sohn seines Cousins, Lehrer, Philosophiestudent, Lyriker und teilt biografische Leitlinien bis hin zum Geburtsdatum mit seinem Autor Uetz. Aus Tagebuchnotizen Sunderwarumbes und erzählerischen Passagen über Georgs Werdegang formt sich ein Bild dieser Freundschaft zwischen einem mönchisch-onanistisch lebenden Homosexuellen und dem jungen «Weiberling», der sich von seinem «Donjuanismus» und seiner «Cunnilingerei» von Frau zu Frau treiben lässt. Lange Vorlesestunden, philosophische Diskussionen, Krisen und phasenweise sogar eine Wohngemeinschaft gehören zu dieser «Krankengeschichte zweier realitätsferner Spinner». Das ergibt nun eben keinen Roman, sondern ein Requiem, das freilich das liturgische mit dem philosophisch-meditativen, aber auch mit dem populärmedizinischen, dem groschenromanesken, dem aphoristischen, dem «quasibiografischen» Register mixt. Ein Buch, so denkfrisch wie schwerblütig, dem grundlosen Gott sei Dank völlig quer zu unserer aufund abgeklärten Zeit, indem es unsere trockene Sucht nach harten Fakten und soften Geschichten

nach Strich und Faden enttäuscht. Statt Problemlösungen und Kolumnistenmeinungen zu futtern, begeben wir uns auf ausgedehnte Gedankengänge zwischen «Experiment und Liebe, Instrumentalisierung und Anbetung, Sache und Sprache». Oder wir lassen uns poetisch aufscheuchen: «Die sexfarbige Nackthaut der Gottesberge. Alle Energien der Pflanzen der Tiere der Flüsse der Meere der Berge der Gestirne zu Gott aufgipfeln. Und du, Mensch, vermeinst, sublimieren zu müssen hin zu einer Kultur: Du Lügenwiese!» Die zäheren Passagen sind einem gewissen Pathos rund um das «Sterbewesen» Mensch und die «Heiligkeit des Todes» geschuldet, wohl auch dem Kanon der Lieblingsautoren Sunderwarumbes, von Platon über die Bibel und Goethe zu Heidegger, Jung und Jünger. Im Traum, «von nichts schwanger zu werden», verdickt sich das Grundlose bisweilen gnostischmystisch zum heilshungrigen Lobpreis eines idealen Absoluten: «Ohne Himmel wird uns die Erde zur Hölle.» Mal sehn, sagte der Maulwurf. Doch vielleicht sind das Bananenschalen, auf denen man getrost ausrutschen soll, um sich vom unzuverlässigen Erzähler, der hier eher ein unzuverlässiger Poet und Philosoph ist, wieder aufhelfen zu lassen. Denn es mag schon stimmen, dass wir Gott nicht so schnell loswerden, wie wir vielleicht möchten. Jedenfalls dann nicht, wenn «jedes Erkennen zum Gottprozess» wird, weil Gott für die «Einbildung» steht, welche die blosse Messung einer gegebenen «Wirklichkeit» durchkreuzt. Fast schon auf Eugen Drewermanns Spuren lesen wir: «Den Gott, den es gibt, gibt es nicht.» Erst damit wird das Buch so richtig «sunder warumbe». Namentlich wenn der Text um die massiven Begriffe herumtanzt. Sunderwarumbe ist Georgs Sprache ein «Gräuel» – just in dem, was uns Uetz’ Sprache zum Genuss macht: «Die Art und Weise, wie er die Paradoxität in Worten bis zur äussersten Verspieltheit ausspielt, nicht selten gerade dort, wo er selbst von der Widersprüchlichkeit betroffen ist.» �


Buch des Monats: International

«Ich ist ein anderer.» Du auch. Botho Strauss: Sie / Er. Erzählungen. Ausgewählt und mit einem Nachwort versehen von Thomas Hürlimann. München: Hanser, 2012.

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Silvia Hess ist Literaturkritikerin. Sie lebt in Zürich.

ngenommen, man hätte noch nie ein Buch von Botho Strauss gelesen, der nun vorliegende Erzählband wäre der beste Einstieg. Und ein glänzender Nachweis für seinen Rang als einen der ganz Grossen dieser Zeit. Zwar: Sie / Er ist nicht nur eine Geschichtensammlung, sondern auch ein riskanter Versuch. Sind die zumeist wenig Seiten umfassenden Texte doch so etwas wie herausgebrochene Mosaiksteinchen – erzählende Passagen aus Strauss’ zuletzt erschienenen Büchern. Thomas Hürlimann hat sie ausgewählt, neu geordnet und zusammen mit dem Autor mit Titeln versehen. Erst unsicher über das Statthafte des Tuns, räumt Hürlimann im Nachwort seine Zweifel beiseite: «Ein grosser Autor zeigt sich auf jeder Seite, und jede Seite, ob sie das Thema durchführt oder nur variiert, lässt die Melodie der Symphonie erkennen, jeder Splitter verweist auf das Ganze.» Botho Strauss’ Thema und Variationen sind Paargeschichten, sind das Erforschen von Liebesweh, von Verkennung, Verfehlung, Verrat. Seine «Symphonien» – oder besser: Lamenti – tragen alle im Keim das bodenlose Nichtwissen: Das Nichtbeantwortenkönnen der Fragen «Wer bin ich?», «Wer bist du?». Als Antwort erhebt sich höchstens Arthur Rimbauds berühmte Formel am vernebelten Horizont: «Ich ist ein anderer.» Und variierend gesellt sich die Einsicht dazu: Du auch. Da bringen in der Geschichte «Mikado» Beamte eine Frau, die entführt worden war, zurück. Der Fabrikant hatte ein hohes Lösegeld bezahlt, aber als er sie sieht, stutzt er und sagt: «Es ist Ihnen ein Fehler unterlaufen. Dies ist nicht meine Frau.» Er (er)kennt sie nicht wieder. Sie ist eine Fremde, nicht die, die er erinnert. «Wie wenn man im Dunkeln eines fremden Hauses nach dem Lichtschalter tastet», sucht er im Gesicht der Frau und in ihren Handlungen nach dem Gewohnten. Ganz ähnlich der Frau in der Erzählung «Verkennung», die nach einem Streit allein durch die Felder läuft, sich auf einmal umdreht und weit hinter sich eine männliche Gestalt sieht. Sogleich hält sie

sie für ihren Mann, vor dem sie weggelaufen ist. Sie kehrt um, läuft auf ihn zu, ruft ihn – und ist nicht sicher. Ist es ihr Mann? Als die beiden voreinander stehen, verharrt die Geschichte in der Momentaufnahme. Auf zwei Seiten breitet Botho Strauss dergestalt einen ganzen Kosmos aus. Ein Paar, ein Streit, eine Trennung, ein Fremdsein, ein Aus-der-Zeit-Fallen, ein Sich-wieder-Finden, ein Sich-wieder-Trennen. Auf zwei Seiten zeigt sich das Ganze – und in literarischer Meisterschaft, möchte man anfügen. Noch immer ist wahr – muss wahr sein, was Botho Strauss in seinem Gedankenband «Der Untenstehende auf Zehenspitzen» schreibt: «Der Künstler ist nicht allein der Rezipient, sondern auch der Rivale seiner Zeit.» Und noch immer werden nicht zeitgemässe Autoren – oder sollte man sie dichterische Eigensinnige nennen? – mit herrischen, vermeintlich herabsetzenden Attributen versehen, damit wieder Ordnung sei im Betrieb. Dass Botho Strauss’ unermüdliche Kritik an der rastlosen Erweiterung aller Technik und seine Prophezeiungen eines «nachtechnischen Zeitalters» viele Gegner auf den Plan gerufen haben – Mainstreamgrössen, die ihn längst ins «konservative» oder auch «rechtsintellektuelle» Eck gestellt und dort vergessen haben, schmälert seine Meisterschaft nicht. Was bleibt? Die neuen Grundmuster zwischen Sie und Er sind die alten. Die Handvoll Gefühle verqueren sich seit je auf gleiche Weise. Das Terrain der Liebe bleibt unbeschirmt. Botho Strauss, ZeitRezipient und Rivale, ist dabei glaubwürdigster Kronzeuge. Und Thomas Hürlimanns umsichtige Auswahl der «Fragmente» bescheinigt das aufs schönste. �

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Kurzkritik

Literarische Kurzkritik #38 Seitensprünge Angelika Overath: Fliessendes Land. München: Luchterhand, 2012. besprochen von Silvia Hess, Literaturkritikerin

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n der Tat ist das ein sehr persönliches Buch. Und nicht nur ein persönliches, wie angekündet, sondern auch ein mutiges Buch. Wer gesteht schon freiwillig und freimütig seine kontinuierlichen Seitensprünge? Allerdings, das sei präzisiert: Seitensprünge mit Wörtern, mit Figuren. Denn Angelika Overath interpretiert das Schreiben als das Zusammenleben von Autor und Text auf Zeit. Diese Beziehung hält so lange, bis der Text den Autor verlässt, dann steht dieser (wieder einmal) vor dem Nichts und «stirbt einen seiner sieben Katzentode». In ihrem neuen Buch Fliessendes Land ist viel vom Weggehen die Rede, vom Verlassen von Menschen, von Orten und von Lebensabschnitten. Und so sind denn die zumeist kurzen Texte geprägt von Übergängen und von Beobachtungen im Unterwegssein. Angelika Overaths Blick heftet sich auf die kleinen Dinge, auf alltägliche Begebenheiten, aber in ihrer intuitiv feinsinnigen Wahrnehmung werden sie gewichtig und bedeutungsvoll. Dass sie sich an Bushaltestellen nie langweilt, glaubt man ihr also aufs Wort. Dass sie danach, im begrenzten Raum des Fahrzeugs, ihr Schauen und Phantasieren weitertreibt, liegt ebenso auf der Hand. So sieht sie – wie es früher in ihrer Stadt war – in einer Budapester Strassenbahn die Frauen auf den hell lackierten Holzbänken sitzen. Mit beiden Händen halten sie, auf ihren geschlossenen Knien, ihre Handtaschen fest, «als drückten sie ein Siegel auf ihren Schoss, als schützten sie ihr Geschlecht». Schreiben und Kinder sind für Angelika Overath keine Gegenwelten. Sie sind «ein osmotisches System». Im Unterengadin, wo sie seit einigen Jahren mit ihrer Familie lebt, freut sie sich, wie sie sagt, jeden Tag auf das Familienmittagessen, das ihre Arbeit stört. «Schreiben entwurzelt, muss entwurzeln, und Kinder erden. Sie können erden.» Dieses Prinzip hält ihre Texte aufs schönste im Gleichgewicht. Heben die Sätze ab vom erdigen Boden und ist die Sprungkraft noch so gross, fallen sie doch 24

immer wieder zurück auf den sicheren Grund. Wenn der Sommer «käuflich» geworden ist, wenn die Mutter zum «braunen Fisch» mutiert, wenn die nackten Füsse des Kindes wie «kleine Tiere» festgehalten werden oder die Gedanken beim Betrachten von van Goghs Holzstuhl mit der geflochtenen Sitzfläche und den leicht krummen Beinen ausschweifen – am Ende fügen sich die Texte in geordnete (geerdete) Bahnen. Verlassen die Texte die Autorin, gehören sie uns Lesern. Und sie, Overath, steht mit leeren Händen – mit leerem Herzen da. Bis sie sich einen Neuen (Text) sucht. Bis sie wieder unterwegs ist – an ihrem Schreibtisch, zu anderen Menschen und Orten. Mit wachen Augen, mit geschärftem Blick, neugierig und liebevoll.

Spätlese Sibylle Berg: Vielen Dank für das Leben. München: Hanser, 2012. besprochen von Michael Harde, Lehrer

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uf Parzival war ich stolz. Ein Vergleich mit einer prägnanten Figur ist illustrativ und zeigt die Fortsetzung einer Erzähltradition. Nebenbei verleiht es dem eigenen Urteil auch mehr Überzeugungskraft. Parzival also, das klingt wuchtig, wichtig, wissend. Nur leider ist Parzival schon weg. Anders gesagt, es ist nicht einfach, über ein Buch zu reden, das die Presse so intensiv beschäftigt wie Sibylle Bergs aktueller Roman Vielen Dank für das Leben. Parzivals unbekümmerte Einfalt spiegelt sich in Bergs treuherzig-schlichter Hauptfigur namens Toto. Meint leider auch der Spiegel. Schade drum. Also der zweite grundgute Held der sancta simplicitas: Forrest Gump. Seine offene Wertschätzung gegenüber allen Menschen erinnert an Totos gütige Grundhaltung. Meint auch die FAZ. Schade drum. Bleibt nur die ganz grosse Trommel zu schlagen, sprich: den Vergleich mit Buddha zu wählen. Gross und aufgedunsen, von allem entfernt und dennoch mitfühlend scheint Toto eine höhere Form der inneren Ruhe, sein Nirwana, gefunden


zu haben. Was natürlich völliger Unsinn ist. Meint auch Sibylle Berg im Interview mit der Zeit. Schade drum. Was bleibt, ist Toto als… – Toto! Ins Leben geworfen in einer Szene, die an Grenouille aus Süskinds Parfum erinnert – stand bestimmt auch schon in der Tagespresse –, wird hier aber nicht das Genie entbunden, sondern die Kuriosität. Toto ist das, was der Name ausdrückt: alles. Ein Hermaphrodit, Mann und Frau. Was kurz nach der Geburt chirurgisch korrigiert wird, bleibt Toto erhalten, die alkoholkranke Mutter will nur schnell aus der Klinik, sie hat keine Zeit für Operationen. Toto entwickelt sich zum weiblichweichen Leidensmann im unförmigen Körper. Toto erlebt alles, erduldet alles, hat Talente, die niemand fördert, und Ansichten, die keinen interessieren. Berg schickt Toto durch die sarkastisch geschilderte, niederschmetternd asoziale Geschichte der letzten fünfzig Jahre und weiter hinaus bis ins Jahr 2030, immer mit wütendem Blick auf die Krötenpfuhle, in denen sich die Menschheit suhlt. Es geht nicht um grosse Politik – Toto verpasst sogar die Maueröffnung 1989 und hat an 09/11 keine Lust zum Fernsehen –, es geht um die herzlosen, brutalen, selbstsüchtigen Menschen in den grauen Löchern, die sie Wohnungen nennen, oder in ihren schikanösen Arbeitsstätten, wo sie nach oben katzbuckeln und nach unten auskeilen. Es geht um das zwanghafte Bedürfnis, anderen die Schuld zu geben für das Elend des eigenen miserablen Lebens, für die Misserfolge eines mässigen Intellekts, für dreckige Fingernägel, gestiegene Benzinpreise und bedrohliche Cholesterinwerte. In der von Neid und Gier zerrissenen Welt ist Toto der PunchingBall für alle Formen von Aggressivität, das Voodoo-Püppchen, der Prügelknabe. Toto fordert nicht, strebt nicht, giert nicht. Antiheld Toto lebt das Leben, wie es kommt, und akzeptiert das Schicksal duldsam, genügsam und zäh. Das wird auf Dauer allerdings langatmig. Berg mutet Toto übermenschliche, unglaubwürdige Leiden zu, die ganze Ethnien ausrotten könnten und in ihrer Menge eher abstumpfen denn wachrütteln. Nebenher drischt Berg in bitterem Tonfall auf alles und jeden ein, was auf Dauer übrigens auch an Schwung verliert. Beides ermüdet nicht, beides zerreisst nicht den roten Faden, aber es führt zu einem hochtourigen Lamento: Es wird hart – Toto kommt durch – es wird hart – Toto kommt durch – es wird hart… Diese Monotonie des Niederknüppelns wird gelegentlich aufgebrochen durch gelungene Slapstick-Elemente, wenn beispielsweise ein übereifriger Rechtsanwalt anruft und Toto bei weiterer Benutzung des Vornamens mit Schadenersatzklagen im Interesse der gleichnamigen kalifornischen Tanzkapelle (Rosanna, Hold the Line, Africa) droht. Es darf gelacht werden, aber eine Erlösung gibt es nicht. Vielen Dank für das Leben ist für Toto wie für den Leser eine Sisyphusarbeit, ein Fortkommen gibt es nicht. Hoffnungslosigkeit wird in allen Facetten durchgespielt, selbst die Liebe ist keine Himmelsmacht

– hier irrte also Friedrich Schiller –, sondern nur ein flüchtiges Gefühl. Das ist selten lustig, überwiegend tragisch, überlang, überfrachtet und dennoch überaus lesenswert: ein wütendes Pamphlet gegen die Menschen und für das Leben.

Überliste die Zeit! Martin Suter: Die Zeit, die Zeit. Zürich: Diogenes, 2012. besprochen von Rachel Huber, Texterin

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eter Taler befindet sich auf einer obskuren Mission. Er will den Mörder seiner Frau finden. In seinem Leben existieren nur noch dieser sich selbst übertragene Auftrag und die öde Arbeit als Buchhalter, die er halt macht, weil er muss. Er ist besessen von der Idee, eines Tages vor dem Verbrecher zu stehen und ihn eigenhändig zu erschiessen. Seine Wohnung ist seit der Tat, die ein Jahr her ist, unverändert. Immer noch tischt er zum Abendessen für zwei Personen auf und kocht jenes Gericht, das er und seine Frau Laura meist zusammen gegessen haben. Lauras Jacken und Handtaschen hängen immer noch an der Garderobe und ihr Atelier ist so, wie sie es das letzte Mal verlassen hatte. Seine Trauer über den Verlust ist nach wie vor so stark, dass ihn der Gedanke an ein Leben ganz ohne sie schier umbringt. Lethargisch lebt er in seiner eigenen Welt, in der es nur die Suche nach dem Mörder und die Abendstunden mit der fiktiven Präsenz seiner Frau gibt. Und dann, plötzlich, in einer der vielen Observationsnächte, die dem Mörder gelten, fällt ihm auf, dass sich sein misanthropisch scheinender Nachbar Albert Knupp ausserordentlich komisch verhält. Bevor er sich’s versieht, ist er Teil eines ungewöhnlichen Plans – der Alte will einen Tag in der Vergangenheit, und zwar den 11. Oktober 1991, exakt genau gleich wiederherstellen, um ein Tor zur Vergangenheit und somit zu seiner verstorbenen Frau zu schaffen – und Assistent des Zweiflers Knupp, der die Zeit kategorisch ablehnt und sie mit allen Mitteln aus ihrer Verankerung hebeln will. Martin Suters neuer Roman Die Zeit, die Zeit ist ein spannender Krimi und zugleich die Geschichte über den Versuch, das determinierte Schicksal zu überwinden. Die Protagonisten des Buches wollen ihre verstorbenen Ehefrauen wieder auferstehen lassen und scheinen die Lösung darin gefunden zu haben, den Lauf der Zeit rückgängig zu machen. Was einfach 25


Kurzkritik

klingt, kann selbst Suters Roman, der den Spagat zwischen Unterhaltung und Literatur mühelos schafft, nur auf komplexe und abstrakte Weise greifbar machen. Ein Fakt, der mitunter für Längen sorgt und dem Leser eine gehörige Portion Stamina abverlangt. Denn wer sich nicht gleichzeitig wissenschaftlich mit der physikalischen Grösse «Zeit» auseinandersetzt, ist hie und da verloren, was den sonst so regelmässigen und glatten Rhythmus des Plots immer wieder in einem triezenden Staccato unterbricht. Suters Stil ist stringent und verlangt vom Leser trotz dieser Brüche keinen akademischen Abschluss. Man wird durch die Lektüre getragen, kommt leichtfüssig voran, die Spannung baut sich langsam – zeitweise etwas zäh –, aber sicher auf und gipfelt in einem Finale, das besonders lange nachklingt, sofern man des abstrakten Denkens fähig ist. Es wirkt ausserdem durch seine Wucht, was, wenn man nicht zu lange nachdenkt, ja auch ganz befriedigend sein kann. Beachtlich auch, dass das ganze Unterfangen nicht ins Absurde kippt, auch wenn das bei der schrägen Geschichte um die «Zeitzweifler» durchaus hätte geschehen können. Andere auflagenträchtige Wissenschaftsromane und ihre Autoren sind daran nur allzuoft gescheitert. Suter erweist sich also einmal mehr als grosser Erzähler, der die richtigen Reize setzt, die richtigen Töne trifft – und mit keiner Seite Zeitverschwendung ist.

Hinter dem Mond E.Y. Meyer: Wandlung. Bern: Stämpfli, 2012. besprochen von Serena Jung, Germanistin

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ie Mitglieder des «Clubs Freitag der Dreizehnte» stossen an. Sie stossen auf ihre Helden Jean-Jacques Rousseau, Voltaire, Wilhelm Tell und Jeremias Gotthelf an. Sie stossen auf Vladimir Nabokov, auf gutes Essen und auf guten Wein an. Sie stossen aber auch an eine Grenze – an die Grenze zwischen ihrer und der Welt aller anderen. Der Club versammelt – laut Selbstbeschrieb – «Menschen, die verstanden, eingesehen und sich damit abgefunden» haben, dass ihre Welt nur ein Teil einer grösseren Welt sei und diese wiederum Teil eines noch grösseren Universums und so weiter und so fort. Die dreizehn Männer leben, nimmt man sie hier

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beim Wort, also in einer Parallelwelt und kommentieren von dieser Warte aus mit böser Zunge die Zustände der Welt – fast so wie die beiden älteren Herren aus der «Muppet Show», die von ihrer Loge aus über die Aufführung auf der Bühne schimpfen. Während man bei den Muppets aber auf das ganze Spektrum möglicher Charaktere trifft, die herzlich, witzig, schlau, genervt oder auch leichtgläubig sind, bleibt das Zusammenspiel der Figuren Meyers eindimensional. Dabei böte die illustre Besetzung der Clubmitglieder eigentlich ein viel grösseres Panorama: Die Bandbreite reicht vom Diplomaten über den Polizisten, den Maler, den Wirtschaftsjournalisten bis zum Juristen für Weltraumangelegenheiten. Nach einer ausgiebigen Einführung samt Erläuterung des jeweiligen Familienstands dienen sie jedoch nur noch der Vervielfältigung der Stimme des Ich-Erzählers. So stösst dann dieser mit sich selbst an, lamentiert mit sich selbst über die Überbevölkerung der Erde – verdammt überhaupt seine ganze eigene Gegenwart vor dem Spiegel seiner Helden. Für den Club sind diese Helden die «Sieger der Geschichte». Sie haben sich mit ihrem Namen nicht nur in die Geschichtsbücher der Schweiz eingeschrieben, sondern stehen damit auch Pate für Dinge und Orte – wie die «Gotthelf-Stube» oder die Rousseau-Insel. Um ihren Club ebenfalls in die Nähe des Lichtkegels dieser Namen zu rücken, spinnen die Mitglieder Kausalketten über biographische und historische Grenzen hinweg: Voltaire hätte, so mutmassen sie, wohl gegen eine Mitgliedschaft in ihrem Club nichts einzuwenden gehabt. Rousseau, der fünf Kinder gezeugt und nicht anerkannt hat, wird gegen seine eigenen Zeitgenossen damit verteidigt, dass das für die damalige Zeit doch durchaus üblich gewesen sei. Oder in Meyers Worten: «IF IN ROME, DO AS THE ROMAN DO.» [Grossschreibung im Original] Der Lolita-Mythos Nabokovs wird gefeiert und anschliessend der heutigen «Kindsmissbrauchswelle» und der «Massensextourismusflut» entgegengestellt. Ausgehend von der Geschichte des pädophilen Literaturprofessors und seiner Stieftochter wird eine Entwicklung von dieser Vorform zu einem Massenphänomen festgehalten, die sich wiederum – und allein – gegen die heutige Zeit richtet: «Vulgarisiert. Banalisiert. Degeneriert.» Die simple Parteinahme für jene ausgewählten «Sieger der Geschichte» lässt einem die Lektüre verleiden. E. Y. Meyer gibt sich auch im Typographischen recht abenteuerlich. Ganze Sätze werden als Einwürfe gross geschrieben, Aufzählungen mit vielen Umbrüchen, Reihungen von Sätzen ohne Verben und kursive Zitate bestimmen das Schriftbild. Und man fragt sich: Wie? Deutet da jemand Ironie an? DEKADENZ? Dass Meyer sein kulturkritisches Lamento, das als «Roman» firmiert, einleitend irgendwo zwischen Realität und Fiktion verortet, hilft da leider nur bedingt weiter: Man kann dem Club nicht folgen. Weder in die eine noch in die andere Welt.


Micieli reist Jöö, säg emoll, säg emoll, säg emoll!

Bern – Schwäbisch Gmünd: 4 Stunden, 34 Minuten Bücher sind ein grosses Wunder. Sie können sich

Pedro Lenz Liebesgschichte Cosmos Verlag

Pedro Lenz:

sogar einer Reise anpassen. Ich hab’s häufig erlebt:

Liebesgschichte.

Die Bücher führen dich. Es ist Sonntag. Ich sitze im

Muri bei Bern: Cosmos, 2012.

Zug nach Karlsruhe, um von dort aus nach Schwäbisch

besprochen von Lena Rittmeyer, Kulturjournalistin

Gmünd zu gelangen. In meiner Tasche habe ich: 1 Pullover, 1 Schirm, 1 Vortrag. Und den neuen Gedichtband von Jürgen Theobaldy. Suchen ist schwer (Verlag Peter Engstler). Das Buch liegt schön in der Hand, erhaben, könnte man sagen, und ist im Jackentaschenformat gefertigt. Ein Begleiter durch

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enz’ Meitschis heissen Nicole, Barbara, Corinne, Jacqueline oder Isabelle. Und eines Tages schicken sie eine Freundschaftsanfrage auf Facebook oder sitzen selig lächelnd im Zug zwischen all den «Gratiszitiggringe» und rufen unliebsame Erinnerungen wach. Bereits mit seinem Debütroman Dr Goalie bin ig hat der Langenthaler Pedro Lenz als Erzähler überzeugt. Einen ähnlichen Alltagsfatalismus, wie er auch dem «Goalie» zu eigen war, legt Lenz in den rund zwei Dutzend Spoken-WordTexten an den Tag, die nun unter dem Titel Liebesgschichte erschienen sind. Scheinbar unspektakuläre Begebenheiten rollt Lenz bis ins Hintergründige auf, stets lakonisch unterfütternd und doch stets detailliert ausmalend (bis hin zum herzförmigen Samtkissen mit «I love you»-Schriftzug), wie man es von dem Spoken-WordPoeten kennt. Der Zug eignet sich dafür als Austragungsort am besten: Da macht ein fieser «Bursch» Schluss mit der Pferdefänin Yolanda und die Passagiere zu unfreiwilligen Zeugen eines Beziehungs-Showdowns. Oder es wird in allen Abteilen peinlich berührt weggehört, wenn eine Dame mit einer Person namens «Schnäggli» telefoniert. Tragik und Komik liegen nahe beieinander, wenn der Hund Alexander die gleiche Exit-Kundennummer trägt wie sein Herrchen – und sich «mönschlech uf emne ganz angere Niveau» bewegt. Immer wieder gelingt es Lenz, mit der Einfachheit seines Berner Dialekts der versteckten Vielschichtigkeit seiner beschriebenen Szenen gerecht zu werden und dem unbedeutend Kleinen wahre Grösse zu verleihen. Sei es in lautmalerischer Tierhaltersprache («jo du, jo du, jo du, jo du, jooo, jöö, säg emoll, jöö säg emoll») oder in der knapp erzählten Liebesgeschichte zweier alter Menschen und ihrem Ausflug zu den «Guschti» mit den schönen Augen. So schillert auch ein vielerorts banal abgehandeltes Thema wie Liebe bei Lenz in vielen Farben und Formen, die vom kuscheligen Filmeerzählen im Bett bis hin zur Trauer um den sterbenden Vater reichen. Und Lenz’ Erzählungen selbst scheinen obendrein wie kleine Liebesgeständnisse ans Schweizerdeutsch

einsame Gassen, ein Stadtplan für Menschen, die einen Wortnavigator brauchen. Die Landschaft zwischen Bern und Karlsruhe lässt mich lesen. Wir kennen uns von den vielen Reisen. In Freiburg setzt sich eine Frau zu mir und stellt sich als Nadine Benz vor. Grossartig, die Höflichkeit der Deutschen! «Und ob es doch sein Gutes hat; / die Hüte in die Stirn zu ziehen / und neben herzugehen am Fluss, / auf dem die Hölzer treiben, / weg von den Ärmsten dieser Erde / mit ihrem Sinn für frohe Farben.» Diese Gedichte versöhnen mich mit der Welt und doch sind sie – an so einem weichen Tag – sehr scharf. Ich weiss nicht, welches Mittel drin ist, aber es wirkt! Ich könnte alle umarmen, auch Frau Benz. Nach Stuttgart werden die Wolken schwer und dunkel. Landschaft wie aus der Schweiz importiert. «Der Fahrtwind zieht, er kühlt den Tee / die Luft schmeckt ländlich fad.» Die Gedichte sind leuchtende Tropfen. Sie bleiben auf meiner Haut, beleben sie. Frau Benz schläft. Die Baustelle beim Bahnhof Schwäbisch Gmünd versperrt mir Sicht und Orientierung. Das Hotel sei nur ein paar Schritte vom Bahnhof entfernt, sagt die Einladung zur Konferenz. Über staubige Wege gelange ich zur Altstadt, die feiert Geburtstag. Niemand ist unterwegs, der Fremde ist sehr fremd. Und ich stelle mich in ein Café. Und lese. «Sie steigen hinterm Hügel hoch, / versilbert von der Abendsonne / und immer um dieselbe Zeit, / aus Mailand wohl, aus Rom.» Wieder draussen. Ich verirre mich für eine gute Regenstunde. Als ich das Hotel finde, ist es ganz nahe beim Bahnhof. «Suchen ist schwer», sagen mir die Gedichte von Theobaldy. Hinter einem Fenster glaube ich Frau Benz zu sehen. Sie lacht. � Francesco Micieli ist Schriftsteller und lebt in Bern. Zuletzt von ihm erschienen: «Schwazzenbach» (Zytglogge).

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Kurzkritik

mitsamt all seinen trotz behäbiger Klobigkeit doch manchmal allzu treffsicheren Ausdrücken. Lenz beherrscht, das noch gesondert erwähnt, auch die Kunst des Weglassens: Seine Texte bleiben wie Zigarettenrauch in der Schwebe hängen, scheinen ein bisschen ungefügt und unfertig. Nicht zuletzt darin liegt ihr Reiz.

Geschichte sucht Erzähler Dominik Bernet: Das Gesicht. Muri bei Bern: Cosmos, 2012. besprochen von Claudia Mäder, Germanistin Dominik Bernet Das Gesicht Roman Cosmos Verlag

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twas betagt, aber gänzlich unverbraucht bietet diese Zürcher Affäre vom Plot über den Kontext bis zu den Protagonisten alles, was ein Autor mit intellektuellem Flair und kriminalistischer Ader zum Glück braucht: Anno 1776 wurde den 1200 zum Buss- und Bettag im Grossmünster versammelten Gläubigen Messwein ausgeschenkt, der Spuren von «spanischem Pfeffer, Stechäpfeln, Schwertlilien, Fliegengift und wahrem Arsenik» enthielt. Todesopfer war zwar keines zu beklagen, die Stadt aber in Aufruhr und die Gerüchteküche am Brodeln, derweil die Obrigkeit mit dem Totengräber einen usual suspect verhaftete, durch eine anonyme Flugschrift bald selber des Verbrechens bezichtigt wurde und in eine veritable Politkrise taumelte. Mit Zürich bewegte sich Europas Blätterwald, in dem Vernunft- und Gottesgläubige eine Debatte um die Herkunft des Bösen ausfochten, die Pfarrer Lavater aus der Waisenhauskirche mit furortriefenden Predigten befeuerte. Trotz dessen Entschlossenheit, das «Siegel des Satans» aufzubrechen, blieb der Weinvergifter, so es ihn gegeben hat, ungefasst – und die ganze Geschichte, die Lavater in verschiedenen Texten festgehalten hat, unerzählt. Diese erstaunliche Lücke füllt nun Dominik Bernets «Gesicht», das den reichen Stoff in einen Kriminalroman überführt. Die Rolle des Ersten Ermittlers spielt darin Lavater oder vielmehr dessen forensische Physiognomik: Getrieben von der Überzeugung, dass die spezifische Gestalt seines Gesichts den ruchlosen Täter als solchen entlarve, legt der wundergläubige Pfarrer eine umfangreiche Verbrecherporträtsammlung an, hetzt auf der Suche nach dem «Ungesicht» durch das alte Zürich, begegnet seiner eigenen aufklärerischen Vergangenheit, 28

gerät auf Abwege, falsche Fährten und immer wieder in Kloaken. Offensichtlich behagt Bernet das Wühlen in den Untiefen des vaterländischen Fundus. Die Perlen, die er hier aus der Historie birgt, bringt er indes nicht recht zum Glänzen. Zwar hält sich der Roman oft eng bis ins wörtliche Detail an Lavaters Schriften, doch schafft er es nicht, deren Emphase zu transportieren. Die fiebrige Leidenschaft, die den Pfarrer beseelte, wird von einem paraphrasierenden Erzählton und in saloppen Dialogen erstickt – holzschnittartig bleiben auch die Figuren, die Bernets Zürich bevölkern. Wohl sind ihre Regungen von all dem Elementaren gespeist, das das facettenreiche 18. Jahrhundert zu bieten hatte – Religiosität und Souveränität, Rationalität und Schwärmerei –, nur verweben sich diese Hintergründe nicht zu einer vibrierenden Atmosphäre, sondern entwickeln sich durch Aus- und Überformulierung zum schwelenden Ärgernis. Und wo zu diesem historischen Komplex Kreationen des Romanciers treten, ist das nur beschränkt bereichernd. Seinem Lavater etwa stellt Bernet einen Waisenhausknaben zur Seite, der sich, um der Liebe einer Geistheilerin willen, ebenfalls an der Physiognomik versucht – und dabei nicht nur das Gesicht, sondern seinen ganzen Körper an den interregionalen Leichenhandel verliert. Die so zum Schluss hin immer wilder wuchernde Imagination ist zwar zuweilen schaurig überraschend, selbst der Rauch, der aus pilzumkränzten Schädellöchern qualmt, ist aber nicht in der Lage, dem Leser die Klarsicht zu vernebeln: Die Handlung ist trotz erzählerischer Kniffe absehbar, das Groteske verbindet sich nicht mit dem Platten. Glückliche Paarungen sind auch in der Literatur eine Rarität. �


Kurze Sätze über Grate

Aus der Enge der Berge

W

Markus Rottmann lebt und schreibt in Zürich.

er entflohen ist, der wird hier eingeholt. Von allem und allen. SAC-Hütten sind für viele der Gipfel im Bergerlebnis. Für andere der scharfzahnige Felskamin, durch den man sich zwängen muss, auf dem Weg zum ersehnten Panorama. In den Stuben der Schutzhütten verdichtet sich allabendlich die alpine Welt. Hier stossen sie aufeinander, das hightechverliebte Transa-Publikum auf die RSNostalgiker, die Kratzwolldeckenfetischisten auf die Seidenschlafsackverwender, die Gebirgsathleten auf die Hosenträgerschwergewichte, die Wandervögel auf die Schluckspechte, die Kachelofenkuschler auf die Stinksockenaufhänger, die Hochleistungsbesserwisser auf die Jägerlateiner, die Horrorgeschichtenrauner auf die Rega-Kandidaten, die Survival-Apostel auf die Kartoffelstock-Seeli, die Abendrotschwelger auf die Handynetzsucher, die Deosprayer auf die Fensteraufreisser, die Piepshandys auf die Dezibelschnarcher, die Tabakschnupfer auf die Graskrümler, die Klettergurtklingler auf die Steigeisenverhedderer, die Bergführer auf andere Bergführer – und alle treffen sie auf den Hüttenwirt, den König dieses Bergreichs. Er bestimmt, ob man hier oben einen Kasernenhof antrifft oder das heimelige Ofenbänkli. Ob es aus dem Backofen duftet oder aus den Skischuhen. Ob die Stube mit Bergphotographien verziert ist oder mit handgeschriebenen Befehlszetteln. Es gibt Hütten, in die kehrt man immer wieder zurück, andere verlässt man mit einem Gefühl der Dankbarkeit selbst im rauhen Gegenwind der dunkelsten Stunden vor Sonnenaufgang. Aber was ist mit denen, die zurückbleiben, deren Bergwelt die Enge ist und der Spültrog, die Abend für Abend die rotglühenden Felszacken durch die beschlagenen Scheiben ihrer Grossküche betrachten oder auf kleinen Feuern Suppen für die Sonnenverbrannten, Durchgefrorenen, Dankbaren bereiten? Nachzulesen ist solches in launigen Anekdotensammlungen, die ihren Unterhaltungswert auch in Buchform erst nach dem Genuss von mehreren Zwetschgenlutz zu entfalten vermögen. Eine ganz andere Lektüre erwartet uns dagegen in der Neuerscheinung «Firn» von Nicola Reiter, einem Journal, das mit jeder Seite fesselnder wird. In formaler Strenge notiert die Autorin ihre zwei Monate als Gehilfin in einer nicht näher bezeichneten SAC-Hütte. Sie hat eine schlechte

Saison erwischt. Zäher Nebel legt sich über den Berg und seine beiden ständigen Bewohner. Die vielen Tage ohne Gäste geraten zur Laborsituation für den Lagerkoller. Der Hüttenwirt im Muskelshirt, selbstsicher nur in der pedantischen Abfolge seiner gewohnten Arbeitsabläufe, versinkt in einen Winterschlaf vor dem Fernseher. Die Gehilfin lehnt sich mit Ritualen gegen das Nichts der Tage auf. Die tägliche Photographie trotz allem. Die Notiz zum Wetter, zur spärlichen Zahl der Gäste. Das Kneten des Brotteigs und die Fluchten in die felsenfeindliche Umgebung aus Steinschlag und rumpelndem Gletscher. Abends stummes Kartenspiel, morgens nervendes Gepfeife auf der Schwelle zum Mordmotiv – doch auch auf diese Weise kommen sich die beiden Insassen nicht näher. Bald schon zählt das Journal nicht mehr die verbrachten, sondern die noch verbleibenden Tage. Ab hier scheint dem Leser alles möglich. Vorahnungen aus polaren Expeditionsberichten überkommen einen, dunkle Sagen wehen aus der Erinnerung herauf, doch nichts von alledem geschieht. Heimlich verbrennen die beiden Müll an einer verborgenen Stelle und kehren schweigend zur Hütte zurück. In Firn spitzt sich kein Ereignis zu, sondern die Spannung. Bis zum beinah unerträglich konsequenten Schluss mit den lückenlosen Listen des Inhalts einer jeden Schublade der Hütte. Das Journal wird zum Abgrund. Die Autorin folgt ihrem strengen Konzept bis zum Ende und bannt eine beklemmende Atmosphäre, ohne dabei den Humor oder den Respekt zu verlieren. Firn ist keine nachträgliche Abrechnung geworden, sondern faszinierend unheilvolle Literatur. Vieles hätte geschehen können in diesem Sommer, passiert ist dieses grosse kleine Buch. � Nicola Reiter: Firn – Aufzeichnungen am Gletscher. Leipzig: Spector Books, 2012.

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Impressum / Aussicht

Impressum «Literarischer Monat», Nr. 08 Ausgabe Oktober 2012 Sonderbeilage des «Schweizer Monats» VERLAG SMH Verlag AG HERAUSGEBER & CHEFREDAKTOR René Scheu rene.scheu@schweizermonat.ch

Freie Sicht auf neue Bücher. Das ist der «Literarische Monat»! Erscheinungstermine 2012

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1. März

1. Mai

RESSORT KULTUR Michael Wiederstein michael.wiederstein@schweizermonat.ch KORREKTORAT Roger Gaston Sutter Der «Literarische Monat» folgt den Vorschlägen zur Rechtschreibung der Schweizer Orthographischen Konferenz (SOK), www.sok.ch. Stage Serena Jung Titelbild Christian Kracht, photographiert von Julian Baumann. GESTALTUNG & PRODUKTION Sabine Ruepp, www.aformat.ch

1. Juli

1. Oktober

1. Dezember

MARKETING & VERKAUF Urs Arnold urs.arnold@schweizermonat.ch ADMINISTRATION/LESERSERVICE Anneliese Klingler (Leitung) anneliese.klingler@schweizermonat.ch Rita Winiger rita.winiger@schweizermonat.ch ADRESSE «Schweizer Monat» SMH Verlag AG Vogelsangstrasse 52 8006 Zürich +41 (0)44 361 26 06 www.schweizermonat.ch ANZEIGEN anzeigen@schweizermonat.ch DRUCK pmc Print Media Corporation, Oetwil am See www.pmcoetwil.ch BESTELLUNGEN www.schweizermonat.ch Unterstützung UBS Kulturstiftung Oertli-Stiftung

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Vom Scherbenhaufen zum erfolgreichsten Land der Welt. Neu

Die Schweiz schien nach der folgenreichen Abstimmung gegen den EWR-Beitritt 1992 vor einem Scherbenhaufen zu stehen. Heute, 20 Jahre später, zählt sie wieder zu den erfolgreichsten Ländern der Welt. Wie ist das möglich? Nach 1992 vollzog der Bundesrat einen deutlichen wirtschaftspolitischen Kurswechsel. Der Wirtschaftshistoriker Silvan Lipp untersucht in seinem Buch, wie Regierung und Behörden die Zeichen der Zeit deuteten, wie sie zu Entscheidungen fanden und welche Massnahmen sie einleiteten. Sonderangebot für Leserinnen und Leser des «Literarischen Monats» Fr. 37.–* statt Fr. 48.– * (zzgl. Versandspesen von Fr. 8.–, Angebot nur in der Schweiz gültig)

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Silvan Lipp Standort Schweiz im Umbruch Fr. 37.– statt Fr. 48.– (zuzüglich Versandkosten) ISBN 978-3-03823-796-9

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Bestellungen per Mail: Vermerk «Schweizer Monat»


Kaspar Schnetzler erzählt virtuos die Geschichte des Zürcher Studenten Wenzel Morgentaler, der 1966 auf den Spuren Theodor Fontanes nach Berlin reist, um die Deutschen in der Gegenwart ihrer Geschichte kennenzulernen.

Kaspar Schnetzler Nach Berlin Der Roman eines sehnsüchtigen Zürchers, der unter dem weiten preußischen Himmel traumwandelt und schließlich im Emmental gebodigt wird. Die ersten 1000 Exemplare sind in Naturleinen gebunden und nummeriert! Jetzt im Buchhandel oder via Mail an info@bilgerverlag.ch

Unterhaltung mit Haltung – seit 2001


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