Schweizer Monat, Sonderthema 22, Juli 2015

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Mit Beiträgen und Interventionen von: Bruno Bertschy Lynn Blattmann Monika Bütler Daniela Merz Christoph A. Schaltegger u.a.

Unternehmergeist im Sozialstaat

Wirtschaftliche Wege zu einem tragfähigen Sozialwesen.

In Kooperation mit dem Liberalen Forum St. Gallen


«Wir leben immer noch in einer Arbeitsgesellschaft; Arbeit zu haben ist ein wichtiger Wert. Dies nicht nur einfach aus blossem ökonomischem Nutzen für das Individuum und die Gesellschaft. Arbeit ist sinnstiftend und trägt zur persön­lichen und sozialen Identität des Menschen bei. Wer nicht arbeiten kann, ist in vielerlei Hinsicht vom gesellschaftlichen Leben ausgeschlossen.» Hans Jörg Schmid für den Vorstand des Liberalen Forums St. Gallen


Unternehmergeist im Sozialstaat Wirtschaftliche Wege zu einem tragfähigen Sozialwesen.

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ermutlich gönnen Sie sich eine Mussestunde, wenn Sie dieses Heft zur Hand nehmen. Vielleicht sind Sie froh, sich für eine kurze Weile in eine andere Welt vertiefen zu können und Ihre Arbeit hinter sich zu lassen. Den Alltag verlassen kann freilich nur, wer einen hat; das Nichtstun bezieht seinen Wert aus einem scharfen Kontrast. Den meisten von uns ist Arbeit Fluch und Segen zugleich – wir plagen uns klagend mit ihr ab und ziehen unermesslichen Gewinn aus ihr. Doch so paradox die Arbeit ihrem Wesen nach ist, so ist eines klar: Hätten wir keine, fehlte uns Entscheidendes. Zweifellos sind die sozialen Probleme der Schweiz im internationalen Vergleich gering. Tatsache ist aber, dass die Sockelarbeitslosigkeit auch hierzulande stetig steigt und damit der Anteil jener Leute, die dauerhaft vom Arbeitsmarkt ausgeschlossen sind und kaum mehr Aussicht haben, je wieder eine Stelle zu finden. Die Sozialhilfe, ein Mittel zur Linderung von Notsituationen, entwickelt sich zusehends zur Dauerlösung – die Zeiten der Vollbeschäftigung sind auch in der Schweiz vorbei. Auf den Wandel der Wirtschaft hat das Sozialwesen bislang nicht wirklich reagiert. Bewegung war lange Zeit wenig zu registrieren und wenn, dann nur in eine Richtung: Parallel zu den Problemen steigen die Summen, die in den Sozialstaat gepumpt werden. Inzwischen machen die Sozialausgaben über 30 Prozent des Staatshaushalts aus. Eine Diskussion darüber, wie sich die Sozialpolitik strukturieren soll, um den grundlegenden Veränderungen im Arbeitsmarkt zu begegnen, findet dagegen nicht statt. Wird im Zusammenhang mit dem Sozialwesen öffentlich über Geld geredet, geschieht das selten auf konstruktive Weise – die Rede über porschefahrende Sozialhilfebetrüger hier und sparresistente Kuschelbeamte dort trägt wenig dazu bei, die fundamentalen Probleme zu lösen, die sich heute stellen. Auf den folgenden Seiten unternehmen wir den Versuch, die nötige Debatte auf eine andere Ebene zu heben. Wir fragen danach, wie das sozialstaatliche Angebot gestaltet werden muss, um effizient zu werden und zu wirken, das heisst für das ganze Gemeinwesen finanzierbar zu sein und dem einzelnen Betroffenen den grössten Nutzen zu bringen. Gerade für letzteres, so zeigen unsere Autoren, sind nicht mehr staatliche Mittel, sondern mehr unternehmerischer Mut gefragt. Wir wünschen anregende Lektüre. Die Redaktion

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Schweizer Monat SONDERTHEMa JuLi 2015

Inhalt

Christoph A. Schaltegger und Patrick Leisibach

06 beschreiben und ergründen

das Wachstum des helvetischen Sozialstaates.

Monika Bütler

12 denkt darüber nach, wie staatliche Leistungen bei den Richtigen landen.

Lynn Blattmann

16 analysiert die «Sozialindustrie»

und stellt ein wirtschaftliches Modell der Arbeitsintegration vor.

Daniela Merz

22 spricht über Motive, Möglichkeiten und Ziele des sozialen Unternehmertums.

Bruno Bertschy und Thomas Studer

28 erklären, wie die katholische

Nächstenliebe wettbewerbsfähig wurde.

Online Thomas Vašek schreibt, weshalb Arbeit mehr als Geld wert ist. Daniela Merz und Daniel Schaufelberger debattieren über Sozialfirmen.

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12

Höhere Leistungen bedeuten nicht automatisch mehr Gerechtigkeit. Monika Bütler

22

Man soll nicht arbeiten müssen, ohne dafür Geld zu erhalten. Daniela Merz

06

Der sowohl absolut als auch relativ stark gewachsene Sozialstaat stellt die Politik und die Gesellschaft als Ganzes vor grosse Herausforderungen. Christoph A. Schaltegger und Patrick Leisibach

16

Die Arbeitsintegration war noch nie so überreguliert und starr wie heute und kann den Bedürfnissen der Zielgruppe immer weniger gerecht werden. Lynn Blattmann

28

Wie die meisten «Sozialen» operiert die Caritas längst und viel auf Märkten, auf denen das wirtschaftlich günstigste Angebot den Zuschlag erhält. Bruno Bertschy

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Mutter Staat zwischen Fürsorge und Verantwortung

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Er ist ein wichtiger Pfeiler unserer Gesellschaft und eine grosse Last auf den Schultern des öffentlichen Haushalts: ein Überblick über die Dimensionen unseres Sozialstaates. von Christoph A. Schaltegger und Patrick Leisibach

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m 6. Mai 1795, in Zeiten grosser Not, betraten die Friedensrichter im südenglischen Speenhamland bei Newbury sozialpolitisches Neuland.1 Sie beschlossen, dass der armen Landbevölkerung unabhängig ihrer Einkünfte ein Minimaleinkommen garantiert werden sollte. Diese an den Brotpreis gekoppelte Armenhilfe wurde – obwohl nie gesetzlich festgelegt – in mehreren Grafschaften übernommen und als SpeenhamlandGesetz bekannt. Das «Recht auf Lebensunterhalt» sollte schon bald Wirkung zeigen, allerdings kaum wie beabsichtigt. Die Armenhilfe wurde zu einer indirekten Subvention der Grundbesitzer. Diese konnten zu niedrigsten Löhnen Arbeiter einstellen, welche wiederum kein Interesse daran hatten, ihre Arbeitgeber zufriedenzustellen. Während Löhne und Produktivität immer tiefer sanken, fanden sich weite Teile der Landbevölkerung in der Abhängigkeit wieder. Die Ursachen und Folgen des Speenhamland-Systems entfachten kontroverse Debatten um öffentliche Hilfeleistungen und beeinflussten das Denken der klassischen Nationalökonomen nachhaltig. Kaum jemand würde die geschaffenen Sozialwerke in der Schweiz als wichtige Pfeiler unserer Gesellschaft heute noch in Frage stellen. Dennoch geht bereits aus dieser historischen Anekdote hervor, dass öffentliche Hilfeleistungen auch Schattenseiten aufweisen können. Individuen reagieren systematisch auf Anreize, wie sie unter anderem durch soziale Sicherungssysteme gesetzt werden – mit den entsprechenden Folgen für die Gesellschaft. Die ökonomische Theorie unterscheidet zwei Sozialstaatstypen, die nach ihren Gründervätern als Beveridge- und Bismarck-Systeme bekannt wurden. Erstere, durch Steuern finanzierte Modelle, sehen in der sozialen Sicherheit eine Staatsaufgabe. Alle Bürger sollen unabhängig ihrer Stellung und im selben Ausmass vor den sozialen Risiken geschützt werden. Im Gegensatz dazu stützen sich Bismarck-Systeme bei der Finanzierung primär auf Sozialabgaben, wobei das Versicherungsprinzip eine Verbindung zwischen Beitrag und Leistungsanspruch schafft. Historische Gegebenheiten führten dazu, dass in den nordeuropäischen Ländern mehrheitlich das Beveridge-System, in den mitteleuropäischen Ländern vor-

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Christoph A. Schaltegger ist Professor für politische Ökonomie an der Universität Luzern und Dozent für Volkswirtschaftslehre an der Universität St. Gallen.

Patrick Leisibach, B.A., studiert Volkswirtschaftslehre an der Universität Bern und ist Mitautor eines kürzlich erschienenen Gutachtens zu den Problematiken im System der Ergänzungsleistungen.

nehmlich das Bismarck-System anzutreffen ist.2 In absoluter Reinform ist allerdings keines der beiden Systeme in einem Land vorzufinden. Der schweizerische Sozialstaat beruht auf keinem bestimmten Konzept, sondern kann als historisch gewachsenes Resultat von politischen Auseinandersetzungen betrachtet werden.3 Jedem Einwohner soll in jeder Lebenslage, unabhängig von sozialer Stellung, Alter oder Tätigkeit, der Lebensunterhalt angemessen gewährleistet werden. Die schweizerischen Sozialwerke bestehen einerseits aus beitragsfinanzierten staatlichen (Pflicht-)Versicherungen, welche soziale Risiken wie Alter, Invalidität oder Krankheit absichern. Andererseits existieren aber auch soziale Ausgleichsinstrumente wie die Sozialhilfe oder die Ergänzungsleistungen zur AHV und IV. Diese Transfers werden durch allgemeine Steuermittel finanziert und sollen den Existenzbedarf sichern. Anhaltend steigende Sozialausgaben Die Gesamtrechnung der sozialen Sicherheit zeigt ein klares Bild (Abbildung 1): Seit Einführung der AHV 1948 sind die Ausgaben für die soziale Sicherheit in der Schweiz markant angestiegen und erreichten im Jahr 2012 knapp 163 Milliarden Franken. Mit dem historisch gewachsenen Ausbau des Sozialstaates ist auch die Sozialausgabenquote (Verhältnis von So­ zialausgaben und Bruttoinlandsprodukt) von 7,6% (1950) auf 27,5% (2012) angestiegen. Die Einnahmen liegen in der Regel deutlich über den Ausgaben, was allerdings nicht zu falschen Schlüssen verleiten sollte. Der Grund für die Überschüsse liegt hauptsächlich in den angesparten Geldern der beruflichen


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Vorsorge. Mit dem Renteneintritt der geburtenstarken Jahrgänge dürfte die Divergenz abschmelzen. Von den Ausgaben für die Sozialleistungen (rund 147 Milliarden Franken)4 entfallen drei Viertel auf beitrags- oder prämienfinanzierte Sozialversicherungen, 7,6% gehen auf das Konto von bedarfsabhängigen Sozialleistungen. Trotz der Dominanz des Versicherungsprinzips nehmen die bedarfsabhängigen Leistungen in der Schweiz einen immer höheren Stellenwert ein. Weitere 7,1% respektive 9,6% der Ausgaben entfallen auf übrige Versicherungen/Lohnfortzahlungen und staatliche Subventionen. Die Einnahmen (rund 189 Milliarden Franken) stammen zu 65% aus Sozialversicherungsbeiträgen der Arbeitnehmer und Arbeitgeber. Diese stiegen von 4% des Bruttolohnes (1948) auf zwischenzeitlich 13,1% und liegen heute bei 12,5% (Abbildung 2). Darüber hinaus dienten fast alle Erhöhungen der Mehrwertsteuer der letzten Jahre zur Finanzierung der Sozialversicherungen. 24,4% der gesamten Einnahmen stammen von der öffentlichen Hand, rund 10% entfallen auf Vermögenserträge. Abbildung 3 zeigt die einzelnen Anteile der Sozialversicherungszweige an den Ausgaben aller Sozialversicherungen 2012 (total 142 Milliarden Franken). Über die Zeit zeigt sich, dass zum grossen Wachstum bei den Sozialleistungen insbesondere die Leistungen im Alter und die Gesundheitskosten beigetragen haben (Abbildung 4). Das AHV-Umlageergebnis rutschte 2014 in die roten Zahlen, und gemäss den Prognosen des Bundesamts für Sozialversicherungen wird sich dieser Trend noch verstärken. Die finanzielle Lage der IV hat sich dank diverser Revisionen stabilisiert, saniert ist sie allerdings nicht. Bei der beruflichen Vorsorge ist der Umwandlungssatz von den ökonomischen Realitäten weit entfernt. Auch in anderen Zweigen wie den Gesundheitskosten, Prämienverbilligungen oder Ergänzungsleistungen werden im Jahresrhythmus neue Rekordwerte gemessen. Fest steht: die Ausgaben für die soziale Sicherheit steigen ungebremst und konnten in den vergangenen Jahren nur dank allgemeiner Wohlstandssteigerung (Wirtschaftswachstum) und höheren Lohnbeiträgen und Steuern finanziert werden. Die Leistung des Sozialstaates Trotz der angespannten Finanzlage sollte nicht vergessen gehen, dass der Ausbau des Sozialstaates massgebend dazu beigetragen hat, die Lebensverhältnisse grosser Teile der Bevölkerung zu verbessern. Die Konzeption eines umfassenden Sozialversicherungsschutzes spielte dabei eine zentrale Rolle in der weitgehenden Lösung der «sozialen Frage». 5 Die bekannten Indizes zeigen denn auch immer wieder, wie gleichmässig (und bemerkenswert stabil) die Schweizer Einkommen im internationalen Vergleich verteilt sind.6 Der Sozialstaat erfüllt einerseits eine einkommenssichernde Funktion. Staatli-

che Transfers (AHV, Sozialhilfe, Ergänzungsleistungen zur AHV/IV etc.) garantieren in jeder Lebenslage ein gewisses Mindesteinkommen und bieten einen wirksamen Schutz vor Armut. Vom Sozialstaat gehen andererseits aber auch Verteilungswirkungen aus. Insbesondere die AHV weist einen starken Umverteilungseffekt zugunsten der unteren Einkommensschichten aus. Eine entsprechende Wirkung haben auch sämtliche bedarfsabhängigen Sozialleistungen, die durch den allgemeinen Staatshaushalt finanziert werden. Bei der Vermögensverteilung ist die Ausgangslage – zumindest auf den ersten Blick – eine andere. Inzwischen ist allerdings längst klar, dass die äusserst ungleiche Verteilung der Vermögen hauptsächlich auf statistische Gründe zurückgeführt werden kann. Wesentliche Teile des Vermögens (BVG, Immobilien und zukünftige AHV-Renten) werden durch die entsprechenden Steuerstatistiken nämlich nicht oder unvollständig erfasst. Die leistungsstarken Sozialversicherungen ersetzen geradezu die private Ersparnisbildung für die Vorsorge. Anders ausgedrückt: gerade weil es aufgrund der ausgeprägten sozialen Solidarität im Schweizer Sozialstaat nicht nötig ist, vorsorgend Geld auf die Seite zu legen, sind die Vermögen weiter Bevölkerungskreise so gering. Verdrängungseffekte Der sowohl absolut als auch relativ stark gewachsene So­ zialstaat stellt die Politik und die Gesellschaft als Ganzes vor grosse Herausforderungen. Finanzielle Engpässe zeichnen sich aufgrund der demographischen Entwicklung insbesondere in der Altersvorsorge ab. Die Lebenserwartung der Rentnerinnen und Rentner bei Eintritt in die AHV stieg seit 1948 bei den Frauen von 13,7 auf 22,1 Jahre, bei den Männern von 12,1 auf 19,1 Jahre. Erhöht wurde das gesetzliche Rentenalter der Männer trotzdem nie, jenes der Frauen sogar gesenkt. Finanzieren heute noch rund 3,5 Erwerbstätige einen Rentner, werden es 2050 weniger als zwei sein. 7 Vorbote dieser Entwicklung sind die geburtenstarken Jahrgänge der BabyboomGeneration, die seit knapp einem Jahrzehnt in Wellen das Rentenalter erreichen. Eine damit einhergehende Zunahme der Pflegebedürftigen führt zusätzlich zu steigenden Kosten im Gesundheits- und Pflegebereich. Die Ausgabendynamik führt unweigerlich zu einem Druck auf der Einnahmenseite. Wie zuvor bereits angesprochen, schlägt sich dies auch in der Entwicklung der Sozialversicherungsbeiträge nieder. Allerdings üben höhere staatliche Zwangsabgaben in einer zunehmend kompetitiven, globalisierten Wirtschaft negative Effekte auf die Standortattraktivität und Beschäftigung aus. Gerade in Zeiten der Frankenstärke fällt tiefen Lohnnebenkosten eine wichtige Bedeutung zu. Zur Herausforderung wird das Ausgabenwachstum jedoch auch für die öffentliche Hand. Im Jahr 1990 wendeten Bund, Kantone und Gemeinden total rund 41% der Ausgaben für die Be7


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Abbildung 1 Entwicklung der sozialen Sicherheit (1950–2012)* Mio. Franken

% des BIP % des BIP 45

Mio.000 Franken 200 200 000 180 000 180 Mio.000 Franken 160 000 Mio. Franken 200 160 000 000 200 000 140 000 180 000 140 000 180 000 120 000 160 000 120 000 160 000 100 000 140 000 000 100 140 000 80 000 120 000 80 000 120 000 60 000 100 000 000 10060 000 40 000 80 000 000 8040 000 20 000 60 000 000 6020 000 0 40 000 40 000 0

45 40 35 30 25 20

2010 2010

2005 2005

10

5

5

0

0

2010

2005 2010

2000 2000 2000 2005

1995 1995 1995 2000

1990 1990 1990 1995

1985 1985 1985

1990

1980 1980 1980

1985

1975 1975 1975

1980

1970 1970 1970

1975

1965 1965 1965

1970

1960 1960 1960 1960

1955 1955

1950 1950

% des Bruttolohns % 14des Bruttolohns

1965

1955 1955

15

1950 1950

20 000 20 000 0 0

45 Einnahmen (linke Skala) 40 Einnahmen (linke Skala) Ausgaben (linke Skala) Ausgaben (linke Skala) 35 Einnahmen (linke Skala) Einnahmen (linke Skala) 30 40 Sozialausgabenquote 30 Ausgaben (linke Skala)(rechte Skala) (rechte Skala) 25 Sozialausgabenquote Ausgaben (linke Skala) 35 25 20 30 20 Sozialausgabenquote (rechte Skala) Sozialausgabenquote (rechte Skala) 15 25 15 10 20 10 5 15 5 0 Quelle: BFS (*ab 1990 teilweise revidierte Werte) 10 0

40 % des BIP % des BIP 35 45

Abbildung 2 Entwicklung der Sozialversicherungsbeiträge (1948–2014) 14 EO EO ALV ALV EO EO IV IV ALV ALV

12

% des Bruttolohns % des 12 Bruttolohns

IV

IV AHV AHV

2011 2011

2014 2014

2008 2008

2005 2005

2002 2002

1999 1999

1996 1996

1993 1993

1990 1990

1987 1987

1984 1984

1981 1981

1978 1978

1975 1975

1972 1972

1969 1969

1966 1966

1963 1963

1960 1960

1957 1957

1954 1954

1951 1951

AHV AHV

1948 1948

1414 10 10 1212 8 8 1010 6 6 8 8 4 4 6 6 2 2 4 4 0 0 2 2

Quelle: BSV

2014

2011 2008 2014 2011

2008 2005

2005 2002

2002 1999

1999 1996

1996 1993

1993 1990

1990 1987

1984 1987

1978 1981

1981 1984

1975 1978

1972 1975

1969 1972

1966 1969

1948 1948 1951 1951 1954 1954 1957 1957 1960 1960 1963 1963 1966

0 0

FZ 3.8% FZ 3.8%

4.1% Abbildung 3ALV Anteile der Sozialversicherungszweige an den Ausgaben 2012 ALV 4.1% EO 1.1% EO 1.1% FZUV 3.8% 4.3% FZ 3.8% UV 4.3% ALV 4.1% ALV 4.1% EO EO 1.1% 1.1% UVUV 4.3% 4.3% KV 16.5% KV 16.5%

27.2% AHV 27.2% AHV

KVKV 16.5% 16.5%

1.8% EL zur AHV 27.2% AHV 27.2% 1.8% ELAHV zur AHV 6.5% IV 6.5% IV 1.8%1.3% EL zur ELAHV zur AHV IV 1.8% EL zur 1.3% EL zur IV 6.5% IV 6.5% IVBV 33.3% 1.3%33.3% EL zurBV IV 1.3% EL zur IV Quelle: BSV

33.3% BV 33.3% BV

Abbildung 4 Sozialleistungen nach Funktionen (1987–2012) Mio. Franken Mio. Franken 70 000 70 000

Geldleistungen im Alter (AHV, BV, EL) Geldleistungen im Alter (AHV, BV, EL)

Mio. Franken 60 000 Mio. Franken

7060 000 70 000 000 50 000 6050 000 000 60 000 40 000 5040 000 000 50 000 30 000 4030 000 000 40 000 20 000 3020 000 000 30 000 10 000 20 000 10 000 20 000

0

Geldleistungen im Alter (AHV, BV, EL) Geldleistungen im Alter (AHV, BV, EL)

Gesundheit (KV, UV, IV, AHV) Gesundheit (KV, UV, IV, AHV)

10 000 0 1987 10 000 1987

1992 1992

1997 1997

2002 2002

2007 2007

1987 0 1987

1992 1992

1997 1997

2002 2002

2007 2007

0

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Geldleistungen bei Invalidität (IV, BV, EL, UV) Gesundheit (KV, UV, IV, AHV) Geldleistungen an bei Invalidität (IV, BV, EL, UV) Geldleistungen Gesundheit (KV, UV,Familien IV, AHV)inkl. MSE (FZ, EO) Geldleistungen an Familien inkl. MSE Hinterlassene (AHV,(FZ, BV,EO) UV) Geldleistungen bei Invalidität (IV, BV, EL,(AHV, UV) an Hinterlassene BV, UV) Geldleistungen bei Arbeitslosigkeit (ALV) Geldleistungen bei Invalidität (IV, BV, EL, UV) Geldleistungen bei Arbeitslosigkeit Geldleistungen an Familien inkl. MSE (FZ, (ALV) EO) 2012 Geldleistungen an Hinterlassene Geldleistungen an Familien(AHV, inkl. BV, MSEUV) (FZ, EO) 2012 Geldleistungen bei Arbeitslosigkeit (ALV)(AHV, BV, UV) Geldleistungen an Hinterlassene Geldleistungen bei Arbeitslosigkeit (ALV) 2012 2012

Quelle: BSV


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reiche Gesundheitswesen und Soziale Sicherheit auf. Im Jahr 2012 waren es bereits rund 46%.8 Die OECD schätzt, dass bei gleichbleibenden Ansprüchen bis ins Jahr 2050 zusätzliche 10% des BIP für Altersvorsorge, Pflege und Gesundheitswesen benötigt würden. 9 Das überproportionale Wachstum dieser Bereiche führt zu problematischen Verdrängungseffekten zulasten anderer öffentlicher Aufgaben. Gerade aus wachstumspolitischer Sicht ist es gefährlich, wenn Bereiche wie die Infrastruktur oder Bildung mehr und mehr verdrängt werden.10 Zusätzlich wird die Effektivität der bestehenden Schuldenbremse geschwächt, wenn immer grössere Teile des Budgets zweckgebunden benötigt werden. Sozialausgaben, die nicht durch Einnahmen gedeckt sind, führen im Regime der Schuldenbremse zwangsläufig zu Kürzungen in anderen Ausgabenbereichen. Umso wichtiger wäre es, Sozialversicherungssysteme institutionell so auszugestalten, dass eine nachhaltige Finanzierung erreicht und damit auch nachhaltige Staatsfinanzen ermöglicht werden. Sozialpolitik in der Verflechtungsfalle Während der Bund grundsätzlich für die Sozialversicherungen zuständig ist (Art. 111 ff. BV), liegen die Bedarfsleistungen in der Kompetenz der Kantone und Gemeinden. Eine effiziente Aufgabenzuordnung hat sich dabei an den Grundprinzipien der Subsidiarität und der fiskalischen Äquivalenz zu orientieren. Wer eine öffentliche Leistung erbringt und diese finanziert, muss auch über die nötigen Kompetenzen zur Steuerung verfügen. Gemischte Zuständigkeiten kranken an fehlenden Anreizmechanismen und führen regelmässig zu ineffizienten und teuren Lösungen, anhaltendem Reformstau und intransparenten Lastenverschiebungen. Nicht zuletzt Sozialwerke stecken aber mitunter in einer solchen institutionellen Verflechtungsfalle. Erwähnt sei das Beispiel der Ergänzungsleistungen zur AHV und IV (EL), die als komplexe Verbundaufgabe von Bund und Kantonen getragen werden. Obwohl die Kantone den Grossteil der EL-Kosten stemmen, verfügen sie aufgrund der klaren Bundesgesetzgebung über praktisch keine Steuerungsmöglichkeiten. Während die Kosten Jahr für Jahr steigen, verhindert das Geflecht an Zuständigkeiten und Finanzierungsmechanismen längst nötige Reformen. Und sollte man sich nach zähem Ringen doch noch auf Massnahmen zur Kostensenkung einigen, heisst das noch lange nicht, dass die Einsparungen dann auch tatsächlich derjenigen Staatsebene zugute kommen, die für den entsprechenden Aufgabenbereich verantwortlich ist und die Finanzierung trägt. Neben der Verflechtungsproblematik ist in den vergangenen Jahren auch eine schleichende Zentralisierung in der So­ zialpolitik (und anderen Bereichen) festzustellen.11 So wird oft argumentiert, zentralistische Lösungen seien nötig, um der Zunahme an Komplexität, Koordinationsbedarf und Ungleich-

behandlung im föderalen Sozialstaat entgegenwirken zu können. Insbesondere bei Bedarfsleistungen wird vermehrt der Weg über Bundes(rahmen)gesetze beschritten. Die Liste an entsprechenden Harmonisierungsvorstössen ist lang. Gefordert werden unter anderem ein Bundesgesetz für die Sozialhilfe, die Harmonisierung der Alimentenbevorschussung, eine bundesgesetzliche Definition des Existenzminimums oder die Einführung von Ergänzungsleistungen für Familien auf Bundesebene. Der Föderalismus wird damit untergraben, Finanzdisziplin und Spielraum für Politikexperimente bleiben auf der Strecke. Sozialhilfe als letztes Netz Als letztes Netz im System der sozialen Sicherheit kommt die Sozialhilfe zum Tragen. Die Verantwortlichkeit liegt bei den Kantonen, die sich bei der Gesetzgebung an den Richtlinien der Schweizerischen Konferenz für Sozialhilfe (SKOS) orientieren und den Vollzug in den meisten Fällen an die Gemeinden delegiert haben. 2012 beliefen sich die schweizweit ausbezahlten Sozialhilfeleistungen auf 4,1 Milliarden Franken.12 Davon gehen rund 2,4 Milliarden Franken zulasten der eigentlichen Sozialhilfe («wirtschaftliche Sozialhilfe»). Weitere Positionen betreffen hauptsächlich die Sozialhilfe im Asyl- und Flüchtlingswesen (600 Millionen Franken), die Alters- und Pflegebeihilfen (400 Millionen Franken) sowie die Ausbildungsbeihilfen (300 Millionen Franken). Wirtschaftliche Sozialhilfeleistungen wurden dabei an rund 250 000 Personen ausbezahlt. Die Sozialhilfequote liegt damit bei rund 3,1% und veränderte sich in den letzten Jahren nur geringfügig. Schweizweit bestehen allerdings grosse Unterschiede. So gibt der Kanton Nidwalden pro Einwohner 47 Franken für die Sozialhilfe aus, Basel-Stadt hingegen 664 Franken. Die höheren Lasten werden dabei unter anderem durch den soziodemographischen Lastenausgleich des Bundes kompensiert. Innerhalb von 10 Jahren haben sich die Ausgaben für die wirtschaftliche Sozialhilfe verdoppelt (2003: 1,2 Milliarden Franken), alleine 2012 betrug die nominale Zunahme 14,4%. Erste Zahlen für 2013 und 2014 bestätigen diese Dynamik. Die Zahlen sind allerdings mit Vorsicht zu betrachten. Vergessen wird gelegentlich, dass die Kostenentwicklung bei der Sozialhilfe massgeblich durch Gesetzesrevisionen bei den Sozialversicherungen (insbesondere IV und EL) sowie durch kantonale Regelungen beeinflusst wird. So wurde beispielsweise im Rahmen des NFA 2008 die bis dato bestehende Begrenzung des EL-Betrages aufgehoben, was den EL rund 350 Millionen Franken Mehrkosten pro Jahr bescherte, in ähnlichem Ausmass aber die Sozialhilfe entlastete. 13 Demgegenüber belasteten mehrere IV-Revisionen das Konto der Sozialhilfe. Aber auch unter Berücksichtigung der diversen Kostenverlagerungen zeigt die Entwicklung grossen Handlungsbedarf. Ein kurzer Blick auf die Zahlen offenbart: Die Gründe für den Anstieg in 9


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«Die leistungsstarken Sozial­ versicherungen ersetzen geradezu die private Ersparnis­ bildung für die Vorsorge. Anders ausgedrückt: gerade weil es aufgrund der ausgeprägten Solidarität im Schweizer Sozialstaat nicht nötig ist, vorsorgend Geld auf die Seite zu legen, sind die Vermögen weiter Bevölkerungskreise so gering.» Christoph A. Schaltegger und Patrick Leisibach

den letzten Jahren sind vielfältig. Höhere Sozialhilfeleistungen pro Kopf, Kostenverlagerungen aus Sozialversicherungen sowie eine starke Zunahme von älteren Personen und Fällen mit langer Bezugsdauer, die vergleichsweise hohe Leistungen beziehen. Die zu Beginn erwähnten Erfahrungen mit dem Speenhamland-System können zwar nicht mit der Armutsbekämpfung im Schweizer Sozialstaat verglichen werden, dennoch sind gerade die Bedarfsleistungen mit negativen, systemimmanenten Anreizeffekten behaftet. Eine staatliche Mindestsicherung in jedem Lebensabschnitt setzt klare Abhalteeffekte für den Eintritt in den Arbeitsmarkt, mindert die Anreize, für die private Vorsorge zu sparen, und kann zu sozialstaatlicher Abhängigkeit führen. Verschiedene Studien zeigen gerade für die Sozialhilfe, dass dem System problematische Schwelleneffekte innewohnen und eine höhere Erwerbstätigkeit nicht sel10

ten sogar bestraft wird.14 Auch das System der Ergänzungsleistungen ist mit einer Vielzahl von falschen Anreizen behaftet.15 Insbesondere die EL zur IV reduzieren den Anreiz, eine Arbeit aufzunehmen. Einem alleinstehenden Rentner garantieren die EL ein (steuerfreies) Einkommen von bis zu 40 000 Franken im Jahr. Eine vierköpfige Familie erreicht sogar ein jährliches Einkommen von über 75 000 Franken. Während die nackten Zahlen bereits Anreizeffekte erahnen lassen, stellt sich zudem eine Gerechtigkeitsfrage, wenn Personen dank Leistungen des Sozialstaates bessergestellt werden als Personen, die sich in den Arbeitsprozess integrieren. Fiskalische Äquivalenz und Schuldenbremse Der historisch gewachsene Schweizer Sozialstaat lastet stark auf den Schultern der öffentlichen Haushalte, der Wirtschaft und der Beitragszahlenden. Gesellschaftlicher Wandel,


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demographische Entwicklung und die Situation auf den Kapitalmärkten verstärken den Finanzierungsdruck in den kommenden Jahren weiter und können von der Politik nur wenig beeinflusst werden. Umso wichtiger ist deshalb, dass die Politik die Weichen für einen langfristig nachhaltig finanzierbaren Sozialstaat rechtzeitig stellt, indem einerseits die Verantwortlichkeiten (fiskalische Äquivalenz) gestärkt und andererseits institutionelle Steuerungsmechanismen zur Stärkung der Zeitkonsistenz geschaffen werden. Die Bedarfsleistungen (Ergänzungsleistungen, Sozialhilfe etc.) leiden unter dem bestehenden institutionellen Geflecht. Gemischte Zuständigkeiten, Verbundfinanzierungen und fehlende Steuerungsmöglichkeiten führen dazu, dass Anreizmechanismen zum sorgsamen Umgang mit den knappen öffentlichen Mitteln fehlen, Verantwortlichkeiten hin- und hergeschoben und Lasten auf Dritte abgewälzt werden können. Wichtig wäre eine klare Zuordnung gemäss dem Prinzip der fiskalischen Äquivalenz. Die Bedarfsleistungen sollten dabei möglichst subsidiär und vollständig in die dezentrale Verantwortung der Kantone (und Gemeinden) übergeben werden. Im Sinne des Wettbewerbsföderalismus könnten in solchen kantonalen und kommunalen Versuchslabors effiziente Lösungen gefunden werden. Eine kohärente Trennung der Bedarfsleistungen von den Sozialversicherungen (Bund) würde es den Kantonen zudem erlauben, eine ganzheitliche, koordinierte und bedürfnisgerechte Sozialpolitik zu verfolgen. Bei den klassischen Sozialversicherungen gilt es von gemachten positiven Erfahrungen im Ausland und der Schuldenbremse im Bundeshaushalt zu lernen und entsprechend angepasste Fiskalregeln für die Sozialversicherungen zu prüfen. Eine solche Schuldenbremse für die Sozialversicherungen könnte dabei entweder als «Autopilot» oder als «Navigationshilfe» ausgestaltet werden.16 Beim Übertreten einer kritischen Schwelle würden je nach Ausgestaltung automatisch Sanierungsmassnahmen eingeleitet oder die Politik dazu angehalten, entsprechende Korrekturen im üblichen politischen Prozess einzuleiten. Um die «Opfersymmetrie» zu wahren, müssten entsprechende Korrekturen sowohl die Einnahmenseite (Beitragserhöhung) als auch die Ausgabenseite (Leistungskürzung) umfassen. Für die AHV, die Sozialversicherung mit dem langfristig grössten Handlungsbedarf, würde das wie folgt aussehen: Man definiert einen Schwellenwert im AHV-Fonds, bei dessen Unterschreiten automatisch Rentenalter, Rentenhöhe und Beitragssatz angepasst werden (erstbeste Lösung) oder der Gesetzgeber angehalten wird, mit zu definierenden Massnahmen die AHV-Finanzen wieder ins Lot zu bringen (zweitbeste Lösung). Zusammen mit einer Korrektur der systemimmanenten Fehlanreize sichern beide Stossrichtungen die nachhaltige Finanzierung der Sozialwerke und versprechen eine wesentliche Dämpfung des Kostenanstiegs bei den Bedarfsleistungen.�

1 Vgl. Polanyi, Karl (1977): The Great Transformation. Politische und ökonomische Ursprünge von Gesellschaften und Wirtschaftssystemen, Wien: Europaverlag. (Englische Originalausgabe 1944) 2 Galasso und Profeta argumentieren, dass die Wahl zwischen Beveridge und Bismarck auf die Familienstruktur (Erbschaftssystem) im entsprechenden Land zurückzuführen sei. Schwache familiäre Bindungen zwischen den Eltern und ihren Kindern führten dabei zu einem Rentensystem im Sinne eines sozialen Auffangnetzes mit vergleichsweise hoher Umverteilung. Vgl. Galasso, Vincenzo und Paola Profeta (2011): «When the State Mirrors the Family: The Design of Pension Systems», CEPR Discussion Papers No. 8723. 3 Vgl. Sommer, Jürg H. (1978): Das Ringen um die soziale Sicherheit in der Schweiz, Diessenhofen: Rüegger. 4 Die Gesamtrechnung der sozialen Sicherheit enthält auf der Ausgabenseite überdies administrative Kosten (9 Milliarden Franken) sowie übrige Ausgaben (6 Milliarden Franken; vorwiegend Nettozahlungen der BV an andere Versicherungen). 5 Vgl. Schaltegger, Christoph A. (2014): «Die soziale Frage», in: Schweizer Monat, September 2014. 6 Vgl. Avenir Suisse (2013): Verteilung – Avenir Spezial. 7 Vgl. BFS (2010): Szenarien zur Bevölkerungsentwicklung der Schweiz 2010– 2060, Neuchâtel: Bundesamt für Statistik. 8 Allerdings sind diese Zahlen stark von der Art der Erhebung abhängig. Eine Reform der Finanzstatistik führte zu einem markanten Strukturbruch zwischen den Jahren 2007 und 2008. Konsolidiert gab die öffentliche Hand 2007 fast 50% für die Bereiche Soziale Sicherheit und Gesundheit aus, 2008 waren es «nur» noch knapp 42%. Dies, weil Spitäler und weitere Institutionen des Gesundheitswesens seit 2008 nicht mehr in der Finanzstatistik erfasst werden. 9 Vgl. OECD (2009): OECD Economic Outlook, March, Interim Report, Paris. 10 Kirchgässner zeigt in einer Analyse der langfristigen Ausgabenentwicklung, dass die Struktur der öffentlichen Haushalte über die Zeit an Wachstumsfreundlichkeit verlor. Vgl. Kirchgässner, Gebhard (2004): «Die langfristige Entwicklung der Bundesfinanzen, 1960–2002». Hintergrundpapier zu Teil 3 des Jahresberichts 2004 der Kommission für Konjunkturfragen. 11 Vgl. Schaltegger, Christoph A. und Marc Winistörfer (2014): «Zur Begrenzung der schleichenden Zentralisierung im Schweizerischen Bundesstaat», in: Ordo – Jahrbuch für die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft 65, S. 183–228. 12 Die Ausgaben für die Sozialhilfe liegen damit in ähnlichem Rahmen wie die Ergänzungsleistungen zur AHV und IV (4,4 Milliarden Franken) und die Prämienverbilligungen (4,2 Milliarden Franken). Vgl. BSV (2014): Schweizerische Sozialversicherungsstatistik 2014, Bern. 13 Vgl. Bundesrat (2013): Ergänzungsleistungen zur AHV/IV: Kostenentwicklung und Reformbedarf. Bericht des Bundesrates in Erfüllung der Postulate Humbel, Kuprecht und der FDP-Liberalen-Fraktion. 14 Vgl. Ehrler et al. (2012): Schwelleneffekte und negative Erwerbsanreize, Beiträge zur Sozialen Sicherheit 14/12, BSV. 15 Vgl. Schaltegger, Christoph A. und Patrick Leisibach (2015): Analyse der Kostentreiber in den Ergänzungsleistungen: Fakten, Probleme, Lösungsmöglichkeiten. Gutachten im Auftrag des Schweizerischen Arbeitgeberverbandes, verfügbar unter www.arbeitgeber.ch. 16 Vgl. Feld, Lars P. und Christoph A. Schaltegger (2012): Soziale Sicherheit sichern. Plädoyer für eine Schuldenbremse, Zürich: Verlag Neue Zürcher Zeitung. Avenir Suisse.

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Wie sozial ist Sozialpolitik?

Die staatlichen Leistungen sollen den Richtigen zugute kommen. Doch wie treffsicher sind diese in einem komplexen System zu erreichen? Überlegungen zur Zielgenauigkeit der Sozialpolitik. von Monika Bütler

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ie Zahlen1 zeigen eindrücklich: der schweizerische Sozialstaat wird immer umfassender – und vor allem teurer. Die Öffentlichkeit reagiert erstaunlich gelassen. Viel mehr als die steigenden Kosten interessieren Einzelschicksale: Eine Gemeindepräsidentin bezieht trotz hohem Einkommen eine volle IV-Rente, ein Sozialhilfeempfänger fährt einen Porsche, Politiker wohnen in viel zu günstigen städtischen Wohnungen. Andererseits leben alte Menschen unter dem Existenzminimum, die IV verweigert offensichtlich Kranken die Rente, einer mittelständischen Familie bleibt angesichts hoher Mietkosten und Krankenkassenprämien kaum mehr genug zum Leben. Die auseinanderklaffenden Wahrnehmungen des Sozialstaates haben einen gemeinsamen Nenner: die Zielgenauigkeit staatlicher Sozialleistungen. Auf ihr basiert nicht nur die Finanzierbarkeit des Sozialstaates, sondern auch dessen gesellschaftliche und politische Akzeptanz. Die staatlichen Leistungen sollen also bei den Richtigen landen. Doch wer sind die Richtigen? Der folgende Artikel spricht vier fundamentale Spannungsfelder an, auf denen sich die Sozialpolitik in dieser Frage bewegt. 1. Sozialer Ausgleich und Anreize Es ist unbestritten, dass ein weitreichender Ausgleich der Einkommen hohe Effizienzkosten verursacht. Die Individuen reagieren mit Verhaltensanpassungen auf die von der Sozialpolitik gesetzten Anreize. Diesen Zielkonflikt dokumentiert eine sehr umfassende Literatur.2 Darüber hinaus interagieren in einem komplexen System aber auch die Verhaltensanreize, die von den verschiedenen Pfeilern der sozialen Absicherung ausgehen. So bilden die Ergänzungsleistungen einerseits eine wichtige Komponente in der Absicherung eines Mindesteinkommens im Alter, welches durch die AHV alleine nicht erreicht werden kann. Sie reduzieren aber andererseits auch den Anreiz, selbst zu sparen oder durch Erwerbseinkommen die (vorzeitige) Pensionierung aus eigenen Mitteln zu finanzieren. Beunruhigend ist dabei aber vor allem, dass die Ergänzungsleistungen auch Individuen beeinflussen, für die sie eigentlich gar nicht gedacht sind. Sie bilden nämlich einen Anreiz, ange-

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Monika Bütler ist Professorin für Volkswirtschaftslehre und geschäftsführende Direktorin des Schweizerischen Instituts für Empirische Wirtschafts­ forschung an der Universität St. Gallen. Ihre Forschung befasst sich schwerpunktmässig mit Fragen der Sozialversicherungen, des Arbeitsmarkts und der politischen Ökonomie.

sparte Gelder aus der Pensionskasse als Kapital zu beziehen und die Existenzsicherung im hohen Alter nicht mit einer Rente aus der beruflichen Vorsorge, sondern über die Ergänzungsleistungen zu «versichern».3 Die berufliche Vorsorge (BV) zeigt auch, dass Umverteilungen in unerwartete Richtungen gehen können. Für einmal sei hier nicht die – völlig zu Recht – angeprangerte Umverteilung zu Lasten der jungen Beitragszahler angesprochen. Am schlechtesten sind in der BV mit den alleinstehenden Männern ausgerechnet Versicherte gestellt, die ohnehin verwundbar sind und ein vergleichsweise tiefes Vorruhestandseinkommen aufweisen. Sie erhalten pro einbezahlten Franken rund 25% weniger als die anderen Versicherten. Auf der anderen Seite ist die vermeintliche Solidarität mit weiblichen Versicherten keine; die Kosten einer längeren Lebenserwartung der Frauen sind nämlich sogar leicht tiefer als die durch die männlichen Versicherten ausgelösten Witwenrenten. Profiteure in der BV sind gut verdienende Männer (die oft spät noch[mals] heiraten und im Rentenalter für ihre noch minderjährigen Kinder Zusatzrenten erhalten). Noch sind die Umverteilungen zugunsten der Bessergestellten nicht dramatisch. Bedenklicher ist, dass die Akzeptanz eines effizienten und volkswirtschaftlich sinnvollen Pfeilers der Alterssicherung unterminiert wird. Falsche Solidaritäten stärken den Eindruck, dass die BV nicht für die kleine Frau und den kleinen Mann gemacht ist. 2. Fehler lassen sich nicht vermeiden Ein wichtiger Grund für die hohe Akzeptanz und Popularität der AHV sind die glasklaren Bedingungen für den Leistungsbezug. «Scheinalte» gibt es nicht. Das Alter kann zwei-


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felsfrei und mit geringen Kosten festgestellt werden. Hingegen ist es in der IV nicht immer möglich, eigentlich Arbeitsfähige von wirklich krankheitsbedingt Erwerbsunfähigen zu trennen. Asymmetrische Informationen führen zu zwei Arten von Fehlern: Eigentlich Gesunde werden als krank eingestuft (Fehler I, erinnert sei an die in den Medien heftig geführte Debatte um «Scheininvalide»). Andererseits werden Kranke irrtümlich als gesund angesehen (Fehler II). Tatsächlich finden die meisten Studien relativ hohe Fehlerquoten beim Zugang in die IV. So zeigen Low und Pistaferri4, dass rund 26% der wirklich Behinderten in den USA ungerechtfertigt Leistungen vorenthalten werden (Fehler II), aber 10 – 14% der als invalid anerkannten Personen eigentlich erwerbsfähig wären (Fehler I). Die wissenschaftliche Literatur zeigt auch: Je höher die Leistungen, desto grösser die Wahrscheinlichkeit, dass Unberechtigte Renten beantragen und erhalten (Fehler I). Kontrolle ist erwiesenermassen ein stumpfes Instrument gegen solchen Missbrauch; zudem verwehrt sie einem Teil der wirklich Kranken die Unterstützung zu Unrecht (Fehler II). Niedrige Sozialleistungen bewirken zwar weniger Fehler – allerdings um den Preis einer schlechten Absicherung. Im Umgang mit Fehlern gibt es daher keine eindeutig richtige Lösung.

3. Beanspruchung von Leistungen Die ersten beiden Spannungsfelder betreffen vor allem Leistungen des Sozialstaats, die an den Eintritt eines bestimmten Ereignisses geknüpft sind (Alter, Invalidität, Arbeitslosigkeit). Bei Sozialhilfe, Ergänzungsleistungen sowie Prämienverbilligungen hingegen hängt der Zugang zu den Leistungen von der finanziellen Situation der Individuen ab. Eine umfassende und für die Betroffenen aufwendige Überprüfung der wirtschaftlichen Situation als Grundlage der Berechtigung ist daher zwingend. Studien im In- und Ausland zeigen nun, dass viele der auf dem Papier berechtigten Personen Leistungen nicht beanspruchen. Nichtbeanspruchung ist problematisch, wenn eigentlich Bedürftige ihnen zustehende Leistungen nicht erhalten, weil sie diese nicht kennen, das Prozedere zu kompliziert ist oder sie durch Scham abgehalten werden. Hingegen hängt die Finanzierbarkeit der Bedarfsleistungen entscheidend davon ab, ob jene Menschen auf Leistungen verzichten, die über Einnahmequellen verfügen, sie den Behörden aber verbergen. Wie sich die Bezugsquote der Bedarfsleistungen in der Zukunft entwickelt, bleibt daher eine grosse und bedrohliche Unbekannte bei der Finanzierbarkeit des Sozialstaates.

«Die auseinanderklaffenden Wahrnehmungen des Sozialstaates haben einen gemeinsamen Nenner: die Zielgenauigkeit staatlicher Sozialleistungen. Auf ihr basiert nicht nur die Finanzierbarkeit des Sozialstaates, sondern auch dessen gesellschaftliche und politische Akzeptanz.» Monika Bütler 13


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4. Rationierung von Leistungen Nicht jeder, der die notwendigen Kriterien zum Bezug der sozialpolitischen Leistungen erfüllt, erhält diese auch. Die Nachfrage nach staatlichen Leistungen ist grösser als das Angebot, so beispielsweise bei verbilligtem Wohnraum und Betreuungsplätzen. Bedenklich ist, dass es kaum verbindliche Kriterien gibt, die definieren, an wen die Leistungen im Rationierungsfall gehen sollen. Dies verletzt nicht nur die Rechtsgleichheit, sondern macht auch die Frage, ob wirklich die Richtigen die faktisch rationierten Leistungen erhalten, umso dringender. Die Datenlage zu rationierten Leistungen ist unklar. Bisherige Studien lassen immerhin vermuten, dass die Rationierung der subventionierten Plätze in der Kinderbetreuung auf Kosten weniger gut ausgebildeter Eltern geht. So ist die Wahrscheinlichkeit, dass Akademikereltern Krippenplätze beanspruchen, rund dreimal höher, als dies bei den übrigen Familien der Fall ist. Ähnliches zeigte sich auch nach der Einführung der Betreuungsgutscheine in der Stadt Luzern: die Anzahl subventionierter Plätze stieg stark an – die neuen Betreuungsplätze gingen fast ausschliesslich an weniger gut verdienende Eltern, die vorher wohl leer ausgingen.5 Schwierige Messung der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit Die vier Spannungsfelder der Sozialpolitik haben gemeinsame Nenner: Erstens, je grosszügiger das System ist, desto stärker akzentuieren sich die jeweiligen Zielkonflikte. Höhere Leistungen bedeuten nicht automatisch mehr Gerechtigkeit. Manchmal sogar weniger, wenn höhere Fehlerquoten oder rationierte Leistungen die Bedürftigsten am meisten treffen. Zweitens, das steuerbare Einkommen als Zugangsticket für sozialpolitische Leistungen ist ein schlechtes Mass der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit. Sachdienstleistungen, Transfers zwischen Familienmitgliedern und nicht deklarierte Einkünfte verzerren die Messung. Doch selbst ein perfekt gemessenes momentanes Einkommen sagt wenig über den Wohlstand eines Haushalts aus. Die Konsummöglichkeiten hängen von vielen weiteren Faktoren ab: vom Vermögen im weiteren Sinn (also auch von Anwartschaften), dem Grad der Absicherung gegen verschiedene Risiken, der verfügbaren Zeit. Die Entwicklung des Einkommens über den Lebenszyklus wird bei der Identifikation der von der Sozialpolitik als unter-

Vgl. die Grafiken auf S. 8. Als Einstieg sei verwiesen auf: Jonathan Gruber und David Wise, 1999–2015: «Social Security and Retirement around the World.» 3 Monika Bütler, Kim Peijnenburg und Stefan Staubli, 2013. «How Much Do Means-Tested Benefits Reduce the Demand for Annuities?», NRN working papers 2013-11. 4 Hamish Low und Luigi Pistaferri, 2015: «Disability Insurance and the Dynamics of the Incentive-Insurance Tradeoff», American Economic Review (im Druck). 5 Alma Ramsden, 2014: Betreuungsgutscheine in den Gemeinden Luzern, Emmen und Kriens. Kurzbericht SEW-HSG, http://www.batz.ch/2014/11/ gutscheine-statt-rationierte-krippenplaetze-in-der-kinderbetreuung/ 1

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stützungswürdig angesehenen Haushalte ebenfalls nicht berücksichtigt. Und zu guter Letzt hängt das verfügbare Einkommen stark von den eigenen Entscheidungen ab – und diese wiederum von den Anreizen, welche die Sozialpolitik vorgibt. Dass viele in guten Zeiten nicht für kargere Perioden sparen, ist durchaus rational. Die Eigenvorsorge wird nämlich durch unser System bestraft. Selbst angespartes Vermögen und intensivere Berufstätigkeit erschweren den Zugang zu staatlichen Leistungen von den Ergänzungsleistungen über Stipendien bis zur – privat angebotenen – Genossenschaftswohnung. Die Pluralität der Lebensformen erhöht die Komplexität der sozialen Absicherung weiter. Mehr Wahlmöglichkeiten für den einzelnen heisst immer auch höhere Kosten für den So­ zialstaat. Gerade weil eine höhere Komplexität des Systems nicht immer zu mehr Gerechtigkeit führt, wäre eine systematische Erfassung der Zielgenauigkeit sozialstaatlicher Leistungen wünschenswert. Damit die Diskussion nicht nur an Einzelfällen stattfindet. �


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Die Photos auf diesen und den folgenden Seiten zeigen Innen- und Aussenansichten des Standorts St. Gallen der Dock-Gruppe AG. 180 langzeitarbeitslose Personen gehen hier verschiedenen industriellen Arbeiten nach, 9 weitere Standorte mit insgesamt rund 1400 Beschäftigten befinden sich in den Kantonen Basel, Graubünden, Luzern, Thurgau und Zürich. Bilder: Caspar Frei

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Unternehmerische Perspektiven im Sozialwesen

Wird im Sozialwesen gespart, ziehen die Betroffenen den Kürzeren. Es ginge aber auch anders. Anstatt Organisationen und Programme mit Geldern zu versorgen, könnte man den Individuen echte Arbeitsperspektiven bieten. Das setzt ein unternehmerisches Umdenken voraus. Ein Plädoyer. von Lynn Blattmann

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ie Schweiz ist ein Land mit vergleichsweise geringen so­ zialen Problemen. Die Arbeitslosigkeit ist tief, die Quote beträgt aktuell 3,1 %, die Sozialhilfequote ist leicht ansteigend und liegt aktuell bei rund 3,2 % 1, die IV-Quote bei knapp 6,1 %2. Zusammengerechnet sind in der Schweiz rund 12 % aller Menschen im erwerbsfähigen Alter auf die zusätzliche Unterstützung einer Sozialversicherung oder der Sozialhilfe angewiesen. Ein Vergleich über die letzten Jahre hinweg zeigt, dass der Anstieg der Quoten weitaus langsamer verläuft, als dies die Medienberichte vermuten lassen. Grundsätzlich funktioniert das schweizerische Wirtschaftsmodell immer noch sehr gut, der Arbeitsmarkt ist flexibel und vermag immer wieder auch Menschen aufzunehmen, die nicht zu den TopPerformern gehören. Eigentlich wäre dies ein Grund, sich zu freuen, denn solche sozialen Probleme scheinen tatsächlich bewältigbar zu sein. Von Freude oder von innovativen Ideen, die der heutigen Situation gerecht werden können, ist jedoch in der aktuellen sozialpolitischen Debatte wenig zu spüren. Noch vor wenigen Jahrzehnten war die Sozialpolitik mit Anliegen der Chancengleichheit und der Armutsbekämpfung eine Domäne der Linken. Vor etwa zehn Jahren hat die SVP das Feld der Sozialpolitik für sich entdeckt. Heute herrscht ein polemischer, entwertender Ton in der Diskussion, wobei sich eine gewisse sozialpolitische Ratlosigkeit breitmacht, denn es fehlen Antworten auf die anstehenden sozialpolitischen Probleme. Abbau der Leistungen für die Versicherten… Die Sozialversicherungen müssen sparen, das ist unbestritten. Die Frage ist nur, wie. Wenn man die letzten IV-Revisionen oder die letzte Revision der Arbeitslosenversicherung genauer anschaut, stellt man fest, dass die Sparanstrengungen immer in erster Linie den Versicherten im Blick hatten. Die Revisionen zielten darauf ab, dass in Zukunft weniger Menschen eine IV-Rente bekommen sollten und diejenigen mit den geringsten Chancen auf dem Arbeitsmarkt nicht mehr von der Arbeitslosenversicherung profitieren sollten. Ein Ergebnis dieser Revisionen liegt darin, dass mehr Menschen in die So­ 16

Lynn Blattmann ist promovierte Historikerin und COO der Dock-Gruppe AG.

zialhilfe gedrängt werden. Wer das Sozialwesen in der Schweiz etwas kennt, weiss, dass dies für die Betroffenen ungleich härter ist. Wer eine Versicherungsleistung erhält, hat quasi einen Rechtsanspruch auf Versicherungsgelder, wer wirtschaftliche Sozialhilfe erhält, fällt der Allgemeinheit der Steuerzahler seiner Wohngemeinde zur Last. Das ist mehr als nur ein formaler Unterschied. Schwierig für die Betroffenen ist der Umstand, dass die wirtschaftliche Sozialhilfe oft markant tiefer ausfällt als die Leistungen in Verbindung mit anderen Sozialversicherungen, und belastend ist die Notwendigkeit, als Sozialhilfebeziehender seiner Wohngemeinde gegenüber die eigene Mittellosigkeit bekennen und belegen zu müssen. Dies erklärt auch, warum viele Leute mit massiven gesundheitlichen Pro­ blemen und wenig Aussicht auf eine Stelle lieber eine IV-Rente hätten als wirtschaftliche Sozialhilfe. Leider lässt die sozialpolitische Diskussion die Sicht und die Anliegen der Betroffenen völlig ausser Acht. Dies ist deshalb stossend, weil die Sozialversicherungen ja für die Versicherten und von Armut Betroffenen oder Bedrohten geschaffen worden sind – und weil andere Sparmöglichkeiten durchaus denkbar wären. Heute fliessen rund 57 %3 der IV-Leistungen in die Renten, rund 20 % fliessen in Massnahmen beruflicher Art und in Beiträge an Institutionen und Organisationen. Die Beiträge an Institutionen und Massnahmen haben im IVBereich seit 1990 massiv zugenommen. Damals flossen unter 400 Millionen der IV in Werkstätten, Wohnheime und Tagesstätten, 2006 waren es 1,3 Milliarden Schweizer Franken.4 Eine ähnliche Entwicklung zeigt sich bei der Arbeitslosenversicherung, auch dort stiegen die Ausgaben für Arbeitsintegrationsprogramme massiv an. 1990 betrugen die Ausgaben des Bundes dafür rund 50 Millionen, heute fliessen laut Seco über 450 Millionen Schweizer Franken in solche arbeitsmarktlichen Massnahmen. Unzählige neue Projekte, Initiativen und Werkstätten sind in den letzten 20 Jahren entstanden, ja man kann


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von der Entstehung einer eigentlichen Sozialindustrie im Bereich der Arbeitsintegration sprechen. …und Ausbau der Sozialindustrie Ein Beispiel mag die Dimensionen dieser Industrie veranschaulichen. Im Kanton Zürich gab es lange ein jährlich neu aufgelegtes, mehrere hundert Seiten dickes Adressverzeichnis mit dem Titel «Soziale Hilfe von A – Z», heute ist diese Zusammenstellung nur noch online erhältlich und umfasst aktuell über 3300 Angebote. Zum Problembereich «Arbeit und Arbeitsintegration» werden allein für den Kanton Zürich 295 Einrichtungen aufgelistet. Für fast jede Problemlage findet sich eine Beratungsstelle oder ein Integrationsangebot. Beim Lesen der Auflistungen stellt sich die Frage, wer dies denn alles finanziert und wie viel dies alles kostet. Dazu gibt es leider keine verlässlichen statistischen Angaben, denn die Finanzierungskanäle im Arbeitsintegrationsbereich sind sehr verworren, uneinheitlich und kompliziert. Viele Angebote werden von mehreren Seiten alimentiert, es kommen kantonale, kommunale und Bundesbeiträge zusammen, dazu oft auch Beiträge von Sozialversicherungen und von Drittmittelgebern, also von Spendern. Einige wenige Arbeitsintegrationsangebote erwirtschaften auch noch Gelder durch die Arbeit mit Erwerbsbeeinträchtigten. In den meisten Fällen bleibt für Aussenstehende unklar, wie viel es kostet, dass beispielsweise jemand in einem Arbeitsintegrationsprojekt arbeiten darf. Da im Sozialhilfebereich meist die Kommune für die Arbeitsintegrationskosten aufkommen muss, wird bei Angeboten in diesem Segment an einigen Stellen angegeben, wie viel die öffentliche Hand bezahlen muss, damit jemand einen Monat lang in einem bestimmten Projekt arbeiten darf. Ein Beispiel: in einem Beschäftigungs- und Qualifikationsprogramm in Dietikon kostet die Teilnahme pro Monat 2400 Franken, in einem reinen Beschäftigungsprogramm in Aathal rund die Hälfte. Für die Gemeinde kommen dazu noch die Kosten für die wirtschaftliche Sozialhilfe, die Reisekosten und die Inte­ grationszulage. Zusammengerechnet kann dies für eine einzige Person pro Monat leicht rund 4000 bis 5000 Franken kosten. Angesichts der hohen Kosten solcher Programme und des grossen Angebots erstaunt es, dass es kaum Vergleiche zwischen den Arbeitsintegrationsangeboten gibt. Die Kosten, die Methoden und die Qualität der Programme zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit unterscheiden sich oft beträchtlich, und man verliert leicht die Übersicht. Die unterschiedlichen Finanzierungskanäle und Organisationsformen erschweren die Vergleichbarkeit weiter. Dies ist besonders deshalb ärgerlich, weil man nicht davon ausgehen kann, dass das teuerste Programm auch die höchste Wirkung bei den Betroffenen erzielt. In sozialen Einrichtungen wird sehr ungern über Geld gesprochen. Dieses vornehme Schweigen wirkt seit Jahren als massiver Kostentreiber, denn es gibt im Arbeitsintegrations-

bereich gerade aus diesen Gründen wenig Kosten- und Wirkungsbewusstsein. Ein Benchmarkingsystem, das die volkswirtschaftlichen und die betriebswirtschaftlichen Kosten für Arbeitsintegration oder für Qualifikationsmassnahmen pro Stunde der zugewiesenen Arbeitskräfte ausweist, könnte hier mehr Transparenz und einen gesunden Wettbewerb im Sinne der Wirkung und des Klienten bringen. Der Fachverband unternehmerisch geführter Sozialfirmen (FUGS) hat ein solches System entwickelt, das jedoch in der Fachwelt auf wenig Interesse gestossen ist. Der Glaube an die Wirkung von Coaching und Weiterbildungsprogrammen ist dort immer noch ungebrochen, dies ungeachtet der Tatsache, dass auch sehr teure Bildungs- und Coachingprogramme eher geringen Erfolg im Sinn einer Integrationsquote vorweisen können. Es ist an der Zeit, dass wir die Vorstellung hinterfragen, dass jeder weiterbildungsfähig sei und jede, die sich wirklich anstrengt, auch eine Stelle finden werde. Wer will, findet auch eine Stelle, oder? Die Schweiz ist ein Land des Wohlstands, immer weniger Menschen erinnern sich noch an die Vorkriegs- und Kriegsjahre, sondern nur daran, dass es immer (wieder) aufwärts ging. Schweiz reimt sich für viele noch mit Vollbeschäftigung; für sie gilt noch, was in den sechziger und siebziger Jahren Realität war: Wer eine Arbeit wollte, konnte eine Stelle finden. Wer flexibel war, hatte damals tatsächlich viele berufliche Chancen. Für gesunde, ausgebildete, flexible junge Menschen gilt dies sicher auch heute noch zu einem grossen Teil. Für ältere, nicht mehr ganz gesunde Menschen und für Leute ohne Ausbildung gilt dies heute nicht mehr. Und zwar nicht, weil sich diese Menschen zu wenig um Arbeit bemühten, sondern weil sich der Arbeitsmarkt deutlich verändert hat. Die passende Arbeit für ungelerntes Personal ist längst ins Ausland abgewandert, die Menschen, die man noch in den siebziger Jahren für diese Arbeit in die Schweiz geholt hat, sind geblieben. Auch in allen anderen Bereichen sind die Anforderungen an die Arbeitskräfte deutlich angestiegen, die Arbeitslosigkeit ist damit zu einem strukturellen Problem geworden, dem mit persönlichen Fördermassnahmen allein nicht beizukommen ist. Interessant ist, dass diese Einsicht in der Fachwelt wenig verbreitet ist – obwohl sich diese Entwicklung längst auch in deutlichen Zahlen niederschlägt. Je geringer die Chancen auf dem Arbeitsmarkt sind, desto eher droht den Langzeitarbeitslosen eine Verrentung. Im besten Fall für den Betroffenen geschieht diese durch die Suva oder die Invalidenversicherung. Ganz still und politisch wenig kommentiert geschieht die Verrentung schleichend auch in der Sozialhilfe. Angesichts der hohen Sozialhilfezahlen ziehen sich viele Sozialämter auf die Rolle der Zahl- und Kontrollstellen zurück. Arbeitsintegrationsprogramme werden seit der letzten Revision der Arbeitslosenversicherung, die vor zwei 17


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Jahren in Kraft getreten ist, seltener verfügt. Die Kosten sind für viele Gemeinden zu hoch geworden. Wenn die Sozialämter ihren Steuerzahlern nicht mehr in Aussicht stellen können, dass die Sozialhilfebeziehenden nach einem Jahr wieder eine neue Rahmenfrist der Arbeitslosenversicherung erlangen können und die Sozialhilfe danach wenigstens für die Zeit der Taggelder wieder entlastet wird, erhalten sie oft kein Budget mehr für Arbeitsintegration. Den Sozialarbeitern bleibt daher oft nur die Aufgabe, die wirtschaftliche Sozialhilfe korrekt auszuzahlen und zu kontrollieren, ob der Klient wirklich alles tut, um wieder eine Stelle zu finden. Paradigmenwechsel ist nötig Sozialpolitisch interessant ist die Frage, was Menschen brauchen, deren wirtschaftliches Existenzminimum durch Sozialhilfe gesichert ist. Um die Antwort zu hören, muss ich nicht mal vor meine Bürotür treten: «Arbeit, ich brauche Arbeit. Immer zu Hause sein, ist nicht gut!» So oder ähnlich lautet die Antwort vieler Menschen in der Sozialhilfe. Sie wollen Arbeit, richtige Arbeit, hinter der ein Kunde steht, und einen sicheren, unbefristeten Arbeitsplatz, an dem sie gebraucht werden und zeigen können, was in ihnen steckt. Sie brauchen einen Ort, an dem sie Menschen treffen, sich austauschen, miteinander lachen und sich auch einmal über den Chef ärgern können. Sie möchten eine Arbeit haben, eine, bei der sie auch etwas verdienen können und eine berufliche Perspektive haben. Sich aus eigener Kraft aus der Sozialhilfe herauszuarbeiten, wäre für viele ein Traum. Nur: solche Arbeitsplätze sind nicht nur im ersten, regulären Arbeitsmarkt sehr rar geworden. Auch im zweiten, dem staatlich geförderten Arbeitsmarkt gibt es sie kaum. Der subventionierte Arbeitsmarkt ist noch so organisiert, als ob alle willigen Menschen mit gezielten individuellen Fördermassnahmen in Halbjahresfrist wieder eine neue Stelle finden könnten. Die Realität sieht anders aus: Die Sozialämter melden ihre Klienten immer seltener für Programme oder Sozialfirmen an. Wer Sozialhilfe bezieht, ist immer öfters dazu verdammt, untätig zu Hause zu sitzen. Die Zahl der Sockelarbeitslosen steigt seit Jahren langsam an. Es fehlen tausende Arbeitsplätze für all diejenigen Menschen, die auch mit voller Anstrengung den gestiegenen Anforderungen des Arbeitsmarktes nicht mehr gerecht werden können. Dieser Zustand ist ungerecht, wichtige Werte wie Chancengleichheit gehen dadurch verloren, und es bildet sich eine Schicht von Menschen, die ohne jede berufliche Perspektive vom Arbeitsmarkt ausgeschlossen bleiben. Dieser Umstand ist nicht gottgegeben, aber es braucht Fachleute, die die Ärmel zurückrollen und die Herausforderung annehmen, solche Arbeitsplätze zu schaffen. Dazu braucht es engagierte Sozialunternehmerinnen und Sozialunternehmer, die sich als Arbeitgeber verstehen, passende Arbeit akquirieren und diese so organisieren, dass die Zielgruppe 18

Augenschein bei Dianne Hoti-Dürr

Sambia im Sittertal

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rau, nass, trüb, an einem Schweizer Morgen wie diesem erscheint manchem das Bett als freundlichster Ort. Dianne hat es schon vor Stunden verlassen, als ich sie gegen 10 Uhr treffe. Wie immer ist die 61-Jährige um 5 Uhr aufgestanden, um sich mit heissem Tee und einer Zigarette in aller Ruhe auf den Tag einzustimmen. Arbeitsbeginn ist zwar erst um viertel vor acht, doch Dianne ist meist bereits kurz nach 7 im Sittertal – um mit den Leuten zu schwatzen und zu gucken, wer da ist und wie sich die Arbeit einteilen lässt. Die Schweizafrikanerin – aufgewachsen in Sambia, ist sie als Teenager nach Deutschland und vor 16 Jahren dann ins Heimatland ihres Vaters gekommen – ist Linienleiterin in der Geräteabteilung und zuständig dafür, dass pünktlich und sorgfältig erledigt wird, was hier an Aufträgen reinkommt. Heute sind das Popcornmaschinen und Reis­kocher. Aber auch Entsafter, Bügeleisen und Stabmixer stehen in Schachteln bereit und wollen bearbeitet sein: Im Auftrag eines Importeurs für Elektrogeräte werden in der Dock St. Gallen Küchengeräte «schweiztauglich» gemacht. In sieben Arbeitsschritten entfernen die Angestellten europäische Stecker, ersetzen sie durch Schweizer Anschlüsse und sorgen so dafür, dass die Maschinen hier­zulande zum Laufen kommen. Rund tausend Geräte werden täglich umgebaut, wobei das Geschäft auch saisonale Schwankungen kennt: Dem Vernehmen nach steigt in der Vorweihnachtszeit insbesondere die Glätteisenquote merklich an, da offenbar zahlreiche Ehemänner den Jahresverlauf mit einem originellen Geschenk ausbügeln wollen. Aber egal wie gross der Ansturm ist, Dianne behält die Kontrolle: «Wir bringen immer alles termingerecht raus und sind meist sogar ein bisschen zu früh», berichtet sie und räumt ein, dass das nicht immer selbstverständlich sei – weil die Leute in ihren Linien manchmal zu spät oder auch gar nicht kommen. Sie selber ist dem Betrieb zu 100 Prozent verpflichtet, seit sie vor neun Jahren hergekommen ist. Als Krankenpflegerin Anfang 50 arbeitslos geworden, hat sie ihre Beraterin beim Sozialamt gebeten, irgendetwas tun zu dürfen: «Wenn ich nur zu Hause sitze, drehe ich durch.» Natürlich sei das, was sie jetzt tue, nicht das gleiche wie früher. In ihrem Alter nochmals eine Pflegestelle zu finden sei aber unmöglich, und das Wichtigste, sagt Dianne, habe sie in der Dock genauso gefunden wie früher im Altersheim: eine Familie. (CM)


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«Es ist an der Zeit, dass wir die Vorstellung hinterfragen, dass jeder weiterbildungsfähig sei und jede, die sich wirklich anstrengt, auch eine Stelle finden werde.» Lynn Blattmann

möglichst optimal von dieser Arbeit profitieren kann. Menschen, die mit unternehmerischen Mitteln soziale Probleme angehen wollen, sind jedoch im Sozialwesen sehr selten. Man könnte meinen, dass solche Ansätze hierzulande weit verbreitet sein müssten, schliesslich hat die Schweiz ein Sozialwesen, das auch im Bereich der Arbeitsintegration stark durch private Initiative geprägt ist. Der Grossteil aller Beratungsstellen, Projekte und Programme sind in Form von Vereinen oder GmbHs privat organisiert. Daraus zu schliessen, dass dieser Sektor sich auch durch Flexibilität und unternehmerische Lebendigkeit auszeichnet, ist jedoch falsch. Viele Initiativen sind längst zu parastaatlichen, verwaltungsähnlichen und hochregulierten Organisationen geworden, die sich kaum von ähnlichen Einrichtungen der öffentlichen Hand unterscheiden. Daran sind jedoch nicht die Organisationen alleine schuld, die Entwicklung lässt sich vielmehr erklären aus dem Verhältnis dieser Organisationen zu ihren Geldgebern. In den letzten Jahrzehnten ist bei den Sozialversicherungen, den Kommunen, den Kantonen und beim Bund eine eigentliche Regulie20

rungswut zu verzeichnen. Nach dem Motto «Wer viel bezahlen muss, soll auch viel zu sagen haben» sind komplizierte, uneinheitliche, oft sogar widersprüchliche Vorgaben geschaffen worden, die die Verwaltungstätigkeiten und die Bürokratie in solchen Organisationen unnötig aufblasen. Mehr Transparenz, Effektivität und Flexibilität zu schaffen ist damit auch nicht gelungen. Im Gegenteil: die Arbeitsintegration war noch nie so überreguliert und starr wie heute und kann den Bedürfnissen der Zielgruppe immer weniger gerecht werden. Insgesamt lässt sich deshalb sagen: Die Mittel, die in den Bereich der Arbeitsintegration fliessen, sind mehr als grosszügig bemessen. Geld allein reicht zur Bewältigung der aktuellen Probleme aber nicht aus. Es braucht nicht mehr Mittel, um die anstehenden Arbeitsintegrationsprobleme wirklich in den Griff zu bekommen, sondern einen Paradigmenwechsel. Das St. Galler Modell der Dock-Gruppe AG Wie der aussehen könnte, zeigt die Dock-Gruppe AG, eine Sozialfirma für Personen aus der Sozialhilfe, die heute an 10 Standorten insgesamt rund 1400 Personen beschäftigt. Dem


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Modell der Dock-Gruppe liegt die Annahme zugrunde, dass nicht alle Menschen, die arbeiten wollen, während der Arbeitszeit Betreuung brauchen. Was für Behinderte Sinn macht, kränkt und lähmt oft die Eigeninitiative derjenigen, die bloss Arbeit wollen und einen gut organisierten Betrieb, der ihnen auch berufliche Perspektiven bietet. Das Ziel des Modells bestand deshalb von Anfang an darin, genügend unbefristete und geeignete Arbeitsplätze zu schaffen für Menschen aus der Sozialhilfe, die arbeiten wollen. Solche Arbeitsplätze, das war den Entwicklerinnen des St. Galler Modells von Beginn weg klar, dürfen den Staat nicht viel kosten. Seit die Sozialhilfequote in der Schweiz nach der Jahrtausendwende deutlich angestiegen ist, spielt die Kostenfrage eine wichtige Rolle in der Arbeitsintegration: Ist die Arbeitsintegration zu teuer, verliert sie die politische Akzeptanz und läuft Gefahr, gestrichen zu werden. Die Herausforderung lag deshalb darin, ein volkswirtschaftlich möglichst günstiges oder gar kostenneutrales Arbeitsintegrationsangebot zu schaffen, das die staatlichen Stellen nicht stark belastet und gleichzeitig ermöglicht, das Hauptbedürfnis vieler Langzeitarbeitsloser zu decken, das heisst ihnen unbefristete Arbeitsverhältnisse zu bieten. Will man ein Arbeitsintegrationsangebot im zweiten Arbeitsmarkt volkswirtschaftlich günstig machen, dann braucht es gute und stabile Kundenaufträge und möglichst tiefe Betriebskosten. Da sie als staatlich subventionierter Betrieb unter einem Konkurrenzverbot steht, darf die Dock-Gruppe keine Arbeiten übernehmen, die ein regulärer Betrieb kostendeckend ausführen könnte, das heisst, Aufträge mit einer Wertschöpfung von über 20.00 Franken pro Stunde sind tabu. Anstatt die hiesige Industrie zu konkurrenzieren, kooperiert die Dock mit ihr: Sie übernimmt Aufträge, die sonst zum Beispiel in Bosnien erfüllt würden, und bearbeitet sie zu dortigen Konditionen, also für etwa fünf bis sieben Franken pro Stunde. Damit wurde die Dock-Gruppe AG quasi zum «Low Cost Country» innerhalb der Schweiz und entwickelte sich als «verlängerte Werkbank» zu einem respektierten und ergänzenden Partner der Schweizer Industrie. Natürlich können über die Erträge aus dieser Arbeit keine vernünftigen Löhne generiert werden. Deshalb werden die Löhne der vormals Langzeitarbeitslosen politisch festgelegt und vom Staat über die Sozialhilfe «refinanziert». Das heisst: Wer in einem Betrieb der Dock-Gruppe arbeitet, erhält anfänglich 12 Franken pro Stunde, später und bei entsprechender Leistung steigt der Betrag stufenweise bis auf maximal 2560 Franken pro Monat für eine 80-%-Stelle an. Dieser Lohn wird direkt von der Sozialfirma ausbezahlt, aber von den Kommunen über die Sozialhilfe finanziert – in Deutschland wird dieses Prinzip als Passiv-aktiv-Transfer bezeichnet, weil dabei durch die Arbeit ein Teil der Sozialhilfe von einer passiven Leistung in einen aktiven Lohn umgewandelt wird.

In der dritten Stufe übersteigt der Lohn die reine wirtschaftliche Sozialhilfe um rund 400 Franken. Dies sind aber die einzigen Zusatzkosten, die – nebst einer Anmeldegebühr und den Kosten für die Sozialversicherung der Löhne – für die Gemeinden anfallen. Teure Programm- oder Betreuungspauschalen, wie sie in den herkömmlichen Integrationsangeboten üblich sind, fallen weg. Zwischen Sozialamt und Sozialfirma besteht dabei eine klare Aufgabenteilung: Die Betreuung und Begleitung der Arbeitnehmer obliegt dem Sozialamt, die Vorgesetzten der Dock-Gruppe übernehmen ihre Verantwortung als Vorgesetzte mit massgeschneiderten Instrumenten der modernen Personalentwicklung. Ein Arbeitsplatz in der DockGruppe wird dadurch klar vergleichbar mit einer normalen Stelle. Auch in der Dock gibt es einen Chef und Kundenaufträge, ein Qualitätsmanagementsystem und oft knappe Fertigungstermine. Während die Gemeinden mit dem Dock-Modell eine verhältnismässig günstige Arbeitsintegrationslösung haben, bietet der Ansatz den Betroffenen also eine stabile Arbeitsmöglichkeit in einem Umfeld, das nah am Arbeitsmarkt operiert und entsprechend nicht befristete «Beschäftigungsplätze», sondern echte «Stellen» offeriert. Damit hat die Dock-Gruppe den Beweis angetreten, dass Arbeitsintegration ganz anders und volkswirtschaftlich viel günstiger als bisher möglich ist. Der Erfolg gibt dem Modell recht: Während rundum herkömmliche Angebote aus Kostengründen abgebaut wurden, konnte die Dock-Gruppe in sechs Kantonen der Schweiz Betriebe eröffnen. Das St. Galler Modell ist jedoch nur ein Weg in einem Bereich, in dem es noch viele neue und andere Ansätze braucht, um die aktuellen Herausforderungen meistern zu können. Arbeitsintegrationsangebote müssen unternehmerischer, flexibler und transparenter werden und ihre Arbeit stärker auf die wirklichen Bedürfnisse und Realitäten der Erwerbslosen und nicht auf die Ideale einer permanenten Weiterbildungsgesellschaft für alle ausrichten. Wir haben in der Schweiz die nötigen Ressourcen für eine erfolgreiche Arbeitsintegration, wir haben es in der Hand, die anstehenden Probleme so anzugehen, dass wir zu einem integrativen Miteinander zurückfinden, zu einer Gesellschaft mit Durchlässigkeiten, Chancen und Arbeit für alle, die arbeiten wollen. Dafür braucht es aber eine Arbeitsintegration, die sich wirklich mit allen Mitteln für die Bedürfnisse der Erwerbsbeeinträchtigten stark macht und Chancen und Perspektiven schafft für alle, die arbeiten wollen, und das sind sehr viele! �

Schweizerische Sozialhilfestatistik 2010, Ausgewählte Ergebnisse, Hrsg.: Bundesamt für Statistik, Bern 2012. 2 IV-Statistik 2014, Hrsg.: Bundesamt für Sozialversicherungen 2015. 3 BSV, IV-Statistik 2007, zitiert nach: Bütler/Gentinetta, IV, eine Krankengeschichte, Zürich 2007, S. 167. 4 Ebenda, S. 177. 1

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Arbeitsintegration durch Arbeit

Ihre Grundidee ist bestechend einfach: Ob Firmenmanager oder Sozialhilfebezüger, den meisten Menschen geht es besser, wenn sie etwas Sinnvolles zu tun haben. Daniela Merz erläutert, was hinter ihrer Sozialfirma steht – und was alle Beteiligten zu gewinnen haben.

Frau Merz, Sie sind seit 12 Jahren CEO einer Sozialfirma. Was ist das, eine Sozialunternehmerin?

In meinem Verständnis ist das jemand, der oder die sich zwei Zielen verpflichtet: betriebswirtschaftlichen auf der einen und sozialen auf der anderen Seite. Natürlich verfolgt grundsätzlich jeder Unternehmer auch soziale Ziele, die Mitarbeiterzufriedenheit ist sicher allen wichtig, die Arbeitsplätze schaffen. Ein Sozialunternehmer arbeitet darüber hinaus aber mit einem Mitarbeitersegment, das spezielle soziale Anforderungen stellt – und deshalb hat er auch soziale Ziele, die über jene eines «normalen» Unternehmers herausgehen. Und dieses zusätzliche Ziel bestünde darin, die Mitarbeiter in den regulären Arbeitsmarkt zu integrieren – sie also zu verlieren. Das klingt erst einmal ziemlich paradox.

Allem voran geht es in der Arbeitsintegration in einem ersten Schritt um eine soziale Integration, mithin darum, dem einzelnen Menschen einen Arbeitsplatz zu geben, der ihm hilft, an seinen eigenen Selbstwert heranzukommen, sich wieder zu erkennen und seine Fähigkeiten auszubauen. Erst wenn sich jemand seinen Selbstwert wieder zu eigen gemacht hat und in der Lage ist, seine eigenen Ressourcen wieder gut zu nutzen, kann die berufliche Integration erfolgen. Sie ist gewissermassen die logische Konsequenz der vorangehenden sozialen Integration. Allerdings hat sich heute die Situation verändert. Auch wer gut integriert ist, hat heute Probleme, wieder eine Stelle zu bekommen, wenn er oder sie über fünfzig Jahre alt ist und nicht zu den gut ausgebildeten Top-Performern gehört. Selbstwerterkennung und Ressourcenaufbau sind nicht ganz dasselbe wie Kostenkalkulationen oder Businessstrategien: Sind Sie nun eher Sozialarbeiterin oder eher Unternehmerin?

Ich war zwar früher Sozialvorsteherin von Herisau und kenne das Sozialwesen deshalb von der Pike auf. Sozialarbeiterin bin ich aber keine. Eine Sozialarbeiterin führt einen individuellen Case, betreut also eine Einzelperson. Bei uns geht es dagegen darum, die Leute gemeinsam zu führen, dabei stehen gruppendynamische Prozesse im Vordergrund. Am besten lernt ein Arbeitnehmer von einem anderen Arbeitnehmer. 22

Daniela Merz ist CEO der Dock-Gruppe AG.

Unsere Aufgabe ist es, diese Lernprozesse zu ermöglichen. Das heisst: eine Struktur zu schaffen, in denen die Leute die Erfahrung von anderen nutzen können, sich an internen Vorbildern – aber eben nicht an mir! – orientieren und sich langsam weiterentwickeln und auch aufsteigen können. Das ist etwas ganz anderes als der Betreuungsprozess, den ein Sozial­ arbeiter leistet. Was hat Sie dazu getrieben, diesen Weg zu beschreiten?

Am Anfang: eine gewisse Ohnmacht. Ich bin ursprünglich Primarlehrerin und habe bei verschiedenen Vertretungen auf Oberstufenniveau miterlebt, wie schwierig sich die Lehrstellensuche für Menschen mit schlechtem Schulabschluss gestaltet. Das hat mich sehr beschäftigt, und gleichzeitig habe ich gemerkt, dass ich aus meiner Lehrerinnenfunktion heraus nicht viel tun konnte. So habe ich noch einen BWLAbschluss gemacht, mit dem Ziel, die beiden Seiten – das zielorientierte Führen und das unternehmerische Denken – irgendwann einmal zusammenzubringen. Das Resultat dieser «Fusion» ist die Dock-Gruppe AG, die dezidiert als Unternehmen und nicht als Beschäftigungsprogramm auftritt. Eine Firma hat immer eine Geschäftsidee: Welches ist, in knappen Worten, das Businessmodell der Dock-Gruppe?

In knappsten Worten: Integration durch sichere und unbefristete Arbeitsplätze für alle, die arbeiten wollen, bis sie eine Stelle gefunden haben. Und in etwas ausführlicheren Worten?

All die unterschiedlichen Leute, die bei uns sind, haben eines gemeinsam: Sie haben keine Arbeit. Und unsere Idee besteht ganz einfach darin, diesen Menschen in einem Arbeitsumfeld ein Stück Normalität zu geben. Dabei gehen wir davon aus, dass den Langzeitarbeitslosen ganz ähnliche Dinge wichtig sind wie uns: Wir brauchen Bestätigung und Feedback, und wir sind dann motiviert, wenn wir wissen, dass wir etwas Sinnvolles tun. Deshalb bieten wir unseren Leuten echte


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Arbeit, also Aufträge, die wir in der Wirtschaft akquirieren und termingerecht erfüllen müssen. Auf unserer Seite bedeutet das, dass wir die Arbeit so organisieren und einteilen müssen, dass unsere Leute sie mit ihren vielfach beeinträchtigten Möglichkeiten und Leistungsfähigkeiten erledigen können. Wenn man eine Firma aufbaut, braucht man zunächst einmal Kapital. Typischerweise verschuldet sich ein Unternehmer, bevor er loslegt. Woher kommt das Kapital Ihrer Firma?

Die Dock-Gruppe AG gehört zu 100 Prozent der Stiftung für Arbeit, die allerdings kein Stiftungskapital hat. Pro Standort haben wir eine Anschubfinanzierung von 400 000 bis 600 000 Franken von jenen Seiten erhalten, die die Gründung wünschten: das konnten Kantone, Gemeindeverbünde oder Städte sein. Mit diesen Geldern deckten wir die Infrastrukturkosten, die beim Aufbau eines Betriebs für rund 100 Arbeitsplätze anfielen, und auch das Defizit, das in den ersten zwei Jahren zu erwarten war. Nach zwei Jahren musste der Laden dann aber überall von sich aus laufen – also eine schwarze Null schreiben. Laufen tun Ihre Betriebe auf dem zweiten, dem staatlich subventionierten Arbeitsmarkt, das bedeutet in Ihrem Fall konkret: die Löhne, die Sie den Langzeitarbeitslosen bezahlen, werden von den einzelnen Gemeinden über die Sozialhilfe refinanziert, sprich bezahlt. Ist es Ihnen als liberal gesinnter Unternehmerin kein Dorn im Auge, in diesem halbstaatlichen Umfeld zu operieren?

Gegen das Wort «halbstaatlich» verwahre ich mich! Wir erhalten – abgesehen von einer einmaligen Anmeldegebühr von 800 Franken pro Kopf – keinerlei Subventionen. Der Umstand, dass ein Lohn refinanziert wird, hat noch nichts mit Parastaatlichkeit zu tun. Das Geld kommt vom Amt zu uns, fliesst aber gewissermassen durch uns hindurch und landet dann als Lohn beim Bezüger. Diese Lohnumlagerung ist volkswirtschaftlich fast neutral. Wir haben uns dafür entschieden, weil wir als lohnsubventionierte Firma dem Konkurrenzverbot unterstehen. Dies bedeutet, dass wir für die Arbeit ähnlich tiefe Preise erhalten wie in Osteuropa; damit kann man bei uns nicht einmal Teillöhne bezahlen. Wichtig ist uns aber, dass wir diese Arbeiten wieder in die Schweiz zurückbringen können oder sie hierbehalten können, wo sie denjenigen nützen, die keine Arbeit haben. Das heisst aber: Ihren Betrieb würde es nicht geben, wenn der Staat die Löhne Ihrer Arbeitnehmer nicht bezahlte.

Ich würde das umkehren und sagen: Wenn es unseren Betrieb nicht gäbe, gäbe es keinen Lohn für die Leute. Es gibt ja ganz viele Arbeitsintegrationsprogramme, in denen die Sozialhilfebezüger keinen Lohn kriegen. Sie erhalten weiterhin ihre Sozialhilfe vom Amt, das abgesehen davon noch eine Pauschale dafür bezahlt, dass der Bezüger das fragliche Programm besuchen darf. Wir könnten wie die meisten anderen darauf verzichten, die Sozialhilfe als Lohn auszubezahlen –

dann gäbe es auch keine Refinanzierung. Wir wollen diesen Transfer aber machen, erstens, weil wir an den Lohn als Vergütung für eine individuelle Leistung glauben, und zweitens, weil wir an die Sozialversicherungen glauben – denn die Löhne, die wir bezahlen, sind sozialversichert. Für mich geht es dabei um eine Haltung: Ich finde, man soll nicht arbeiten müssen, ohne dafür Geld zu erhalten. Sind Sie denn, umgekehrt, auch dafür, dass man für Geld eine Leistung erbringen soll, sprich dass der Staat im Sinne eines «Workfare»-Ansatzes eine Gegenleistung fordern soll für die Sozialhilfe, die er den Menschen gewährt?

In meinen Augen geht es nicht darum, etwas zu fordern, sondern etwas zu ermöglichen. Ich weiss, dass es einzelne Leute gibt, die nicht arbeiten möchten. Die allermeisten, das habe ich in den letzten Jahren erlebt, verbinden Arbeit aber nicht mit müssen, sondern mit dürfen. Dabei geht es nicht nur um den Inhalt der Arbeit, sondern um das ganze Umfeld, die Alltagsstruktur, die damit zusammenhängt. Wer sich gezwungen sieht, all seine Wochentage selbständig zu strukturieren, und es dabei nicht einmal vermag, draussen einen Kaffee zu trinken, steht unter gewaltigem Stress. Arbeitslosigkeit ist wahrscheinlich einer der grössten Stressfaktoren, die es gibt. Deshalb würde ich sagen: Das Gegenleistungsprinzip ist eher eine Chance als eine Forderung. Im ganzen Sozialbereich ist «Entmündigung» ein grosses Thema; die Menschen werden den verschiedenen Programmen vom Sozialamt «zugewiesen», die Wahlmöglichkeiten der Betroffenen sind beschränkt. Wie gehen Sie damit um?

Auch das ist letztlich eine Haltungsfrage. Man kann sich in vielen Situationen entmündigt fühlen, das hat aber immer mit uns selber zu tun. Wenn ich die Steuerrechnung erhalte, finde ich das auch nicht wahnsinnig toll. Aber ich bin Teil eines Ganzen, und in diesem Sinne muss ich, wie wir alle, einen gewissen Beitrag leisten. Den können wir als Entmündigung empfinden oder als Zwang oder einfach als gesellschaftliche Verpflichtung. Im Zusammenhang mit unseren Arbeitnehmern ist aber extrem wichtig, bei der Einstellung sorgfältig zu sein. Die Leute werden nicht in unsere Betriebe reingestopft, sondern nach einem würdigen Anstellungsgespräch mit einem Vertrag eingestellt – wenn unsere Arbeit denn für sie passt. Nicht für alle Langzeitarbeitslosen ist die Dock der richtige Ort. Wie verläuft denn, ganz grundsätzlich, die Zusammenarbeit zwischen Ihnen und dem Staat – welchen spezifischen Regulationen ist Ihr Unternehmen unterworfen oder anders gefragt: Wie und wo begrenzt der Staat Ihre unternehmerische Freiheit?

Wir haben nur eine beschränkte unternehmerische Freiheit. Weil wir für die Löhne der Zugewiesenen Staatsgelder erhalten, unterstehen wir dem Konkurrenzverbot. Das ist richtig und gut so. Die Staatsnähe macht unser Unternehmertum auch grundsätzlich ein bisschen einfacher, denn sie gibt uns 23


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Augenschein bei Felix Wirz

Keine ist wie die andere

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igentlich hätte Felix heute freimachen wollen, um die Nachwehen des gestrigen Tages wegzuschlafen. «50 plus 10» ist er geworden – und hat das Ereignis mit Tapas und Co. in einem spanischen Club gefeiert. Zu meinem Glück hat er sich aber anders entschieden. «Ich habe mir gesagt: Da beisst du dich jetzt durch, ausschlafen kannst du ja morgen.» Morgen ist Mittwoch und damit Felixʼ offizieller Freitag. Angestellt in einem 80-Prozent-Pensum verbringt er die übrigen Tage in der Druckgussabteilung, und zwar mit dem Innenleben eines Gegenstands, den wohl erkennen müsste, wer von einer Schneiderin abstammt. Während ich in den vor uns aufgereihten Alu-Rohformen aber nur zweizackige Blöcke zu sehen vermag, betrachtet Felix sie voller Hingabe: «Gleich als ich hier angefangen habe, bin ich in die Nähmaschinen reingelaufen. Sie waren meine erste Aufgabe, und bei ihnen bin ich geblieben. Jede ist individuell, keine wie die andere; nie wird mir langweilig mit ihnen.» Felixʼ Arbeit besteht darin, die Gehäuse der späteren Nähmaschinen auf Fehler zu kontrollieren. Hat eine irgendwo Risse, fehlt ihr eine Ecke, ist etwas abgeschlagen oder eingedrückt? Eine Liste mit über 60 verschiedenen möglichen Fehlern haben die Auftraggeber der Dock überlassen, und Felix prüft und dokumentiert akribisch, welche seiner vielen «Lieben» solche Mängel aufweisen. Präzision ist dabei nicht nur Ehrensache, sondern Pflicht: die Fehlertoleranz der Firmen, die ihre Ware in St. Gallen prüfen lassen, ist tief – auf eine Million Stück darf sich der Betrieb einen Patzer erlauben. Genau musste Felix auch früher sein. Lange Zeit hat der Kreuzlinger auf dem Bau gearbeitet und Lage um Lage Eisen und Stahlbeton in entstehende Gebäude gelegt. Häufig ist er dabei in den Wintermonaten in die Bredouille geraten, und sobald das Alter als Faktor hinzukam, fand er auch im Sommer keine Arbeit mehr. Als dann die Fürsorge anklopfte und sagte, es sei Zeit, wieder etwas zu machen, und sie habe ihm da etwas im Sittertal, sei er noch so froh gewesen: «Was sollte ich zu Hause auch die ganze Zeit tun? Aufgeräumt ist ja irgendwann mal alles!» Das war vor sieben Jahren, und inzwischen ist auch sonst wieder Ordnung. Mit dem Sozialamt hat Felix nichts mehr zu tun, und von der Dock erhält er seinen Lohn, mit dem er sich selbst und manchmal auch noch andere versorgt: «Zu meinem Geburtstag habe ich in der ganzen Bude Cake verteilt. Einige haben zwar gar nicht verstanden, worum es ging, aber zusammen gegessen haben wir alle gern.» (CM)

Seriosität und Sicherheit. Und wenn ich nicht immer wieder auf innovative und kooperative Leute in der Verwaltung ge­ stossen wäre, hätte ich unser Modell gar nie umsetzen können. Insofern läuft die Zusammenarbeit sehr gut. Und weil wir keine Subventionen beziehen, die in unsere Betriebskosten fliessen, sind wir dem Staat auch keine Rechenschaft schuldig und geniessen im Rahmen des Konkurrenzverbots maximale unternehmerische Freiheit. Ich bin nicht Dienerin zweier Herren: Reportingpflichtig bin ich einzig gegenüber unseren Kunden aus der Wirtschaft, und zwar mit der Qualität der Arbeit, die wir liefern. Und wie gestaltet sich diese Kooperation mit der Wirtschaft?

Anfänglich war es für uns schwieriger: Wir hatten grosse Mühe, in der Privatwirtschaft Anerkennung zu bekommen. Überall hat man uns leicht mitleidig als Sozialprojekt belächelt. Das hat sich über die Jahre aber stark geändert – dank der Leistung, die unsere Arbeitnehmer bringen. Inzwischen haben viele Betriebe begriffen, dass wir nicht irgendein schräges Projekt sind, sondern dass die Leute bei uns Qualitätsarbeit für die Schweizer Wirtschaft erbringen. Dafür erhalten wir inzwischen auch sehr viel Lob. Und entsprechend hat sich auch unsere Arbeitspalette verbreitert, so dass wir heute für Branchen arbeiten, von denen wir früher nichts wussten. Wir haben viel über Druckguss und Recycling gelernt, uns auf immer neue Prozesse eingelassen und immer wieder erlebt, dass sich unsere Kunden aus der Industrie ex­ trem viel Mühe dabei geben, ihr Know-how an unsere Leute weiterzugeben. Von dem Know-how-Transfer profitieren freilich auch die Firmen: Dank Lohnrefinanzierung und tiefen Stundenansätzen sind die Arbeiten, die Sie verrichten, günstig zu haben.

Ja, gleich günstig wie im Ausland. Ganz freiwillig lagern die Industriebetriebe jedoch nicht aus, und gerne tun sie das auch nicht, aber der Kostendruck ist enorm. Firmen, die mit uns zusammenarbeiten, suchen uns nicht aus, um uns auszunützen und Lohndumping zu betreiben. Was motiviert denn die Unternehmen zur Zusammenarbeit mit Ihnen – ist es etwas wie ein erweitertes soziales Gewissen, das sie Aufträge an die Dock-Gruppe erteilen lässt?

Viele Unternehmer würden gern mehr in der Schweiz fertigen lassen, aus Kostengründen ist dies jedoch völlig unmöglich. Im Moment ist der Druck so gross, dass auch hochqualifizierte Industriearbeitsplätze bedroht sind. Hier liegen die Chancen für uns und für die Kunden, einen Anbieter zu haben, der in der Schweiz zu osteuropäischen Preisen arbeiten kann. Das hilft den Produktionsbetrieben, ihre Abläufe zu optimieren und unsinnige Transporte zu verhindern. So können beide Seiten profitieren, und so soll es sein. Profit ist ein gutes Stichwort: Ist der Gewinn Ihrer Firma reglementiert oder begrenzt?

Offiziell begrenzt ist er nicht, aber wenn er plötzlich durch 25


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die Decke ginge, würde ganz schnell jemand eingreifen. Wir haben ganz bewusst eine öffentliche Revisionsstelle – die Finanzkontrolle der Stadt St. Gallen –, und alle Zuweiser haben die Möglichkeit, einen Revisionsauftrag zu erteilen. De facto ist aber ausgeschlossen, dass wir plötzlich grosse Gewinne schreiben: Um die Betriebe des ersten Arbeitsmarkts nicht zu konkurrenzieren, nehmen wir nur Aufträge an, die eine Wertschöpfung von maximal 20 Franken pro Stunde generieren; tatsächlich sind wir bei 7 Franken pro Stunde. Wie man daraus grossen Profit machen sollte, das müsste mir erst mal noch einer zeigen. Im Prinzip ist es aber so, dass die Erträge, die Sie über Recycling-, Druckguss- oder andere Aufträge am Markt erwirtschaften, vollumfänglich in die Firma, das heisst in Ihre Löhne und die Infrastruktur fliessen?

Ja. Wir finanzieren uns aus der Wertschöpfung, und das ist eben auch eine unternehmerische Grundhaltung: Wir sind im Risiko, die Arbeitnehmer sind es nicht – deren Löhne sind ja staatlich gesichert. Das heisst: Wenn wir die 7 Franken nicht mehr erwirtschaften und nur noch 6.50 pro Stunde schaffen, dann müssen wir handeln. Aber eben nicht, indem wir Arbeitnehmer entlassen, sondern indem wir an unseren Löhnen und Strukturkosten schrauben. Wenn wir Mist bauen, müssen wir, und ganz konkret unser Führungsteam, in die Hosen. Dann gibt’s Überstunden für die Chefs. Und so soll es auch sein, denn das ist mein Verständnis von Unternehmertum. Klassischerweise spielt im Unternehmertum eine Symmetrie zwischen Verlustrisiken und Gewinnchancen: Während ein eigeninvestierter Unternehmer auf der einen Seite Gefahr läuft, alles zu verlieren, winkt ihm auf der anderen Seite die Möglichkeit, schier unbeschränkt viel zu gewinnen. Als Sozialunternehmerin scheinen Sie demgegenüber doppelt beschnitten zu sein: Grosse Gewinne sind nicht drin, verlieren könnten Sie schlimmstenfalls aber auch «nur» Ihren Job.

Das ist aber eben längst viel mehr als ein Job! Ich bin in den letzten Jahren für diesen Weg und diese Haltung eingestanden, habe mich, immer zusammen mit meiner Mitstreiterin Lynn Blattmann, exponiert und mich auch Kritik und Anfeindungen ausgesetzt. Verlieren kann ich also eine ganze Überzeugung und insofern viel mehr, als ich je gewinnen kann. Denn nicht nur die tiefe Wertschöpfung setzt hier Grenzen, sondern auch der Umstand, dass wir steuerbefreit sind und folglich nie Boni oder Dividenden werden bezahlen können. Man muss aber auch sagen, dass wir dafür auf einer anderen Ebene sehr viel gewinnen können. Das klingt nach Gutmenschentum. Was motiviert Sie im Kern?

Keine Angst, ich leide nicht unter einem Helfer- oder Verzichtssyndrom, und wir bezahlen uns auch anständige Löhne aus. Die «andere Ebene» besteht einerseits darin, dass ich das Gefühl habe, einen Job machen zu können, der mir entspricht und mir die Möglichkeit gibt, Lösungen für ein wichtiges Pro26

blem zu suchen und Ideen umzusetzen. Und dann – ich würde jetzt nicht sagen wollen: «Ach, der grosse Gewinn, das sind die netten Menschen.» Aber doch ist der Umgang mit unseren Arbeitnehmern ungemein bereichernd und lehrreich. Inwiefern?

Zum Beispiel sind unsere Leute absolut direkt, «fadegrad». Wenn man einen Führungsfehler gemacht hat, bekommt man den innert 24 Stunden vorgehalten; wenn jemand befördert wird, der das nicht verdient hat, wird niemand ein Blatt vor den Mund nehmen; sind sie unzufrieden, sagen die Arbeitnehmer mir das ins Gesicht. Diese Offenheit gibt mir die Chance, die Dinge wirklich besser zu machen und Fehler auszubügeln. Das kann aber auch in die andere Richtung gehen: In welchem anderen Betrieb würde ein Arbeitnehmer freudestrahlend auf mich zurennen und mir einen Kuss geben, einfach weil er sich freut, mich zu sehen? Solche Momente geben mir sehr viel zurück, und ich habe grössten Respekt davor, wie diese herzensfeinen Menschen, die vielfach in sehr schwierigen Lebensumständen stehen, ihr Leben meistern. Dass sie es schaffen, ihre Probleme vor der Türe zu lassen und bei uns konzentriert zu arbeiten, dafür bewundere ich sie enorm. Sie lehren mich immer wieder, demütig zu sein. Das ist die sozial positive Seite. Wie sieht die Bilanz auf betrieblicher Seite aus – vor welche Herausforderungen stellt Sie das tendenziell eher unstete Personal, wenn es um die Einhaltung geschäftlicher Ziele geht?

Ich glaube nicht, dass ich mit grösseren Herausforderungen zu kämpfen habe als andere Unternehmer – nur mit anderen. Und die machen das «Social Entrepreneurship» gerade aus: Man muss Arbeitssicherheit, Qualitätsmanagement und Planung eben so organisieren, dass sie auf die Zielgruppe passen. Wenn alle Teilzeit arbeiten, können Schwankungen mit Mehrarbeit aufgefangen werden, ohne dass jemand wirklich unmenschliche Überzeit arbeiten muss. Unsere Betriebe umfassen nicht zuletzt deshalb mehr als 100 Personen, weil diese Grösse das Auffangen von Ausfällen einfacher macht. Dabei sind Alter, Kulturen, Sprachen und Kenntnisse bei uns so vielfältig, dass wir uns einfach alle zusammenraufen müssen, um etwas zu erreichen. Wir richten alle den Blick auf das, was wir gemeinsam erreichen können. Und sehen, dass das gewaltig viel ist, wenn wir uns selber ein bisschen zurücknehmen. � Interview: Redaktion


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Im spannenden Spagat

Vor kurzem noch hatte die St. Galler Caritas volles Haus. Letztes Jahr aber hätte sie fast ihre Türen schliessen müssen – weil ihr Angebot zum Luxus geworden ist, den sich kaum eine Gemeinde mehr leisten kann. Ein Gespräch über die Wettbewerbsfähigkeit der Nächstenliebe.

Herr Bertschy, Herr Studer, die Caritas hilft Menschen in Not. 2014 ist die Caritas St. Gallen-Appenzell selber in Not geraten. Was ist geschehen?

Bruno Bertschy: Vor einigen Jahren hatte die Caritas St. GallenAppenzell eine Vorwärtsstrategie beschlossen und in Personal und Infrastruktur investiert, um verschiedene Angebote in der beruflichen und sozialen Integration auf- und auszubauen. Im Kern besteht diese «qualifizierende Arbeitsintegration» darin, die Leute auf ihrem möglichen Weg zurück in den ersten Arbeitsmarkt umfassend zu begleiten. Nach einem recht guten Start konnten diese Arbeits- und Betreuungsplätze dann aber zusehends weniger ausgelastet werden. Über den Besuch solcher Programme befinden die lokalen Sozialämter. Haben die Gemeinden also weniger Kandidaten als kalkuliert zu Ihnen geschickt?

Thomas Studer: Richtiggehend eingebrochen sind die Zuweisungen von den Gemeinden, und zwar innert kürzester Zeit: Im Januar 2014 hatten wir volles Haus mit gut 50 belegten Jahresplätzen. Im Herbst waren es noch 18. Sie können sich vorstellen, was das für einen Betrieb bedeutet. Einen massiven Ertragseinbruch, denn bekanntlich verdienen die Anbieter mit den Betreuungsprogrammplätzen ihr Geld. Wie viel bezahlte die Gemeinde für einen Platz in der Caritas?

Bertschy: Je nach Programm bis zu 1800 Franken pro Monat. Das ist aber nur die eine Seite: Natürlich erreicht man die Budgetierung nicht, wenn weniger Leute kommen als geplant. Auf der anderen Seite kann man mit weniger Leuten aber auch weniger Aufträge annehmen – unsere Leute verrichten einfache gewerbliche Arbeiten – und verzeichnet also auch auf der produktiven Seite tiefere Einnahmen. Dieser doppelte Rückgangsprozess lief über mehrere Jahre; man hat von den Reserven gezehrt, mit Geld gearbeitet, das für spätere Perioden vorgesehen war, und das hat letztlich in einer grossen Schuld geendet. Es war von einem Defizit von 1,2 Millionen zu lesen. Insofern ist erstaunlich, dass es die St. Galler Caritas überhaupt noch gibt.

Bertschy: Tatsächlich standen wir an einem Punkt, an dem es fast keinen Ausweg mehr gab. Nur dank einem Schuldenschnitt, den der katholische Konfessionsteil der Caritas St. Gal28

Bruno Bertschy ist Leiter des Bereichs Inland der Caritas Schweiz und Vorstandsmitglied der Caritas St. Gallen-Appenzell.

Thomas Studer steht der Abteilung Soziale Aufgaben der Caritas Schweiz vor und hat 2014 die Umstrukturierung der Caritas St. Gallen-Appenzell geleitet.

len-Appenzell gewährte, konnten wir weitermachen. Da war dann aber allen klar, dass der Weg geändert werden musste: dass jetzt wirklich etwas passieren musste, damit man nicht wieder in die gleichen Probleme reinschlittert. Schauen wir, bevor wir über den neuen Weg reden, auf das Umfeld zurück, durch das er führte. Rekapitulieren wir zuerst, was war: Sie sagten, dass Sie 50 Plätze à 1800 Franken im Angebot hatten. Was wurde für diesen Betrag geboten?

Studer: Es geht hier, wie gesagt, ausschliesslich um den Teil der qualifizierenden Arbeitsintegration. Die richtete sich an Menschen, darunter viele Flüchtlinge, die uns vom Sozialdienst zugewiesen wurden – das Amt bezahlte die Programmpauschale von 1800 Franken, und dafür erhielten die Leute bei uns Arbeit, Deutschunterricht und professionelles Coaching. Das heisst: an drei Tagen arbeiteten die Leute in einem gewerblichen Betrieb, einen Tag lang lernten sie Deutsch und an einem Tag erhielten sie Begleitung und Unterstützung in Berufs- und Bewerbungsfragen. Damit wir das richtig verstehen: Diese Programmpauschale bezahlt die Gemeinde zusätzlich zur wirtschaftlichen Sozialhilfe, die die bei Ihnen arbeitende und lernende Person erhält?

Studer: Die Sozialhilfe hat damit direkt nichts zu tun, die läuft unabhängig davon. Über lange Jahre hinweg war es üblich, dass die Gemeinden in der ganzen Schweiz diesen Zusatz für die Programme einkauften. Natürlich war das Geschäft immer volatil, gewisse Schwankungen gab es auch früher mal. Heute aber ist die Volatilität derart hoch, dass es keine Planungssicherheit mehr gibt – die Gemeinden sind einfach immer weniger bereit, die einst quasi fraglos finanzierten Programmpauschalen zu bezahlen.


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Bertschy: In der Regel läuft es heute so: Man macht der Gemeinde ein Angebot. Wenn es nachgefragt wird, ist das gut, und wenn es nicht nachgefragt wird, ist das weniger gut. Entweder kann man als Anbieter dank flexibler Strukturen darauf reagieren, oder man kann das nicht, und entsprechend hat man entweder gar kein oder aber ein ziemlich grosses Problem.

Mühe, unsere Arbeitswelt nur schon zu verstehen. Hier sind die Bemühungen eher darauf ausgerichtet, an einfachen Dingen wie Pünktlichkeit oder Zuverlässigkeit zu arbeiten. Das heisst: die Leute nur schon dazu zu bringen, am Morgen regelmässig bei uns zu erscheinen.

Es ist bekannt, dass die Gemeinden unter Spardruck stehen. Gleichzeitig floriert aber die sogenannte «Sozialindustrie» – Anbieter von «Programmen» scheint es zuhauf zu geben. Sind die knausrigen Gemeinden für Ihre Misere verantwortlich oder hat Ihnen die Konkurrenz die Kundschaft abgejagt?

Bertschy: Diese Frage rührt an ein Kernproblem unserer Armutsthematik. Je stärker man von Armut betroffen ist, desto tiefer sinken Wahlfreiheit und Selbstbestimmungsgrad. Ab einem gewissen Punkt sagt man nicht mehr selber, was man will und nicht will, sondern bekommt gesagt, was man machen soll. In Einzelfällen kommt es vor, dass einer von sich aus kommt und sagt: Ich würde gerne hier arbeiten und in das Programm einsteigen. In der Regel geschieht das aber nicht freiwillig. Vielmehr weist der jeweilige Sozialarbeiter seinen Klienten an, sich bei uns zu melden – um seinen Beitrag zur Integration zu leisten.

Bertschy: Die Konstellation vor Ort, die Mitbewerber und die Qualität der Angebote sind die entscheidenden Faktoren. Welche Organisation agiert in welcher Stellung schon wie lange auf dem Markt? Solche Fragen sind zentral und bestimmen die Nachfrage. Anders gesagt: die bestehenden Anbieter kämpfen um einen kleiner werdenden Kuchen, weil die öffentliche Hand auch in diesem Bereich einen Sparbeitrag leisten muss. Wie viele Programmanbieter gibt es denn beispielsweise auf dem Platz St. Gallen?

Studer: Ungefähr 10. Oft mussten wir feststellen, dass wir als Caritas St. Gallen-Appenzell einfach zu spät kamen, weil verschiedene Organisationen schon spezielle Abkommen mit den Gemeinden hatten. Im ersten Halbjahr 2014 sind wir von Gemeinde zu Gemeinde getingelt und haben versucht, mit fixen Zusagen die Finanzierung zu sichern. Vergebens. Anstelle von Zusagen bekamen wir immer wieder eine Aussage zu hören: Die Programme, die ihr habt, die sind schön und gut, nice to have – aber wir können sie uns nicht mehr leisten. Das Angebot ist gewissermassen zu einem Luxus geworden. Bertschy: Und das wird es auch bleiben, man darf sich nichts vormachen. Vor 10 Jahren waren die Rahmenbedingungen andere, in der Zwischenzeit hat sich die Lage verändert: Die Zahlen von Betroffenen sind stark gestiegen, Geld aber ist weniger da als zuvor und Mitbewerber gibt es zusätzliche. Insofern ist klar, dass der Spardruck weitergehen wird. Weiterhin werden die zuweisenden Stellen sicher auch sagen, dass die Integrationsprogramme eine richtige und wichtige Sache seien. Aber wer soll sie bezahlen? Gibt es denn auch empirische Belege für die «gute Sache»? Welche Erfolgsbilanz weisen diese zuweilen doch recht kostspieligen Programme auf oder anders gefragt: Wie viele Personen konnte die Caritas St. Gallen im Schnitt wieder in den Arbeitsmarkt integrieren?

Studer: Der Durchschnittswert der letzten paar Jahre lag bei rund einem Drittel. Das ist eine ziemlich gute Zahl – wobei nicht alle einen festen Job fanden. Wir sprechen auch von «Anschlusslösungen». Das sind Praktikums- oder Ausbildungsplätze, nicht richtige Stellen. Viele der Menschen, die zu uns kommen, haben verschiedenste Schwierigkeiten: Sie sind verschuldet, haben Alkoholprobleme oder – etwa als Flüchtlinge –

Wollen die denn das überhaupt?

Wie gehen Sie dabei mit Konflikten um, wenn jemand nicht mitmachen will?

Bertschy: Es gibt Spielregeln, und die werden auch kommuniziert. Wenn man beispielsweise dreimal unentschuldigt fehlt, ist auch unsere Geduld vorbei. Gleichzeitig sind unsere Sanktionsmöglichkeiten eingeschränkt. Nur in Extremsituationen, etwa bei Tätlichkeiten, kann gekündigt werden. Werden die Spielregeln nicht eingehalten, arbeiten wir zusammen an Verbesserungen. Auch das ist ein Element, um die Arbeitsmarktfähigkeit zu steigern. Reissen alle Stricke, entscheidet die zuweisende Stelle über das weitere Vorgehen. Studer: Es ist das Sozialhilfegesetz, das die Dinge so festgelegt. Man kann von diesem Zwang halten, was man will, aber er ist die Realität, in der wir uns befinden. Spielregeln gelten immer für zwei Seiten. Bertschy: Wobei die Schweiz 26 verschiedene kantonale Sozialhilfegesetze und entsprechend auch recht unterschiedliche Haltungen hat. Während man an einem Ort erst einen Monat im Wald arbeiten muss, um zu beweisen, dass man Sozialhilfe «verdient», ist am anderen Ort das Zwangselement eher weniger ausgeprägt. Amtlicher Zwang und karitative Nächstenliebe – eine nicht sehr wohlklingende Kombination.

Bertschy: Wir können nicht verhehlen, dass wir einen Grat begehen. Wir werden deswegen auch gehörig kritisiert. Es gibt Organisationen, die uns vorwerfen, Sklavenarbeit zu fördern. Ja – aber man darf die Rahmenbedingungen nicht vergessen, in denen wir uns bewegen. Man muss versuchen, innerhalb von dem, was man hat, das Beste zu machen. Studer: Wir sind der Überzeugung, dass unser Angebot den Leuten sehr viel bringt. Man erlebt das immer wieder: Es sind schöne Erfolgserlebnisse, wenn man z.B. sieht, wie jemand aufblüht, bei uns eine Tagesstruktur findet oder sich mit einem Arbeitsvertrag in der Hand verabschiedet. 29


Schweizer Monat SONDERTHEMa JuLi 2015

«So verschieden, wie die Menschen sind, so individuell müsste eigentlich auch die Begleitung sein. Nur kann oder will das niemand mehr bezahlen.» Bruno Bertschy

Bertschy: Die Herausforderung besteht darin, den Menschen die passende Unterstützung zukommen zu lassen – denn nicht alle brauchen die gleiche Art von Arbeit und Betreuung. Das heisst: eigentlich gibt es weder falsche noch richtige Zuweisungen, und auch weder richtige noch falsche Anbieter. So verschieden, wie die Menschen sind, so individuell müsste eigentlich auch die Begleitung sein. Nur kann oder will das niemand mehr bezahlen.

nicht so, dass wir mit dem Dock-Modell keine sogenannte «Betreuung» mehr haben. Sie ist aber gezielter auf die Nachfrage ausgerichtet und wird dort geleistet, wo sie benötigt wird. Dies betrifft den Hauptteil unseres Angebots. Für eine gewisse Zielgruppe besteht jedoch nach wie vor ein Bedarf nach individuellem Coaching. Deshalb haben wir das bisherige Angebot nicht einfach liquidiert, sondern bieten eine reduzierte Anzahl solcher Einsatzplätze weiterhin an; besetzt sind zurzeit 17.

Eben: de facto geht die Reise gerade bei der Caritas St. Gallen in die entgegengesetzte Richtung. Nach den finanziellen Turbulenzen haben Sie eine enge Kooperation mit der Dock-Gruppe beschlossen und nun grossmehrheitlich Plätze im Angebot, die nur noch Arbeit und kein Coaching mehr beinhalten. Haben Sie damit einen eigentlichen Paradigmenwechsel vollzogen und sich vom Sozialprogramm zur Sozialfirma gewandelt?

Überspitzt gesagt, haben Sie das kleinere Übel gewählt: Anstatt das Geschäft zu schliessen, haben Sie es lieber am Markt ausgerichtet.

Studer: Das Dock-Modell ist ein schlankes und günstiges Angebot und wird deshalb von den Gemeinden stärker nachgefragt, das ist unbestritten. Natürlich sind mit der Übernahme dieses Konzepts unsere Möglichkeiten nicht mehr dieselben, auf die Belastungen und Probleme der Leute einzugehen. Bertschy: Dass wir einen Wandel vollziehen, ist richtig und nötig. Nur kleine Anpassungen am Angebot hätten das Hauptproblem «Auslastung – Kostendeckung» nicht gelöst. Es ist jedoch 30

Studer: Nein, vom kleineren Übel würde ich überhaupt nicht reden! Wir haben 2014 verschiedene Szenarien geprüft, und letztlich waren es positive Gründe, die uns zum Dock-Modell geführt haben. Wir sind uns von der inhaltlichen Ausrichtung her sehr nah; beide haben wir gewerbliche Dienstleistungen – einfache handwerkliche Aufgaben etwa im Bau oder in der Reinigung – angeboten. Wir waren gewissermassen im gleichen Segment, aber mit anderen Kunden tätig, und da schien es uns sinnvoll, die Bestände zusammenzulegen und zu schauen, wie weit wir gemeinsam kommen. Weiterhin können wir mit dieser Form von Arbeitsintegration Perspektiven bieten, denn gerade im gewerblichen Bereich besteht eine gewisse Durchlässigkeit.


Schweizer Monat SONDERTHEMa JuLi 2015

Die Leute sind draussen, arbeiten in Gärten oder auf Baustellen – zwar in einer Art Schonraum, der Schwächen toleriert, aber doch nahe am ersten Arbeitsmarkt ist. Dennoch ist nicht eben selbstverständlich, dass die Hilfs­organi­sation der katholischen Kirche auf ein unternehmerisches Modell setzt. Wie wirkt sich dieser Entscheid auf Identität und Image der Caritas St. Gallen aus?

Studer: Wenn wir nun nur noch als Sozialfirma bestünden, müsste man sich sicher fragen, ob wir auf dem richtigen Weg sind. Gerade deshalb haben wir ja aber alles darangesetzt, auch den betreuten Programmteil zu behalten – wenn auch in reduziertem Umfang. Bertschy: Das Einfachste wäre gewesen, wir hätten diesen risikobehafteten Teil gekappt. Gerade wegen unseren Werten haben wir das nicht getan. Wir wollen weiterhin einen Beitrag zur Integration leisten und versuchen das jetzt auf diese Weise. Zu Ihrer Frage zum Image – nun, es beweist ziemlich viel Unkenntnis, wer meint, dass soziale Organisationen nicht unternehmerisch unterwegs seien. Sehen Sie sich die Caritas an: Wenn hier neue Tochtergesellschaften gegründet werden, sind das Ak­ tiengesellschaften. Ohne Wenn und Aber. Unsere Betriebe arbeiten mit Vollkostenrechnungen und sind, ökonomisch durchorganisiert, darauf ausgerichtet, Gewinn abzuwerfen, um wiederum in soziale Anliegen investieren zu können. Wenn Sie unsere neue Fünfjahresstrategie lesen, finden Sie darin wiederholt und deutlich Begriffe wie «Marketing» und «Wettbewerbsfähigkeit». Kurz: wie die meisten «Sozialen» operiert die Caritas längst und viel auf Märkten, auf denen das wirtschaftlich günstigste Angebot den Zuschlag erhält. Das ist aus Sicht der öffentlichen Hand durchaus zu begrüssen – solange das günstigste auch ein qualitativ überzeugendes Angebot ist. Im St. Galler Labor versuchen Sie doch, ebendiese Dinge zu mischen: Ist das eine spannende Herausforderung oder ein zerreissender Spagat?

Bertschy: Ich würde sagen: ein spannender Spagat. Studer: Ganz grundsätzlich gilt: Wenn man die Leistungen überall abbaut, löst man damit vielleicht ein finanzielles Pro­ blem, nicht aber die Frage, was mit den betroffenen Leuten passiert. Die sind ja nach wie vor da – in steigender Zahl – und können nicht weggespart werden. Bertschy: Wenn wir die Langzeitarbeitslosigkeit beobachten, sehen wir, dass diese unabhängig von der wirtschaftlichen Entwicklung stetig zunimmt. Das ist ein wachsendes Problem, welches auch bei uns in der Schweiz mehr und mehr an die Oberfläche tritt. Wir kennen das aus anderen europäischen Ländern, in denen soziale Unruhen zunehmen. Wenn sich eine Gesellschaft dazu entschliesst, die Schwächeren weniger zu stützen, werden wir irgendwann einen Preis an dieser Stelle zu bezahlen haben. �

Impressum «Schweizer Monat», Sonderthema 22 ISSN 0036-7400

VERLAG SMH Verlag AG HERAUSGEBER & CHEFREDAKTOR René Scheu (RS): rene.scheu@schweizermonat.ch Redaktion Serena Jung (SJ/Bildredaktorin & persönliche Mitarbeiterin des Herausgebers): serena.jung@schweizermonat.ch Claudia Mäder (CM/Redaktorin): claudia.maeder@schweizermonat.ch Florian Rittmeyer (FR/stv. Chefredaktor): florian.rittmeyer@schweizermonat.ch Michael Wiederstein (MW/leitender Kulturredaktor): michael.wiederstein@schweizermonat.ch PRAKTIKUM Florian Oegerli (FO) KORREKTORAT Roger Gaston Sutter Der «Schweizer Monat» folgt den Vorschlägen zur Rechtschreibung der Schweizer Orthographischen Konferenz (SOK), www.sok.ch. GESTALTUNG & PRODUKTION Pascal Zgraggen: pascal.zgraggen@aformat.ch GESTALTUNG COVER Dorothee Dähler: email@dorotheedaehler.ch Kaj Lehmann: email@kajlehmann.ch MARKETING & VERKAUF Roger Pfranger: pfranger@bamedia.ch ADMINISTRATION/LESERSERVICE Anneliese Klingler (Leitung): anneliese.klingler@schweizermonat.ch Jeanne Schärz: jeanne.schaerz@schweizermonat.ch ADRESSE «Schweizer Monat» SMH Verlag AG Rotbuchstrasse 46 8037 Zürich +41 (0)44 361 26 06 www.schweizermonat.ch ANZEIGEN anzeigen@schweizermonat.ch PREISE Jahresabo Fr. 195.– / Euro 165.– 2-Jahres-Abo Fr. 350.– / Euro 296.– Abo auf Lebenszeit / auf Anfrage Einzelheft Fr. 22.– / Euro 19.– Studenten und Auszubildende erhalten 50% Ermässigung auf das Jahresabonnement. DRUCK Vogt-Schild Druck AG, Derendingen www.vsdruck.ch BESTELLUNGEN www.schweizermonat.ch

Interview: Redaktion 31


euro parat

Weshalb der Franken-Mindestkurs gekippt ist, erkennt man erst im richtigen Zusammenhang.


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