Schweizer Monat, Sonderthema 23, August 2015

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Mit Beiträgen und Interventionen von: Andreas Faller Guido Graf Martin Nufer Evelyne Reich Gerhard Schwarz u.a.

Was nützt es dem Patienten? Und was kostet es den Staatsbürger?

Vorschläge für mehr Wahlfreiheit und Innovation im Schweizer Gesundheitssystem.


Schweizer Monat SONDERTHEMA Mai 2015

«Wohlgetan ist es, die Gesunden sorgfältig zu führen, damit sie nicht krank werden.» Hippokrates von Kos (460 bis etwa 377 v. Chr.), griechischer Arzt

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Was nützt es dem Patienten?

Schweizer Monat SONDERTHEMA Mai 2015

Und was kostet es den Staatsbürger? Vorschläge für mehr Wahlfreiheit und Innovation im Schweizer Gesundheitssystem

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as Schweizer Gesundheitssystem gilt als gut, und es ist teuer. ­Qualität hat ihren Preis – das wissen alle. Aber wer gesund ist, kümmert sich gemeinhin nicht um Qualitäts- und Kostenfragen. Und Gesundheitspolitik ist ohnehin ein fremdes Wort bzw. Land: dass die Prämien für die Krankenkasse steigen, wird als Teil einer Entwicklung hingenommen, auf die der einzelne keinen Einfluss hat. Sobald jedoch ein gesundheitliches Problem auftritt, ändert sich die Lage. Plötzlich eröffnet sich ein Feld neuer Fragen: Wo erhalte ich die beste Therapie, wo habe ich langfristig die besten Chancen? Wie gross ist meine Wahlmöglichkeit? Und: wo drohe ich finanziell ruiniert zu werden? Was will ich als Patient in diesem Moment der Verletzlichkeit? Ich will gesund werden, möglichst schnell. Ich will von freundlichen und kompetenten Menschen behandelt werden, mit denen ich eine Beziehung aufbauen kann. Ich will von Menschen umgeben sein, die mir Hoffnung und Sicherheit geben. Der Wert medizinischer Versorgung lässt sich in Form einer mathematischen ­Gleichung ausdrücken: die für Patienten relevanten Ergebnisse geteilt durch die ­Kosten, die auf dem Weg zu diesen Ergebnissen entstehen. Der zweite Teil der ­Gleichung interessiert Patienten nur bis zu jenem Grade, wie sie dies aus der eigenen Tasche zu bezahlen haben. Den Rest tragen bekanntlich die anderen Staatsbürger bzw. Steuerzahler. Das Ziel dieser Sonderpublikation ist es, zwei Fragen in den Vordergrund zu rücken, die in technokratisch geführten Diskussionen zur Zukunft des hiesigen Gesundheitswesens oft untergehen – und gleichzeitig alle obigen Fragen subsumieren: Was ist der Nutzen des Gesundheitssystems aus Sicht des Staatsbürgers? Und was ist der Nutzen aus der individuellen Sicht des Patienten – also aus Ihrer Sicht? Wir wollen damit Aufklärungsarbeit leisten und zeigen, welche Reformen im Interesse des Patienten trotz vergleichsweise hoher Qualität des Status quo längst fällig sind. Es geht dabei stets um Ergebnisse statt Prozesse. Um Flexibilität statt Bürokratie. Um dezentrale Nachfrageorientierung statt zentraler Steuerung. Um Medizin statt Politik. Und weil wir uns mit Politik besser auskennen als mit Medizin, haben wir uns ­Unterstützung von aussen geholt. Wir danken Christine Huber und Martin Nufer von der Hirslanden-Klinik St. Anna in Luzern für ihre Hilfe bei der Konzeption und U ­ msetzung dieser Sonderpublikation. Wir wünschen anregende Lektüre. Die Redaktion

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Schweizer Monat SONDERTHEMA september 2015

Inhalt

Martin Nufer

06 fragt, ob die (Ergebnis-)Qualität

­ irklich so gut ist, w wie es der hohe Preis weismacht.

Guido Graf

10 spricht über den Wettbewerb

zwischen Spitälern und die Frage nach dem Wert eines Lebensjahrs.

Evelyne Reich

14 beschreibt den Graben zwischen ­regulatorischen Idealen und praktischem Spitalalltag.

Zahlen und Fakten

18 Wer bezahlt wie viel an wen?

Gerhard Schwarz

20 ergründet die Skepsis

gegenüber mehr Wahlfreiheit im Gesundheitswesen.

Andreas Faller

22 skizziert die Eckpfeiler

einer neuen Strategie abseits von Partikularinteressen.

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06

Mitarbeiter sollen­ befähigt sein, zum Wohle der ­Patienten auch dann Lösungen zu finden, wenn sie nicht im H ­ andbuch stehen. Martin Nufer

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Die Spitalplanung aus dem 19. Jahrhundert ist heute noch sichtbar – ein Spital muss mit einem Pferdefuhrwerk in einer Stunde erreichbar sein! Evelyne Reich

10

Der Patient hat nicht nur ein ­Interesse an einer ­guten und umfassenden ­Versorgung im ganzen Kanton, er ist auch P ­ rämienund Steuerzahler. Guido Graf

20

Den Entscheid ­ zwischen mehreren ­Automarken mag man bewältigen, den über eine Operation überlässt man oft zu leichtfertig den Experten bzw. ­akzeptiert, dass es nur eine Meinung und nur ein Angebot gibt.

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Die Qualität könnte besser werden, ohne dass die Kosten in die Höhe schiessen. Andreas Faller

Gerhard Schwarz

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Das Resultat zählt

Ist die medizinische Versorgung wirklich so gut, wie es die hohen Kosten weismachen? Und welchen Nutzen hat das Dickicht von Einzelvorgaben für den Patienten? Klar ist: es braucht mehr Fokus auf Ergebnisqualität. von Martin Nufer

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ie Medizin in der Schweiz ist zwar teuer, aber die Qualität ist sehr gut – so lautet wohl die gefühlte allgemeine Einschätzung. Während die hohen Kosten eine messbare Tatsache sind, soll uns die angeblich hohe Qualität etwas über den Schmerz des hohen Preises hinwegtrösten. Die im Gesundheitswesen involvierten Parteien, Spitäler, Krankenkassen, Verbände, medizinischen Fachgesellschaften, Bund, Gesundheitsdirektoren und Kantone – sie alle stellen selbstverständlich den Patienten ins Zentrum ihrer Bemühungen. Trotzdem sei aber die kritische Frage erlaubt: Ist die medizinische Versorgung wirklich von so hoher Qualität? Und erzielen die vielen Vorgaben der Behörden den entsprechenden qualitätssichernden Nutzen? Mit diesen wird ein höchst komplexer Problemkreis angesprochen. Denn nicht nur die Sicherung von Qualität, auch deren Erfassung und Beurteilung im Schweizer Gesundheitswesen erweisen sich als schwierig. Doch wollen wir uns deshalb davon abhalten lassen? Das üblicherweise in der Schweiz verwendete Qualitätskonzept beruht auf drei Pfeilern: Strukturqualität, Prozessqualität und Ergebnisqualität. Darunter sind – stark verkürzt – die folgenden Aspekte zu verstehen: Die Strukturqualität beinhaltet unter anderem bauliche und medizintechnische Infrastruktur sowie Kompetenzen und Fähigkeiten des Personals. Die Prozessqualität umfasst die Aktivitäten sämtlicher klinisch und administrativ tätigen Mitarbeiter zur Erbringung aller am Spital angebotenen Leistungen. Die Ergebnisqualität erfasst den durch die medizinischen Aktivitäten erreichten Effekt auf die Gesundheit des Patienten. Letztere hat den unmittelbarsten Bezug zum Patienten; entsprechend sollte die Globalqualität des helvetischen Gesundheitssystems unbedingt die Ergebnisqualität als relevante und aussagekräftige Grösse einschliessen. Erstaunlicherweise gibt es in der Schweiz aber wenig verwertbare Kennzahlen zur Ergebnisqualität, sei dies, weil die vergleichbare Erhebung komplex ist, sei es, weil sich Ärzte mit solchen Vergleichen schwer tun. Stattdessen versuchen staatliche Regulatoren durch ständig zunehmende Vorgaben im Bereich von Strukturen und Prozessen Einfluss zu nehmen; 6

Martin Nufer ist Internist und medizinischer Direktor der Luzerner Hirslanden-Klinik St. Anna, eines mittelgrossen Spitals mit Zentrumsfunktion.

Krankenkassen, medizinische Fachgesellschaften und Zertifizierungsinstitute folgen diesem Trend. Offensichtlich geht das medizinische Establishment von einer engen Ursache-Wirkungs-Korrelation zwischen Struktur- und Prozessvorgaben einerseits und guter Ergebnisqualität andererseits aus. Nur: überprüft wird dies selten. Dieser Mangel überrascht nicht nur, er lässt auch den Verdacht aufkommen, dass die Strukturund Prozessvorgaben nur vordergründig zur Qualitätsverbesserung gedacht sind (man prüft den Effekt ja nicht). Wie oft in anderen Bereichen ist auch hier eine «Hidden Agenda» am Wirken: Mein Verdacht ist, dass es mehr oder weniger heimlich um das Lenken von Patientenströmen in die grossen Spitäler geht, deren Vertreter in den Expertenkommissionen von Bund und Kantonen sitzen. Struktur- und Prozessvorgaben überborden Der Katalog mit Struktur- und Prozessvorgaben wird immer umfangreicher. Auf Kantonsebene haben die Handbücher mit den Bedingungen zur Vergabe von einzelnen Leistungsaufträgen einen Umfang angenommen, der nur noch bedingt zu bewältigen ist (Zürcher Spitalplanungs-Leistungsgruppenkonzept). Die Ausbildungspflicht von Spitälern und Heimen beschränkt sich zudem nicht mehr ausschliesslich auf die Anzahl Auszubildende, sondern wird mittlerweile detailliert bis auf die Anzahl der anzubietenden Praktikumswochen vorgegeben. Besonders heikel ist auch die Idee der kantonalen Bewilligungspflicht für medizinaltechnische Investitionen. Sie behindert nicht nur die Entwicklung, sondern zeigt akzentuiert den gefährlichen Interessenkonflikt, wenn der für die Bewilligung verantwortliche Kanton selber einen Mitbewerber betreibt. Auf Ebene Gesundheitsdirektorenkonferenz ist man im Bereich der «hochspezialisierten Medizin» (HSM) ebenfalls


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sehr aktiv; zu Beginn dieser HSM-Ära ging es um seltene, wirklich hochspezialisierte Probleme, bei denen eine Zuweisung an entsprechend erfahrene Kliniken unumstritten war. Inzwischen sollen indes auch nichthochspezialisierte Bereiche, wie zum Beispiel Teile der ambulanten Krebsbehandlung, zum Bereich der hochspezialisierten Medizin gezählt werden. Als Resultat müssen auch weniger anspruchsvolle Fälle umfangreiche Struktur- und Prozessvorgaben erfüllen. Und geradezu planwirtschaftlichen Einfluss will der Bund mit seinem Konzept «Gesundheit 2020» beispielsweise auf die Weiterentwicklung in der Medizin nehmen. So möchte er neue, innovative Verfahren vor deren Anwendung zukünftig durch die Mühlen einer Prüfungskommission schicken. Mittlere und kleinere Spitäler geraten als Folge dieser stetig wachsenden Struktur- und Prozessvorgaben unter Druck, da sie – anders als die grossen Spitäler – gar nicht über die Ressourcen verfügen, um alle Bedingungen umzusetzen. Zudem verteuert sich das Gesundheitswesen unnötigerweise. Der geplante Effekt, Grosse noch grösser zu machen, ist aber kritisch zu betrachten, da Qualität in der Medizin nicht à priori die Konsequenz von Grösse ist. Die durch den Regulator in diesem Zusammenhang forcierte Einführung von minimalen Fallzahlen pro Klinik und Operationsbereich hat im Ausland – trotz Konzentration – nicht zu nachgewiesener Qualitätsverbesserung beigetragen. Im Gegenteil, es wurden teilweise dramatische unerwünschte Nebenwirkungen registriert (vergleiche Kasten). Warum also wird der Fokus auf Struktur- und Prozessqualität und nicht auf Ergebnisqualität gelegt? Zugegeben, die Ergebnismessung ist komplex und aufwendig. Die aktuell vorhandenen Daten stammen oft aus Erhebungen durch Selbstdeklaration (die Spitäler beurteilen und erfassen die Ergebnisse selber), die Datenqualität ist in der Regel beschränkt. Damit Daten vergleichbar werden, müssen sie zudem bezüglich Patientenrisiken bereinigt werden. Der Todesfall eines schwerkranken alten Patienten mit hohem Operationsrisiko kann in der Statistik nicht gleich bewertet werden wie jener eines jungen, gesunden Patienten mit niedrigem Risiko. Weil die Ergebnismessung also komplex ist, weicht man auf die Vorgabe und Prüfung von Strukturen und Prozessen aus. Kantone, Krankenkassen, medizinische Fachgesellschaften, Zertifizierungsinstitute – alle auditieren praktisch ausschliesslich Strukturund Prozessqualität. Dies führt teilweise zu einem sich selbst perpetuierenden System mit laufend wachsenden Vorgaben, da die Kontingenz des Systems im Tagesgeschäft laufend Sonderfälle produziert, welche dann ebenfalls geregelt werden. Paradoxerweise führt diese stete Differenzierung nicht zur gewünschten Vereinfachung. Was wächst, ist nicht die Qualität, sondern die Komplexität, was erneute Regelungen erfordert. Das Phänomen der Überregulierung ist aber nicht nur beim Staat sichtbar. Ähnliche Entwicklungen sind im Klinik­

Bedenkenswert

Unerwünschte Nebenwirkungen bei der Einführung von minimalen Fallzahlen

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ine einfache Massnahme, Qualität zu steigern, schien die Einführung von minimalen Fallzahlen pro Eingriff und Spital zu sein. Die warnenden wissenschaftlichen Erkenntnisse aus der Einführung von minimalen Fallzahlen aus dem Ausland wurden bei der Schweizer Einführung dieses Konzeptes offenbar gering geschätzt. Das Problem ist folgendes: Zu Beginn der Einführung von minimalen Fallzahlen versuchen alle Leistungserbringer, die eigene Fallzahl möglichst zu steigern und hoch zu halten. Als Folge sinkt die Indikationsqualität und es werden Patienten operiert, welche allenfalls gar nicht hätten operiert werden müssen. Dieses Verhalten ist die Antwort auf die Drohung, bei zu wenig Fällen die Leistung nicht mehr erbringen zu dürfen. Ist das Feld der Anbieter dann bereinigt, verkehrt sich der staatliche Anreiz ins Gegenteil: Wenn man nicht mehr um die minimale Fallzahl kämpfen muss, dann werden die Leistungserbringer versuchen, möglichst komplikationslos zu arbeiten, was dazu führt, dass Patienten mit erhöhten medizinischen Risiken (beispielsweise höheres Alter, Übergewicht, Zuckerkrankheit) nicht mehr operiert werden, um die eigenen guten Qualitätszahlen nicht durch Komplikationen zu kompromittieren. Diese Selektion von Patienten mit tiefen Risiken führte also dazu, dass gewisse Patienten, denen geholfen werden könnte, keine optimale Behandlung mehr erhalten. M.N.

alltag zu beobachten. Überraschenderweise fordern auch Mitarbeiter, dass sämtliche Fragen aus dem operativen Geschäft mittels interner Weisungen zu regeln sind. Dies führt zu einer schwer überschau- und nutzbaren Masse an Dokumenten (in unserer Klinik sind es mehrere Tausend!). Der Wunsch ist zwar nachvollziehbar, birgt aber die Gefahr des automatisierten oder programmierten Handelns. Was dabei verloren gehen könnte, ist die Fähigkeit zum situativen Reagieren auf Sonderfälle. Auch spitalintern muss man somit gut überlegen, wo überall interne Weisungen die praktische Arbeit anleiten sollen. Mitarbeiter sollen befähigt sein, zum Wohle der Patienten auch dann Lösungen zu finden, wenn die Anweisungen dazu nicht im Handbuch stehen. Freilich setzt das ein Vertrauensklima voraus, das zu selbstverantwortlichem Handeln mo7


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«Wem hohe Qualität und die Effizienz der Leistung in der Medizin wesentlich sind, tut gut daran, im Interesse des Patienten Eigenverantwortung und Wettbewerb ins Zentrum zu stellen.» Martin Nufer

tiviert und in Fehlern – ja, Fehler werden auch in der Medizin gemacht – einen Anlass erkennt, der in sich ein Potenzial zu einer echten Qualitätssteigerung birgt. Wahlfreiheit auch für Kliniken Es ist eine fein auszutarierende Entscheidung, wo es Vorgaben des Regulators braucht und wo das Individuum selber entscheiden darf. Aus Kliniksicht ist bei der Art und Weise der Leistungserbringung grösstmögliche Freiheit zu gewähren. Wenn Bund und Kantone regulierende Vorgaben bezüglich einzelner Leistungsangebote machen, dann sollten Kliniken bei der Entwicklung breit vertreten sein. Die Kliniken sollen zudem primär anhand ihrer Ergebnisqualität gemessen werden, und nicht – wie oben dargelegt – allein aufgrund des Umsetzungsgrades von Struktur- und Prozessvorgaben. Bei der staatlichen Vergabe von Leistungsaufträgen hat die Ergebnisqualität als Entscheidungskriterium ausschlaggebend zu sein. In Zukunft sollten sämtliche Parteien im Gesundheitswesen also deutlich mehr Gewicht auf die standardisierte Erhebung von Outcomedaten legen. Diese dienen nämlich Patienten und Spitälern, denn sie führen über Vergleiche und interne Analysen zu Verbesserungsmassnahmen und damit zu echten Qualitätssteigerungen. Wie diese Verbesserung erreicht wird (Struktur- und Prozessanforderung), ist im wesentlichen den einzelnen Leistungserbringern zu überlassen. Es bleibt die Frage nach der Transparenz dieser Daten. Die Veröffentlichung von Ranglisten mit Qualitätszahlen kann unerwünschte Nebenwirkungen haben. An den Pranger ge-

stellt gehören Praktiken, die aus Marketinggründen auf die Beeinflussung der Rangliste fokussiert sind. Wenn ein Patient künstlich für 31 Tage am Leben erhalten wird, um die Statistik der 30-Tage-Sterblichkeit nicht zu belasten, ist diese Praxis nicht nur ethisch verwerflich, sondern auch ein Beispiel für die Verschwendung von Ressourcen1. Im Grunde sind Patienten und Spitäler in einer problematischen Beziehung verbunden. Die einen wollen eine unabhängige Bewertung, was die anderen zu dauernden Rankingverbesserungen animiert, die allenfalls gar nicht auf realer Qualitätssicherung beruhen. In den USA wird die Problematik teilweise entschärft, indem einzelne Qualitätsinstitute statt Spitalranglisten Einteilungen in Quintilen (Ein- bis Fünfsternspitäler) machen. Wettbewerb ist und bleibt für alle Beteiligten ein schwieriges und komplexes Unterfangen. Doch wiederum: wollen wir uns deshalb davon abhalten lassen? Der Wille, hohe Qualität und ökonomische Effizienz durch Wettbewerb zu fördern, war auch der Grundgedanke des reformierten Krankenversicherungsgesetzes im Jahre 2012. Stattdessen entwickelt sich das Schweizer Gesundheitssystem in Richtung eines Dickichts von unzähligen Einzelvorgaben und Beschränkungen, die mehr einer Planwirtschaft statt einem klugen Anreizsystem gleichen. Wem hohe Qualität und die Effizienz der Leistung in der Medizin wesentlich sind, tut gut daran, im Interesse des Patienten Eigenverantwortung und Wettbewerb ins Zentrum zu stellen. � 1

Beispielhafte Anekdote eines in den USA tätigen Kollegen.

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«Ich plane keine Möbelstücke»

Der Luzerner Gesundheitsdirektor Guido Graf will echten Wettbewerb im Gesundheitswesen. Im Ernst? Ein Gespräch über hohe ­Qualitätsansprüche, alternde Babyboomer und den Wert eines zusätzlichen Lebensjahrs. Florian Rittmeyer trifft Guido Graf

Herr Graf, alle reden über die Kosten des Gesundheitswesens. Lassen wir die Spesen zunächst aussen vor und beginnen fundamental: Was bedeutet für Sie Qualität in der Medizin?

Ich verstehe darunter die bestmögliche medizinische Versorgung. Wenn diese nicht stimmt, spricht sich das sehr schnell rum. Keine Patientin und kein Patient wird sich in einem Spital behandeln lassen, das schlecht beleumdet ist. Deshalb hat jeder Leistungserbringer die Motivation und das allergrösste Interesse, dass seine Arbeit hohen Qualitätsansprüchen genügt. Tut er das nicht, kann oder muss er sein Geschäft schliessen. Auch weil Sie dafür als Gesundheitspolizei garantieren müssen?

Richtig. Wenn Sie in ein Spital gehen, können Sie also davon ausgehen, dass die Qualität hohen Ansprüchen genügt. Ich muss vorausschicken, dass ich – im positiven Sinne – «hausarztgeschädigt» bin. Ich bin in einer Landgemeinde aufgewachsen, in der der Hausarzt sieben Tage und 24 Stunden wirkte – und den die ganze Gemeinde kannte. Das hat mir imponiert. Wichtig ist, dass der Hausarzt mich rechtzeitig an den richtigen Ort verweist. Deshalb lege ich grossen Wert auf eine gute Hausarztmedizin – sie ist der Schlüssel für ein gutes Gesamtsystem. Ich wuchs neben einem Hausarzt auf und habe gesehen, wie der um 9 Uhr abends noch Anrufe erhielt und bei allen möglichen Arten von Problemen gerufen wurde – aber die Zeiten sind doch im urbanen wie im ländlichen Raum vorbei.

Natürlich, es gibt immer mehr Gruppenpraxen. Aber auch eine moderne gute hausärztliche Versorgung gibt der Bevölkerung weiterhin Sicherheit – und hilft mir, Kosten zu sparen. Denn der Hausarzt sagt, zu welchem Spezialisten der Patient gehen soll. Die richtige Zuweisung ist das A und O. Wenn die Weichen zu Beginn falsch gestellt werden, brauchen Diagnose und Heilung viel mehr Zeit – und es kostet natürlich auch mehr. Wissen Sie eigentlich um die Zufriedenheit der Patienten in Ihrem Kanton?

Ja, denn Zeichen der Unzufriedenheit landen direkt auf meinem Pult. Ich erhalte von allen Listenspitälern einmal oder zweimal im Jahr eine Liste mit allen Reklamationen. Diese Liste durchforste ich dann selbst und schaue, um welche Art von Beschwer10

Guido Graf ist Regierungsrat des Kantons Luzern und leitet das Gesundheits- und Sozialdepartement. Vor seiner Wahl war er Kantonsrat für die CVP und führte sein eigenes Unternehmen, das gemeinnützige Organisationen managte.

den es geht. Da gibt es Leute, die sich beschweren, dass es in der Cafeteria zu wenige Zeitungen habe, dass die Handtücher nicht sorgfältig gefaltet waren. Und es gibt andere Beschwerden, bei denen ich sage: hier müssen wir handeln. Und für jene Patienten, die meinen, sie seien zu Unrecht nicht oder nicht rechtzeitig in einem Spital aufgenommen worden, haben wir extra eine Beschwerdestelle eingerichtet. Dies wirkt offenbar schon präventiv. Denn es gibt sozusagen keine Beschwerden. Das klingt nach Mehraufwand. Ärzte beschweren sich wie Lehrer und andere Berufsgruppen darüber, dass sie sich mit immer mehr Bürokratie herumschlagen müssen.

Richtig – und das tun sie oft zu Recht. Aber das Beschwerdemanagement ist machbar und gibt mir die Sicherheit, als Gesundheitsdirektor sagen zu können, ob die Abläufe funktionieren oder nicht. In der Qualitätssicherung geht es um Prozesse und um Standards, mit denen Laien nicht viel anzufangen wissen. Wie wichtig ist es für einen Patienten, der mit einer Lungenentzündung eingeliefert wird, ob die Notfallkoje über genügend Quadratmeter verfügt oder ob das Spital einen Standardprozess für die Dateneingabe in die Lungenentzündungsdatenbank hat?

Für den Patienten ist vor allem eines entscheidend: dass er möglichst schnell wieder gesund wird. Wichtig ist also alles, was zur Gesundung beiträgt. Es ist zweitrangig, ob für die Dateneingabe in eine Lungenentzündungsdatenbank ein Prozess beschrieben ist. Wesentlich ist für den Patienten und auch für zukünftige Patienten, dass die Einträge gemacht werden. Mit ihnen kann man den Langzeitverlauf dokumentieren. Ich unterstütze also die Dokumentation, will aber keine Vorschriften machen, wie das geschehen soll.


«In Zukunft werden alle Arten von Spitälern noch enger zusammenarbeiten müssen.» Guido Graf

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Wenn ich eine Lungenentzündung hätte, könnte ich doch gar nicht beurteilen, ob und welchen Standards der Arzt folgt. Was ich hingegen nach der Behandlung beurteilen kann, ist, wie ernst mich der behandelnde Arzt genommen hat, wie gut umsorgt ich wurde, wie effektiv die Kommunikation zwischen Hausarzt und Spital war. Welche Rolle spielen solch subjektive Eindrücke für die künftige Qualitätssicherung?

Die sogenannt weichen Faktoren sind für den Patienten meistens auch sehr wichtig, sie sind meistens auch das, was er seinen Verwandten und Bekannten erzählt. Was das Medizinische angeht, so verspricht sich der Patient in aller Regel, dass Ärzte und Pflegefachleute ihr Handwerk verstehen. Stimmt. Nur: müsste die messbare Ergebnisqualität in Form von Ranglisten für Patienten nicht eine grössere Rolle spielen, wenn es um die Spitalwahl geht?

Theoretisch schon. Doch wie praxistauglich wäre dies? Nehmen wir ein anschauliches Beispiel: Wenn die Lebensmittelkontrolle etwas beanstandet, hat jeder Wirt das grösste Interesse, dass sein Restaurant nicht als Schmuddelbeiz bekannt wird. Er wird deshalb die Mängel so schnell wie möglich be­ heben. In einem Spital ist der Handlungsbedarf sogar noch grösser. Es wird so schnell wie möglich Massnahmen einleiten, um die geforderte Qualität wieder zu gewährleisten. Denn bei der Qualität in der Gesundheitsversorgung ist kein Patient ­bereit, Kompromisse einzugehen. Das ist nicht wie bei einem Hotelbewertungsportal, wo der Gast bereit ist, Qualitätsabstriche zu machen, wenn der Preis deswegen tiefer ist. Deshalb glaube ich auch nicht, dass sich eine Qualitätsrangliste unter den Spitälern erstellen und veröffentlichen liesse. Diese müsste ständig korrigiert werden, weil jedes Spital laufend seine Qualität zu verbessern versucht. Wie bei einem Restaurant soll deshalb der Patient davon ausgehen dürfen: wenn es offen ist, stimmt die Qualität. Sie sind ehemaliger Unternehmer, Sie kennen die Vor- und Nachteile des Wettbewerbs. Wie gross ist Ihr Vertrauen in staatlich gelenkte Medizin?

Ich unterscheide mich vielleicht von einigen anderen Gesundheitsdirektoren, wenn ich offen sage: ich glaube an den Wettbewerb. Ich will nicht lenken, sondern den Wettbewerb spielen lassen. Eine Staatsmedizin ist auch nicht die Idee des Bundesgesetzes über die Krankenversicherung. Vom Ideal sind wir jedoch noch ein grosses Stück entfernt. Der Wettbewerb als Mittel zum Zweck?

Der Wettbewerb ist kein Selbstzweck. Er sichert Qualität und tiefe Preise. Gleichzeitig bin ich davon überzeugt, dass ein im Gesundheitswesen gelebter Wettbewerb gewisse Vorschriften braucht, die Qualität und Sicherheit gewährleisten. Wichtig ist, dass jeder Bürger und jede Bürgerin zu jeder Zeit Zugang zu Spitälern haben. Zwischen freiem Wettbewerb und diesen Ansprüchen braucht es also ein vernünftiges Mischsystem. Als Gesundheitsdirektor des Kantons Luzern muss ich den Service 12

public einer Grundversorgung sicherstellen. Ansonsten würden die Spitäler nur noch anbieten, was für sie rentiert, spannend ist... ...und Reputation bringt.

Richtig. Hier muss ich als Gesundheitsdirektor Einfluss nehmen. Aber abseits davon lautet meine Devise: laufen lassen. Dieses Mischsystem hat zur Folge, dass Sie darüber verfügen, mit welchen Spitälern und Ärzten Versicherer zusammenarbeiten müssen. Sie können auch entscheiden, wer Bauchspeicheldrüsenoperationen anbieten darf und wer nicht. Solche Entscheide bedeuten viel Macht in einem hochkomplexen System: Hand aufs Herz, fühlen Sie sich zuweilen überfordert?

Nein. Sie haben das Beispiel der Bauchspeicheldrüsenopera­ tionen genannt. Geht es um solche, muss ich als Gesundheitsdirektor in erster Linie sicherstellen, dass ein Spital genügend Operationen dieser Art gemacht hat. Wenn ein Spital eine gewisse Anzahl von Operationen und Fällen nicht erreicht, bestünde die Gefahr, dass das Operationsteam wenig Routine und Erfahrung hätte. Dann muss ich handeln. Dies zu kontrollieren, ist keine Hexerei. Weil das Prinzip gilt: wer hat, dem wird gegeben?

Nein. Es gilt: wer will, der kann mitmachen, wenn die Qualität stimmt. Egal ob privat oder öffentlich – ich behandle alle gleich. Sie stehen aber dem Kantonsspital vor.

Der Kanton ist Eigentümer. Das Kantonsspital ist aber rechtlich verselbständigt. Die Tarife handeln Leistungserbringer und Versicherer alleine aus. Werden sich die beiden einig, genehmigt die Regierung die Tarife, sofern sie wirtschaftlich sind. Wenn sie sich nicht einig werden... ...was immer häufiger der Fall ist…

...ja, leider. Dann muss die Regierung einen Preis festsetzen. Die Parteien können dann bis vor Bundesverwaltungsgericht gehen. Also letztlich bestätigt ein Gericht den Preis – oder legt den Preis neu fest. Sie sehen, so viel Gewicht oder Einflussnahme habe ich nicht. Wichtig ist mir, dass alle Akteure gleich lange Spiesse haben. Ich hake nochmal nach: wie kann Ihre Vielfachrolle im Interesse des Patienten sein?

Der Patient hat nicht nur ein Interesse an einer guten und umfassenden Versorgung im ganzen Kanton, er ist auch Prämienund Steuerzahler. Der Kanton bezahlt 55 Prozent der stationären Kosten. Das sind jährlich rund 300 Millionen Franken Steuergeld. Ich glaube, dass es hier angebracht ist, wenn die Politik mitredet. Der Vorwurf kleinerer Spitäler und gewisser Kantone lautet: mit der hochspezialisierten Medizin werde Machtpolitik betrieben und grosse Spitäler würden ihre Kosten decken und vorschreiben wollen, was wo operiert werden darf. Was geht Ihnen bei dieser Diskussion durch den Kopf?

Ich bin Mitglied des Beschlussorgans. Innerhalb des Gremiums werden sehr harte, aber konstruktive Diskussionen geführt. Es


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gibt einerseits die Extremposition, möglichst viel an wenigen Standorten zu konzentrieren, und auf der anderen Seite, möglichst alles in allen Regionen anzubieten. Aus Sicht von Regional- und Zentrumsspitälern ist es wichtig, dass sie ein gewisses Spektrum von medizinischen Leistungen anbieten können. Ansonsten wäre es wie im Falle eines Lebensmittelladens, dem verboten wird, Frischprodukte anzubieten. Wenn man einem Spital die spezialisierte Onkologie oder Viszeralchirurgie wegnähme, dann entzieht man ihm unter Umständen Möglichkeiten, auf die es angewiesen ist. Ein Spital muss spannende Arbeit anbieten, um gute Ärzte anziehen zu können. Luzern ist ein Modellkanton mit einem öffentlichen und einem privaten Spital. Das öffentliche Spital arbeitet intensiv mit dem Kantonsspital Nidwalden zusammen. Sind Fusionen notwendig, um sich langfristig im Gesundheitsmarkt behaupten zu können?

Zusammenarbeit ist wichtig. Aber Zusammenarbeit ist nicht gleich Fusion. In Zukunft werden alle Arten von Spitälern noch enger zusammenarbeiten müssen. Also auch Kooperationen zwischen öffentlich-rechtlichen und privaten Spitälern?

Diese sehe ich kommen. Wichtig ist, und hier stehen noch grosse Schritte bevor: in der Gesundheitsversorgung gibt es keine Kantonsgrenzen mehr. Das ist vorbei, fertig, erledigt. Ich komme nochmals auf den Wettbewerb zurück: dieser hat zum Ziel, dass sich die Patienten frei bewegen können – auch über Kantonsgrenzen hinweg. Und wie entstehen solche Patientenströme? Ich meine: Wettbewerb bedeutet doch, dass ähnliche Anbieter um die Gunst der gleichen Patienten buhlen. Ist also eine Art Überangebot nötig oder gar gewünscht?

Ich greife wieder auf das Beispiel aus der Gastronomie zurück. Wir haben einen Ort mit zwei Restaurants und 100 Gästen, die gerne in Restaurants essen. Es wird nie einen Wettbewerb geben, wenn wir den Restaurants vorschreiben, dass sie nur je 50 Plätze haben dürfen. Die beiden hätten immer volles Haus und müssten sich gar nicht mehr anstrengen. Erst wenn beide so viele Plätze anbieten dürfen, wie sie wollen, entstehen Qualität, tiefe Preise und guter Service. Es braucht also letztlich ein leichtes Überangebot. Ich will nicht, dass Spitäler grosse Überkapazität haben. Diese kostet. Es muss jedoch in der Schweiz mehr Plätze haben als unbedingt nötig. Mich stört es nicht, wenn ein Spital mal leere Betten hat. Betten sind nur Möbelstücke. Und: ich plane keine Möbelstücke. Kommen wir zum Schluss noch zur Kostenfrage. Ende September gibt das Bundesamt für Gesundheit die Kranken­kassenprämien bekannt. Die Kosten steigen. Sind sie Ausdruck besserer Qualität?

Höhere Preise bedeuten nicht automatisch bessere Qualität. Die Preise steigen vor allem wegen des medizinischen Fortschritts, das heisst: bessere Diagnose- und Behandlungsmög-

lichkeiten, aber besonders auch aufgrund der demographischen Entwicklung. Die Babyboomer kommen in das Alter, in dem sie mehr kosten als einzahlen. Wie gross ist das Risiko, dass der allgemeine Kostendruck auf die Kantone dazu führt, dass man im Gesundheitswesen übermässig auf die Kosten fokussiert und andere Dinge aus den Augen verliert?

Wir kommen nicht um die Diskussion herum, welche Leistungen die soziale Krankenversicherung in Zukunft abgelten soll und welche nicht. Es geht dabei nicht darum, welche bisherigen Leistungen künftig nicht mehr bezahlt werden. Es geht um zukünftige Leistungen. Der medizinische Fortschritt hat vor allem positive, aber auch problematische Seiten. Ich denke an die ganze Stammzellen- und Genforschung. Man muss sich die Frage stellen, ob der zusätzliche Nutzen in einem richtigen Verhältnis zu den zusätzlichen Kosten steht. Das Bundesgericht hat in einem Urteil entschieden, dass ein Lebensjahr bei guter Lebensqualität einem Betrag von 100 000 Franken entspreche.

Dass ein Gericht dies überhaupt beurteilen musste, hat mich sehr gestört. Es handelt sich um eine extrem schwierige Frage, um die sich kein Gericht reisst.

Es ist und bleibt aus meiner Sicht eine ethische und politische Frage. Es gibt in Zukunft immer mehr medizinische Methoden und Medikamente, bei denen wir die Frage stellen müssen: Was ist der zusätzliche Nutzen für den Patienten? Was sind die zusätzlichen Kosten? Das ist nun reichlich abstrakt. Worauf wollen Sie hinaus?

Ich zeige Ihnen an einem Beispiel die Mentalität der Schweiz: Ein Bürger geht in die Migros einkaufen. Er kann aus dem Teigwarenregal zu den M-Budget-Spaghetti greifen. Diese sind gut. Man merkt den Unterschied wohl kaum. Dieser Konsument kommt zum Schluss, dass das Preis-Leistungs-Verhältnis stimmt. Jetzt geht die gleiche Person ins Spital. Im Spital will sie keine M-Budget-Produkte, sondern nur das Beste. Und zwar deshalb, weil sie es selbst nicht zahlen muss. Deshalb gibt es hier einfach Aufgaben, die die Politik lösen muss. Wie genau?

So unangenehm und schwierig es ist: die Gesundheitsdirektoren müssen sich solchen Fragen stellen. Wir sagen alle, dass wir keine Zweiklassenmedizin wollen. Je länger wir zuwarten, desto eher geht die Entwicklung in diese Richtung. Es geht um 72 Milliarden Franken pro Jahr. Wir müssen den Mut haben, uns zu entscheiden. Entweder sagt man: wir geben dem Gesundheitsmarkt zusätzliche Mittel und akzeptieren die Kosten, oder wir stellen bei neuen Produkten, Medikamenten und Therapien konsequent die Kosten-Nutzen-Frage. Es wird schwierig sein. Einer 40jährigen Frau mit zwei Kindern ein Krebsmedikament zu verwehren, wäre ein enorm schwieriger Entscheid. Aber: der darf nicht den Gerichten überlassen werden. � 13


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Was will und bekommt der Patient?

Zwischen Markt- und Planwirtschaft – eine Sicht und Wertung aus dem praktischen Alltag von Evelyne Reich

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ie Medizin ist eine weltumspannende und auch völkerverbindende Wissenschaft. Auf der ganzen Welt wird intensiv geforscht und entwickelt, bereits in der Schweiz ist die Medizin ein Milliardenmarkt. Auch hierzulande haben die medizinischen Fortschritte der letzten Jahre und Jahrzehnte Millionen von Menschen das Leben erleichtert, das gilt insbesondere für die neuen Behandlungsmöglichkeiten von Krebsund Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Als Nachweise für diese positive Entwicklung mögen das rasch angestiegene Durchschnittslebensalter und die stark ausgebaute Versorgung, die bis in die entlegensten Täler der Schweiz reicht und insbesondere für die älteren Bevölkerungsschichten sehr viel zur besseren Lebensqualität beiträgt, dienen. All diese Entwicklungen sind wunderbar – warum also wird immer wieder von Problemen in unserem Gesundheitswesen gesprochen?

Föderaler Staat – föderale Gesundheitsversorgung Die Schweiz ist klein, leistet sich aber bewusst 26 verschiedene Gesundheitswesen: in jedem Kanton ein eigenes. Das aus einem einfach Grund: die eigentliche Versorgung ist gemäss Bundesverfassung weitgehend den Kantonen überlassen, der Bund übernimmt nur Aufgaben von übergeordneter Bedeutung, wie z.B. die Vorsorge bei Epidemien. Diese dezentrale Gesundheitsversorgung – insbesondere auch die Spitalversorgung – ist prestigeträchtig: Die meisten Kantone sind sehr stolz auf ihre Infrastrukturen und nicht bereit, auch nur den kleinsten Teil an einen anderen Kanton abzugeben. In einem Einzugsgebiet von der ungefähren Bevölkerungsgrösse einer Stadt wie London gibt es hierzulande also über zwei Dutzend verschiedene Versorgungssysteme, die sich zum Teil deutlich unterscheiden. Das ist für alle Beteiligten, nicht nur für die Patienten, Errungenschaft wie gewaltige Herausforderung zugleich, denn für die Abwicklung der medizinischen Versorgung sind jeweils drei Parteien im Boot, die alle unterschiedliche Funktionen und Kompetenzen einbringen: die Leistungserbringer, die Krankenversicherungen und der Staat. Minutiös werden die Beziehungen zwischen diesen drei Akteuren so verknüpft, dass keine der Parteien zu viel Macht, Spielraum und 14

Evelyne Reich ist Direktorin des Spitals Lachen im Kanton Schwyz. Sie hat Psychologie studiert, einen Master in Spitalmanagement ­abgeschlossen und war 12 Jahre lang Vorsteherin des Schwyzer Amtes für Gesundheit und Soziales.

Einfluss erhält. Und: der Patient, seine Wünsche und Möglichkeiten, werden dabei nicht selten aus den Augen verloren. Was aber will der Schweizer Patient? Umfragen und Abstimmungen zeigen, dass er den Arzt selbst wählen will, keine Einheitskrankenkasse wünscht, eine breite wohnortsnahe Versorgung auf hohem Niveau erwartet, dabei aber nicht bereit ist, Wartezeiten in Kauf zu nehmen. Die Krankenversicherung sieht er dabei nicht mehr als Solidaritätsleistung für den Fall einer ernsthaften Erkrankung, sondern als ein durch die Prämienzahlung erworbenes Recht auf den regelmässigen Konsum von medizinischen Leistungen. Was wurde zur Befriedigung dieser Wünsche getan? Die Krankenversicherung ist seit 1996 für alle Einwohner und Einwohnerinnen der Schweiz obligatorisch. Einerseits wollte man damit den gleichberechtigten Zugang zu medizinischen Leistungen für alle gewährleisten, andererseits die Leistungen konzentrieren und eine einheitliche Entwicklung der medizinischen Versorgung fördern. Seither sind viele neue staatliche Verordnungen entstanden, teils auf Wunsch der Patienten – an der Urne. Und diese Verordnungen werden 26fach auf teils höchst verschiedenen, «kreativen» Wegen von den Beteiligten im Gesundheitswesen umgesetzt. Ein gutes Beispiel dafür ist die 2011 eingeführte Pflegefinanzierung (stationäre und ambulante Langzeitpflege), die je nach Kanton ganz unterschiedlich organisiert ist. Das macht angesichts der Tatsache, dass die Leistungen der Langzeitpflege – ähnlich etwa wie diejenigen der AHV oder Ergänzungsleistungen – gesetzlich genau definiert sind, wenig Sinn. Der bunte Strauss an verschiedenen Organisationsund Finanzierungsformen erschwert nur den meist hochbetagten und pflegebedürftigen Patienten, eigenständig den Überblick zu behalten und sich noch relativ frei an einen anderen Wohnort, z.B. in die Nähe ihrer Kinder, zu bewegen.


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Und das Resultat dieser Vielfalt? Eine beispiellose Kostenexplosion im Gesundheitswesen in den letzten beiden Jahrzehnten. Und eine teils hochangespannte Situation in den verschiedenen Versorgungseinheiten. Schauen wir diese also an einem Beispiel noch näher an. Die Kehrseite des föderalen Gesundheitswesens – Beispiel Spitäler Die heutige Schweizer Spitalversorgung entstand weitgehend bereits Ende des 19. Jahrhunderts. Die damalige Spitalplanung ist heute noch sichtbar, denn die zentrale Vorgabe beim Krankenhausbau lautete: ein Spital musste mit einem Pferdefuhrwerk in einer Stunde erreichbar sein, z.B. aus dem Wägital oder aus Feusisberg nach Lachen! Da die meisten Schweizer Kutschen heute durch Automobile aus aller Welt ersetzt wurden, liegt es nahe, zu behaupten, dass einige Spitäler heute überflüssig sind. Die verschiedenen Regionen aber halten – politisch zäh – trotzdem an ihrer Spitalversorgung fest. Aus gutem Grund, denn vor dem Hintergrund des breiteren medizinischen Angebotes, der gewachsenen Bevölkerung sowie der um Jahrzehnte gestiegenen Lebenserwartung machen die früheren Strukturen auch heute noch Sinn. Anstelle von grossen, unpersönlichen Versorgungszentren mit hohem Verkehrsaufkommen haben wir kleinere Spitäler mit einem breiten, teils spezialisierten Angebot. Sie sind flexibel, wohnortsnah und arbeiten mit anderen Spitälern zunehmend intensiver zusammen. Dabei stehen sie unter enormem Druck. Die Kantone, die mindestens 60 Prozent der ­S pitalkosten tragen, müssen sparen, die Versicherungen auch. Patienten wollen aber weiterhin selbst entscheiden, welche Leistungen sie beziehen – und die Ärzte, welche Leistungen sie anbieten. Jedes Spital befindet sich in einem ­S pagat zwischen freiem «Konsumieren» bei gleichzeitig strenger Eindämmung der Kosten. Hinzu kommt, dass Privatspitalgruppen in den Markt dringen und versuchen, durch gezielte Auswahl lukrativer Leistungsbereiche zusätzliche Marktanteile zu gewinnen. Versuchen Sie einmal, als Patient, um den es in diesem Dickicht aus Leistungsangeboten, Bundes- wie Kantonsvorgaben und lokalem Spardruck ja geht, die Übersicht zu behalten! Transparenz dank Fallpauschale? Der Unübersichtlichkeit Herr zu werden, versuchte man auf verschiedenen Wegen. Anders als erwartet haben aber beispielsweise die 2012 eingeführten Fallpauschalen bisher keine erhöhte Transparenz geschaffen. Anstelle einer einheitlichen Pauschale, die landesweit gilt, verhandeln Versicherer und Leistungserbringer für jedes einzelne Spital Pauschalen aufgrund der Kostenstruktur. Dadurch ergibt sich die absurde Situation, dass die gleiche Behandlung für verschiedene Versicherungen im gleichen Spital unterschiedlich teuer sein kann.

Für die Patienten ist die Situation dabei doppelt unübersichtlich, weil sie oft Differenzzahlungen leisten müssen, wenn sie von der freien Spitalwahl Gebrauch machen. Grosse Systemverzerrungen gibt es auch bei den Zusatzversicherungen. Für identische Behandlungen mit den gleichen Belegärzten erhalten Privatspitäler Tausende Franken mehr als Spitäler mit öffentlichem Auftrag. Es gibt keine sachlichen Begründungen dafür. Diese «Verhandlungen» sind, so muss man konstatieren, nichts anderes als Kartellabsprachen. Die jährlichen Tarifverhandlungen verkommen dadurch mehr und mehr zu eigentlichen Possenspielen. Neu entscheidet mit steigender Tendenz das Bundesverwaltungsgericht über die Tarife der Spitäler. Das System zeigt also deutliche Schwächen! Warum beheben wir sie nicht? Weil die freie Spitalwahl, der Preisdruck und die Verselbständigung der Spitäler auch ihr Gutes haben – etwa im Bereich der Investitionen: Eine Welle der Erneuerung hat die Spitäler in der Schweiz erfasst. Investitionen in Milliardenhöhe werden getätigt. Dies wird zu einer kompletten Neuaufstellung der Spitalwelt und zu interessanten neuen Konstellationen und Kooperationen führen. Und unter dem Strich ist der Nutzen dieser Aufrüstung für die Patienten unbestritten: Sie bekommen alles, was sie laut Umfragen wollen. Sie ­können den Behandlungsort, auch wohnortsnah, frei wählen, sie ­haben je nach Versicherungsart auch freie Arztwahl. Und es ist ­ihnen nach wie vor möglich, Behandlungen nach Bedarf vornehmen zu lassen – und das auch in Spitälern mit Topinfrastrukturen. Bisher ging es bei jeder Reform, die versucht wurde, darum, die Kosten einzudämmen, ohne den Patienten und seine Bedürfnisse einzuschränken. Man wollte um jeden Preis mehr Markt schaffen, indem beispielsweise die einheitliche Finanzierung der Spitäler durch Fallpauschalen eingeführt wurde. Im gleichen Atemzug wurde aber jedem Spital – wie früher – wieder eine eigene Pauschale zugestanden. Damit ist der ganzen Reform bereits ein Teil der Zähne gezogen worden. Angesichts dieser Situation, die natürlich rasch erkannt wurde, verschärften sich die Kontrollen. Die Folge sind mehr Statistiken und Nachweise mit viel höherem Aufwand für Controlling. Die Spirale drehte sich munter weiter und der Markt wurde erfolgreich eingeschränkt… Als langjährig im Gesundheitsbereich tätige Fachperson komme ich darum mehr und mehr zum Schluss, dass es gar nicht ums Geld gehen kann. Dieses ist nämlich vorhanden, Jahr für Jahr – allen Unkenrufen bei den Prämienveröffentlichungen im Herbst zum Trotz. Die Schweizer wollen ein teures und sehr gutes Gesundheitswesen. Solange am heutigen Versorgungssystem festgehalten wird, dürfte es kaum essentielle Änderungen geben. Und dies aus einem einfachen Grund – seien wir so ehrlich und realistisch –: viele profitieren davon, und nicht zuletzt und vor allem auch: die Patienten! � 17


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Kantone

IPV

Transfers in der Grundversicherung (OKP)* Solidarität ist ein zentrales Prinzip in der obligatorischen Grundversicherung. Sie äussert sich nicht nur zwischen gesunden und kranken Personen, sondern auch in der Umverteilung zwischen unterschiedlichen Generationen und Einkommensschichten. Die Infografik berücksichtigt folgende Arten von Transferzahlungen: 1. Transferzahlungen zwischen den Generationen via Prämien (z.B. Eltern bezahlen Prämien für Kinder) 2. Transferzahlungen via Risikoausgleich (RA) 3. Transferzahlungen via Prämienverbilligung (IPV, steuerfinanziert) 4. Transferzahlungen via Kantone für stationäre Leistungen (steuerfinanziert)

343 11

11

230

CHF 1,7 Mrd. (an unter 18-Jährige)

1072 395 200

CHF 0,9 Mrd. (an 18- bis 25-Jährige)

309

Die Beträge links entsprechen den von der jeweiligen Generation tatsächlich bezahlten Prämien, die Beträge ganz rechts den tatsächlich verursachten Kosten pro Generation. Die Beträge in der Grafik sind in Millionen Schweizer Franken, falls nicht anders deklariert.

1713 CHF 13,7 Mrd. (an 26- bis 65-Jährige)

2826

13

19% Die Prozentzahl im Kreis entspricht dem Anteil der Angehörigen einer Altersschicht an der Gesamtbevölkerung (Quelle: Risikoausgleichsstatistik).

–18 679

8% 9010

18 –25 668

57 %

15 070

26–65

Lesebeispiel: Die 26- bis 65-Jährigen repräsentieren 57 Prozent der Gesamtbevölkerung und bezahlen Prämien von insgesamt 15 070 Mio. Franken. Sie übernehmen direkt ­ einen Teil der Prämien der 18- bis 25-Jährigen (CHF 668 Mio., wovon ein Teil für den RA verwendet wird), der unter 18-Jährigen (CHF 1072 Mio.) sowie der über 66-Jährigen (CHF 45 Mio.). 9010 Mio. Franken werden für die eigenen Leistungskosten verwendet. Die Gesamtkosten dieser ­Generation betragen 13,7 Mrd. Franken, finanziert durch Prämien, IPV (CHF 1711 Mio.) und Kantonsbeiträge (CHF 2826 Mio.).

660 CHF 14,8 Mrd. (an über 66-Jährige) 4362

45

191

1027

RA

4275

Risikoausgleich

4491

4695

16%

+66

* Wir danken der CSS Versicherung für die Wiederabdruckgenehmigung der Grafiken, die erstmals in der Publikation «im dialog» erschienen sind. Quelle: Hochrechnungen des CSS Instituts für empirische Gesundheitsökonomie der Pro-Kopf-Zahlen aus Beck et al. (2014), «Brennpunkt Solidarität», Tabellen 4.1 und 4.2 Berechnungen von Beck et al. wurden mit der Anzahl Versicherten der Schweiz (Quelle: Risikoausgleichsstatistik) multipliziert. Sämtliche Berechnungen beruhen auf Schätzungen. Weitere Ungenauigkeiten sind aufgrund von Rundungsfehlern möglich.

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Schweizerische Tarifstrukturen, aufgeschlüsselt in Struktur und Preis 1

FMH

5,119 Mrd. 2 3,354 Mrd.

5,119 Mrd. 2

Arztleistungen im Spital

H+ GDK

SwissDRG

Spitalleistungen stationär

3,354 Mrd.

2

KVV

Arztleistungen im Spital

FMH

H+

FMH

SwissDRG

Spitalleistungen stationär

2

GDK

KVV

FMH

H+

Spital

TARMED

H+

MTK

Die Krankenversicherer oder Einkaufsgemeinschaften verhandeln mit jedem der 289 Die Spitäler oder Spitalverbunde einzeln. Krankenversicherer oder Einkaufs-

KV Spital

TARMED MTK KVV

gemeinschaften verhandeln mit jedem der 289 Spitäler oder Spitalverbunde einzeln.

KV

KVV

EG

EG KA

EG

TG KA

KA

KA EG

SO KA

EG

EG KA

SG

KA

UR

SZ

ZG

KA

5,670 Mrd.

EG

EG

KA

NW EG KA

NW

KA

EG

EG KA

BL

BL

KA

JU

LU

EG

LU

KA

EG

EG

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EG

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FR

EG AI

EG

KA

KA

KA

EG KA

PTV EG

VS VS

EG

TI PTV PTV

Keine Trennung von Tarifstruktur und Preis Keine Trennung von Tarifstruktur und Preis

TI

PTV

EGEG PTV PTV EG EG

PTV PTVEG

EG

PTV PTV EGEG BE BE

AGAG

ZG ZG

UR UR

PTV

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EG EG PTVPTV

EGPTV PTV

EG

ZHZH

VD VD

EG EG

Preis (Genehmigungsbehörde: Preis (Genehmigungsbehörde: Kanton)Kanton)

EG

PTV

EG EG PTVPTV PTV PTV EG EG

EG

Tarifstruktur (Genehmigungsbehörde: Bund) Bund) Tarifstruktur (Genehmigungsbehörde:

PS

EG

BS EG

PS

KA

EG

EG KA BS

KVV

inkl. SL/ALT

KA

AR

KA NE

EG

3,201 Mrd.

KA

EG

KVV 2

Leistungsorientierte Abgeltung der Leistungsorientierte Apotheker (LOA) Abgeltung der inkl. SL/ALT (LOA) Apotheker

EG

KA ZH

AG KA

der Praxis

3,201 Mrd.2

EG

KA ZH

EG

AG

der Praxis Arztleistungen in

OW

KA

KA

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EG SG KA

EG

VD KA

KA

2

SH

KA

VS EG

VD EG

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KA EG VS

EG

SZ

KA

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TG

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KA

EG

EG

EG

EG

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KV (einzelne Krankenversicherer) KV (einzelne Krankenversicherer)

KVV

FR FR

2

2 663Mio. Mio. 663

KVV

Physiotarif

EG (Einkaufsgemeinschaften der Krankenversicherer)

EG (Einkaufsgemeinschaften der Krankenversicherer) PTV (kantonale Physiotherapeutenverbände) PTV (kantonale Physiotherapeutenverbände)

PTV

PTV

GL

PTV (Physiotherapieverbände) PS (Pharmasuisse) PS (Pharmasuisse) 1

2

TG

PTV

TG

EG

EG

SH EG

EG PTV SO

PTV

PTV

EG

OW

EG

PTV

EG

PTV

SG EG

PTV

SG PTV PTV

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EG

EG

EG

EG

PTV

PTV

SZ PTV PTV

EG

GR

JU

PTV

PTV

PTV EG

EG

GR

SZ

H+ (die Spitäler der Schweiz)

GE

GE

EG

JU

MTK (UVG, IV, MV)

MTK (UVG, IV, MV)

EG

PTV

GL

Physiotherapie in

Physiotherapie freier Praxis in freier Praxis

Ärztinnen und Ärzte)

direktorinnen undder -direktoren) GDK (Schweiz. Konferenz kant. Gesundheitsdirektorinnen und -direktoren) PTV (Physiotherapieverbände)

EG EG

EG

PTV

Physiotarif

FMH (Verbindung der Schweizer FMH (Verbindung Ärztinnender undSchweizer Ärzte)

H+ (die Spitäler der Schweiz) KVV (Krankenversichererverbände) KVV (Krankenversichererverbände) GDK (Schweiz. Konferenz der kant. Gesundheits-

BS BS PTV PTV

Kantone Kantone KA (kantonale Ärztegesellschaften) KA (kantonale Ärztegesellschaften)

PTV PTV

PTV PTV EG BLBL EG

EG

EG

NE

NE

EG

EG

NW PTV

NW

PTV

PTV

EG

EG PTV

LU

LU

EG

EG PTV

PTV

EG

EG

Beschränkung auf TARMED, SwissDRG, LOA inkl. SL/ALT und Physiotherapie. Weitere verhandelte Tarifstrukturen im Gesundheitswesen: Chiropraktoren-Tarif, Tarif für Ernährungs­beratung, Tarif für Diabetesberatung, Tarif für Ergotherapie, Schweiz. ­Hebammentarif, Logopädie-Tarif, Tarifstruktur für Primär- und Sekundärtransporte etc. Quelle: Bruttoleistungen in der obligatorischen Krankenp­­flege­versicherung (OKP) im Jahr 2013, Datenpool SASIS.

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Die gesunde Wahl

Sich entscheiden kostet Kraft. Doch gerade in wichtigen Belangen möchten die meisten nicht auf die eigenen Wahl- und Entscheidungsmöglichkeiten verzichten. Was bedeutet dies für die Wahlfreiheit im Gesundheitswesen? von Gerhard Schwarz

V

olksweisheiten sind geronnene Erfahrung. «Wer die Wahl hat, hat die Qual» ist eine solche Volksweisheit. Widerspricht sie der liberalen Überzeugung, dass nicht nur die Wirtschaft im engeren Sinne, sondern auch Politik und Gesellschaft wettbewerblich organisiert werden sollten, es also eine Vielzahl von Anbietern geben sollte? Die Antwort lautet: nein. Und zwar nicht nur, weil der Wettbewerb zu Effizienz und höherer Produktivität führt und uns reicher macht. Und auch nicht nur, weil er ein grossartiges Entdeckungsverfahren ist, wie die Ökonomen Friedrich August von Hayek und Joseph Schumpeter gezeigt haben, sondern eben auch, weil nur der Wettbewerb des Angebots der Vielfalt der Nachfrage gerecht werden kann. Gewiss: Wettbewerb zwingt Konsumenten und Investoren, Arbeitnehmer und Arbeitgeber, aber auch Wähler und Stimmbürger zu oft schwierigen Entscheiden. Aber er ermöglicht zugleich überhaupt erst die Wahl zwischen Alternativen. Wo kein Wettbewerb herrscht, kann es keine Wahlfreiheit geben. Ältere Leserinnen und Leser mögen sich an das kommunistische China unter Mao erinnern, als man am Fernsehen Bilder sah, in denen das ganze Volk praktisch gleich gekleidet war. Das mag in grösstem Elend oder während Kriegen eine Möglichkeit sein, allen das Nötigste zum Überleben zu sichern, aber erstrebenswert ist das wohl für die wenigsten (obwohl es durchaus Romantiker gab, die das damals anders sahen). Deshalb möchte wohl niemand grundsätzlich auf Wahlfreiheit bei Konsumgütern wie Kleidern, Essen, Getränken, Möbeln, Autos oder Ferien­ destinationen, um nur wenige zu nennen, verzichten. Nur Wettbewerb und Wahlfreiheit zusammen garantieren ein Angebot, das den Bedürfnissen der Menschen in ihrer Unterschiedlichkeit gerecht wird. Die Strassenbilder belegen das: Kleidung, Autos, Architektur, Geschäfte, Restaurants. Umso erstaunlicher ist eine merkwürdige Tendenz in der Gesellschaft, gerade in besonders zentralen Belangen die Wahlmöglichkeiten einzuschränken. So neigen Politik und Öffentlichkeit etwa im Gesundheitswesen ausgeprägt dazu, Markt und Wettbewerb eher abzulehnen oder sogar zu verteufeln. Ein jüngeres Beispiel dafür war die Volksinitiative «Für eine öffentliche Krankenkasse», die einen Ja-Anteil von fast 40 Pro20

Gerhard Schwarz ist Direktor des Think Tanks Avenir Suisse.

zent, in der französischsprachigen Schweiz sogar Mehrheiten erreichen konnte. Eigentlich ist das grotesk, denn dass Leistungen effizient erbracht werden, wäre im Gesundheitswesen doch viel wichtiger als etwa bei der Produktion von Gummireifen. Die Suche nach Innovation ist im Gesundheitswesen ebenfalls bedeutsamer als praktisch irgendwo sonst. Und selbstverständlich gibt es auch im Gesundheitswesen unterschiedliche Nachfrageprofile. Wenn also der Wettbewerb tatsächlich jene segensreichen Wirkungen zeitigt, die ihm im allgemeinen zugesprochen werden, dann müsste er in einem so wichtigen Bereich wie dem Gesundheitswesen eher stärker gefördert werden als anderswo. Denn die Folgen mangelnden Wettbewerbs sind immer die gleichen: ungenügende Bedarfsgerechtigkeit und schwache Innovation. Beides nimmt man in Kauf, wenn man Einschränkungen des Wettbewerbs und der Wahlfreiheit akzeptiert – etwa durch Einführung einer Einheitskrankenkasse. Die Argumente, die dafür ins Feld geführt werden, dass trotzdem gegen das Prinzip Wettbewerb verstossen wird, sind zahlreich. So wird etwa behauptet, bei der Gesundheit müsse die Leistung für alle gleich sein, Vielfalt sei also nicht erwünscht. Dabei gibt es natürlich, ohne Abstriche an der medizinischen Qualität, eine sehr diverse Nachfrage: ambulant oder stationär, mit Luxushotellerie oder rein auf die medizinische Funktionalität ausgerichtet und, in der Krankenversicherung, Verträge mit hoher Franchise (für risikoaffine Personen) bzw. Modelle, bei denen fast alles durch den Versicherer abgedeckt wird, sind einige Beispiele. Ferner werden oft die Kosten des Wettbewerbs moniert. Viele Menschen stören sich daran, dass Wettbewerb notwendigerweise mit Kosten verbunden ist, nicht nur mit Werbekosten, sondern auch mit den Kosten der parallelen Suche nach besseren Lösungen. Im Rückblick kann man leicht sagen, dass man an der weniger guten Lösung erst gar nicht hätte herum-


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studieren müssen, dass man sich das hätte sparen können, aber im voraus weiss man das eben nicht. Innovation kostet, und zwar auch die unzähligen kleinsten Schritte der Verbesserung etwa in der Patientenbetreuung, in medizinischen Belangen, selbst in der Abwicklung der Versicherungsverträge. Das Argument, durch die Eliminierung des Wettbewerbs könne man Kosten sparen, stimmt höchstens in einer statischen Sicht. In einer dynamischen Welt wird das Argument der Sache nicht gerecht. Ein weiteres Argument lautet, die Entscheide seien, gerade wenn es um die eigene Gesundheit und entsprechende Versicherungen gehe, zu schwergewichtig und zu schwierig. Die Konsumenten würden beispielsweise die Zukunft zu wenig gewichten und deswegen hier und heute falsche Entscheide treffen. Deswegen dürfe, ja müsse der weitsichtige und wohlmeinende Staat durch Einschränkung und Steuerung des Wettbewerbs die Menschen zu ihrem Besten sanft lenken – ganz besonders in allen Fragen der Gesundheit (und Krankheit). Möglicherweise liegt der Wettbewerbsfeindlichkeit jedoch ein viel fundamentaleres psychologisches Charakteristikum der Menschen zugrunde, das sich einfach im Gesundheitswesen besonders ausgeprägt manifestiert: So sehr die Menschen Wahlmöglichkeiten schätzen, leiden sie zugleich unter diesen Möglichkeiten. Das von der «Qual der Wahl» stimmt eben gleichwohl. Sich entscheiden fällt den meisten Menschen schwer. Nur schon, sich bewusst zu werden, was man will, ist oft nicht einfach. Vor allem bedeutet ja ein Entscheid für ein bestimmtes Produkt immer zugleich, auf etwas anderes zu verzichten. Die «Qual der Wahl» drückt also auch aus, dass die Befriedigung unserer Bedürfnisse in einer knappen Welt nie ohne Verzicht abgeht. Die Ökonomen nennen das Opportunitätskosten. Wenn man den Wellness-Urlaub im Berner Oberland verbringt, kann man ihn nicht gleichzeitig im Engadin verbringen.

Und wenn wir im Gesundheitswesen höhere Leistungen möchten und dafür höhere Prämien bezahlen müssen, werden wir dafür bei etwas anderem Abstriche machen müssen. Deswegen kennen wir alle aus dem Alltagsleben die gelegentliche Erleichterung darüber, wenn einem der Mangel an Wahlmöglichkeiten einen Entscheid abnimmt, wenn eines von zwei interessanten Museen geschlossen ist und es daher weder Diskussionen in der Gruppe noch ein inneres Ringen um den optimalen Entscheid gibt. Mit Blick auf die Gesundheit ist das nicht wesentlich anders. Irgendwie kommen darin auch eine gewisse Bequemlichkeit und ein Mangel an Selbstverantwortung der Bevölkerung zum Ausdruck. Entscheiden ist anstrengend, Wettbewerb ist unbequem, für die Anbieter, aber auch für die Nachfrager. Deswegen holen wir nicht nur selbst für banale Entscheide wie die Wahl des passenden Kleides den Rat einer Freundin ein. Wir neigen leider auch dazu, ganz froh zu sein, wenn einem der Staat mit einer Politik der Wettbewerbsverhinderung de facto Entscheide abnimmt, erst recht, wenn es um Schwieriges und Gewichtiges geht. Den Entscheid zwischen mehreren Automarken mag man bewältigen, den über eine Operation überlässt man oft zu leichtfertig den Experten bzw. akzeptiert, dass es nur eine Meinung und nur ein Angebot gibt – eine bedenkliche Haltung. Immerhin gibt es einen Hoffnungsschimmer: Bei der Partnerwahl, die noch schwieriger, vor allem aber für ein geglücktes Leben noch entscheidender ist als jene zwischen zwei Versicherungsangeboten, zwischen mehreren Ärzten oder zwischen verschiedenen Behandlungsmöglichkeiten, möchten die meisten dann doch nicht auf die eigenen Wahl- und Entscheidungsmöglichkeiten verzichten. Das ist gut so. Aber man sollte sich konsequenterweise überlegen, ob Wahlfreiheit in anderen wichtigen Belangen wie der schulischen Bildung, der Altersvorsorge oder dem Gesundheitswesen nicht ebenso angebracht wäre und daher gestärkt werden sollte. �

«Das Argument, durch die Eliminierung des Wettbewerbs könne man Kosten sparen, stimmt höchstens in einer statischen Sicht. In einer dynamischen Welt wird das Argument der Sache nicht gerecht.» Gerhard Schwarz 21


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Der Weg zu einem Leistungsmarkt im Interesse der Patienten

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Wer meint, man könne unsere Gesundheitskosten bei gleichbleibender Qualität senken, macht sich etwas vor. Was machbar ist: den Kostenanstieg stark bremsen. Was es dafür braucht: eine neue Strategie, die sich an die Prinzipien des Krankenversicherungsgesetzes hält. von Andreas Faller

«Eine Klage über die Schärfe des Wettbewerbs ist in Wirklichkeit nur eine Klage über den Mangel an Einfällen.» (Walther Rathenau)

G

ute Qualität zu erschwinglichen Preisen: So lässt sich das Ziel des schweizerischen Gesundheitswesens umreissen. Was bereits beim Handel mit Kleidern, Skis oder Waschmitteln Herausforderungen schafft, ist ungleich schwieriger in einem System, das weitgehend staatlich administriert ist und in dem verschiedene Akteure wie Kantone, Krankenkassen, Patienten zur Kostenübernahme beitragen müssen. Unser Gesundheitswesen ist kompliziert. Nur wenige überblicken seine zahllosen Mechanismen, die oft in gegenläufige Richtungen wirken. Es ist ja schon eine anspruchsvolle Aufgabe, das System zu verwalten – geschweige denn, es weiterzuentwickeln. Um Vorschläge, die dazu dienen können, soll es in diesem Text gehen. Häufig hört man, dass es ja «nur» darum gehe, gute Qualität zu erschwinglichen Preisen zu garantieren. Wenn ich diese Aussage höre, antworte ich mit einem Zitat aus Goethes «Iphigenie auf Tauris»: «Du sprichst ein grosses Wort gelassen aus.» Denn auf die Nachfrage, wie gute Qualität und erschwingliche Preise zu erreichen seien, bekommt man oft nur Allgemeinplätze zu hören. Fakt ist, dass die Schweiz über ein sehr gutes Gesundheitswesen mit guter Versorgungsqualität, hoher Versorgungsdichte und kurzen Interventionszeiten verfügt. Fakt ist, dass unsere Bevölkerung immer älter wird. Das führt zu einem Kostenanstieg, der sich in den Krankenkassenprämien niederschlägt. Fakt ist, dass wir alle ein innovatives Gesundheitswesen wollen. Das kostet Geld. Die Gesundheitskosten in unserem Land werden also weiter ansteigen. Es sei denn, wir bauten Leistungen ab. Aber wer will das schon? Wer behauptet, man könne unsere Gesundheitskosten bei gleichbleibender Qualität senken, betreibt Wunschdenken, 22

Andreas Faller ist Berater im Gesundheitswesen, selbständiger Rechtsanwalt und Geschäftsführer des «Bündnisses Freiheitliches Gesundheitswesen». Er war Leiter des Direktionsbereiches Kranken- und Unfallversicherung im Bundesamt für Gesundheit.

nicht Gesundheitspolitik. Was machbar ist und ein wichtiges Ziel sein muss: den Kostenanstieg stark bremsen. Der Kostenanstieg kann gedrosselt werden, ohne dass die Qualität darunter leidet. Dazu gibt es mehrere Möglichkeiten: – Wir leisten uns seit Jahren den Luxus eines Systems mit unglaublich hoher Versorgungsdichte und erheblicher Ineffi­ zienz. Studien belegen, dass Ineffizienz im schweizerischen Gesundheitswesen und der «Moral Hazard» (unnötiger Konsum von Leistungen) jedes Jahr Milliarden von Franken verschlingen. Dokumentiert ist dies beispielsweise in der im Dezember 2012 publizierten Studie «Effizienz, Nutzung und Finanzierung des Gesundheitswesens» der Akademien der Wissenschaften Schweiz. – Wir leisten uns ein System, das kaum Anreize für effizientes Handeln und kaum Fokussierung auf ein gesundes KostenNutzen-Verhältnis schafft. Ebenso wenig wird ineffizientes Handeln sanktioniert. – Wir leisten es uns, durch laufende Gesetzesrevisionen am Gesundheitswesen «herumzudoktern», anstatt bestehende Gesetzesgrundlagen richtig umzusetzen. 1996 hat der Gesetzgeber das Krankenversicherungsgesetz (KVG) in Kraft gesetzt. Es regelt den ganzen Bereich der gesetzlichen, obligatorischen Grundversicherung. Das Gesetz hat aber auch deutlich weitergehende Auswirkungen auf den Bereich ausserhalb der Grundversicherung. Das KVG sieht das Prinzip eines minimal regulierten Wettbewerbs vor, indem der Staat Rahmenbedingungen für die Akteure schaffen soll, um eine optimale Gesundheitsversorgung sicherzustellen. Kritiker behaupten seit Jahren, dieses Prinzip sei gescheitert, weshalb es mehr staatliche Eingriffe brauche. Zutreffend ist jedoch, dass das Prinzip eines minimal regulierten Wettbewerbs gar nie richtig gelebt worden ist. Hierzu nachfolgend mehr.


«Die Entkrampfung des Systems würde mehr Raum für Innovationen zum Besten der Patienten schaffen.» Andreas Faller

Bildlegende.

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Erstes Fazit: wer dieses System weiterentwickeln will, muss es ganzheitlich und fachlich verstehen, frei von Partikularinteressen und der Verfolgung eigener politischer Ziele. Etatisten und Technokraten können das schweizerische Gesundheitswesen als Ganzes nicht weiterentwickeln, ebenso wenig wie laufende «Schraubereien» am System, die weder Visionen noch klaren Zielen folgen. Gehen wir den Dingen auf den Grund. Die Herausforderungen Das System Unser Gesundheitswesen hat sich in den letzten Jahrzehnten rasant verändert. Durch den medizinischen Fortschritt werden Menschen bei guter Lebensqualität immer älter. Älterwerden und Innovation kosten viel Geld. Eine andere wichtige Veränderung hat mit der Informationsflut zu tun: Patienten sind heute besser über ihren Gesundheitszustand im Bilde und wollen noch besser informiert werden. Sie wollen Transparenz und die Möglichkeit, unter verschiedenen Behandlungsmethoden auswählen zu können. Wir alle Wir sind bei der grossen Herausforderung unseres Gesundheitswesens angelangt – bei uns allen: Wenn wir krank sind, wollen wir die best- und raschestmögliche Gesundheitsversorgung – der Preis spielt dabei meistens keine Rolle. Die Versicherung übernimmt sie ja. Wenn wir wieder gesund sind, ärgern wir uns als Prämienzahler über den Kosten- und Prämienanstieg. Die Politik Das Gesundheitswesen ist in den vergangenen Jahren ex­ trem verpolitisiert worden. Vor allem Milizpolitiker haben häufig nicht die Zeit, um sich das nötige Fachwissen anzueignen. Gleichzeitig, so mein Eindruck, haben Politiker häufig zu geringes Vertrauen in die Expertise von Fachleuten. Natürlich ist die Kostenentwicklung in Parlament, Verwaltung und Gremien ein Thema. Im Bestreben, die Entwicklung der Krankenkassenprämien moderat zu halten, agieren Entscheidungsträger aber häufig mit einer kurzsichtigen Optik. Ich sehe wenig Mut zu langfristigen Veränderungen. Das schwächt die Innovationskraft des Systems erheblich. Hinzu kommt eine durch politischen Druck verursachte, übertriebene Fehlervermeidungskultur, die das System vieler Entwicklungsmöglichkeiten beraubt. Es ist landläufig bekannt, dass Fehlervermeidungskultur in höchstem Mass innovationsfeindlich ist. Ausserdem glauben viele politische Exponenten, «auf Nummer sicher» zu gehen, indem sie den staatlichen Einfluss auf das System immer weiter ausbauen. Zu selten stellen sie sich dabei die Frage, inwieweit sie durch ihre starke «Fürsorge» für das Gesundheitswesen und laufende Interventio24

nen die Spannungen zwischen den Akteuren fördern, indem diese beispielsweise in Tarifverhandlungen darauf pokern, dass es der Staat dann schon für sie «richtet», wenn es zu keiner Einigung kommt. Es ist ein Teufelskreis entstanden, in dem jede staatliche Intervention den Wettbewerb und die Handlungsfreiheit nicht nur im Rahmen des jeweiligen Eingriffs hemmt, sondern eine Signalwirkung weit darüber hinaus entfaltet. Unbestrittenerweise meinen es fast alle Politikerinnen und Politiker gut mit unserem Gesundheitssystem und mit uns als Patienten. Aber guter Wille alleine reicht nicht. Es braucht politische Aktivitäten, die dem Willen des Volks und der Pa­ tienten entsprechen. Zudem ist es wichtig, dass sich Gesundheitspolitiker das Fachwissen selber aneignen oder Fachleute beiziehen und die betroffenen Akteure anhören. Bund / Kantone Im Jahr 2012 hat eine Bevölkerungsbefragung (Gesundheitsmonitor gfs.bern) ergeben, dass rund siebzig Prozent der Befragten ein überwiegend bis sehr stark marktorientiertes, wettbewerbliches Gesundheitswesen mit Wahlfreiheit wollen, hingegen nur rund zwanzig Prozent ein staatsorientiertes. Diesen Willen hat das Stimmvolk mit einer Mehrheit von rund 62 Prozent am 28. September 2014 bei der Ablehnung einer Einheitskrankenkasse bestätigt. Dem steht die im Januar 2013 verabschiedete «Strategie 2020» des Bundesrates gegenüber. Darin ist nirgends von «Wettbewerb» oder «Wahlfreiheit» die Rede, der Fokus liegt auf staatlicher Steuerung. Der Bundesrat wertet seine eigene Strategie gleich selber aus. Dazu verteilt er Punkte an die einzelnen Stakeholder, die deren mögliche Einflussnahme auf den angeschobenen Strategieprozess quantifizieren. Der Befund ist deutlich: Bund und Kantone gibt er sechzig Punkte, den Leistungserbringern achtzehn, den Versicherern sieben und der Bevölkerung, den unmittelbar Direktbetroffenen, nur einen einzigen Punkt. Auch auf kantonaler Ebene verfliessen die Verantwortlichkeiten. Immer noch haben die Kantone heikle Mehrfachrollen: etwa als Betreiber von Spitälern, Finanzierer von Leistungen eigener und anderer Spitäler, Planer des Angebotes und als Rechtsmittelinstanz in Tariffragen. Man stelle sich vor, im Fussball würde jemand den Meisterschaftsmodus und den Spielplan fixieren, wäre Präsident und Sponsor eines Vereins, dazu Sponsor einiger anderer Vereine in der gleichen Liga und obendrein Rekursinstanz bei Finanzstreitigkeiten. Klingt unmöglich, doch im Gesundheitswesen ist genau das eine Tatsache. Die vom Gesetz vorgesehene Wahlfreiheit des Patienten, sich auf Wunsch auch in einem Spital ausserhalb seines Wohnsitzkantons behandeln zu lassen, wird immer noch in einigen Kantonen unterlaufen, indem lediglich zu tiefe, damit prohibitiv wirkende Zahlungen geleistet werden. Hier kann ein Pa­


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«Wenn wir krank sind, wollen wir die best- und raschestmögliche Gesundheitsversorgung – der Preis spielt dabei meistens keine Rolle. Die Versicherung übernimmt sie ja. Wenn wir wieder gesund sind, ärgern wir uns als Prämienzahler über den Kosten- und Prämienanstieg.» Andreas Faller

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tient die gesetzlich zugesicherte Wahlfreiheit nur durch Zuzahlungen aus der eigenen Tasche wahrnehmen. Mittlerweile haben glücklicherweise einige kantonale ­Gesundheitsdirektorinnen und -direktoren erkannt, dass sie zu viele Aufgaben gleichzeitig wahrnehmen. Selbst Befürworter des Föderalismus haben festgestellt, dass Mehrfachrollen und Interessenkonflikte bei den Kantonen eliminiert werden müssen. Allerdings ist bis jetzt nichts Konkretes unternommen worden. Die Akteure Versicherer, Spitäler, Ärzte, Apotheker, Labormediziner, Medizinaltechnik und die Pharmaindustrie – sie alle zeichnen sich durchwegs durch sehr hohe Fachkompetenz in ihrem Tätigkeitsbereich aus. Leider fehlt es nicht selten an einer ganzheitlichen Sicht auf das System sowie an der Bereitschaft, zugunsten langfristiger Lösungen von Partikularinteressen abzurücken. Das verhindert bisweilen Kompromisse im Sinne der Patienten und Prämienzahler und steht der Weiterentwicklung des Systems im Wege. Man hat noch nicht überall erkannt, dass sich ein kurzfristiger Verzicht auf eine Partikularposition mittel- bis langfristig auszahlen kann. Was tut der Staat? In den vergangenen Jahren ist der Staat Herausforderungen und Problemen im Gesundheitswesen häufig mit Interventionismus begegnet, so zum Beispiel durch einen umverteilenden Eingriff in den Ärztetarif TARMED im Jahr 2013. Der Grundgedanke des Gesetzes wurde wiederholt verletzt, besonders der wettbewerbliche Aspekt. Interventionen wie das Aufsichtsgesetz über die Krankenversicherer haben den Akteuren nicht nur Kompetenzen genommen, sondern sie faktisch ein Stück weit von der Verantwortung für das Gesundheitswesen und seine Weiterentwicklung entbunden. Neben direkten Interventionen gab es diverse planerische Massnahmen, zum Beispiel den Zulassungsstopp für Ärzte. Die diesbezügliche Planung liegt von der Ausgestaltung her ungesund nahe bei der Planwirtschaft. Weniger Kostendruck dank Effizienzsteigerungsmassnahmen Ein bedeutender Teil des Kostendrucks könnte aus dem System genommen werden, wenn Akteure ihre Effizienz steigern. Teile der Ärzteschaft behaupten, Effizienzsteigerungsmassnahmen gingen zulasten der Patienten, indem Behandlungs- und Betreuungszeiten abgebaut würden. Im Gegenteil soll die Effizienzsteigerung dazu führen, dass Patienten bei gleichbleibender Qualität rascher behandelt und unnötige medizinische Massnahmen vermieden werden. Ausserdem steht der Ärzteschaft dank Optimierung der Prozesse die nötige Zeit für die Behandlung der Patienten zur Verfügung. 26

Es müssen Anreize zur Effizienzsteigerung respektive Sanktionen bei ineffizientem Verhalten eingeführt werden. Hier besteht ein wichtiges Handlungsfeld für die Schaffung staatlicher Rahmenbedingungen. Komplexe, langwierige und teure Zulassungsverfahren, die Wiederholung von Zulassungsverfahren von im Ausland bereits zugelassenen Medikamenten und anderen Medizinalprodukten sind ineffizient und hemmen die Innovation. Patientensicht statt staatlicher Planung Staatliche Planung im Gesundheitswesen ist ein etatistisches, technokratisches Vorgehen. Erfahrungen aus anderen Staaten und aus unserem Gesundheitswesen haben gezeigt, dass staatliche Planung der falsche Weg ist. Versicherer müssen künftig die Rolle als «Treuhänder der Versicherten» wahrnehmen. Hierzu sollte die Rolle der Versicherer gestärkt werden. Im Rahmen der Aufsichtsgesetzgebung tut der Bund indes das Gegenteil. Statt neue Planungsinstrumente zu erarbeiten, könnte der Bund seine Energie darauf verwenden, das Instrument der Wirtschaftlichkeitsprüfung so auszugestalten, dass es erfolgreich umgesetzt werden kann und die Leistungserbringung nach den Kriterien «Wirksamkeit, Zweckmässigkeit, Wirtschaftlichkeit» des KVG beurteilt wird. Qualitätssicherung und Qualitätsdaten Das schweizerische Gesundheitswesen ist qualitativ hochstehend. Gleichzeitig fehlt es an Anreizen für ein qualitätsorientiertes Verhalten oder an Sanktionsmöglichkeiten bei ungenügender Qualität. Die Qualität könnte also besser werden, ohne dass die Kosten in die Höhe schiessen. Dazu beitragen würden einheitliche Vorgaben zur Qualitätssicherung im ambulanten Bereich. Weil diese derzeit fehlen, können keine vergleichsfähigen Qualitätsdaten erhoben werden, anhand derer Patienten die Leistungserbringer untereinander vergleichen und in einem transparenten, wettbewerblichen System den Arzt, Physiotherapeuten et cetera ihrer Wahl ermitteln können. Hier könnte der Bund seiner Kernaufgabe zur Bestimmung von Rahmenbedingungen in einem wichtigen Bereich nachkommen. Passiert ist aber seit Jahren nichts. Kritiker behaupten, die Patienten hätten in einem System mit solidarischer Grundversicherung kein Interesse, den Leistungserbringer mit dem besten Kosten-Nutzen-Verhältnis auszuwählen. Solchen Einwänden ist mit einer rhetorischen Frage zu entgegnen: Müssen nicht auch bei den Patienten stärkere Anreize für ein kostenbewusstes Verhalten geschaffen werden? Fazit Das Krankenversicherungsgesetz von 1996 sieht einen minimal regulierten Wettbewerb im Gesundheitswesen vor. Dieser hat bis heute aber nicht stattgefunden. Statt die richti-


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gen Rahmenbedingungen für einen funktionierenden Wettbewerb zu schaffen, hat der Staat den Wettbewerb durch zu starke Eingriffe ins System behindert. Gleichzeitig hat er damit die Akteure weitgehend von ihrer Verantwortung für das System entbunden. Schlimmer noch: falsche Anreize haben Möglichkeiten geschaffen, das zu umgehen, was zu einem funktionierenden Wettbewerb integral dazugehört – das «Survival of the fittest». Im heutigen schweizerischen Gesundheitswesen «überleben» nicht nur jene Akteure, die gute Qualität zu erschwinglichen Preisen erbringen, sondern auch jene, die die systemischen Mängel zu nutzen verstehen. Es ist an der Zeit, dem Wettbewerb eine Chance zu geben. Es müssen Rahmenbedingungen geschaffen werden, die die Patienten in die Verantwortung einbeziehen und sie bei der Auswahl des Behandlungsangebotes – gestützt auf transparente Kriterien – mitwirken lassen. Wir dürfen unsere Bevölkerung nicht unterschätzen. Sie ist in der Lage, mehr Verantwortung für ihre Gesundheitsversorgung zu übernehmen. Die Rahmenbedingungen dafür müssen aber stimmen. Es ist mit Anreizen möglich, Patienten stärker in die Mitverantwortung für die von ihnen verursachten Gesundheitskosten zu nehmen. Es zeugt von mangelndem Vertrauen in unsere Bevölkerung, wenn man behauptet, dies sei unmöglich. Um Qualität, Effizienz, Einsparungen und Wettbewerb sicherzustellen, braucht es weder staatlichen Interventionismus noch staatliche Planung. Es braucht ein System der richtigen Anreize und Rahmenbedingungen. Die so erreichte Entkrampfung des Systems würde mehr Raum für Innovationen zum Besten der Patienten schaffen. Es ist aber auch unrichtig, dem Staat die ganze Schuld an der Zurückdrängung des Wettbewerbs zu geben. Auch die Akteure – vor allem Versicherer und Leistungserbringer – müssen ihren Beitrag dazu leisten, sich «wettbewerbswürdig», kompromiss- und verhandlungsbereit erweisen. Sie müssen mit Verständnis und Fachwissen für das ganze System am Wettbewerb teilnehmen und zugunsten von langfristigen Lösungen von ihren Partikularinteressen abrücken. Etatisten, Technokraten, innovationsfeindliche Fehlervermeider und Personen, die ohne Vision und klare Ziele an unserem Gesundheitswesen «herumschrauben» wollen, sollten nicht mehr darauf einwirken dürfen. Leider vermag die Strategie «Gesundheit 2020» des Bundesrates diese Anforderungen nicht zu erfüllen. Es braucht deshalb eine neue Strategie mit klaren Zielen und Visionen, die konsequent über einen längeren Zeitraum verfolgt wird. Nur so gelingt es, das Vertrauen der Bevölkerung, aber auch der Politik in unser Gesundheitswesen zurückzugewinnen. Die Lösung dazu liegt seit bald zwanzig Jahren vor unseren Augen im Krankenversicherungsgesetz verankert: minimal regulierter Wettbewerb. Er muss «nur» richtig umgesetzt werden. �

Impressum «Schweizer Monat», Sonderthema 23 ISSN 0036-7400

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