Literarischer Monat #05

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ISSN 2235-0535

monat

Ausgabe 05 März 2012 CHF 2.90 / Euro 2.30

literarischer

s o n d e r B e i l ag e « s c h w e i z e r m o nat » | f r e i e s i c h t au f n e u e b Ü c h e r

Sprachspielplatzda! Poetin Nora Gomringer über Wort und Totschlag

Glas, Metall und Fleisch Claudia Quadri über eine, die unter die Räder kam

Weihwasser und Schnudderlumpen Arno Camenischs Lauschangriff auf die Bündner Dorfbeiz

Literarische Kurzkritik #35 Jean-Luc Benoziglio, Katharina Geiser, Christian Kracht, Michèle Roten, Michael Theurillat u.v.m.


Der Roman, der Irving über Nacht weltberühmt machte, jetzt in einer einmalig schönen Leinenausgabe

De Volkskrant, Amsterdam 416 Seiten, Leinen, € (D) 22.90 sFr 38.90* / € (A) 23.60

Schlagartig ist es vorbei, das sorglose Leben der Familie Silverstein. Da ist einer, der ihr Leben bedroht, denn er ist gefangen in einer Geschichte, die der Vergangenheit angehört und doch auf fatale Weise bis in die Gegenwart reicht …

Foto: © Regine Mosimann / Diogenes Verlag

Foto: © Jane Sobel Klonsky

Foto: © Karin van Til

»Jessica Durlachers bisher bester Roman!«

»Grünberg ist ein Autor, der alles kann, er ist leicht und komplex, tiefsinnig und albern.«

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WAZ, Essen

Wer diesen Roman noch nicht gelesen hat, ist zu beneiden. Denn ihn erwartet eine Welt voller skurriler Ereignisse und liebenswert verschrobener Figuren in Neuengland und Wien. Garps Welt eben, in der alles passieren kann und meistens auch passiert.

688 Seiten, Leinen, € (D) 22.90 sFr 38.90* / € (A) 23.60

Mit Haut und Haaren ist eine messerscharfe Satire über die ewige Kontaktsuche von Beziehungsflüchtlingen. Bravourös spitzt Arnon Grünberg innere Widersprüche zu aphoristischen Paradoxen zu.

Die Vergangenheit ist ein Paar Stiefel – sie passen jedem, der sie sich anzieht. Ein gewitzter Zeitreise-Roman.

352 Seiten, Leinen, € (D) 22.90 sFr 38.90* / € (A) 23.60

Jedes Mal, wenn Igor in die alte Uniform samt Stiefeln und Mütze schlüpft , reist er durch die Zeit und landet in Otschakow am Schwarzen Meer, im Jahr 1957. Dort triff t er auf Weindiebe und andere Gauner, und auf eine schöne, rothaarige Marktfrau …

Foto: © Bernhard van Dierendonck *unverbindliche Preisempfehlung

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Wahre Liebe gibt es nicht. Nur Beziehungen, die ein wenig Sicherheit geben – so sieht es Clare. Oder Affären – so Daniel. Bei einem Autounfall begegnen sich die beiden zum ersten Mal. Denkbar unromantisch. Doch derart nüchtern beginnen nur die ganz großen Liebesgeschichten.

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Geächtet, verteufelt, gejagt – das ist das Schicksal des Räuberhauptmanns Hannikel und seiner Familie. Ein lebenspraller Roman, der von den Zigeunerlagern in den Tiefen des Schwarzwalds bis in die Privatgemächer von Herzog Karl Eugen und seiner Franziska führt. www.diogenes.ch


Literarischer März

Editorial

Liebe Leser

Michael Wiederstein Ressort Kultur

05

Das «Schriftdeutsche gehört unabdingbar zur Schweiz, dank ihm partizipiert sie an einem grösseren Kulturraum, der wiederum ohne sie nicht denkbar ist.» Hugo Loetschers Verteidigung der sogenannten Hochsprache ist nun bereits einige Jahrzehnte alt. Die hiesigen Spannungen zwischen Mundart und Hochdeutsch gehen jedoch viel weiter zurück – und sind weiterhin omnipräsent. Zürich «stärkt» seit Mitte 2011 den Dialekt schon im Kindergarten: die Initiative «Ja zur Mundart» verlangt, Mundart als einzig zulässige Sprache im Kindergarten vorzuschreiben. Vergessen geht dabei, dass die deutsche Sprache mehrsprachig ist – und das Beherrschen des einen das andere fördern kann. Denn schon Loetscher gab zu bedenken: «Was sich als Stärkung der eigenen Kultur ausgibt, ist ein Beitrag zu deren Verarmung, ein Kuhglocken läutender Selbstbetrug.» Wir leisten diesen Monat einen Beitrag zu einem gelassenen und neugierigen Umgang mit der deutschen Mehrsprachigkeit. Das tut auch Nora Gomringer. Von sich selber sagt die Poetin im Interview ab S. 8, dass sie im Gedicht «wohne». Die «deutsche Schweizerin» weiss aber, dass dies nicht alle tun. Und ist überzeugt, dass uns die Lust an der Schönheit der Sprache vor allem in der Schule abtrainiert wird – mit ungeahnten Folgen. Während Zoë Jenny in der Toskana an ihrem neuen Roman schreibt, begeben sich neue Kolumnisten auf das Experimentierfeld im «Literarischen». Deshalb begegnen Sie Nora Gomringer auch bereits auf S. 4: sie fährt für uns ein Jahr lang ihr «Literarisches Periskop» aus. Neu mit an Bord ist auch der Basler Schriftsteller und Liedermacher Roger Monnerat. In seiner Kolumne «trucs, machins, choses» (frei nach Serge Gainsbourg, S. 5) widmet er sich skurrilen «Dingen» und fängt diese für uns buchstäblich ein. Lesestoff aus Graubündens Dorfbeizen finden Sie mit einem Auszug aus Arno Camenischs «Ustrinkata» auf S. 12. Aus dem Tessin meldet sich diesen Monat Claudia Quadri (S. 26) – und wem das alles nicht exotisch genug ist: Christian Krachts heiss diskutierter, neuer Roman «Imperium» (S. 15) entführt Sie in die Südsee. Dort, und das ist für einmal keine Krachtsche Skurrilität, spricht man übrigens auch Hochdeutsch… noch! Ich wünsche Ihnen eine gute Reise!

Kolumne: Literarisches Periskop

4

deutsche Mehrsprachigkeit

Literarische Kurzkritik

eiskalter Beton

25

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Kolumne: trucs, machins, choses

17

Über Berge und Gräben: Rehabilitation

5

Chrüsimüsi: Unsere

Kurze Sätze über Grate: Glitzernder,

26

Essay: Besuch in Berzona

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Kolumne

Literarisches Periskop von Nora Gomringer

L

Nora Gomringer ist Poetin und lebt in Bamberg. An dieser Stelle denkt sie alle zwei Monate nach.

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eben lesen aus den 60ern: Seit ein paar Tagen bin ich mit einer intensiven Analyse beschäftigt. Es handelt sich um eine sozialhistorische, kulturkritische Studie medialer Art. Ich sehe «Mad Men». Und verschwinde damit im wahrsten Sinne «zusehends» in den 60er Jahren. Eine Welt, in der mein Vater ein junger Mann und meine Mutter gerade mal volljährig war. Sie war beherrscht von Zigaretten, Trunksüchtigen und Frauenverdrehern (sic!). Von rassendiskriminierenden, homophoben und antisemitischen Äusserungen, chauvinistischen und voremanzipatorischen Flegeleien der Männer gegenüber den allzu beherrschbaren Frauen ganz zu schweigen. Weil ich gerade ein Radiofeature schreibe, in dem ich zwei Dichter porträtiere, wird mir eines klar: wer heute schreibt, bezieht sich häufig auf die 60er Jahre, denn während die New Yorker Dichterin Elaine Equi sich zum poetischen Erbe, dem Einfluss von Frank O’Hara im Hier und Jetzt ausspricht, beginnen die Männer der Madison Avenue – die Serienhelden – auch damit, seinen Lyrikband «Meditations in an Emergency» zu lesen. Heute erntet man vielerorts die Früchte dieser durch Prüderie und Exzess, aber auch durch Experiment gekennzeichneten Welt. Die konkrete Poesie – zum Beispiel – lebt, die Werbesprache hat sie wie eine Stafette weitergereicht. Ich habe nachgelesen und in Frank O’Haras Texten eine Aufbruchsstimmung mitklingen hören, die viele der kulturellen Nebenmitteilungen der Serie auch vermitteln. Schöner Materialismus, in dem die Picknickdecke mit Müllresten noch ohne ökologischen Gewissensbiss ausgeschüttelt werden konnte! Mit Mark-Rothko-Bildern als Teil des Set Designs und Bob Dylan in aller Munde und den unvergleichlich roten Lippen der Serienprotagonistinnen, denke ich, dass jede Zeit (uns wie auch immer verborgen) Vorzüge besitzt. Sylvia Plath und Anne Sexton, den «beichtenden» Dichterinnen, die doch nur gute Mütter und beständig kochende Gattinnen hätten sein müssen, haben diese Vorzüge wohl nicht viel gebracht. Beide haben sich selbst und vorzeitig aus der Lebensgleichung herausgenommen. Hätten sie doch nur Frank O’Haras Selbstauskunft gelesen, geglaubt, gelebt: «Ich bin der Unkomplizierteste aller Männer. Alles, was ich will, ist bedingungslose Liebe.» Damit kann man doch was anfangen! Zum Beispiel beim Meditieren während eines Notfalles. �


Kolumne

trucs, machins, choses von Roger Monnerat

D

Roger Monnerat ist Schriftsteller und Liedermacher. Er lebt in Basel.

er stets mögliche kleine Sieg über die grosse Nacht – dank Kienspan, Öllicht und Kerze – ist in meinem Weltbild die grosse Erfindung der Leute vor mir. Wegen der Wärme hätt’ es Feuer nicht gebraucht, ein paar Millionen Jahre lang ist es ja auch ohne gegangen. Im Weltbild von mir wurden Alkohol und die Berechnung der Lichtgeschwindigkeit zusammen mit Mähdrescher und Daguerrothypie in Winternächten erfunden. Abgesehen von Lisa Meitner, Hedy Lamarr und ein paar anderen, meist von Männern. Im Kerzenlicht sassen diese in Hütten am Tisch; Schnee bedeckte die Erde, Hunde jaulten, im Bett lag eine Frau, Tränen rannen ihr aus den Augenwinkeln, ihre Hände lagen auf dem hohen Bauch, darin ein Baby schlief. Erst nach 1860 konnte im hellen weissen Schein von Petroleumlampen erfunden werden. Dank Rockefeller. Nach 40 Jahren kam Edison, und Rockefeller wäre verlumpt, hätte Ford nicht in der Zwischenzeit gegen Marxens Diktum «Die Maschinen allen» die Losung «Allen eine Maschine» in die Welt gesetzt. Rockefeller, Edison, Fords Automobil für alle! Welch gigantischer Sprung nach vorne! Welch lange Leitung müssen die Leute in der Million Jahre zuvor gehabt haben. Eine Million Jahre lang haben sie gezündelt, aber erst 1827 geht jemand hin und erfindet das Zündholz und – keine zwanzig Jahre danach gibt es schon das Märchen dazu (Hans Christian Andersen). Das Problem der langen Leitung beschäftigt auch den Osram-Glühbirnenvertreter Aeschlimann in Thun. Beim Räsonieren über lange und kurze Leitungen kommt ihm die Erleuchtung. Am 25. Juni 1931 meldet er um 18¼ Uhr in Bern einen «Selbstaufwickler für schnurförmige Körper» zum Patent an. Mit dem «schnurförmigen Körper» ist die Verbindungsschnur vom Telefon zum Hörer gemeint. Max Aeschlimann lässt sie über eine Rückwickelspule mit Spiralfeder im Innern laufen. Nutzanwendung: das Telefon an einer Hotelreception. Dank «Selbstaufwickler für schnurförmige Körper» können Gäste telefonieren, ohne dass Personal oder andere Gäste zuhören. �

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Chrüsimüsi Unsere deutsche Mehrsprachigkeit

1

Mer gönd i d Badi

von Frank Kauffmann

2

Das lyrische Ich

Poetin Nora Gomringer im Gespräch

3

Ustrinkata

von Arno Camenisch

6


«Literaare»-Schreibwettbewerb 2012

1

Mer gönd i d Badi

von Frank Kauffmann

«S

Frank Kauffmann ist Dozent an der Universität Zürich, freischaffender Künstler und Dramaturg.

chaaaaatz, bringsch mer nöd en Plastiksack?», hät d Nadine usem Schloofzimmer grüefft. Mer händ i d Badi wölle. I ha mini Waar scho lang packt ghaa. Aber d Nadine hät äbe zersch no müesse epiliere. «Okay», han i gseit, und bi im Chuchischrank en Plastiksack go suache. Si wüssed jo, wi da isch, en Sack voll Plastiksäck. Und obe draa nume es so innegstopfti, huchdünni Gmüassäckli, meischtens no mit eme Loch dine. Und me mue richtig grüble, bis me äntli en guate Plastiksack hät. Ase en solide Sack han i de Nadine broocht. Dia hät d Stirne grunzlet: «Aber Schatz! Dä Sack, dä isch doch vil z gross für as Tüechli und s Bikini. Typisch. Häsch mol wider nüt überleit, oder?» Si hät mer dä Satz mit de gliiche Verachtig uf de Tisch gworfe, we amel früener de Lehrer s ewig ugnügend Diktat. Und i ha gmerkt, we s mer de Schnuuf verschloht, we sich wider da gliich Ohmachtsgfüühl breit macht. Da schlächt Gwüsse, wider z wänig Kommas gsetzt z haa; mit däre Iisicht, en schlechte Mönsch z sii. Eine, wo sich nöd a d Regle cha halte, en Versäger, ein vo däne fuule Siache, wo alles aafangt, aber nüt fertig macht, wo allem Uagnähme us em Weg gaat, seg das em Lerne oder em gnau Schaffe. Ein vo däne trümmlige Siache, wo bim Turne immer als letschte gwählt wird und wo nöd nu bim Tschute uf de Ersatzbank hocket, sondern au im richtige Läbe. I ha tüüf düregschnuufet und a d Medizin vo däm Typ tänkt, mit däm i vor es paar Jor emol i de Lucy Bar versumpfet bi. S’isch en Eltere gsii, welewäg Mitte 50gi. Är hät kä Zigis me ghaa und hät mi um eini aagschnorret. So si mer is Gspröch choo. Händ zersch über alles und nüt gredt und sind dänn Zug um Zug uf Wesentlichers choo. Noch 1,5 Päckli und es paar Stange han em vo minere Angscht verzellt, immer alles z verbocke. «Da känni guat», hät er zu mer gseit: «Da han i lang gnuag au gha. Loos! Vo jetzt a dörsch du nüm alles i di inefresse! Da isch nöd guat. Dia Agressione, wo d da alli abeschlucksch, dia sind we en Ballon.» Är hät i siner Tschoopejagge umegnoislet und hät en Ballon zum Sack uszoge. (holt einen Ballon aus dem Sack) «Gsesch», hät er gseit, «dä Ballon blost sich uf (bläst hinein) und blosed sich uf (bläst hinein) und raubt dr zum Schluss de Schnuf. Und wänn da passiert», – är hät au es Nadelchüssi us sinere Jaggetäsche zoge (holt auch ein Nadelkissen aus dem Sack), «dänn muasch d Notbrems zia!» (sticht in den Ballon) «Bisch Psycholog?» han en gfrööget. Är hät glachet: «Nei, Linkshänder, Legastheniker und Journalist.» Sit säbem Obed han i immer es immaginärs Stecknädeli dabii und da setz i au ii. De nöchscht Satz vo de Nadine hät mi us mine Gedanke zruggholt: «Und dänn no en Interdiscount-Plastiksack! Meinsch, I lauf mit so öppis ume?» «Nadine, dä Plastiksack häsch sowieso nu i dinere Täsche, do spilts aso gär kä Rolle, vo wäm das er isch und wi gross! Und wänn er der nöd passt, dänn musch halt sälber eine go hole. Häsch scho gmerkt? I wart scho meh as 20 Minute uf di.» «I ha jo nu gmeint!», hät d Nadine pikiert gseit. I ha gnickt: «Au i ha nu gmeint!» �

Der vorliegende Text ist einer von drei Gewinnertexten des «Literaare»-Schreibwettbewerbs 2012. Die anderen beiden Gewinnertexte von Christina Frosio und Laura Vogt sind online verfügbar unter www.schweizermonat.ch. Im Rahmen des Literaturfestivals (2. – 4. März in Thun) werden alle drei Texte von ihren Autoren öffentlich gelesen.

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Zwischen den Zeilen

2

Das lyrische Ich

«Unzugänglich, schwer und manchmal mühsam» – die Lyrik hat einen schweren Stand. Zu Unrecht, findet Nora Gomringer. Das Gesicht der neuen Poetengeneration über Sprache, Sprachen und Sprachlosigkeit. Michael Wiederstein trifft Nora Gomringer

Nora, du bist Poetin, Slam-Poetin, Poetikdozentin und Leiterin eines Künstlerhauses. Du musst es mir sagen können: Warum lesen die Leute so wenig Lyrik? Die Lyrik ist wie ein sogenanntes «Problemkind» in der Schule; es sitzt zwischen den Stühlen von Gefühl und Information, macht Ärger und gilt als schwierig. Dabei hat Shakespeare sie schon auf die Bühne gebracht, als Bildungsstand und Einkommen viel niedriger, der Alltag viel härter war als heute. Hören wir also einmal damit auf, uns dümmer zu stellen, als wir sind.

«Keine Experimente!», dafür stand Konrad Adenauer im Bundestagswahlkampf 1957. Die konkrete Poesie fällt aber unter die sogenannte Experimentierkunst… Genau. Paul Celan arbeitete ganz bewusst gegen das AdornoDiktat, blieb aber lange eine Ausnahmeerscheinung. Die Präsenz von Dichtern ist heute grösser, allerdings oft nicht für die, sondern wegen der Lyrik: Hans Magnus Enzensberger oder Durs Grünbein schreiben hin und wieder für den «Spiegel», weil man in der Redaktion weiss, dass sie etwas zu sagen haben, es gemeinhin in Form von Lyrik tun und diese Form der Mitteilung Der spielerische Zugang Ansehen schafft. Am Ende schreiben sie dann zwar wieder einen Essay oder eine zur Poesie wird den offene Stellungnahme, dem Dichter wird Kindern schon in der aber offenbar ein Stellenwert beigemesSchule abtrainiert. sen oder doch zumindest eine Intelligenz zugesprochen, die relevant ist.

Ist Lyrik ein «Problemkind», weil wir als Kinder in der Schule – oft ungewollt – damit konfrontiert werden? Mit Sicherheit: der spielerische Zugang zur Poesie wird den Kindern schon in der Schule abtrainiert. Der didaktische Zeigefinger deutet auf den «Gehalt» eines Textes. Man fragt nach Reimschemata und nach den «Absichten» des Autors, von Lese- und Aneignungserfahrungen wird aber kaum gesprochen. Das ist knochentrocken und vernachlässigt die ästhetische Erziehung.

Wieso eigentlich? Der Grund dafür liegt ein paar Jahrzehnte zurück: Die literarische Entwicklung innerhalb der deutschsprachigen Länder hat 1945 einen entscheidenden Wendepunkt erfahren. Die Deutschen haben nach dem Krieg ihren Glauben an die Dokumentation gegeben, nicht an die schönen Worte. In Zeiten des Wiederaufbaus war es wichtiger, handfeste und orientierende Berichte zu haben, als sich der Verschönerung und der Verschnörkelung der Sprache zu widmen. Erst zwanzig Jahre später hat man wieder lyrisch experimentiert. Von einem Ende der Lyrik nach Auschwitz, wie Theodor W. Adorno und andere gemutmasst hatten, kann seitdem keine Rede mehr sein. Es ist daher bezeichnend, dass die «Konkrete Poesie» sich aus der Schweiz heraus entwickelte und nicht aus dem Wirtschaftswunderland Deutschland. Lyrik konnten sich in Deutschland nur zwei Leute erlauben: Ingeborg Bachmann und Paul Celan. 8

Das glaubst du als Teil des Betriebs – auf der Strasse kennt doch kein Mensch Durs Grünbein! (lacht) Zugestanden, Lyrik ist kein Massengeschäft, das lyrische Grundrauschen ist aber immer da. Darüber hinaus gibt es Spitzen dieses Rauschpegels. Laute Stimmen aus der Slam-Poetry-Szene zum Beispiel, die auch weit über die eigene Gruppe hinaus Gehör finden. Illustriert wird das ganz gut vom Umstand, dass ich bis vor wenigen Jahren noch stets erklären musste, was das eigentlich ist, Slam Poetry. Heute muss ich das viel seltener. Du hast Slam Poetry aus den USA quasi «importiert». Wieso? Zwischen 2001 und 2005, als ich viel in New York war, habe ich dort Slam-Veranstaltungen besucht und war dann auch bald ein aktiver Teil davon. Die dortige Kultur ist nicht zu vergleichen mit deutschsprachigen Slams. Die deutsche Version ist eine im literarischen Sinne hochgezüchtete Kunstform, der amerikanische Slam ist viel ungezwungener und hat ganz andere Inhalte. Genderfragen, Sozialpolitik: alles, was man hier gern der jeweiligen Wissenschaft überlässt, wird dort mit Populärkultur vermischt und auf die Bühne gebracht. Ein amerikanischer Vorteil: während bei uns jeder Slammer meint, «Literatur» machen zu müssen,


Nora Gomringer, photographiert von Alexander Dรถbereiner.

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Zwischen den Zeilen

steht dort das Entertainment im Vordergrund. Der Künstler weiss, dass er den Hörern 5 Minuten ihrer kostbaren Zeit stiehlt, und muss sich etwas einfallen lassen, um die Leute zu gewinnen. Denk an Hip-Hop, damit verhält es sich ähnlich.

zeichnet gewesen, dass auch ich Lyrikerin werde. Ganz im Gegenteil! Ich denke, dass ich tue, was ich tue, weil in unserem Haushalt nie jemand gesagt hat, dass ich es bleiben lassen sollte oder dass es sinnlos wäre. Lyrik war und ist für uns sinnvoll.

Der Slam-Poet klopft dem Literaten den «Staub» ab? Genau. Wenn sie zu einer «normalen» Lesung gehen, sagen viele Leute: «Och ja, da sitzt dann jemand und liest vor. Und wenn es ganz schlimm ist, kann ich die Augen zumachen.» Das ist bei Slam Poetry nicht so. Viele Zuschauer freuen sich genau darüber, endlich einmal eingebunden, wachgerüttelt zu werden. Ich bin beispielsweise zu laut und zu dynamisch, als dass man bei mir einschlafen könnte.

Hattest du nie das Gefühl, im Schatten deines Vaters zu stehen? Das hat sich netterweise über die Jahre etwas gedreht. Was ich mache, mache ich erst seit 12 Jahren und in dieser Zeit hat sich mein Image von der «Lyrikertochter» hin zur «Lyrikerin mit Lyrikervater» geändert. Meine Arbeit wird wertgeschätzt, ganz unabhängig von der meines Vaters.

Und er hat nie bei einem Verlag die Hand für dich ins Feuer gelegt? Nein. Ich musste meinen eigenen Weg suchen, musste kooperaDu arbeitest auf der Bühne wie auch für Lyrikbände vor allem tionsfähig sein. Wenn du zwar einen bekannten Vater hast und assoziativ. Bedeutet: du baust Stimmungen durch Bilder auf, selbst Talent, aber ein Arschloch bist, das nicht fähig zur Mitardie du in verschiedene Kontexte einrückst. Manchmal passt das beit ist, wirst du nicht gedruckt. Das Künstlerhaus, das ich führe, eine nicht zum anderen und lässt hellhörig werden. Wie muss beherbergt Künstler für ein Jahr lang auf Staatskosten. Wir förman sich die Entstehung von diesen Texten vorstellen? dern sie und hoffen, dass sie dieses Angebot schätzen und etwas Du beschreibst es ja schon richtig. Meine Texte entstehen, weil Gutes dabei herauskommt. Ich verschaffe einigen einen «Break», ich ein imaginäres Bild male. Mehrere Bilder aneinandergereiht damit Neues entstehen kann. Und das kann ich nur, wenn ich ergeben dann wieder ein ganz anderes Gesamtbild. Teil des Systems bin. Manchmal frage ich mich aber: erziehe ich diese Leute mit diesem Angebot zur Die Technik wird an amerikanischen Lebensunfähigkeit? Sollten sie statt des Creative-Writing-Kursen als Basiswissen Sollten Künstler statt des Credos «l’art pour l’art» nicht einfach vermittelt. Kann man Poesie lernen? einen vernünftigen Job haben?! Credos «l’art pour l’art» Poesie nicht, aber Techniken der Vermittlung. Und es ist eigentlich traurig, dass nicht einfach einen Sollten sie? man glaubt, dem modernen Menschen bei- vernünftigen Job haben?! Sie sollten. Als «Managerin» eines Künstbringen zu müssen, wie man assoziiert. lerhauses stehe ich mit einem Bein im Denn jeder hat sie ja, die Assoziationen. Leben – und das andere Bein habe ich in Was also wieder vermittelt werden muss – und das halte ich der Kunst. Das ist unheimlich anstrengend, setzt Organisationsfür sehr wichtig: Es ist gut, Assoziationen zu haben und sie zu und Dosierungstalent voraus. Nicht jeder hat das. Aber das pflegen. Auch die wildesten! gegenwärtige System, nach dem man nur eine kritische Menge an Unterstützern in wichtigen Positionen finden muss, um sich Du hast leicht reden, immerhin bist du in einem Poetenhaushalt dann von Stipendium zu Stipendium hangeln zu können, geht gross geworden. Dein Vater, Eugen Gomringer, ist Begründer der für den Autor bis etwa 45, dann sitzt er auf dem trockenen. konkreten Poesie... Die kulturpolitische Erziehung hin zum «Gucken, warten, hoffen» Ich bin viel eher in einem schweigenden Haushalt gross gewor- dient der Sache nicht, es macht die Künstler zu Bittstellern. den. Lyriker sind nämlich nicht besonders mitteilsam. Mein Vater ist nicht nur Poet, sondern auch schweizerischer Offizier und Also: ab in die Werbebranche mit den überfütterten Künstlern? ein strenger, meist stiller Mensch, der bisweilen einen wunder- (lacht) Nicht nur. Aber die Werbung ist doch ein gutes Beispiel: baren Humor hat, aber mir und meinen sieben Brüdern eher das unsere heutige Werbung ist extrem beeinflusst von poetischer Schweigen als das Brabbeln beibrachte. Er arbeitet viel und Experimentierfreude. Eine gute Werbung bleibt nicht deshalb in zieht sich dafür gern zurück. Weil ich mich meinem Vater also Erinnerung, weil sie ein bestimmtes Produkt bewirbt, sondern nur schwer emotional annähern konnte, fand ich in der Lyrik weil sie es auf eine bestimmte Weise bewirbt. Die konkrete Poesie eine Art Brücke. Nicht falsch verstehen: mein Vater ist ein span- hat nachweislich die Werbebranche beeinflusst und ihre Vertreter nender, aber snobismusfreier Mensch, der das, was ich mache, sind so uneitel wie die Form selbst: niemand käme auf die Idee, schätzt. Er freut sich über alles, was mich unabhängig macht. von einer Minderung ihres Wertes zu sprechen, nur weil sie ihre Vor diesem Hintergrund ist es nicht – wie oft behauptet – vorge- Anwendung auch im Werbeblock des Privatfernsehens findet. 10


Schläuche, die in der Polymerindustrie entstanden sind, können ja nicht nur für die Humanmedizin, sondern auch für die Automobilindustrie verwendet werden. Deine Texte bleiben den Lesern auch in Erinnerung, weil sie oft lustig sind. Ja, ja, die «lustige Nora»… Gefällt dir das Prädikat nicht? Dabei geht viel verloren: die Vielschichtigkeit zum Beispiel. Ich habe mich in das Dilemma aber selbst hineinmanövriert. Ich möchte schliesslich nicht, dass die Leute mit hängenden Gesichtern meine Veranstaltungen verlassen. Also komponiere ich meine 50-Minuten-Lesung und versuche, alle Facetten dessen, was man bieten kann, abzudecken. Ich fange offen an, werde dann ernst und zum Abschluss wieder versöhnlich-humorvoll. Da kann man noch so nachdenkliche und traurig-berührende Mittelteile einer Lesung machen, das Publikum in einen Deportationszug nach Auschwitz mitnehmen oder zu einer Demenzkranken – man bleibt als «die Lustige» in Kopf und Herz des Publikums, weil man versöhnlich abschliesst. Die Presse funktioniert dabei nicht anders als das Publikum, sie schreibt: «Den Schlusspunkt setzte die lustige Nora Gomringer.» Mittlerweile betrachte ich es als gute Werbung. (lacht) «Nora Gomringer ist Schweizerin und Deutsche» – so steht es in deinen Kurzbiographien. Du hast 90 Prozent deines Lebens in Deutschland verbracht. Wieso also die Schweiz an so zentraler Stelle? Um kenntlich zu machen, dass ich aus einer Familie stamme, die stark mit der Schweiz verbunden ist. Mein Vater hat seine prägende Zeit in der Schweiz gehabt und seine Nationalität ist ein Marker für unsere Familie. Die Schweiz ist ein Gefühl. Wie fühlt sie sich denn an, die Schweiz? Die Schweiz ist für mich ein schöner, feiner Exotismus. Die Schweiz hat ein viel ungebrocheneres Verständnis vom Design, von Bildungstradition und überhaupt: Traditionen! Was in Deutschland als Deutschtümelei abgetan wird, kann die Schweiz aufgrund der anderen Geschichte besser verpacken. In der Schweiz arbeitet man anders mit dem Dialekt als in Deutschland. In der deutschen Comedyszene ist der Dialekt meist eine Art Kalauer-Stigma, das suggeriert: ich komme aus der Provinz und bin nicht ganz auf der Höhe. Hier geht man mit den sprachlichen Eigenheiten etwas behutsamer um und wird sich – gerade im Slam-Bereich – ihrer Vorzüge, vor allem was die Melodie angeht, zunehmend bewusst. Einverstanden? In Deutschland ist es so: bestimmte Dialekte aus bestimmten Regionen qualifizieren nicht unbedingt zum Radiosprecher und

haben über die Jahre diese von dir genannte Stigma-Rolle eingenommen. Was dazu führt, dass man sie sich abtrainiert, wenn man «seriös» rüberkommen will. Das gilt auch für die Schweiz und macht mich ehrlich gesagt ein wenig betroffen, suggeriert es doch, dass da ein etwas überstrapaziertes Verhältnis zwischen Mundart und Hochdeutsch existiert. Das musst du erklären. Ein Beispiel: mein Freund ist Ergotherapeut und hat viel mit älteren Menschen zu tun. Der Dialekt drückt deren Welt aus. Wenn er nun den gleichen Dialekt spricht in einem Umfeld wie einem Krankenhaus, wo es generell steril und nüchtern hergeht, so hat er bei den Patienten einen entscheidenden Vorteil: Vertrauen. Das gleiche in der Poesie: Ich wünschte mir manchmal, ich hätte die Möglichkeit, zwischen Dialekten wie zwischen Sprachen zu switchen. Was sagt uns das über das gespaltene Verhältnis der Schweizer zum Hochdeutschen? Eine beidseitige Entspannung wäre wichtig, nicht ein gequältes Hochschaukeln der Extreme. Bei mir besteht auch keinerlei Interesse daran, ein bayerisch geschriebenes Buch zu lesen, und ähnlich verhält es sich mit verschriftlichtem Schweizerdeutsch. Jenseits der Exotik, die für Deutsche vom Schweizerdeutschen ausgeht, behaupte ich: es hat seine Schönheit im Gesprochenen! Mit seiner Musikalität und Bildhaftigkeit kann man mehr ausdrücken als mit dem Hochdeutschen – davon bin ich Fan. Lyriker und Poeten drücken sich gern in Bildern aus. «Das Gedicht ist mein Zuhause», hast du mal gesagt. Was muss man sich darunter vorstellen? Der österreichische Lyriker Robert Schindel hat einmal gesagt, es falle ihm nicht leicht, «statt ins Wirtshaus ins Wort zu gehen». So oder so ähnlich sehe ich das auch. Mit 16 sass ich auf Feiern in der Ecke und habe gelesen. Gelbe Reclamhefte: ganz blöde Person! Das war nicht besonders sexy! Ich habe damals gedacht, das sei höflich. Um den Leuten nicht sagen zu müssen, dass ich sie unheimlich dämlich finde und lieber für mich sein wolle. Heute weiss ich: es ist das Gefühl von Heimkommen, von Angekommensein. Von Schuheausziehendürfen und Mitsockendasitzenkönnen. Trost, Linderung, Freude. Heute liest du nicht mehr auf Parties? Nein. Ausser, ich werde dafür bezahlt. (lacht) Hast du Angst, dass dir einmal die Worte ausgehen? Natürlich. Ich glaube fest daran, dass jeder Mensch nur eine bestimmte Anzahl Worte zur Verfügung hat – und irgendwann nicht mehr spricht. Alles ist fragil – das, was ich geschrieben habe, aber nicht. � 11


Auszug

3

Ustrinkata

Von Arno Camenisch

H

Arno Camenisch ist Schriftsteller. Der vorliegende Auszug ist entnommen aus seinem neuen Roman «Ustrinkata». Wir danken Verleger Urs Engeler für die freundliche Abdruckgenehmigung.

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abt ihr den Rhein gesehen, fragt der Otto, jetzt ist dann mal gut, gell, der grosse Stein ist zur Hälfte im Wasser, und regnet es so weiter, dann grüss Gott, er trinkt. Im fünfundachtzig, sagt der Luis, der grosse Stein war fast ganz unter Wasser, Gopfertammi, und hier drin sassen wir mit dem Wasser bis zu den Knien, im siebenundachtzig war das, sagt die Tante, man hätte Gold waschen können am Stammtisch, sagt der Otto, wären sicher noch ein paar Gebisse mit Goldzähnen im Sieb hängen geblieben, nachdem Gott die Hänge gewässert hatte und das Wasser über den Friedhof zog, weil die Friedhofmauer nachgab und die Hälfte der Gräber aushob und mit hinunter ins Dorf schwemmte. Ja das Vermögen, das die Filomena im Mund herumtrug, sagt der Luis, das hätte ich gut gebrauchen können dann, die Hälfte meiner Kälber ertrank im Hochwasser, dass ich das Bauern beinahe habe sein lassen müssen danach, gegen die Posaunen Gottes kommt man halt nicht an, sagt der Otto, der Luis holt den Schnupftabak aus der Hosentasche, und auf der Brücke standen die Leute und schauten wie Japaner, er zieht den Schnupftabak hoch, buah, willst du auch, der Otto streckt seinen Handrücken hin, schauen heisst nicht, dass man auch sieht, sagt der Otto, der Luis steckt die Büchse in die Hosentasche, auch meine Grossmutter hatte es mitgeschwemmt, sagt er, haben wir aber erst zu spät gemerkt. Oha, sagt der Otto und holt den Schnudderlumpen aus der Hosentasche. Die Tante legt den Zeitungsbericht vom Steinschlag zurück in den Schrank. Die Türe zur Küche geht auf, und auf der Türschwelle steht die Grossmutter. In der Hand hat sie ihr Gütterli mit Weihwasser und im Mund hat sie eine Zigarette. Lass den Seich, sagt die Tante und nimmt ihr die Zigarette aus dem Mund. Die Grossmutter hinkt hinüber zum Stammtisch, die Tante stützt sie dabei, wer ist denn heute gestorben, fragt die Grossmutter und bekreuzigt sich. Niemand, sagt die Tante, setz dich jetzt. Die Tante holt ihr einen Schnaps. Siehst du, sagt der Otto, bald hundert, und warum denk, er klopft auf den Stammtisch und zeigt auf den Alexi, zur Vesper einen Kirsch und du bleibst frisch wie ein Pantoffel. Kannst ja auch einen Tropfen Weihwasser reinschütten, wenn es dir denn um den Orapronobis geht, aber nur das Wasser reicht nicht, wo denkst du denn hin, wenn die Grossmutter nur Weihwasser trinken würde, sagt der Otto, ich sag’s dir, dann wäre sie durchsichtig wie Glas. Die Grossmutter steckt ihr Gütterli in die Tasche ihrer Strickjacke und setzt das Schnäpsli an. Meine Urgrossmutter ist hundertdrei geworden, und den Schnaps hat sie bis zuletzt in Ehren gehalten, sagt die Silvia und bläst den Rauch aus, sie konnte nicht mehr stehen, nicht mehr gehen, nicht reden, nicht sehen, und hören konnte sie am Schluss auch nichts mehr, aber dem Schnäpsli blieb sie treu, bis zum Seligabend, und vermutlich lässt sie sich den Schnaps auch nicht im Himmel nehmen. Alt wie Brot und Milch wäre sie


wohl kaum geworden sonst, sagt der Luis. Als sie hundert war, sagt die Silvia, hat der Pfarrer, der alte Josefi noch, eine Mess für sie gehalten, um Gott zu bitten und die heilige Maria und ihre ganze Onturasch, dass sie sterben dürfe. Aber kasch tenka, grad noch drei Jahre draufgelegt hat sie, für die Heilige Dreifaltigkeit und aus Trotz, hundertdrei, halb tot, halb Stein. Ha, fragt die Grossmutter. Der Alexi will aufstehen, nichts da, sagt der Luis, oh darf ich nicht mal mehr schiffen gehen, der Cleveri, ist halt mit allen Wassern gewaschen, sagt der Otto, so verschlagen sind wir denn auch. Wer nicht trinkt, der muss auch nicht seichen, sagt der Luis. Jetzt lass ihn, sagt die Tante, muss ja nur Wasser lassen, nicht dass er mir in die Hosen macht wie der Georg, ist auch schon Jahre tot, wer ist gestorben, fragt die Grossmutter, niemand, sagt die Tante und steckt sich eine neue Mary Long zwischen die Lippen, ich habe geträumt, sagt die Grossmutter, das Ross sei im grünen Gras am jungen Rhein gestorben, es lag da ganz müde und tot, die Tante bläst den Rauch aus, der Georg also, sagt die Tante, der sass jeweils da auf dem Bänkli, immer auf dem gleichen Platz, ganze Nachmittage sass er da und sagte nichts, und wenn er genug intus hatte, zog er den Kopf in die Schultern, und gestorben ist er auf der Toilette, sagt die Silvia und hält das brennende Zündhölzchen der Tante hin, hatten ja auch alle gestaunt, dass er plötzlich auf die Toilette wollte, wo er doch nie ging, sie zündet ihre Select an, nur dass er nicht mehr zurückkam. Dann gib noch einen Quintin, sagt der Luis zur Tante. Ist denn heute niemand gestorben, fragt die Grossmutter. Noch ist niemand gestorben heute, sagt die Tante, willst du noch einen Schnaps, ha, fragt die Grossmutter, ich bringe dir noch einen, und wir stossen auf den heiligen Antonius an. Wo habe ich nur meine Hostien hingelegt, fragt die Grossmutter, und die Tante steht auf. �

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Buch des Monats: Schweiz

Auf einen Quintin bei der Tante Arno Camenisch: Ustrinkata. Solothurn: Urs Engeler Editor, 2012.

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Virgilio Masciadri ist Philologe und Mitherausgeber der Literaturzeitschrift «orte».

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ie Beiz ist die wahre Heimat des Schweizers. Wer wissen will, wie dem Eidgenossen ums Herz ist, der setzt sich drum an einen Stammtisch und hört zu – oder er schreibt gleich mit. Auf diese Art heimatkundlicher Feldforschung nimmt uns auch Arno Camenisch in seinem dritten Prosabuch mit. Der junge Bündner Autor schreibt Deutsch, hat aber rätoromanische Wurzeln, und so macht es einen Reiz seiner Prosa aus, dass er sie kunstfertig den Sprachgrenzen entlang mäandrieren lässt, zwischen Schriftsprache und Dialekt, Rätoromanisch und Deutsch, Fremdem und Vertrautem. Damit spielt schon der Titel: «Ustrinkata» – wobei ich gerne zugebe, dass ich auch hereingefallen bin und das zunächst für den Namen eines Vororts von Moskau gehalten habe. Da sitzen sie also traulich beisammen, in der «Helvezia»: die Tante, der Alexi, der Gion Baretta, die Silvia, trinken einen «Quintin» oder «Caffe fertic», zünden sich eine «Mary Long» an und reden. Die Gespräche, zu deren Ohrenzeugen uns der Dichter macht, entwerfen dabei das Porträt der Welt von draussen, das regenverhangene, von Erdrutschen und Lawinen bedrohte Bergtal, das Dorf mit seinen Geschichten von heute und gestern, von Lebenden und Toten. Mit gespitzten Ohren lauscht Camenisch seinen Figuren jede Eigentümlichkeit ab, charakterisiert sie mit ihren wiederkehrenden Redewendungen und Gesten. So erhält der Text einen in sich geschlossenen Klang und einen starken, leitmotivischen Rhythmus. Was wir dabei zu hören bekommen, sind die kleinen Geschichten kleiner Leute: Der Autor mischt sie, variiert sie, spielerisch, in lockerem Konversationston, ohne jeden Versuch, grössere Bögen zu spannen. Auch die Episoden selbst gewinnen kaum je starkes Eigenprofil, man erinnert sich jedenfalls (wie das bei Beizengesprächen so geht) kaum an eine noch, ist sie vorüber, und so verfliessen die vielen kleinen Farbtupfer schliesslich zu einer Grundstimmung von getöntem Grau. Dabei beginnt die Erzählung mitten im Gespräch und endet irgendwo, ohne dass Anfang oder Ende begründet würden. Augenzwinkernd

spielt diese Textfläche mit der Illusion, sie wäre nur ein zufälliger Ausschnitt aus dem ganzen Leben. Das ergibt einen gewissen Effet du réel, anderseits fehlt es damit auch an einer den Leser mitziehenden Progression. Sind die Charaktere, ist die Stimmung einmal exponiert, erfährt man nicht mehr viel Neues. Dabei ist Camenischs Blick auf seine Dörfler durchaus liebevoll. Nichts liegt ihm ferner, als seine Figuren zu denunzieren: Unter einer Oberfläche von urchiger Rauhbeinigkeit ist da ein jeder ein guter Kerl. Selbst über den Dichter im Dorf sprechen diese Beizenhöckler mit Interesse, die Wirtin hat gar seinen Nachruf aus der Gasetta Romontscha griffbereit im Schrank. Man mag das plausibel finden oder nicht – jedenfalls liest keiner hier den «Blick», keiner schimpft über Asylanten, kein Wort vom Milchpreis, von der Subvention, und selbst der eine oder andere Ferienflug, der erwähnt wird, hat diese reinen Berglerseelen nicht verdorben. Ja, bei näherer Betrachtung weist der Welthorizont von Camenischs Figuren auffallend wenig Reibungsfläche auf zu demjenigen der aufgeklärt urbanen Leser, an welche das Buch sich richtet. Es sind gleichsam moderne Rokokoschäfer, die dem feinen Publikum zuliebe nicht stinken dürfen. Gewiss, bereits Camenischs preisgekrönter letzter Band «Hinter dem Bahnhof» war nicht frei von einem Hang zur Idyllik, der alle Verwerfungen der Gegenwart in der liebenswerten Verschrobenheit der Bergdörfler aufhob. Aber was dort nicht nur ungleich bildkräftiger und farbiger daherkam, sondern auch durch die Kinderperspektive des Erzählers literarisch motiviert erschien, gleitet in «Ustrinkata», wo der Autor Erwachsene in erster Person sprechen lässt, trotz aller literaturinstitutsmässigen Geschliffenheit der Textoberfläche allzu oft ab ins harmlose, um nicht zu sagen verharmlosende Abschildern einer heilen Heimatwelt. �


Buch des Monats: International

Naturromantisches Nägelknabbern Christian Kracht: Imperium. Köln: Kiepenheuer & Witsch, 2012.

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Michael Wiederstein ist Kulturredaktor beim «Schweizer Monat».

as Appenzeller Hundessen wird in der Schweiz an Ostern seit vielen hundert Jahren gefeiert», sagt Christian Kracht. Er hat gerade eine Lesung vor deutschen Studenten gehalten. Man hört ihm gespannt zu. «Die Häuser im Appenzell stehen rund um einen Dorfplatz, jede Familie besitzt einen Hund. Jedes Jahr wird einer geschlachtet und bei einem gemeinsamen Fest verzehrt – das geht reihum. So ist stets Zeit, neue aufzuziehen.» Kracht zelebriert das Unglaubliche, Widerspruch regt sich nicht. Wie so oft: man begegnet dem vermeintlichen «Popautor» hilf- und ratlos, denn seine Poetisierungen kombinieren das Reale und das Absurde, mit undurchsichtigen Ausschlägen in beide Richtungen. Diesem Muster bleibt er auch in «Imperium» treu. Erzählt wird die Geschichte des Nürnbergers August Engelhardt, der 1902 in Herbertshöhe, Deutsch-Neuguinea, eintrifft. Engelhardt ist Kokovore, er glaubt an die Göttlichkeit der Kokosnuss, an ihre heilende und lebenspendende Kraft. Der Aussteiger kauft eine Insel, dort zieht er eine Kokosplantage hoch, beschäftigt Ureinwohner, ohne sie zu bezahlen, und produziert allerhand Kokosprodukte, für die nirgends auf der Welt eine Nachfrage besteht. Dennoch: innerhalb kürzester Zeit findet er Bewunderer in industrialisierungsmüden Zirkeln und propagiert mit beachtlichem Erfolg seinen «Sonnenorden». Der besteht zunächst nur aus ihm selbst, was sich aber schon bald ändert und für Ärger in der Kolonie sorgt… Klingt nach einer weiteren Krachtschen Überblendung, ist aber tatsächlich eine weitgehend historisch verbürgte Biographie aus der Blütezeit der Lebensreformbewegung. In Künstler- und Vegetarierkolonien und in einschlägigen Sanatorien sucht der Mitteleuropäer seit 1900 mit Sonnenlichtkuren die Rückkehr zum «natürlich-menschlichen» Miteinander in einer zunehmend industrialisierten, entfremdeten Gesellschaft. Nicht wenige verlassen – wie Engelhardt – hierfür sogar den Kontinent. Mit von der Partie: viele deutsche Schriftsteller.

Christian Kracht setzt nun der Bewegung und ihren literarischen Verwertern ein schräges Denkmal. Im trügerischen Parlando eines Hermann Hesse oder Thomas Mann schildert sein Erzähler einen möglichen Engelhardt, der sich und seinem Geschäftsmodell auf Weltreise stets liebevoll selbst im Weg steht. Er begegnet Hesse – wenige Jahre bevor dieser mit «Doktor Knölges Ende» seine lebensreformerischen Erfahrungen mit vernichtendem Groll niederschreiben wird. Mann, der 1924 den «Zauberberg» verfassen wird, zeigt Engelhardt gar ob seiner Nackedei an. Und während all das geschieht, so lässt uns der bonmotbegeisterte Erzähler wissen, revolutionieren Einstein und Freud die Wissenschaften. Alles unbemerkt oder ignoriert von Engelhardt, versteht sich, denn es «interessiert ihn nicht». Die Welt ist ihm «fremd geworden». Aus diesem Kontext zieht der Roman seinen Reiz: Während Europa in zwei Weltkriegen versinkt, knabbert Utopist Engelhardt an seinen Zehennägeln, um der Unterernährung beizukommen. Er entwickelt Sympathien für den «deutschen Geist» und später für dessen Herrschaftsanspruch im Pazifik. Den Körper befallen von der Krätze, doch trotzdem weiter seinen ideologischen Eitelkeiten frönend, lenkt er seine KokoKommune in den schillernden Untergang. Damit steht er exemplarisch für jene rückwärtsgewandten Verweigerer, die in den 1930ern den sich kulturmessianisch gebärdenden Nationalsozialismus einer als dekadent und entartet verschrienen Fortschrittsgesellschaft vorziehen. Von Hesses «Knölge» aus dem Jahr 1910, der von seinem Ideal, einem Affen, erdrosselt wird, über Alex Garland, der 1996 in «The Beach» seine jugendlichen Aussteiger in Thailand aufeinanderhetzt, bis zum Engelhardt-Re-Modeling: die sezessionistische Utopie macht immer neue, einander aber strukturell ähnelnde Untergänge durch. Die sonnige Gegenweltutopie wird aber auch Christian Krachts gelungene Vernichtungsorgie ebenso sicher überleben wie die Appenzeller Hunde das diesjährige Osterfest. � 15


von

Jaroslav Rudiš, Jaromír 99

VERLAG

Voland & Quist GRaphic noVel alois nebel 360 seiten 32,50 sFR GENRE

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eRhältlich im buch- & comicFachhandel odeR unteR www.kaktus.net


Kurzkritik

Literarische Kurzkritik #35 Charmant-perverses Betthupferl Christoph Braendle: Das Wiener Dekameron. Wien: Metroverlag, 2011.

und enthält uns die Entjungferung eines schüchternen Jünglings auf dem Riesenrad im Wurstlprater nicht vor. Zum Figurenkabinett gehören Franz Schubert, die Wilde Wanda und der Frauenwürger und Knastpoet Jack Unterweger ebenso wie der Hochstapler und Mörder Udo Proksch (Fall Lucona) oder der schwergewichtige Kolumnist und Masochist Hermes Phettberg, der bei Braendle als «fetter Fenz» auftritt. Christoph Braendle hat die Wiener Monster stilvoll porträtiert. Kein spektakuläres, aber ein vergnügliches Buch voller charmant-perverser Betthupferl für Liebeslüsterne, die sich von Foucault partout den Spass nicht verderben lassen mögen. vorgestellt von Michael Pfister, Philosoph und Literaturwissenschafter, Mexiko-Stadt

Ü

ber Sex zu reden, gilt zu Beginn unseres Jahrtausends ja bereits wieder als reaktionär, schliesslich wissen wir dank Michel Foucault, dass der Diskurs über die körperliche Lust von der Beichte über die erotische Literatur bis zur Psychoanalyse nur scheinbar der sexuellen Befreiung dient. Dieses Verdikt trifft zweifellos einen Grossteil unserer schlüpfrigen Bestseller – von Catherine Millet bis Charlotte Roche. Wahre Avantgarde ist heute Arrièregarde. Der in Wien lebende Schweizer Schriftsteller Christoph Braendle legt – wie 1928 schon Oskar Maria Graf mit dem «Bayrischen Dekameron» – ein Remake von Boccaccios berühmtem «Decamerone» (verfasst um 1350) vor. Bei Boccaccio flüchten sich sieben junge Damen und drei Jünglinge vor der Pest in ein Landhaus bei Florenz, um sich während zehn Tagen je zehn ketzerische oder frivole Geschichten zu erzählen. Auch bei Braendle liegt die Gesellschaft darnieder, aber die tödliche Seuche heisst Habgier und Neid. Es ist auch keine «Jeunesse dorée», die sich erzählend vom Elend ablenkt, es sind reifere Herrschaften in einem Altersheim auf dem Rosenhügel zu Wien. Nichtsdestoweniger haben es die «schönen, wilden, schlimmen Geschichten» (leider etwas weniger als 100) in sich. Es sind bald ganz alltägliche, bald höchst wunderwürdige Episoden, die auf anrührende, amüsante oder erregende Weise davon Zeugnis ablegen, dass sich Männlein wie Weiblein noch so besonnen in das schmucke Kleid wohlanständiger Bürgerlichkeit hüllen mögen – darunter brodeln doch die Triebe. Vom ehrbaren Advokaten bis zur gestrengen Ärztin – alle wecken sie die «Monster», die «zweifellos immer in ihrer Fantasie gewohnt, aber tief geschlafen» haben. Wahlwiener Braendle schwelgt im Lokalkolorit, führt uns durch legendäre Lustpfuhle wie das Cabaret Renz, das Hotel Orient, Otto Mühls Kommune oder die vom Schweizer Künstler Christoph Büchel in einen Swinger-Club verwandelte Secession

Manifest Christian Saehrendt: Die radikale Absenz des Ronny Läpplinger. Zürich: Walde & Graf, 2011.

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unstsammler aller Länder, vereinigt euch! Wir, die wir Kunstwerte noch zu schätzen wissen, müssen unsere heiligen Hallen verteidigen gegen den allerorts eindringenden Pöbel. Statt weiterhin artig die Postkartenständer der Museumsshops zu drehen, einen Caffè Latte im Bistro zu trinken und ansonsten die ungewaschenen Finger von unseren Geldanlagen zu lassen, wird dieses Lumpenproletariat immer dreister, mischt sich in unsere Geschäfte ein und ruiniert die Exklusivität des Marktes. Diese Schmuddelkinder, die Neo Rauch für Nikotinpflaster halten, zu einer Vernissage kommen, um Damenunterwäsche zu sehen, und bei einer Installation an WC-Siphons denken, werden von Christian Saehrendt aufgehetzt, der erneut ein Pamphlet der Kunstproletarier von seinem Heim am Thuner See in die Welt hinausschickt. Hohn und Spott sind wir gewohnt, aber eine solche Polemik geht zu weit. Hier wird mit Klischeebildern und simplem Sprachgestus unsere geliebte hochpreisige Kunst in den Schmutz gezogen, hier werden Werte vernichtet, hier schrumpft unser teuer 17


Kurzkritik

erschlichenes Vermögen! Läpplingers Selbstporträts wären vor kurzem noch ein gewinnträchtiger Geheimtip gewesen, nun wird dieser rechtschaffene Künstler vor aller Welt als sexgeiler, rudimentär talentierter Hinterhausterrorist verunglimpft. Ebenso ramponiert wird die in Millionärskreisen so hoffnungsvoll erwartete Sammlung «Mythos Mortadella» im Fleischerei-Museum Böblingen, die nun zur Freakshow für Fiat-Fahrer und Bustouristen verkommt. Saehrendt zerstört mit gehässigem Sarkasmus und bedient so einen schlichten Publikumsgeschmack, dem der Sinn nach maximaler Verwüstung steht. Sehen wir den Tatsachen ins Auge: wenn unser ehrbares Geschäft und unser Rohstoff – die Kunst – weiterhin derart schamlos verleumdet werden, wenn Hinz und Kunz glauben, ihren Sermon dazu abgeben zu dürfen, liebe Brüder, Schwestern und Anteilseigner, verliert unser Geschäft das Fundament, dann können wir unser Gemälde auch ungerahmt auf einem Flohmarkt verhökern. Wehrt euch! Jetzt erst recht. Wir lassen uns von einem hastig getippten und teilweise albernen Pamphlet nicht beirren. Kauft Läpplinger! Kauft Mortadella!

Partner» in dieser Situation grammatikalisch doppelt falsch ist. Und wenn sie kommt, diese Erkenntnis, dann folgt auf die Verwirrung doch schnell ein Gefühl, endlich auf dem richtigen Weg zu sein, näher an der Realität, näher am Leben – selbst wenn sich, nein gerade weil sich Fragen ergeben: Ist das typisch weibliches Verhalten? Gibt es das überhaupt und woher kommt es? Roten geht diesen Fragen nach, oft ohne sie allgemeingültig oder gar abschliessend zu beantworten. Sie beschreibt selbstkritisch, witzig und klug lebensnahe Alltagssituationen, liefert interessante und fundierte Untersuchungsergebnisse und erfrischende Vorschläge für moderne Lebensziele. Doch hin und wieder verfällt sie selbst in die Klischees, die sie eigentlich zu entlarven bemüht ist – was Frauen wollen, was Männer wollen, ist niemals einheitlich. Wer sich aus der Verwirrung herausarbeiten möchte, sollte doch noch einmal etwas weiter zurückgehen: z.B. Simone de Beauvoir lesen und Alice Schwarzer eine Chance geben. Dann den Müttern verzeihen und allen FreundInnen, denen der Feminismus immer noch suspekt ist, das Buch von Roten schenken.

vorgestellt von Michael Harde, Lehrer, Schalkenbach

vorgestellt von Katharina Knorr, Literaturwissenschafterin, Siegen

Mach keine Diäten! Mit Akzent und Hab Orgasmen! Geh wählen! Schweizer Pass

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Michèle Roten: Wie Frau sein.

Jean-Luc Benoziglio: Das Losungswort.

Basel: Echtzeit, 2011.

Biel: Verlag die Brotsuppe, 2011.

ichèle Roten hat ein Buch über Feminismus geschrieben, zusammengestellt aus Kolumnen und Artikeln der letzten Jahre, eingebettet in einige Ergänzungen. Es ist das «Protokoll einer Verwirrung», in dem sie dem Lebensgefühl der um die 30jährigen Ausdruck verleihen will, besonders der Frauen, für die Gleichberechtigung immer etwas Selbstverständliches war, bis sie merkten, «dass die Welt noch nicht so weit ist wie sie». Diese Erkenntnis kommt tatsächlich vielen jungen Frauen irgendwann, nicht nur denen, die mit Puppen gespielt haben und trotzdem Astronautin werden wollten, sondern auch denen, die schon als Säugling zu Frauendemos getragen wurden und denen es viele Jahre fast unerträglich peinlich war, wenn ihre Mütter z.B. die Sportleiterin bei der Damenwassergymnastik darauf hinwiesen, dass der Satz «Jeder sucht sich einen

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e feu au lac» heisst Jean-Luc Benoziglios jüngst ins Deutsche übersetzter Roman, für den er 1998 den Prix littéraire LIPP erhielt. «Das Losungswort», so der deutsche Titel, konfrontiert mit Versatzstücken aus Benoziglios eigener kultureller Mehrstimmigkeit. Sie dient als Folie für das Erzählen der Biographie eines äusserst unbequemen «Typen»: Getaufter Christ mit jüdischen Wurzeln, geboren in der welschen Schweiz, ein halber Franzose mit türkischem Einschlag, zieht er, B., in jungen Jahren zu seinen jüdischen Verwandten nach Paris, um am Konservatorium Unterricht zu nehmen. Es ist das Jahr 1939. Die Mobilmachung hat gerade erst begonnen, da will auch schon ein französischer «Judenfänger» zwecks Deportation wissen, ob er Jude sei. «Was würde ich antworten, während einmal, zweimal, dreimal der Hahn krähen würde?» Noch bevor er


Micieli reist antworten kann, rettet ihn sein Schweizer Pass. Hingegen verraten ihn sein Akzent und seine Spracheigenheiten lebenslänglich, bieten sie doch eine willkommene Angriffsfläche, um sich über diesen Gelegenheitsflötisten und seine griesgrämig helvetische Art zu mokieren. B. wird zum Aussenseiter, zieht sich auf eine Insel zurück, ertränkt seine Schuldgefühle gegenüber seiner Familie, die er nicht retten konnte, im Pastis und muss letzten Endes doch an seinen Mitmenschen und seinem eigenen labilen Charakter scheitern – oder scheitern die Betroffenen an ihm? Bewusst hält uns der Erzähler in einem Schwebezustand. Auf der Suche nach der Biographie eines Antihelden berichten nicht weniger als 14 Figuren inklusive Erzähler über ihre durchwegs skurrilen Begegnungen mit dem «komischen Typen». In Tat und Wahrheit enthüllen die Befragten aber viel mehr ihre Verdrängungstaktik: mit abschweifendem Erzählstil winden sie sich um Tabuthemen. Allein schon des Herrn B. komisch klingenden Namen auszusprechen, will ihnen partout nicht gelingen. Die Sprache der verschiedenen Protagonisten bleibt dabei stets dieselbe und der Leser fragt sich allenthalben, wer denn nun tatsächlich «sagen würde», wer B. ist. Am Ende sieht er sich mit der tristen, vom Holocaust geprägten Collage eines unbequemen Zeitgenossen konfrontiert, die zu entschlüsseln ihm nicht gänzlich gelingen kann. Benoziglio beschert uns sperrige Lektüre, deren Brüche er mit trockenem Sarkasmus und persiflierenden Wortspielereien überbrückt. Wer dem Sprachvirtuosen aufmerksam folgt, wird einer changierenden Biographie begegnen und sich dabei selber als ihr Konstrukteur entlarven. vorgestellt von Sabina Galbiati, Journalistin, Zürich

Frankfurt–Amsterdam: 3 Stunden, 56 Minuten Während der ICE von Frankfurt nach Amsterdam durch die Landschaft stürzt, lasse ich mich, Daniel de Roulets «Sturz ins Blaue» lesend, in eine wilde Lebensgeschichte fallen. Rettungsschirme gibt es keine. Die Schreibgeschwindigkeit entspricht der Fallgeschwindigkeit des Protagonisten Georges von Pokk, der durch Tschaka, eine Tschetschenin auf der Flucht, aus seinem organisierten Leben fällt. Buchstäblich fällt. «Die eigene Geschichte mitnehmen, es zumindest versuchen. Nichts vergessen, selbst wenn das Leben voller unfreiwilliger Ausrutscher ist.» Ich erinnere mich, dass ich als Kind von einem Baum sprang, um das Fliegen zu ahnen. Verletzungen überall. Der Zug beschleunigt, ein Vibrieren ist zu spüren. Die Kinder freuen sich auf Amsterdam. Ich befinde mich auf einer Terrasse eines Hochhauses, halte den Text aber kurz an, um zwischen den Schallschutzmauern ein wenig Landschaft zu erkennen. Ein deutscher Fahrgast erklärt einem jungen nepalesischen Ingenieur, wo sich die Geschwindigkeit ablesen lässt: 309 km/h. Die Kinder, wie gebannt: «309!» Der deutsche Fahrgast und auch der nepalesische Ingenieur bestellen ein grosses Bier. Wir packen unsere Olivenbrötchen aus. Ich möchte den Nepalesen fragen, ob er auch Experte für nukleare Sicherheit sei – wie von Pokk. «Das war also mein Leben? Ein Sturz ins Blaue?»

Mit Pfeil und Bogen an die Limmat

Im Buch entdecke ich beim Kapitel Containment (Sicherheitsbehälter) eine blaue Karte der Verkehrsdienste von Amsterdam. «Gebruiken voor» steht drauf. Das Datum ist nicht zu erkennen. Matteo möchte die Karte in sein Reisetagebuch kleben. «72 uur / 3 dagen»,

Michael Theurillat: Rütlischwur.

ich schenke sie ihm. Und bin erstaunt über die Leich-

Berlin: Ullstein, 2011.

tigkeit des Buches von de Roulet, obwohl der Text mit tödlicher Zielstrebigkeit auf seinen Aufprall zusteuert. Beschleunigung und Atemlosigkeit: «keinen Teil der Geschichte versäumen». Die blaue Karte fällt zu Boden und landet auf der Seite mit dem Foto der blau-weissen Bahn vor den schrägstehenden Häusern Amsterdams. Mir gefällt der französische Originaltitel besser:

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ieser «Rütlischwur» hat eigentlich alles: ein aktuelles Thema, einen historischen Aufhänger aus der Zeit der Verteidigung der freien Eidgenossenschaft gegen die Nazideutschen, Platz eins der Schweizer Bestsellerliste… kurz: eine perfekte Ausgangslage. Der dritte Eschenbach ist aber kein eigentlicher

«L’homme qui tombe». �

Francesco Micieli

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18. – 20. Mai 2012

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Solothurner Literatur tage

Journées Littéraires de Soleure Giornate Letterarie di Soletta Sentupada Litterara a Soloturn tur.ch a r e t i l . w w w

Gestaltung Nora Fluri und Alice Kolb


Kurzkritik

Krimi, wie angekündigt, sondern vor allem ein Abenteuerbuch mit viel Kameradschaft, ordentlichen Portionen Alkohol, wilden Jagden, feinen Kloppereien, jungenhafter Heimlichtuerei, fiesen Widersachern und spiessigen Spielverderbern, vor allem aber mit einem Mädchen, das springt und rempelt und grölt und bestimmt auch leidlich Fussball spielt. Zur Hilfe eilt ihr die verschworene Gemeinschaft um «Robin Hood» Eschenbach, seinen Intimus Claudio «Will Scarlett» Jagmetti, die gute Seele Rosa Mazzoleni, den alten Grübler Ewald Lenz sowie natürlich «Bruder Tuck», der hier zwar John heisst, dennoch aber ein dicker, herzensguter Mönch ist. Diese Rächer der Enterbten, die Beschützer der Witwen und Waisen – der Vergleich trifft haargenau – retten die schöne «Lady» Judith vor ihren Verfolgern… obwohl sie, wie oben bereits vorweggenommen, den Kampf wahrscheinlich auch allein gewonnen hätte. Also bewahren Eschenbach und seine «Merry Men» nebenher noch eine strauchelnde Privatbank vor Abzockern und Erbschleichern, zeigen dem schnöseligen Max Hösli, einer Art modernem Sheriff von Nottingham, pardon: von Zürich, wie man den Stützen der Gesellschaft unbekümmert auf die Füsse tritt und die Nase in wirklich alle Angelegenheiten steckt, die über Jahrzehnte höchstgeheim und penibel in Tresoren verwahrt waren. Nein, liebe Krimifreunde, das ist nicht zu viel verraten: Theurillat hat seinen bislang besten Roman geschrieben. «Rütlischwur» ist ein rasant-schönes, leicht pathetisches, aber nie kitschiges Abenteuerbuch über Freundschaft, Mut und Standhaftigkeit. vorgestellt von Michael Harde, Lehrer, Schalkenbach

Die nette Überfremdung im Kleiderschrank Monica Cantieni: Grünschnabel. Frankfurt am Main: Schöffling, 2011.

fragen, was man gemeinhin fraglos als Normalität hinnimmt, so birgt sie andererseits die Gefahr, komplexe Sachverhalte auf blumige Sentimentalitäten zu reduzieren. Monica Cantieni gelingt es in ihrem Erstlingsroman «Grünschnabel», den Kinderblick zu nutzen und die Simplifizierungsfalle zu umgehen, indem sie eine überzeugende inhaltlichformale Kongruenz schafft: Ihre kindliche Ich-Erzählerin thematisiert die eigene Sprache. Der Leser begleitet das namenlose Mädchen auf seinem Weg vom Waisenhaus in eine schrullige Adoptivfamilie und beobachtet, wie ihm die Sprache als Schlüssel zu seiner neuen Welt dient: Der Grünschnabel beginnt, Wörter zu sammeln und in Streichholzschachteln abzulegen, um sein neues Dasein fassbar zu ordnen. Diesen Prozess des Welterwerbs gestaltet die Autorin zwar mit pointierter Komik, gleichzeitig aber legt der naive, aufs Konkrete gerichtete Sprachgebrauch des Kindes den Finger auch auf Ungeheuerlichkeiten, von denen sich der routinierte Sprachbenutzer durch abstrakte Begriffe zu distanzieren gewöhnt hat – Beispiel «Überfremdung». Das Einleben in der Fremde ist nämlich nicht nur Grünschnabels Thema, sondern zentrales Motiv ihrer neuen Umgebung: Von Saisonniers bewohnt, verleiht das Haus, in das die Waise in den 1970er Jahren zieht, der Geschichte einen veritablen Migrationshintergrund. Hier trägt die Diskussion um Schwarzenbachsche Prozente ein menschliches Antlitz. Man hat Arbeitskräfte gerufen und es kommen Eli, der Spanier, der «untertaucht» und tropfnass in Grünschnabels Traum erscheint, und Toni, der Italiener, der seine Tochter im Kleiderschrank versteckt, wo Grünschnabel sie als «nette Überfremdung» findet und mit Wörtern versorgt. «Fremdsein» scheint in der Schweiz zwar buchpreisverdächtig, einzigartig ist «Grünschnabel» aber weder inhaltlich (man denke an Abonji) noch stilistisch (man lese Ćosić), und natürlich ist dem Leser zu jeder Zeit klar, dass der lakonische Witz des Buches keinem Kindermund, sondern der Feder einer ausgewachsenen Sprachvirtuosin entsprang. Nichtsdestotrotz führt die kluge Komposition zu einem Text, der mit feiner Melancholie den Alltag poetisiert und den Blick für Reichtum und Macht der Sprache schärft. vorgestellt von Claudia Mäder, Germanistin und Historikerin, Zürich

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ass Kindermünder Wahrheiten verkünden, weiss der Volksmund schon seit geraumer Zeit. Die Literatur jedoch scheint diese Weisheit gerade neu zu entdecken – und bringt reihenweise Werke hervor, in denen Kinder mit grossen Augen auf die Welt der Erwachsenen blicken und mit offenen Mündern von den Absonderlichkeiten berichten, die sie darin entdecken. Bietet die Kinderperspektive einerseits den Vorzug, all das zu hinter21


Kurzkritik

Mehr Schaum als Brandung Katharina Geiser: Diese Gezeiten. Salzburg / Wien: Jung & Jung, 2011.

Geschehnissen sowie zu den beiden Hauptfiguren zu gering und deren Schilderung oft seltsam monoton geraten ist. vorgestellt von Klaus Hübner, Germanist und Redaktor, München

Marcel, Ferdinand und zwei Giovannis in den Bergen Lucius Keller: Proust im Engadin. Hamburg: Hoffmann & Campe, 2011.

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atharina Geiser ist gewiss keine unbekannte Schweizer Literatin. Richtig bekannt jedoch ist sie auch nicht. Ihr umfangreicher neuer Roman wird daran vermutlich wenig ändern. Mit dem literarischen Tidenhub dieser «Gezeiten» stimmt etwas nicht. Schauplatz ist die britische Kanalinsel Jersey zwischen 1940 und 1945. Die Deutsche Wehrmacht besetzt das idyllische Eiland und installiert peu à peu ihr Schreckensregiment. London brennt. Die Angst zieht ein in die Steinhütten der Fischer und Bauern, und sie kriecht bis La Rocquaise, dem Haus direkt am Meer. Es wird ungemütlich für Lucy Schwob und Suzanne Malherbe, die nicht mehr ganz jungen Stiefschwestern, die zugleich auch ein Paar sind. Von den Pariser Surrealistenzirkeln haben sich die Künstlerinnen gelöst, sie haben Geld und wollen ihr Leben in Ruhe führen, dem Schönen hingegeben, im Einklang mit der grandiosen Natur, mit den Jahreszeiten und den Gezeiten des Atlantiks. Mit der Ankunft der Deutschen ändert sich alles. Ihr leiser, listiger und, wie die beiden von Anfang an wissen, auch lebensgefährlicher Widerstand gegen die Besatzer bestimmt immer mehr ihr Leben: Flugblätter werden verfertigt und verteilt, bedrängten Nachbarn wird diskret geholfen. Doch: Das Haus wird requiriert, Kriegsgefangene aus dem Osten müssen obskure Bauten errichten, die Versorgungslage wird langsam dramatisch. Und eines Tages werden die Stiefschwestern verraten und ins Gefängnis geworfen, und selbst wenn es dort neben gnadenlosen Nazis auch Wärter gibt, die ihnen gewogen sind, werden sie letztlich zum Tode verurteilt. Eine faszinierende Geschichte eigentlich. Doch detaillierteste Geschichtskenntnisse und handwerklich meist untadelige Prosakunst reichen hier nicht aus, um den zunehmend ermüdeten Leser bei Laune zu halten. Warum? Weil der Roman beseelt, ja besessen davon, allen Opfern der Naziherrschaft wenigstens nachträglich Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, nichts auslassen kann. Weil die Umsetzung der hehren und ehrenwerten, mit einem Motto von W.G. Sebald beglaubigten Erzählintention präzise und poetisch zugleich sein will, aber über weite Strecken nur bemüht wirkt. Und weil die Distanz zu den bedrückenden und bisweilen lebensvernichtenden 22

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as vorliegende Büchlein von Lucius Keller lädt mit überschaubaren, teils illustrierten 119 Seiten zum Lesen und Sehen ein. Thema und Archimedischer Punkt für eine (Neu-) Betrachtung nicht nur der «Recherche», sondern auch der literaturtheoretischen Schriften Marcel Prousts ist ein kryptischer Eintrag in das Gästebuch einer Berghütte am Berninapass im Jahr 1893: «Marcel Proust – A.G. – Dem Vogel, der heut sang.» Zunächst werden jedoch die biographischen Zeugnisse für Prousts Aufenthalt auf dem Hintergrund der damaligen touristischen und gesellschaftlichen Bedeutung des Engadins versammelt. Für Leser, die nicht im Kosmos Prousts zu Hause sind, bedeutet der Anfang des Bändleins eine kleine Geduldsprobe, da sehr viele Namen und Zusammenhänge der 1880er Jahre erst mit der Zeit in ihrem Sinn erkannt und gleichsam wie ein Pfad bergauf mit Anstrengung abgelaufen werden müssen. Das Wort «Krankejungfernspaziergänge», wie der 21jährige Marcel seine Gänge in den Bergen selbst nannte, scheint treffend. Doch der Leseumweg ist keine «vertane Zeit». Zitierte Prosastücke und Informationen über Prousts Hauptthemen in diesem Jahr – Klänge und Farben, Landschaftsbilder und die Versuche, «malerische Gattungen in das Medium der Sprache zu übersetzen», bringen den geduldigen Leser auf den gleichen Gipfel des Verstehens, auf dem enthusiasmierte Proustjünger ohnehin schon immer leben. Dabei erkennen wir nicht nur die biographische Bedeutung der Buchstabenkürzel und des Wagner-Zitates im Gästebuch. Prousts grosse Themen: die Veränderung von Gefühlen, der Wechsel zwischen fetischartiger Verehrung und Gleichgültigkeit, Persönlichkeitsänderung durch Nervosität ohne Relevanz für Moral und manches mehr scheinen hier schon auf. Dank des Bildteiles wird deutlich, wie der neben Joyce grösste Autor der Jahrhundertwende um 1900


in seinen Engadiner Landschaftsbeschreibungen eine Sehweise zum Ausdruck brachte, wie sie von Malern der anbrechenden Schweizer Moderne (Giovanni Segantini, Giovanni Giacometti und Ferdinand Hodler werden genannt und abgebildet) später in Farbe und Stil auf Leinwand festgehalten wurden. Ein kluges Büchlein also, das Lust auf mehr Proust macht.

dass sich mit einem solchen Erzählduktus das intendierte junge Publikum («ab 13 Jahren») fesseln lässt – und als Erwachsener hätte man gerade von diesem kulturhistorisch so vielseitig kundigen Autor vielleicht doch lieber eine aufs eigentlich Historische konzentrierte Darstellung gelesen. vorgestellt von Virgilio Masciadri, Philologe und Herausgeber, Zürich

vorgestellt von Sabine Kulenkampff, Germanistin, Erlangen

Rund um den St. Gotthard Pirmin Meier: Sankt Gotthard und der Schmied von Göschenen. Zürich: SJW, 2011.

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ass der Gotthardpass im Hochmittelalter gangbar gemacht wurde, gilt gemeinhin als Markstein auf dem Weg zur Gründung der Eidgenossenschaft; so fehlt es von jeher nicht an mythologisierenden Überhöhungen dieses Durchbruchs. Eine der erfolgreichsten stammt dabei von dem Langenthaler Pfarrer Robert Schedler, der 1920 in seinem Roman «Der Schmied von Göschenen» versuchte, dem Erbauer des waghalsigsten Strassenstücks durch die Schöllenen ein Gesicht zu geben. Diesen Stoff erzählt jetzt der Schriftsteller und Historiker Pirmin Meier für Jugendliche (aber nicht nur für sie) neu, wobei er Schedlers romantisierende Geschichte auf ihr Handlungsgerüst reduziert und sie als roten Faden nutzt, um in bunten Exkursen ein Bild von der Welt um den Gotthard im Mittelalter zu entwerfen. Damit erfährt man allerlei über die Grafen von Rapperswil, die heilige Elisabeth von Thüringen, den Abt von Disentis, Walser und Rätoromanen, über alte Fusswege um den Pass, über Berggeister und Teufelsglauben. Allenthalben fühlbar ist, wie Meier sich bemüht, den Trivialmythen des 19. Jahrhunderts ein Bild entgegenzustellen, das dem heutigen Stand der Mittelalterforschung besser entspricht. Anderseits bricht er doch nicht radikal mit allen zweifelhaften Praktiken der älteren Geschichtsschreibung, etwa wenn er von der Volkskunde des vorletzten Jahrhunderts gesammeltes folkloristisches Material zur Rekonstruktion «mittelalterlicher» Mentalitäten einsetzt. Aus Lesersicht heikler scheint indessen, wie spannungslos Meiers Erzählung daherkommt und wie sehr seine Figuren Pappkameraden und Stichwortgeber bleiben, damit der kommentierende Historiker seine antiquarischen Voten anhängen kann. Man darf bezweifeln, 23


DIE

AUTORENZEITSCHRIFT

F Ü R

P OLITI K ,

WIRTSCHAFT

UND

K ULTUR

Die Lesezeitschriften

im Doppelpack.

«

Anregende Essays fernab des Mainstreams und ein erfrischender Panoramablick auf Neuerscheinungen der Schweizer Literatur. Neue Ideen. Das ist der ‹Schweizer Monat›. Ich freue mich auf jede Ausgabe.»

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Kurze Sätze über Grate

Glitzernder, eiskalter Beton

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Markus Rottmann lebt und schreibt in Zürich.

ie glitzernde Pracht, dieser Pulverschnee, der beinahe duftet, der weite unverspurte Hang – er liegt auf mir als eiskalter Beton. Kann meine Lungen kaum heben. Wo ist oben? Mir ist schlecht. Jetzt nicht kotzen. In einer Lawine zu sterben wird schrecklich. Noch schlimmer, wenn man in seinen letzten Minuten denkt: ich sterbe als Idiot. Jedes Jahr wird in den Alpen in die immer gleichen Fallen gewedelt. Das komplexe Zusammenspiel von Wind, Temperatur, Schneebeschaffenheit, Hanglage und Exposition ist ein unnötig raffinierter Mörder. Am meisten gestorben wird in den Standardsituationen. Wer sie meidet, reduziert sein Risiko auf die Gefährlichkeit des Strassenverkehrs. Oh sonnige Verlockung, bei Rot in die vielspurige Kreuzung zu fahren! Keine Schmerzen: Schock oder Glück. Das war kein Rutschen, der Hang ist auf mich herabgestürzt. Gott sei Dank bin ich nicht geknebelt. Schnee bis in den Rachen, und es bleiben einem ein paar Minuten. Bringe meine Mütze nicht über die Augen. Kann nicht einmal einen Finger bewegen. NICHT EINMAL EINEN FINGER! Nicht husten. Vor mir im Dunkelblau ein Loch. Bis es von meinem Atem vereist ist, kriege ich Luft. Ich muss pissen. In den 50er Jahren die Trendwende. Die Ursachen spontaner Lawinenabgänge auf Siedlungen und Verkehrswege waren weitgehend bekannt. Die Opferzahlen rückläufig dank Lawinenverbauungen, Aufforstung und rechtzeitiger Evakuierungen. Auf tödlicher Überholspur hingegen: die Berggänger auf Skiern. Noch heute lösen 95 Prozent aller Opfer ihr Schneebrett selbst aus. Die Zeit ist stehengeblieben. Die andern? Eine Frau, die sich in die Hosen gemacht hatte, wurde vom Lawinenhund als erste gefunden. Die Rettung braucht eine Dreiviertelstunde nur schon, bis sie hier ist. Blut im Mund. Gegen die Unberechenbarkeit der Berge lehnte sich die Wissenschaft mit aller Macht auf. Schneeprofile wurden erstellt, Rutschkeile gesägt, Kristalle akribisch untersucht. Nur um wieder und wieder verschüttet zu werden. In den 90er Jahren dann der entscheidende Paradigmenwechsel: Werner Munter ersetzt analytische Lawinenkunde durch Risikomanagement. Paul hatte einen Airbag an. Vielleicht liegt er an der Oberfläche – aber mit verdrehten Gliedern und

vom Felsen gebrochenem Rücken. Vielleicht sucht er schon. Ich höre – nur mich selber. Seine 3x3-Methode gaukle falsche Sicherheit vor, Berechenbarkeit gebe es nicht, riefen jene, die genau dies jahrelang versucht hatten. Die Reduktionsmethode bricht das hochkomplexe Schneegefüge auf wenige Entscheidungen herunter. Selbst Unerfahrenen ermöglicht sie, in der Planung und im Gelände ihr Risiko einzuschätzen. Der Geniestreich Munters: sein Lebenswerk passt auf einen Bierdeckel. Der Ketzer gilt heute als Papst. Im Mittelalter haben sie Menschen lebendig begraben. Ich. Will. So. Nicht. Sterben. Das bisschen Sauerstoff. Am besten wäre es zu schlafen. So geht Erfrieren. Man schläft ein und wacht nicht wieder auf. Mir ist kalt. Aber auf eine andere Art. Die Schweizer Lawinenforschung ist weltweit führend. Und unermüdlich. Obwohl heute rund sechsmal so viele Menschen in den Winteralpen unterwegs sind, hat sich hierzulande die Zahl der Lawinenopfer lediglich verdoppelt. Im Durchschnitt etwa 25 Personen pro Jahr. So viele sterben in den Bergen jährlich auch an Herzversagen. Schritte. Sie laufen über meinen Kopf. Sollen sie mir doch mit der Sonde ein Auge ausstechen. Ich muss hier raus. Schnell! Wer letzteres vorzieht, der lese «Lawinenkunde», das soeben erschienene Instant-Standardwerk, das die neuesten Forschungsergebnisse verdichtet und die weiter entwickelten Reduktionsmethoden leicht verständlich aufbereitet. Die Zusammenfassung des aktuellen Wissens. Ein Buch für Profis. Ein Muss für Einsteiger. Kompakte Theorie, Praxiswissen zu Gefahren, Risiken und Strategien im Schneehang. Ein Kompendium des Überlebens. Langsam atmen. Gegen die Panik atmen. Eine halbe Stunde später sind über die Hälfte der Verschütteten tot. Eine intakte Chance auf Rettung besteht nur während der ersten 15 Minuten. Genauso lange dauert es, das erste Kapitel «Basics» zu lesen. Schon dieses Wissen genügte, um den klassischen Lawinenfallen zu entgehen. Und damit 80 Prozent aller Unfallursachen. � Stephan Harvey, Hansueli Rhyner, Jürg Schweizer: Lawinenkunde. München: Bruckmann, 2012.

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Über Berge und Gräben

Rehabilitation von Claudia Quadri, aus dem Italienischen übersetzt von Barbara Sauser

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Claudia Quadri ist Schriftstellerin und lebt mit ihrer Familie in Lugano. Neben ihrer Familienarbeit ist sie als Redaktorin für das Schweizer Fernsehen im Tessin tätig. Von ihr zuletzt erschienen: «Lacrima» (edition 8).

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er Immobilienagent war, sechs Monate nach dem Unfall, der erste, mit dem ich etwas hatte. Einige Zeit nach der Vertragsunterzeichnung tauchte er mit siegesgewisser Miene bei mir auf. Vielleicht hatte er sich vorgestellt, dass ich ihn auffordern würde, sich zu setzen, dass er etwas zu trinken bekäme, dass wir ein bisschen über die Wohnung plaudern würden. Aber sie war fast leer. Ich wohnte seit zwei Wochen darin und hatte nur ein Bett, Handtücher, einen Staubsauger gekauft. Alle meine Sachen sind in der alten Wohnung geblieben. Die Verwaltung hat sie bestimmt weggeworfen. Wenn ich etwas brauche, kaufe ich es. Der Immobilienagent trug den Regenmantel über dem Arm. Er sah aus wie ein Privatdetektiv. Oder wie ein Gentleman. Er sagte: «Sehen Sie, wie viele Dinge in den Wandschränken Platz finden?» Vielleicht dachte er, dass all das, was er nicht sah – Sofa, Ausziehtisch, eine ganze Batterie von Kochtöpfen –, in den Schränken steckte. Lächelnd ging er im leeren Wohnzimmer umher, wie damals, als er mich das erste Mal begleitet hatte. Das macht er wohl aus Gewohnheit, unvermietete Häuser sind ihm ja vertraut. Er legte den Regenmantel in der Küche auf die Arbeitsfläche und trat zu mir an den kalten Kamin. Fing an, an den Kleidern zu nesteln, ein bisschen oben, ein bisschen unten zu fingern. Irgendwann sagte er: «Ich dachte, dass du voller Narben bist.» Ich habe tatsächlich ziemlich viele Narben, was er damit wohl meinte? Vielleicht hatte er erwartet, dass eine davon über den ganzen Rumpf läuft, vom Schamhügel bis zur Halsschlagader. Eine Art Reissverschluss, wie bei den Schlafanzügen in der Kindheit. Bevor er ging, sagte er: «Ich habe etwas für dich», und stöberte in den Taschen seines Regenmantels.

Er überreichte mir einen Schlüssel für die Waschküche. Es gibt da einen jungen Arzt. Er ist mit einer Frau liiert und lässt mich nicht in seine Wohnung. Obwohl sie nicht zusammen wohnen. «Ich würde mich wirklich wie ein Schwein fühlen», sagt der junge Arzt. Er kommt herunter, wir gehen in sein Auto, normalerweise fahren wir nicht einmal aus der Garage. Nach zwei Minuten geht die Neonlampe automatisch aus. Einmal kam eine Familie. Doch die Garage ist riesig, die Kinder rannten herum und lärmten, die Erwachsenen riefen nach ihnen. Uns bemerkten sie nicht. Kinder mit Namen wie Noah, Paul, Sebastian. Alte Namen. Oder vielleicht Kevin und Chanel. «Jetzt ist aber Schluss, sonst…»: Sagen Eltern eigentlich immer alle dasselbe? «Wenn ein Auto kommt, überfährt es dich!» «Wenn du nicht aufhörst, gibt es heute keinen Trickfilm!» Aber was weiss ich schon davon? Hätte ich Kinder, würde ich bestimmt auch dasselbe sagen. Ein andermal habe ich mich im Dunkeln an den Skis des jungen Arztes geschnitten. Er hatte sie im Auto gelassen. Ob ich Starrkrampf nachgeimpft hätte? Er ist Arzt. Zur Sicherheit nahm er das Desinfektionsmittel aus der Autoapotheke und sprühte es auf die Wunde. Ein Kratzer. «Nach all dem, was ihr mir im Spital gegeben habt», sagte ich. Er sagt, dass unsere Treffen ihn jedesmal in eine Krise stürzten. Als Mann und als Arzt. «Ich habe eine Freundin», sagt er immer wieder. Er macht sich Vorwürfe.


Jedesmal kündigt er an, dass wir reden müssten. Aber nach zwei Minuten geht das Licht in der Garage aus. Vielleicht verschwinden die Narben mit der Zeit. Unter der Dusche ertaste ich die Stellen, wo ein Stück Glas oder Metall eingedrungen ist. Einer der Splitter ist dringeblieben. «Wie gross ist er?», hatte ich die Ärzte gefragt. «Wie schwer?» Keine Ahnung, warum mir das wichtig schien. Die Waage würde mir ein Gramm anzeigen, das nicht meins ist. Aber auch in den Beinen habe ich Stücke, die nicht mir gehören. Neue Stücke, ohne die ich nicht laufen könnte. Ich machte, was sie mir auftrugen. Übungen, in der Turnhalle, im Schwimmbad, im Bett. Ich mag Gymnastik. Du zählst bis acht, bis zehn. Und wiederholst. Die Ärzte und Physiotherapeuten waren voller Bewunderung, wie schnell ich aufholte. Sie machten mir Komplimente für meine Rehabilitation. Rehabilitiert sein hat viele Bedeutungen. Nach einer Krankheit wieder in Form sein. Oder, wie bei mir, nach einem Unfall. Aber es geht auch um den Ruf. Also um das Bild, das man von dir hat. Man muss einen Verdacht, eine Schuld von sich weisen, man muss wieder jemand sein, der «in Ordnung» ist. Man muss Busse tun. Das dauert schon länger. Rehabilitiert sein bedeutet auch, dass man wieder Dinge machen darf. Auch leben. Ich wusste nicht, dass man sich auf so viele Arten rehabilitieren muss.

Er schwitzt, aber nur ein wenig. Es scheint ihn nicht anzustrengen. Eine ganze Weile geht das nun schon so, er atmet regelmässig. Vielleicht ein Sportler. Vielleicht findet man sein Gesicht auf einem Sammelalbum-Sticker. «Möchtest du wechseln?», fragt er. Ich habe nicht erwartet, dass er etwas sagt, und erschrecke. «Was wechseln?», frage ich. «Den Platz.» «Nein, nein, nicht nötig», sage ich, «schon gut so.» Er ist nett, denkt an mich. «Perfektion ist etwas Einfaches, wie ein gut gemachter Saum», sagt meine Mutter. Darüber könnte man sich lange unterhalten. «Ich kann nicht nähen», antworte ich. Ich betrachte ihre schönen blondgefärbten Haarsträhnchen, möchte lieber, dass sie aufsteht, statt vor mir zu knien und meinen Rocksaum zu heften. Sie behandelt mich wieder wie ein Kind, schenkt mir Kaschmirstrumpfhosen und wünscht mir per SMS eine gute Nacht. Mit dem Saum als Entschuldigung kniet sie sich vor mich hin und fleht mich an, glücklich zu sein. Mit Marco war es einfach. Wie wenn in einem Zimmer jedes Möbelstück seine Wand hat. Wie wenn jeder Baum seine Landschaft hat. Manchmal hält man das Einfache für banal. Nimmt es als selbstverständlich hin. «Fahr du», hatte er an dem Abend gesagt. Und bei der Autobahneinfahrt: «Pass auf, der Lastwagen.» Glas, Blech, Fleisch. �

Ich öffne die Augen, der Mann hat sie zu. Er ist nicht hässlich. Weder schön noch hässlich. Man sieht fast nichts von unten. 27


Essay

Besuch in Berzona Am Friedhof rechts und dann die Treppe runter? Wer Max Frischs Geheimnisse lüften will, muss nicht mehr ins Tessin fahren. Eine kurze Nachlese zum Frisch-Jahr 2011. von Rafael Ferber

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Rafael Ferber ist Professor für Philosophie an der Universität Luzern. Zuletzt von ihm erschienen: «Platon: Apologie des Sokrates» (C. H. Beck).

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nmittelbar vor dem Ortseingang Berzonas befindet sich jener Friedhof, an dessen Mauer eine steinerne Gedenktafel für Max Frisch angebracht ist. Dies ist ein keineswegs selbstverständliches Zeichen der Wertschätzung einer Tessiner Gemeinde für einen deutschsprachigen Schriftsteller, Tafeln für Alfred Andersch und Golo Mann, die ebenfalls in Berzona lebten, gibt es nicht. Wer es wagt, die Treppen rechts von der Tafel zum heute verlassen wirkenden Grundstück Frischs hinunterzusteigen, wird dort die legendäre Bocciabahn finden und sich vielleicht an das abgründige Bocciaspiel erinnern, das er im «Tagebuch 1966–1971» beschrieben hat. Mich erinnert sie vor allem an verpasste Begegnungen mit dem Autor. 1975 kommt Jürg Federspiel die Treppe herauf; er ermuntert mich, Frisch einen Besuch abzustatten. Ich gehe nicht hinunter, in der Vermutung, womöglich ungelegen zu erscheinen. Eine andere Begegnung fand dann aber tatsächlich statt: in Ascona nämlich, wo ich Max Frisch auf die Monte-Verità-Ausstellung von Harald Szeemann aufmerksam machte. Ein andermal begegnete ich ihm wiederum zusammen mit Jürg Federspiel im Zürcher «Restaurant zum Kropf». Der Suchende schaute zu ihm auf wie zu einer Leitfigur, deren Leben sich nicht in vorgebahnten Spuren der Konvention verlief, stimmte ihm in vielem zu, insbesondere in seiner Artikulation eines «schweizerischen Existentialismus», wonach es sich selbst zu wählen gelte. Den ersten Teil von Frischs bewegtem Leben hat Julian Schütt1 im vergangenen Jahr und in einer bisher nie dagewesenen Ausführlichkeit festgehalten. Die Biographie zeichnet Frischs Jugend und die Jahre der Förderung durch ein Zürcher Bürgertum nach, von dem er sich aber in den Jahren seiner wirtschaftlichen Unabhängigkeit zunehmend zu distanzieren begann. Eine weitere Frisch-Biographie von Andreas B. Kilcher, die nicht nur die Jahre des Aufstiegs, sondern das ganze Leben des Autors porträ-

tiert2, erschien ebenfalls 2011. Sie ist dem Genre der Basisbiographie entsprechend nicht so ausführlich, enthält aber eine ganze Reihe von interessanten zusätzlichen Materialien und Photographien. Insbesondere aber wird Frischs Privatleben in einer Art und Weise offengelegt, die dem Autor wohl schwerlich gefallen dürfte. So stellt Frisch seiner Erzählung «Montauk» ein Zitat Montaignes voran: «Meine Fehler wird man hier finden, so wie sie sind, und mein unbefangenes Wesen, soweit es nur die öffentliche Schicklichkeit erlaubt...» (Hervorhebung R.F.). Mit Kilchers Buch – aber auch mit anderen Publikationen – kann nun vieles dechiffriert werden, was wohl den Rahmen der «öffentlichen Schicklichkeit» sprengt. Man erfährt z.B., wer der Geliebte von Max Frischs zweiter Frau Marianne Frisch-Oellers war, nämlich der amerikanische Schriftsteller Donald Barthelme. Aber wo wäre die dividing line zu ziehen, zwischen dem, was wert ist, veröffentlicht zu werden, und dem, was es nicht ist? Evident nach diesem Frisch-Jahr ist, dass es sich heute wissenschaftlich und verlegerisch zu lohnen scheint, alles, was von einem Autor einmal schriftlich niedergelegt wurde, in irgendeiner Form zu veröffentlichen. Der Ratschlag des «alten Vorarbeiters» in «Montauk», der in Frischs weltentrücktem Berzona-Studio einen Kamin installieren wollte, ist wohl beherzigenswerter denn je: «Un scrittore, meint er, müsse viel Papier verbrennen.» Max Frisch, so viel wissen wir nicht erst seit 2011, stimmte ihm zu. � Julian Schütt: Max Frisch: Biographie eines Aufstiegs.

1

Berlin: Suhrkamp, 2011. Andreas B. Kilcher: Max Frisch. Leben, Werk, Wirkung.

2

Berlin: Suhrkamp, 2011.


Max Frischs Haus in Berzona, photographiert von Michael Wiederstein.

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Impressum / Aussicht

Impressum «Literarischer Monat», Nr. 05 Ausgabe März 2012 Sonderbeilage des «Schweizer Monats» VERLAG SMH Verlag AG HERAUSGEBER & CHEFREDAKTOR René Scheu rene.scheu@schweizermonat.ch

Freie Sicht auf neue Bücher. Das ist der «Literarische Monat»! Erscheinungstermine 2012

05 06 07 08 09

1. März

1. Mai

1. Juli

1. Oktober

1. Dezember

RESSORT KULTUR Michael Wiederstein michael.wiederstein@schweizermonat.ch Stage Sabina Galbiati KORREKTORAT Roger Gaston Sutter Der «Literarische Monat» folgt den Vorschlägen zur Rechtschreibung der Schweizer Orthographischen Konferenz (SOK), www.sok.ch. Titelbild Nora Gomringer, photographiert von Anny Maurer GESTALTUNG & PRODUKTION Sabine Ruepp, www.aformat.ch MARKETING & VERKAUF Urs Arnold urs.arnold@schweizermonat.ch ADMINISTRATION/LESERSERVICE Anneliese Klingler (Leitung) anneliese.klingler@schweizermonat.ch Rita Winiger rita.winiger@schweizermonat.ch ADRESSE «Schweizer Monat» SMH Verlag AG Vogelsangstrasse 52 8006 Zürich +41 (0)44 361 26 06 www.schweizermonat.ch ANZEIGEN anzeigen@schweizermonat.ch DRUCK pmc Print Media Corporation, Oetwil am See www.pmcoetwil.ch BESTELLUNGEN www.schweizermonat.ch Unterstützung UBS Kulturstiftung Oertli-Stiftung

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Politik im Gespräch Freiheit, Recht und Reichtum sind eine direkte Folge staatlicher Souveränität. Im Umkehrschluss bedeutet das: Je weniger Souveränität, desto weniger Reichtum, Recht und Freiheit. Dennoch wird heute in internationalen Gremien viel über Souveränitätsverzicht als Mittel zur Mehrung von Frieden und Wohlstand diskutiert. Johannes B. Kunz geht in seinem Buch diesem Widerspruch auf den Grund und erläutert den Zusammenhang zwischen Souveränität und Freiheit bzw. Demokratie. Die staatliche Souveränität sieht er durch die Machtpolitik, die internationalen Organisationen, den heutigen humanitären Interventionismus und die Europäische Union gefährdet. Er setzt die Souveränität in Bezug zur Globalisierung und zeigt Wege auf, wie sie gewahrt werden kann. 400 Seiten, 5 Grafiken.

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Diskussionen gesorgt. Es diagnostizierte der schweizerischen Politik u. a. Isolationismus, Sloganisierung und Verdrossenheit beim Wahl- und Stimmvolk. In Intellektuellenvoten fällt das Schlagwort «helvetisches Malaise» seither regelmässig, obwohl zu vermuten ist, dass nicht alle den wegweisenden Text noch präsent haben. Jetzt kann Abhilfe geschaffen werden. Georg Kreis hat Imbodens Text mit Kommentaren und Hinweisen zur Wirkungsgeschichte neu herausgegeben. 164 Seiten, 7 s/w Abbildungen.

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