Literarischer Monat, 9, Dezember 2012/Januar 2013

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ISSN 2235-0535

monat

Ausgabe 09 Dezember 2012 / Januar 2013 CHF 9.90 / Euro 6,90

literarischer

sonderBeilage «schweizer monat» | freie sicht auf neue bÜcher

Christian Uetz und die «Unsichtbaren» Mit wem der Literaturplatz Schweiz künftig rechnen muss. Von David Signer, Reto Sorg, Bettina Spoerri u.a.

In Hamburg gelesen, in Zürich verschlafen Eine exklusive Ganovität des Tessiner Schriftstellers Andrea Fazioli

Zusammenprall in den Alpen Thor Kunkel trifft Donna Leon


Schweiz und EWR – jetzt doch noch? Neu

Der EWR wurde Anfang der 1990er-Jahre für die EFTA-Staaten als Alternative zum Beitritt zur EU eingerichtet. Er sollte ihnen die Teilnahme am Binnenmarkt ermöglichen. Das Schweizer Volk lehnte den Vertrag am 6. Dezember 1992 knapp ab. Durch bilaterale Abkommen hat sich die Schweiz einen weitgehenden Zugang zum Binnenmarkt gesichert. Doch die institutionellen Mängel dieser Konstruktion sind offensichtlich. Nach 20 Jahren diskutieren Jan Atteslander, Carl Baudenbacher, Georges Baur, Henrik Bull, Irina Domurath, Astrid Epiney, Dieter Freiburghaus, Heinz Hauser, Georg Kreis, Maria Elvira Mendes und Philippe G. Nell in zehn Beiträgen die Fragen: Wie weiter mit der Europapolitik? Wäre der EWR doch noch eine Lösung? Sonderangebot für Leserinnen und Leser des «Literarischen Monats» Fr. 18.–* statt Fr. 24.– * (zzgl. Versandspesen von Fr. 8.–, Angebot nur in der Schweiz gültig)

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D. Freiburghaus, G. Kreis (Hrsg.) Der EWR – verpasste oder noch bestehende Chance? Fr. 18.– statt Fr. 24.– (zuzüglich Versandkosten) ISBN 978-3-03823-810-2

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Literarischer Dezember / Januar

Editorial

Liebe Leser

Michael Wiederstein Kulturredaktor

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Das Literaturjahr 2012 war für die Schweiz auf den ersten Blick kein besonders gutes. Und wenn ich das hier so nonchalant schreibe, meine ich nicht den demokratisch gespülten Buchpreisbindungsvorstoss im Februar, sondern die erzählerische Qualität der helvetisch-belletristischen Neuerscheinungen dieses Jahres. Die Menge an aussergewöhnlichen, an uns Lesern lange nagenden oder uns einfach nur blendend unterhaltenden Erzählungen aus der Schweiz ist 2012 leider überschaubar geblieben. Einige Ausnahmen, etwa Ursula Frickers Ausser sich, Christian Krachts Imperium, Joël Dickers La vérité sur l’affaire Harry Quebert oder auch die endlich erschienene Übersetzung von Olivier Silligs Skoda, bestätigen bloss die Regel. Die Vergabe des Schweizer Buchpreises an Peter von Matt und sein analytisch wie stilistisch hervorragendes, aber eben nicht belletristisches Kalb vor der Gotthardpost (S. 27) ist vor diesem Hintergrund keine Überraschung, sondern nur folgerichtig. Unter dem Radar der grossen deutschsprachigen Feuilletons, und ebenso leider unter dem Radar vieler Buchhandlungsbesucher, existiert aber in der Schweiz eine beachtliche literarische Biodiversität, die – wenn auch vielleicht noch nicht immer perfekt lektoriert oder vermarktet – Grund zu Optimismus bietet. Ein Beispiel? Christian Uetz (S. 7)! Uetz, der fleissigste Philopoet des Landes, ist – obschon kein echter Geheimtip mehr – ein Paradebeispiel für einen dieser «Unsichtbaren» der Schweizer Literatur: Für ihn zählt Qualität statt Quantität, er beackert mit Herzblut seine Nische, findet seine Leser – und muss doch stets seine Rezensionen erbibbern und dann erst noch was hinzuverdienen. Er ist nicht der einzige. Für die vorliegende Ausgabe des «Literarischen Monats» baten wir einige gut vernetzte Akteure des Literaturbetriebs, ihre Geheimtips mit Ihnen, liebe Leser, zu teilen. Wir fragten: Mit wem ist zu rechnen? Und siehe da: Herausgekommen ist ein subjektives Destillat eines mehrheitlich (noch, immer noch – oder wieder) unbekannten literarischen Zukunftspotentials der Schweiz (ab S. 6). Mal mit Augenzwinkern, mal angemessen ernst, mal erotisch, mal vergeistigt, mal alles zusammen. Lassen Sie sich überraschen!

5 Die «Unsichtbaren» 6 Andrea Fazioli: Kleinstadt 16 Thor Kunkel trifft Donna Leon 20 Literarische Kurzkritik 24 Kurze Sätze über Grate: Karakorum Highway to Hell 29 Gomringer: Wahrscheinlich geht alles weiter

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Monnerat: Die Erfindung der Kleinfamilie

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Kolumne: Literarisches Periskop

Wahrscheinlich geht alles weiter von Nora Gomringer

N

Nora Gomringer ist Lyrikerin und Slam-Poetin. Sie leitet das internationale Künstlerhaus «Villa Concordia» in Bamberg.

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ach den Posaunen kommen die Reiter. Sie brechen die Siegel und los geht’s. Die Schritte sind apokalyptisch festgelegt, der Abgrund tut sich auf. Im späten Oktober, gerade richtig zu Allerheiligen und um dem legendären Headless Horseman von Washington Irving nur ja wieder Wind unter die Hufe beim Beuteritt durch Allzu-Sleepy-Hollow zu geben, hat Sandy sich über die «intelligente» Seite der USA hergemacht. Die Hollywood-Seite konnte diesmal nur staunen und sich gleich ein paar Filmrechte sichern. «Frankenstorm Sandy», zusammengebraut im Kessel der Hexen Macbeths und derer von Eastwick, gerührt aus Tropenwärme und Atlantikkälte, aus Winterwille und Sommerabschiedsschmerz, flutete, brauste, entwurzelte und, ja, beendete. Viel Lärm um nichts, glauben die Maya, nach denen sich eine Verlängerung sämtlicher Abonnements, die Einschulung der Kinder, jedwedes Leben abseits eines Carpe Diem samt Noctem gar nicht mehr lohnen würde, ja schon gar nicht der Kauf eines neuen Kalenders und gar die Übertragung bereits gefasster Termine. Wie kurzsichtig, wie lebenssüchtig. Schliesslich beendet sich am 21.12.2012 die Jahresrechnung der «Langen Zählung» der Maya. Mit dem Ende dieses Kalenders soll unsere Welt enden. Oder vielleicht nur die der Maya? Die mexikanische Welt? So mancher konservative Amerikaner wird wohl sagen, dass das kein grosser Verlust wäre, wenn nur Cancun als Ferienort erhalten bliebe und das Naturphänomen Salma Hayek. Liest man den Maya auf die Spur, dann gibt es tröstliches Wischiwaschi für den forschenden Leser. Ja, die Welt geht unter – aber es ist die Welt, wie wir sie kennen (wie bekannt da das gleichlautende englische Trinklied ans Ohr scheppert…), aber das heisst nicht, dass es nicht weitergeht, auf höherer Bewusstseinsebene die Sanduhr noch mal umgedreht, die Eieruhr mit neuem Schwung aufgezogen wird. Es geht weiter, Freunde, sagen die Spezialisten! Nur unter welchen Vorzeichen? Obaromney, neue iPhone, ein entblättertes Griechenland, eine bisslose Olive genannt Spanien, beständig neue Atomkraftwerke in Japan, der verfilmte Hobbit, der neue, verrissene Richard-Ford-Roman «Kanada». Die Maya sollen zyklisch gedacht haben. Also sehe ich zum wiederholten Male Emmerichs «2012» und male mir aus, wie sich mein Leben am 22.12. erledigt haben wird. Aber noch wichtiger ist die Vision vom 20.12. Wie ich da noch mal alle Sorten Häagen-Dazs-Eis einkaufe, eine grosse Pizza esse, meinen Freund ausgiebig küsse, mich bedauere, weil ich bis dato so viel nicht gesehen, nicht gelesen und nicht verstanden habe, und meinen Eltern feierlich sage, dass ich gerne ihr Kind war. Liebe Leserinnen, liebe Leser! Bleiben Sie am Leben, behalten Sie Ihre Abonnements, schicken Sie die Kinder zur Schule und zeigen Sie damit auch 2013: Bejahung, Hoffnung und Nächstenliebe. Ohne diese drei wäre es sowieso an der Zeit – für alle Kalender und Glaubenssysteme –, uns die rote Karte zu zeigen. In diesem Sinne: Alles Gute und viel Mut für das grosse, unbekannte und – nach Kästner – unabänderlich lebensgefährliche neue Jahr! �


Kolumne: trucs, machins, choses

Die Erfindung der Kleinfamilie von Roger Monnerat

A

Roger Monnerat ist Schriftsteller und ­Liedermacher. Er lebt in Basel. Von ihm zuletzt erschienen: «Am Ende der Rhein. Vom Verschwinden der Realien im Hafen von Rotterdam». Zürich: édition sacré, 2012.

ls Jurassien habe ich einen Dichter und einen Sänger. Der Dichter des Juras ist Jean Cuttat (1916–1992). Er gründet 1942 in Porrentruy den Verlag Portes de France und publiziert die Texte der Verfemten und die Stimmen der Résistance. In einem seiner Gedichte, dem «Chanson de l’homme», heisst es dem Sinn nach: «Sieh, ich bin der Mensch auf seinem Gleis – losgeschickt mit seiner Gattung ohne Ziel – ich höre den Tod, der mich verfolgt – ich lebe, und Leben ist meine Arbeit – Brüder, welche Brücken, welche Brücken auswerfen – über unsere Abgrundwüsten – sehr weit weg die ewigen Throne – sehr weit weg der Schnee und das Licht – hier nur die immer grausamen Winde, die aufwirbeln unseren Staub.» «Ich lebe und Leben ist meine Arbeit», Worte, die mir die Tränen in die Augen treiben. Jean Cuttat gehörte zur Generation meines Vaters, mein Leben hingegen ist und war nie Arbeit – es war von Anfang an nichts als Zeitvertreib. Der Sänger Vincent Vallat – Jahrgang 1964 und aus Saignelégier – besingt den grossen Himmel über den Freibergen und dass die Leute dort noch immer mit den Augen von Matrosen auf das längst untergegangene Meer hinausblicken. Er singt von den Weiden, in denen die weissen Kalksteinbrocken aus der Ferne Segel sind und aus der Nähe Skelettreste und beides uns immer an die Abschiede und an die Tode erinnern wird. Von den Franche-Montagnes wird gesagt, die Leute hätten dort acht Monate Winter und während der restlichen vier müssten sie für die Steuern arbeiten. Das wird auch in La Chaux-de-Fonds behauptet, wahr ist es womöglich in La Brévine – und da an Weihnachten die Kleinfamilie erfunden wurde, wird auch dieses Jahr ein junges Paar mit seinem Kind in der Auberge «Le Loup Blanc» über die Festtage ein Zimmer nehmen, um eine weisse Weihnacht zu erleben. Nun, diese Kolumne wäre nicht diese Kolumne, hätte das junge Paar nicht ein paar trucs, machins, choses dabei, nämlich das Schneeraupenvelo von André Vachoux (Paris, 1983), das sie mit dem Kinderwagen mit Schneekufen von Matthias Boysen (1994, Lübeck) kombinieren wollen, sowie den Spike-Kinderwagen von Melissa Stewart aus dem schottischen Aberdeen (2005), den auszuprobieren sie bis dahin nicht Gelegenheit gehabt haben würden. �

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Die «Unsichtbaren» Das Literaturjahr 2012 geht zu Ende: die Preise sind vergeben, die Bilanzen gemacht, die Planungen für 2013 ebenso. Mit welchen Autoren ist aber – jenseits der sich selbst perpetuierenden Grossschriftsteller – in der Schweiz künftig zu rechnen? Wir glauben: mit Christian Uetz. Und mit einigen weithin Unsichtbaren. Sichtbar gemacht werden sie von Germanist Klaus Hübner, Verleger Urs Engeler, Ethnologe David Signer, RobertWalser-Experte Reto Sorg und Solothurner-Literaturtage-Geschäftsleiterin Bettina Spoerri. Sich selbst sichtbar machen in dieser Ausgabe die Schriftsteller Andrea Fazioli und Michael Fehr.

1 «Geist

ist geil!»

Michael Wiederstein und Lukas Meyer-Marsilius treffen Christian Uetz

2 Sehnsuchtsvertiefung David Signer über Florian Vetsch

3 Spuren

suchen, aufmerksam beobachten, im Hintergrund wirken Bettina Spoerri über Verena Stössinger

4 Kurz

vor der Erlösung

von Michael Fehr (mit einem Geleit von Urs Engeler)

5 Der

«Lebenskampf des Schriftstellers»

Reto Sorg über Franz Böni

6 Wacher

Geist und wilder Eros

Klaus Hübner über Christoph Braendle

7 Kleinstadt Kurzgeschichte von Andrea Fazioli

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Zwischen den Zeilen

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«Geist ist geil!»

Michael Wiederstein und Lukas Meyer-Marsilius treffen Christian Uetz

Den eigenen Erfolg, so der Schriftsteller, Philosoph, Performer und (noch) Kantonsschullehrer Christian Uetz, gelte es zu überwinden. Als Schreibender hält er es daher eher mit Geist und Schönheit. Wer sich vor allem um Erkenntnis bemühe, so Uetz, habe auch mit der Nacktheit weniger Probleme.

Herr Uetz, in medias res: wenn man Sie während Ihrer Lesungen beobachtet, schwitzend, gestikulierend, hochkonzentriert und mit direktem Draht zum Publikum, hat man nicht den Eindruck, als hätten Sie immer Schriftsteller werden wollen. Nein? Was denn? Kabarettist, vielleicht Musiker? Als Saxophonist könnten wir Sie uns sehr gut vorstellen. Tatsache? (lacht) Nun ja, mit 18 wollte ich tatsächlich Musiker werden. Ich habe lange Querflöte gespielt. Am Lehrerseminar hat mein Lehrer gesagt, ich müsse unbedingt Flötist werden, ich sei herausragend. Doch beim Vorkurs am Konservatorium Winterthur hat der Professor gesagt, ich sei zwar sehr engagiert, werde aber immer mittelmässig bleiben. Da habe ich mich entschieden, Philosophie zu studieren. Wieso das? Der entscheidende Schritt war, als ich mit 18 anfing, Nietzsches Also sprach Zarathustra zu lesen. Da bin ich nicht richtig reingekommen, und ich wollte das besser verstehen. Mit 20, nach dem Lehrerseminar, habe ich nochmals angefangen und zugleich auch Heideggers Sein und Zeit gelesen. Das war wie eine Bombe. Ich merkte, was für ein Wahnsinn es ist, dass wir überhaupt existieren. Allerdings habe ich an der Universität keinen Abschluss gemacht. Der Wunsch, von da an meine Erkenntnisse aufzuschreiben, ist aber geblieben. Erkennen durch Schreiben, Schreiben durch Erkennen! Nach der Lektüre des Zarathustra und von Sein und Zeit habe ich in einem halben Jahr einen Gedichtband geschrieben. Ich bot ihn vier Verlagen an und bekam vier Absagen. Danach habe ich sieben Jahre lang niemandem mehr etwas gezeigt. Christian Uetz ist Schriftsteller und wurde 1963 im Thurgau geboren. Aufgewachsen am Bodensee, zog er mit 20 nach Zürich, um Philosophie zu studieren. 1993 erschien sein erster Gedichtband Luren, dem weitere folgten, darunter Don San Juan und Das Sternbild versingt im Suhrkamp-Verlag. 2011 erschienen im Secession-Verlag sein Debütroman Nur Du, und nur Ich und im Echtzeit-Verlag mit Federer für alle ein Essay über Roger Federer. 2012 folgte der zweite Roman Sunderwarumbe (Secession).

Mittlerweile sind zwei Gedichtbände bei Suhrkamp und zwei Romane bei Secession erschienen, die von der Kritik sehr positiv aufgenommen wurden. Verstehen Ihre Leser Ihre – sagen wir – philosophisch imprägnierten Texte wirklich – oder brauchen Sie zum Genuss von «Sunderwarumbe», Ihrem neuen Roman, nicht vielleicht doch philosophische Lexika – oder doch zumindest Ihre weithin bekannte Lesungsperformance? Es ist immer noch so, dass meine Performances den Zugang zu meinen Texten stark fördern. Was nun aber den Sunderwarumbe im Speziellen angeht: Niemand hat mir bisher gesagt, er könne gar nichts damit anfangen. Ich glaube vielmehr, dass er eine Art Schlüsselbuch für meine früheren Werke ist. Wer es gelesen hat, findet viel leichter einen Zugang zu den früheren Werken, etwa zu Nur Du, und nur Ich. Ihre Philopoesie kommt streckenweise fast ohne klassische Handlung aus. Ist der Roman überhaupt die richtige Form für Ihre Ideen? Man wird sich definitorisch darauf einigen können, dass auch im modernen Roman stets eine Geschichte erzählt wird, was ja hier der Fall ist. Dass das Manuskript aber als «Roman» erschien, war zunächst gar nicht meine Idee. Ich habe es ein «Requiem» genannt, mein cleverer Verleger meinte aber, als «Roman» verkaufe es sich eben besser. (lacht) Auch dass «Schweizer Requiem» auf dem Cover steht, verdanke ich ihm. Ich wäre da nie draufgekommen, habe aber zugestanden, dass es ja letztlich schon sehr schweizerisch daherkommt, wenn ein Bauernbub versucht, der Welt ein philosophisches Licht aufzusetzen, und feststellt, dass das eine ständige Träumerei und Donquichotterie ist! Der Kniff Ihres ersten «Romans» bestand unter anderem darin, die eigentliche Geschichte aus der überbordenden Poesie herauszulesen... … und das ist nun bei Sunderwarumbe etwas weniger aufwendig, hier wird offensichtlicher ein Plot, eine Geschichte im klassischen Sinn erzählt. Eine Lebensgeschichte sogar, die einer Männerfreundschaft. Ich habe sie ja ganz bewusst so 7


Zwischen den Zeilen

komponiert: Das Bruchstückhafte der Tagebuchform erinnert an Notizen von Ludwig Hohl, aber die Erzählform, die die Handlung vorantreibt, bricht auch immer wieder gerade dort herein. Beide Seiten des Requiems sind ineinander verwoben. Das erzeugt Spannung durch krasse stilistische Brüche – inhaltlich sind aber die beiden Welten eng miteinander verwoben. Ein Freund hat mir gesagt, die drei, vier Seiten über Kant habe er überblättert. (lacht) Ich kann Ihnen verraten: Beim nächsten Roman, ich sitze gerade daran, erzähle ich fast nur noch, doziere kaum mehr. Er wird also der klassischen Definition etwas gerechter.

Deutsche, die sagen, sie könnten erkennen, dass meine Literatur in der Schweiz geschrieben werde – da brauche es immer Berge rundherum und so. Kurz, sie behaupten, Schweizer Texte seien eher erratische, monolithische Texte. Ich würde meine Texte aber nicht als in diesem Sinne spezifisch schweizerisch bezeichnen. Was aber vielleicht gegenwärtig einen Unterschied zwischen beiden Literaturen macht: in Deutschland gibt es derzeit einen stärkeren Druck, politisch zu schreiben, während wir in der Schweiz poetisch in der Gegend herumträumen – wahrscheinlich weil wir zu viel Geld haben.

Können Sie es sich denn als Schriftsteller erlauben, dass geschätzte 80 Prozent der Buchhandlungsbesucher schon den Titel des Werks nicht verstehen? Das regt die Neugier, finden Sie nicht?

Konkreter? Wir haben 200 Jahre lang keinen Krieg mehr gehabt, glauben, alles sei stabil und schon ganz gut so. Wir haben dabei stets, in guten wie in schlechten Zeiten, von den äusseren Umständen profitiert. Und zwar alle hier in diesem Land! Erst jetzt, als es politisch und wirtschaftlich an allen Ecken und Enden brennt, sehen wir ein, dass es eine Illusion ist, zu glauben, das Glück sei nicht nur voreilig. Das betrifft auch die Schriftsteller in diesem Land – sie haben Jahrzehnte von der Glückssituation der Schweiz profitiert. Auch Frisch und Co. hatten nach dem Zweiten Weltkrieg zum materiellen auch das ideelle Privileg, mit einer vermeintlich weissen Weste, also als glaubwürdige moralische Instanz, auftreten zu können! Sie waren die deutschsprachigen Sprachhörner der Moral, weil in Deutschland alle Hörner verstummt waren.

Nicht zwangsweise. Ich hoffe, dass er die Neugier der Leser weckt. Der Titel stammt ja auch nicht von mir, sondern von Meister Eckhart: «So wirt der sun in uns geborn: daz wir sin sunder warumbe.» Bedeutet in etwa: Jedes Warum fragt nach Gott, doch erst wenn sich alles Fragen vor lauter Fragen auflöst, leben wir zwecklos und frei wie Gott. Das ist so treffend für das Buch, dass ich mich entschloss, «Sunderwarumbe» als Titel zu wählen. Lassen Sie uns auch hier wieder Coach spielen: Ihre philosophische Vermittlungsarbeit, die schon im Titel angelegt ist, stünde dem philosophischen Seminar gut an. Warum dozieren Sie nicht? Wissen Sie, mit 20 war ich toll von Heidegger. Bei meinen Vorträgen ist es den Leuten kalt den Rücken runtergelaufen! Professor Lübbe, bei dem ich studierte, sagte, er sähe einen Nazi vor sich, mit dieser Entschlossenheit, wie ich da Heidegger referiere. Aber Heidegger hat bei allen Abgründen eine extreme Orientierung auf die Sprache, auf die Tatsache, dass wir uns nur von der Sprache her überhaupt verstehen. Und lange hat er mir Kraft gegeben. Ich wusste, warum ich so schreibe, ich hatte in Heidegger einen Lehrer. Später habe ich es nicht mehr ertragen, diese verdammte Heideggerei. Ich merkte, dass ich mit einem dauerhaften Engagement an der Universität etwas in mir nicht treu wäre, das sagt, ich muss immer schräg stehen. Es ist mir wichtig, immer gegenüber dem «Nur-Funktionieren» im Leben, in der Gesellschaft quer zu stehen, einen Widerstand zu haben und nicht von diesem Betrieb abhängig zu werden. Es wird nebenan, im Deutschen Seminar, stets gern über angebliche Unterschiede von Schweizer und deutscher Literatur diskutiert. Sie kommen aus dem grenznahen Thurgau: Wo liegen die Grenzen zwischen beiden Literaturen? Das Geographische, die Tatsache, dass man in einem bestimmten Land sich befindet, beeinflusst das Schreiben. Es gibt viele 8

Heute spielen die Schweizer diese Sonderrolle nicht mehr. Sie sind zu situiert, meinen Sie? Wir alle sind das. Sie auch? Aber ja doch. Der Beweis: ich unterrichte seit ein paar Monaten Englisch an einer Primarschule in Eglisau, um über die Runden zu kommen. Wollten Sie nicht eben noch Ihre Wachsamkeit vor die Sicherheit des Broterwerbs stellen? Sie widersprechen sich. Nein, denn mit dem Brotjob höre ich im Februar schon wieder auf. Einen Versuch war es wert, ich habe aber beschlossen: Es steht mir besser an unterzugehen, als mir die Existenz zu sichern. Ich bin alt genug, um das sagen zu dürfen. Ich weiss, dass ich völlig unabhängig vom Erfolg meinen Weg gehe. Mein Erfolg will ja gerade überwunden werden! Ich will nicht um des finanziellen oder irgendwie gearteten Erfolgs willen schreiben, sondern um des Erkennens. Oder: um einer mich manchmal übersteigenden Schönheit willen. Machen Sie es sich selbst aber so nicht unglaublich schwer? Gibt es in Ihrem Leben keinen Drang danach, fest im Sattel zu sitzen? Nein. Das alles kommt aus meiner Obsession für die Existenz.


Christian Uetz, photographiert von Michael Wiederstein.

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Zwischen den Zeilen

Aus mir heraus ist Poesie, Performance, Reflexion und Erzählen möglich. Wieso sollte ich diese Anlagen nicht ausleben? Weil es auszehrt und sich – Ihren Angaben zufolge – nicht im landläufigen Sinne «rechnet»? Nein. Es zehrt mich nicht aus, ich habe Passion für all diese Dinge. Ich ziehe immer neue Energie aus der Nichtexistenz Gottes.

Da haben Sie, pardon, ganz schön die literarischen Hosen heruntergelassen. Ach je, nein. Das mache ich ja seit zwanzig Jahren. Da kann ich nicht mehr nackter werden. Mittlerweile schützt mich die Nacktheit beinahe wieder.

Wir erinnern Sie: Georg fährt nach Konstanz ins Bordell, um sich selbst seine Sterblichkeit zu bestätigen. Das ist nun wieder ein ganz neues philosophisches Fass. Wollen Obwohl der Besuch im Bordell als solcher damals natürlich schon wir das auch noch aufmachen? peinlich war: In diesem Fall wird die Nacktheit wieder eine AnJa! Zu gerne! Das ist ja der Kern der Sache: Wir alle zwingen Gott mut, hoffe ich. Wenn man sich der Nacktheit dergestalt aussetzt, zur Präsenz, obwohl es ihn nicht gibt. ist sie nicht mehr peinlich, sondern durch Wenn wir mit Gott ringen, hat er keine die literarisierte Peinlichkeit wieder ehrChance, sich uns nicht zu zeigen. Das ist lich und anmutig. Ich hatte immer ein stolWer sich exzessiv um unsere Menschensache, eine Glaubenssazes Vertrauen darauf, dass meine Literatur che. Was uns Menschen von einem Pro- seinen Geist kümmert, derartige Blickwinkeländerungen zum gramm, einem Schema abhebt, ist gerade wird gleichzeitig umso Ausdruck bringen kann. Meine Literatur das Atmen dessen, was es nicht gibt. Wir soll öffnen, vielleicht erleichtern – indem obsessiver im Sexuellen. sind immer auf der Suche, wollen das Heider Leser erkennt, dass seine Probleme lige. Obwohl die Realität dieses Heilige gar und Peinlichkeiten durchaus nicht absurd nicht braucht. oder krank sind. Wenn das passiert, gesellt sich zu meiner Biographie die des Lesers. «Auf der Suche» sind auch die beiden Protagonisten Ihres neuen Und diese Kombination schafft dann eine Art Erwachen. Ein ErRomans. Sie machen keinen Hehl daraus, dass «Sunderwar- wachen dahingehend, dass jemand für sie ausgesprochen hat, umbe» stark biographisch gefärbt ist: Georg, das sind Sie, der was sie gern für sich behalten. Es ist vielleicht gerade meine Saphilosophiebegeisterte Schüler und der spät zündende Frauen- che, solche Dinge, die das Schamgefühl gern unterbindet, zum held – und gleichzeitig das Objekt der Begierde seines frustrier- Ausdruck zu bringen. ten, homosexuellen Lehrers und Onkels. Richtig. Mich hat diese gegenseitige Begeisterung zwischen Sie würzen diese heiklen Passagen gern mit der nötigen Prise Schüler und Mentor interessiert, die eigentlich, also tatsächlich, Humor. Manchmal möchte man ob Ihrer – teils fast albernen – eine sofortige Verliebtheit war. Der zwanzigjährige Georg, der Formulierungen mit der Zunge schnalzen. sich in den 65jährigen, so weisen und liebenswürdigen Verwand- Oh, danke sehr! Ich glaube, gerade weil ich als Flötist viele moderten sofort verliebt. Allerdings anders als jener in den Georg, so ne, zum Teil sehr abstrakte Werke gespielt habe, konnte ich ein dann seitens des Mentors auch die Homosexualität eine Rolle Gehör dafür entwickeln, dass auch Sprache nicht einfach Sprache spielt. Das, so viel sei verraten, weiss der Junge lange nicht. Die ist, sondern ganz andere Abgründe hat. Daher kamen vor allem in Art und Weise aber, wie sich in der Begegnung und im Gespräch meinen früheren Werken diese irrwitzigen Verfremdungen, was alles erotisch auflädt, ist für mich absolut zentral gewesen – ob- irgendwann zwanghaft wurde. Ich konnte nicht mehr normal zuwohl ich nicht homosexuell bin. Das Miteinanderdenken war für hören, sondern hörte immer andere Worte in den Worten anklinden Jungen, für mich, wie ein Blitzschlag. Ein Augenöffner! Das gen. Jeden normalen Satz fand ich unerträglich. Ich hatte das Gehat uns fundamental aus dem Vorsichhinleben herausgehoben. fühl, nur durch diese Einsprengsel hätten meine Texte noch eine ganz eigene Spannung, alles andere wäre banal. Konkreter? Was haben Georg und Christian von ihrem philosophierenden Onkel gelernt? Böse ausgedrückt: Sie kalauern gern? Georg wie Christian lernten: Eros und Erkennen gehören zusam- Ich kalauerte, ja. Vereinzelt gibt es das immer noch, aber ich bin men. Wer sich exzessiv um seinen Geist kümmert, wird gleich- schon… seriöser geworden, setze den Humor gezielter, dosierter zeitig umso obsessiver im Sexuellen. Und vielleicht auch obszö- ein. Damals, vor 15 Jahren, als ich so krass diese Mehrfachbedeuner und perverser. Einfach weil der Alltag, das Simple, das tungen und Verfremdungen ausprobierte, war das noch neu und Funktionieren nicht mehr entscheidend ist. Der sprachverliebte in der Werbung noch nicht so präsent wie heute, wo wir «HakleMensch, wenn ich das so sagen darf, switcht vielleicht leichter luja» und was weiss ich alles haben. Die Werbetexter haben mir ins Nackte. Oder noch kürzer: Geist ist geil! (lacht) das nachgemacht. (lacht) � 10


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Sehnsuchtsvertiefung

von David Signer

Von St. Gallen nach Tanger und zurück: Die lesenswerten Seiten des Schriftstellers Florian Vetsch.

W

David Signer Ethnologe, Schriftsteller und Journalist. Von ihm zuletzt erschienen: «Shooting im Exzess». In: Reportagen #7, November 2012. S. 64.

as für eine verrückte Nacht, dieser 20. Oktober 2006! Hadayatullah Hübsch, Ex-Mitglied der Kommune 1 und Imam der islamischen AhmadiyyaBewegung, las – nein: flüsterte und schrie – seine Gedichte, während er wie ein bärtiges Rumpelstilzchen in seinen Stiefeln herumsprang. Daneben sass Jürgen Ploog, cooler Beau und langjähriger Langstreckenpilot, der später am Abend entgrenzt-psychonautische Montagen vortrug. Das war die Syrano-Bar, die Florian Vetsch zusammen mit seiner marokkanischen Frau Bouchra in St. Gallen führte. Nur anderthalb Jahre lang, aber das maghrebinisch angehauchte Lokal, wo sich literarische Outlaws von gefühlten zehn Kontinenten die Klinke in die Hand gaben – auch der amerikanisch-marokkanisch-nepalesisch-holländische Ira Cohen war da –, wurde legendär. Das wilde Syrano lag im Linsebühl, dem ehemaligen Rotlichtviertel, gleich hinter der Kantonsschule, wo Vetsch seit 1985 Deutsch und Philosophie unterrichtet. Ja, der heute 52jährige promovierte Philosoph und Sohn eines Regierungsrats hat eine bürgerliche, solide Seite, aber auch eine zentrifugale, deliriöse, magische. Er ähnelte darin seinem Alter Ego Paul Bowles, den man selbst in der Wüste selten ohne Krawatte sah. Es war Mitte der Neunzigerjahre, als Vetsch begann, regelmässig nach Tanger zu reisen – und dort Bowles kennenlernte. Aus der Begegnung entstanden Vetschs erste Publikationen Antäisches Kraftfeld und Sporadische Korrespondenz. Der alte Bowles empfing seine Gäste im Bett liegend; manchmal, erschöpft von den labyrinthischen Erinnerungen, fiel er in einen verträumten Dämmerzustand. Und Vetsch, der Suchende, vertrieb sich derweil die Zeit im Salon, in einem faszinierenden, undurchdringlichen Dschungel aus Büchern, CDs, Briefen, Photographien und Zeitungsausschnitten. In Bowles’ engem Apartment eröffnete sich dem Ostschweizer eine abenteuerliche Welt der Nonkonformität.

Die Faszination dieses Tanger-Universums hat Vetsch einen Impuls gegeben, der bis heute anhält, über die von ihm herausgegebene Anthologie Tanger Telegramm bis zum entrückend-luftigen Text-Bild-Band Tanger Trance, realisiert mit der Photographin Amsel. Florian Vetsch hat ein schillerndes, wildes, in verschiedenste Welten ausgreifendes Werk vorgelegt, mit Übersetzungen von Cohen und Bowles, Gedichten zwischen Marokko, Zürich und New York, Artikeln, Anthologien und Prosaskizzen rund um Tanger und die Beat Generation. Einzig: wenige wissen davon. Vielleicht hat die langjährige Konzentration auf Tanger manche mit Marokko nicht so vertrauten Leser von der Auseinandersetzung mit seinem unübersichtlich-verstreuten Werk abgeschreckt. Zu Unrecht, denn schliesslich steht Tanger, in poetischer Durchdringung, für etwas, das weit über den geographischen Ort hinausweist. Als «pulsierendes Zentrum an der Peripherie, in dem mehrere kulturelle Identitäten spannungsreich koexistieren und sich weltweit mit vielen Ecken und Enden kurzschliessen», bezeichnet Vetsch im Tanger Telegramm die legendäre Hafenstadt, als «unendliche Projektionen freisetzender Ort der Mutation, Transmission und Konterbande, als geheimnisumwitterter Spiegel, der alle Durchreisenden überscharf hier, verschwommen dort zu reflektieren scheint und manch einen schon verschluckt hat; ein abgründiger Ort der Sehnsuchtsvertiefung, eine Furt zwischen Fiktion und Realität, ein Exil zwischen Ursprung und Zivilisation». Ob Vetschs Texte schon jemanden verschluckt haben, ist nicht bekannt. Alles andere hingegen, was er über Tanger schreibt, gilt auch für sein Werk selbst. �

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Essay

Spuren suchen, aufmerksam beobachten, im Hintergrund wirken 3

von Bettina Spoerri

Wie in jedem Gebiet gibt es auch in dem der Literatur Blender und eitle Selbstdarsteller, die meist wenig zu erzählen haben. Die Basler Autorin Verena Stössinger ist das genaue Gegenteil davon.

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Bettina Spoerri ist Autorin, promovierte Germanistin und seit Sommer 2012 Leiterin der Solothurner Literaturtage. www.seismograf.ch www.literatur.ch Eine ausführlichere Version des vorliegenden Texts finden Sie unter www.literarischermonat.ch

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er immer lautere und schnelllebigere Literaturmarktrummel verträgt sich nicht so gut mit ruhigeren Stimmen, wie Verena Stössinger eine ist. Mit grosser Beharrlichkeit verfolgt sie dennoch ihren Weg. Mich beeindruckt die ernsthafte Klarheit, mit der für sie stets die Sache, das Projekt, der Text im Zentrum steht. Die 1951 geborene Nordistin und Germanistin, die aus Luzern stammt und nach Wander- und Studienjahren u.a. in Berlin und im dänischen Aarhus heute in Basel wohnt, hat es nicht nötig, sich in Pose zu werfen. Gerade auch, weil sie weiss, wie sich der Literaturbetrieb entwickelt, lässt sie sich nicht allzu sehr von seinen Bewegungen beeinflussen. Sie hat als Autorin, aber auch als Vermittlerin, Kulturjournalistin, Dozentin und Lektorin viele kulturelle Projekte mitgeprägt und den Schweizer Literaturbetrieb aktiv mitgestaltet, so etwa in der Literaturgruppe Basel; sie war unter denjenigen, die das Literaturhaus Basel und die Buch­Basel ins Leben riefen, sowie Hauptinitiantin von «Lektorat Literatur». 1980 trat Verena Stössinger erstmals als Autorin mit einer Publikation an die Öffentlichkeit. Seither sind viele verschiedene Texte entstanden: Theaterstücke, Kolumnen, Erzählungen, Romane. Für ihr neustes Buch hat sie sich Zeit genommen. Es ist ein ganz besonderer Wurf geworden. Bäume fliehen nicht verdient viel grössere Aufmerksamkeit, als der Roman bis dato erhalten hat. Auffallend sind in Stössingers Werk der neugierige, intelligente Blick auf Übergänge und Entscheidungszeiten im Leben, aber auch das sprachliche Schürfen an Oberflächen und die Reflexion des Erzählvorganges – so auch in Bäume fliehen nicht. Dass das Buch beim Innerschweizer Verleger Martin Wallimann erscheinen durfte, diesem ebenso feinfühligen und unprätentiösen Förderer mit gutem Gespür und langem Atem,

ist ein Glücksfall. Die Zusammenarbeit der beiden – mit dabei war Angelika Overath als Lektorin – wird hoffentlich andauern und Stabilität in Stössingers Publikationstätigkeit als Schriftstellerin bringen, musste sie doch schon mehrmals den Verlag wechseln. Es ist ein Buch mit einer differenzierten Sprache, die der schwierigen Spurensuche eines Deutschen nachspürt, der als Kind zum Ende des Zweiten Weltkriegs aus dem damaligen Ostpreussen fliehen musste. Wie erinnern wir uns, was sparen wir aus, worauf gründen wir unsere Lebensgeschichte? Diese Fragen treiben den vielschichtigen Text, der verschiedene Zeitebenen verwebt, an. Gemeinsam mit seiner Frau begleiten wir Jürgen bei seinen Rekonstruktionsversuchen, dem Aufspüren der Häuser seiner Kindheit in einem Krieg, der ihn mit traumatisierenden Erfahrungen prägte. Mit Hilfe von Archivmaterial, Fotografien, kundigen Lokalhistorikern und alten Bekannten stückelt er weiterhin lückenhafte Erinnerungen zusammen. Der Text entfaltet eine genaue, schmerzhafte Reflexion darüber, wie wenig wir letztlich festhalten können. Das Gedächtnis ist brüchig und trügerisch. Die Reise bringt Jürgen am Ende in eine Kindheit zurück, die er so nicht kannte – die persönliche und die politische Geschichte geraten in Konflikt, die Frage nach Schuld und Unschuld verschiebt sich. In die Welt von Bäume fliehen nicht führt bereits das stimmungsvolle Cover ein, das Verena Stössingers Tochter, eine Grafikerin, gestaltet hat. Die Baum­reihe auf der Fotografie (Michael Kenna) zieht sich über den Buchrücken nach hinten; der Rest eines Waldes trotzt stolz und aufrecht, aber gezeichnet von Entbehrungen, der Unbill eines weiteren Winters. Hoffen wir, dass die kommende Zeit für Verena Stössinger im Gegensatz dazu viele Früchte trägt. �


Und nach mucksmäusleinstillem Anschleichen er täselte der Hauswand entlang er lief also eilig auf Zehenspitzen so gut als er es in den stabilen Stiefeln vermochte und fast ohne Reserve und sodann ein Stück der Stallwand entlang wo sich die Akustik ziemlich veränderte gegen das Hohle hin wodurch sie vernehmlicher wurde und warum er sich noch mehr bemühte leise zu machen und gänzlich aus der Reserve kam um das Haus herum lag Schnee um das heilige Haus lag Schnee in stiller Nacht das heisst ausserhalb des Streifens auf dem er sich redlich bemühte eilig und leise zu machen ausserhalb des Streifens entlang des Hauses der vom grossen und weiten Dach gedeckt wurde lag Schnee der half die eiligen Schritte wieder gegen das Hohle in der Akustik abzudämpfen und ihn akustisch zu decken mit einem Ruck hatte er sofort die lützele also lottrige lodelige also lose sperzige also widerspenstige also schwergängige gierige also quietschende Stalltüre aufgeschlagen also den separaten oberen und den separaten unteren Teil der Türe auf einen Schlag der gedrungene also kompakte also kleine und zähkräftige schlaue sogar gewitzte misstrauische argwöhnende von Natur aus grantige also säuerliche stobere also missmutige Bauer in militärgrünen Gummistiefeln in marineblauer Überhose in anthrazitgrauem Wollenpullover und unter kardinalsroter Kappe in der einen Hand eine Laterne historische Pfunzel mit dumpfem Schein in der anderen Hand eine Taschenlampe moderne Pfunzel mit grellem Strahl wozu hatte der Liebgott dem Bauer zwei feste Hände gemacht wenn nicht zum Anpacken und Handhaben von zweierlei Geräten […] �

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Kurz vor der Erlösung

Erster Satz: Der Bauer

von Michael Fehr

Eine neue Stimme von Urs Engeler

Eine neue Stimme: das muss mehr sein als eine Stimme, von der Sie noch nicht gehört haben. Eine neue Stimme muss eine sein, die Neues sagt, die anderes sagt und anders klingt. Michael Fehr hat diese neue Stimme. Er hat eine Stimme, die aus einem Kopf spricht, der die Sachen in einem neuen Licht sieht und anders bespricht, im wörtlichen Sinne: Michael Fehr schreibt seine Texte nicht, er spricht sie, er erspricht sie, aufgrund einer starken Sehbehinderung. Michael Fehrs Sprache kann man mit Händen greifen, sie kann knorrig sein wie ein altes Stück Holz und scharf wie Salz. Michael Fehr kann leise sein wie Schnee. Sein Sinn ist Eigensinn. Wir werden von ihm hören. �

Michael Fehr, geboren 1982 in Bern, hat an der HdK in Bern Contemporary Arts studiert. Sein erstes Buch Kurz vor der Erlösung wird im Frühling 2013 im Verlag Der gesunde Menschenversand erscheinen. Urs Engeler ist Verleger (www.roughbooks.ch) und Herausgeber (muetze.me). Er arbeitet an der Hochschule der Künste in Bern.

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Essay

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Der «Lebenskampf des Schriftstellers»

von Reto Sorg

Der Schriftsteller Franz Böni, dieses Jahr 60 geworden, von dem bislang 30 Bücher erschienen sind, gleicht einem Phantom: Wer sich noch an seinen Namen erinnert, vermag nicht zu sagen, was der Autor heute treibt, wo er lebt, ob es ihn überhaupt noch gibt. Dabei publiziert er noch – und das nicht zu knapp.

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Reto Sorg leitet das Robert-WalserZentrum in Bern und unterrichtet Neuere deutsche Literatur an der Universität Lausanne. Von ihm zuletzt erschienen: Utopie und Apokalypse in der Moderne (Hg. mit Stefan Bodo Würffel). München: Wilhelm Fink, 2010.

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ugestanden, er tut dies fast unter Ausschluss der Öffentlichkeit. Das letzte Dutzend Bücher erschien in wechselnden Kleinverlagen und gelangte kaum noch in den Handel. In den achtziger Jahren war das anders – Franz Böni war ein Phänomen. Von ihm erschien Buch um Buch, und zwar nicht irgendwo, sondern bei Suhrkamp: Ein Wanderer im Alpenregen (1979), Schlatt (1979), Hospiz (1980), Der Knochensammler (1980), Die Wanderarbeiter (1981), Alvier (1982), Sagen aus dem Schächental (1982, bei Ammann), Die Alpen (1983), Der Johanniterlauf (1984), Alle Züge fahren nach Salem (1984), Die Fronfastenkinder (1985) … Wie aus dem Nichts tauchte Böni auf und schlug einen Ton an, der bis heute einzigartig ist in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Die Poesie seiner erzählenden Prosa entfaltet sich lakonisch und verfügt über einen tiefen dunklen Unterton. In den Niederungen der Gesellschaft ziehen aussichtslose Gestalten durch frostige Schauplätze, die unwirklich und zugleich ganz real erscheinen. Zwischen trostlosen Städten, verlorenen Dörfern und voralpinen Landschaften voll Düsternis entfaltet Böni eine unverkennbar schweizerische Topographie, die bei aller Melancholie auch eine utopisch-politische Dimension hat. Die Figuren sind abhängige werktätige Wesen, die unter rigiden und brutalen Bedingungen in vollendeter Entfremdung dahinleben. Wenn sie träumen, dann von lichten Sehnsuchtsorten jenseits der Berge oder in einem entrückten Amerika. Von Anfang an entsprang Bönis Schreiben der Polarität von Wiederholung und Verschiebung. Nicht Entwicklungen stehen im Zentrum, sondern Zustände, es geht weniger um Sprünge und Brüche als vielmehr um Variation und Verdichtung. Seit geraumer Zeit kombiniert Böni die Entfaltung der teilweise autobiographischen Thematik mit persönlichen Notizen, Tagebucheinträgen, Photogra-

phien und Briefen. Darin zeichnet er unverblümt den Literaturbetrieb und die eigene Lage, nennt Namen, übt Kritik, stilisiert seine Erfolglosigkeit, stellt sich in die Nachfolge Robert Walsers. Das Aussenseitertum der Figuren korreliert mit der Pose des einsamen, verkannten Autors. Was Böni in den letzten Jahren praktiziert, sucht seinesgleichen: Überspitzung der Lakonik bis hin zur Angleichung an einen schülerhaften Aufsatzstil, zunehmend fahrige, abgerissene Publikationen, immer obskurere Verlage, Druckfehler en masse, sich wiederholende Textpassagen usw. Selbst der geneigte Leser ist nicht in der Lage zu entscheiden, inwiefern die Demontage des Autors ironisch betrieben wird und ob das an den Tag gelegte ‹Versagen› den «Lebenskampf des Schriftstellers» kritisch engführt oder bloss noch frühere Einfälle kuratiert. Mitreden kann hier nur, wer den späten Böni auch liest und zu Titeln greift wie In der Ferienkolonie (2000), Der Puls des Lebens (2001), Rimini (2002), Gruss aus der Hollywoodschaukel (2005), Rio Grande (2009) oder Bisons im Winter (2011). Franz Böni geht als Schriftsteller einen mehr als eigenwilligen Weg. Wird man so zum Klassiker? Wer weiss, herumgeistern wird sein Werk jedenfalls noch lange. Zu wünschen ist, dass sich bald ein Verlag findet, der die ‹Alpen-Trilogie› – in einem Band – neu herausgibt: Die Alpen (1983), Alle Züge fahren nach Salem (1984) und Wie die Zeit vergeht (1988) sind längst vergriffen. Bönis frühes opus magnum ist ein Meilenstein moderner helvetischer Literatur und veranschaulicht auf unnachahmliche Weise, was das Land im Innersten zusammenhält: die finsteren Herzen der Einheimischen. �


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Wacher Geist und wilder Eros

von Klaus Hübner

Wahrscheinlich ist der 1953 in Bern geborene Christoph Braendle in Österreich bekannter als in der Schweiz. Seit einem Vierteljahrhundert wohnt er mitten in Wien, sofern er nicht in Marokko ist oder sonstwo auf der Welt – im Grunde nämlich ist dieser Feingeist ein passionierter Weltenbummler.

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Klaus Hübner ist Germanist und leitender Redaktor des «Fachdienstes Germanistik». Er lebt in München.

hristoph Braendle hat als Journalist und Reporter gearbeitet, er hat skurrile Theaterstücke und glänzende Essays verfasst, er hat eine beachtliche Menge von literarischen Büchern publiziert – und keines gleicht dem anderen. Gemeinsam ist ihnen der wache, neugierige Blick auf die Welt, die immer wieder verblüffende Originalität des jeweiligen Themas und der dafür gewählten literarischen Form. Und natürlich die hohe sprachliche Qualität, die ihren Autor als ungewöhnlich vielseitigen und in zahlreichen Genres versierten Literaten erscheinen lässt. Man muss nicht alles von ihm kennen, um begeistert zu sein – seinen meisterlich komponierten Roman Der Meermacher aber schon, diesen packenden Text, der die durchglobalisierte Welt von heute konsequent auf ein Weltuntergangsszenario zulaufen lässt. Die Reportagen aus der Mitte der Welt sollte man ebenfalls lesen und unbedingt auch sein vorletztes Buch Das Wiener Dekameron, das von der Liebe und der Lust erzählt – ein Themenkomplex, der diesen Autor stets begleitet hat und ihn nicht loslässt. Was auch sein jüngster Roman beweist. Onans Kirchen spielt im südlichen Afrika. Ein ungewöhnlicher, ziemlich schräger Text, immer wieder durchsetzt mit brillanten zivilisationskritischen Tiraden und voll von sprachwütenden Abrechnungen mit Rassismus und Kolonialismus. Seinen Protagonisten Parsifal, einen sehr bald in die Wildnis flüchtenden vierzigjährigen Regionaldirektor eines europäischen Firmenkonsortiums, der auf eine von «ständigen Weibergeschichten» durchsetzte Karriere zurückblickt, hat die «Afrikanische Krankheit» erwischt: «Wenn man plötzlich nichts mehr werden will, sondern nur noch ist.» Doch als er in einer alten Schweizer Zeitung ein Inserat entdeckt, in dem eine nicht mehr ganz junge Frau einen Mäzen sucht, «Kennwort Parsifal», da klingelt es denn doch gewaltig. Leider lebt das Objekt seiner Begierde in Wien und studiert dort

angeblich Philosophie. Er hat sie noch nie gesehen, meint aber alles von ihr zu wissen. Bis zum überraschenden Ende in Richard Wagners Bayreuth bleibt sie unerreichbar. Und geheimnisvoll. Wie nirgendwo sonst in der heutigen Schweizer Literatur gehen philosophischer Geist und tabuloser Eros sozusagen Hand in Hand. Die Tagebuchnotizen, die wir lesen, kreisen um einen Mann, der mitten im dunklen Kontinent den Gespenstern seines virilen, durchaus auch beängstigenden Innenlebens begegnet. «Jedenfalls war ich, Parsifal, ein Wüstling, der Herr Hans oder Don Juan, welcher ganze Blumenwiesen leer zu pflücken verstand. Und ich wusste, ich wusste jedes Mal schon in der ersten Nacht, dass im Bett der Beginn der Trennung liegt.» Und jetzt? Ein einsamer Parsifal in Omombo, einem Ort, der so etwas wie das Gegenteil von Wien zu sein scheint. «So weit das Auge reicht: nirgends Spuren von Zivilisation. Nur dieses Endlose, das über den Horizont hinausreicht, bis dorthin, wo vielleicht keine Welt mehr ist… Omombo ist für den, der weiss, was Liebe ist.» Diesem Fast-Nichts setzt Braendle ein fulminantes Selbstgespräch entgegen – die trockene Natur wird durch feuchte Träume und wilde Phantasien belebt, und es entsteht ein geistreiches, alle Sinne vital erregendes Sprachkunstwerk, dessen Lektüre auch den zunächst befremdlichen Romantitel plausibel erscheinen lässt. «Der transfunktionale Mensch verlangt, dass man endlich Onan Kirchen baut, diesem Propheten, der, radikal das Wachset und Werdet mehr! verweigernd, von allen Propheten der weitsichtigste ist. Weniger müssen wir werden, nicht mehr!» Prophetisch? Zuallererst: Spracherotik pur! �

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Kurzgeschichte

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Kleinstadt

von Andrea Fazioli, übersetzt von Barbara Sauser

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Andrea Fazioli geboren 1978, lebt in Bellinzona und arbeitet als Schriftsteller, Journalist und Lehrer. Auf Deutsch erschienen bisher folgende Kriminalromane: Das Collier (Waldgut, 2008), Am Grund des Sees (btb, 2009), Die letzte Nacht (btb 2011) und Das Verschwinden (btb, 2012). Im Januar 2013 erscheint bei Guanda sein neuster Roman, Un splendido inganno.

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as ganze Leben schon lese ich Zeitungen, geglaubt habe ich ihnen aber nie. Als ich dann Corazza kennenlernte, kamen auch wir in die Zeitung, und auch unsere Geschichte ist nicht ganz so verlaufen wie dort behauptet. Ich habe eine Bar in einer Strasse wenig ausserhalb der Altstadt. Es sind nie besonders viele Leute da, Angestellte, Teenager, Händler. Mit meinem Leben bin ich zufrieden. Ich mag Dinge, die sich wiederholen, die Platanen, die ihre Blätter verlieren, die Vorträge des Bürgermeisters, die skurrilen Typen, die ihre Zeit am Tresen verbringen. An dem Tag, als Corazza kam, war zum Beispiel der alte Alfio da und wartete auf einen Anruf. Auf den wartet er schon sein ganzes Leben. Morgens taucht er piekfein auf, mit Krawatte und Aktenköfferchen, als ob er auf dem Weg zur Arbeit wäre. Dann setzt er sich hin und sagt: «Renzo, ich erwarte einen Anruf, gibst du mir ein Zeichen, wenn es so weit ist?» Natürlich ist es nie so weit. Das Wandtelefon ist ja auch gar nicht mehr da, heutzutage haben alle ein Handy. Genau damit hat Corazza angefangen, er hat laut ins Handy geredet. Da habe ich begriffen, dass er es ernst meinte. Er diskutierte über Garantien und Prozentsätze. Dann bestellte er ein Bier und blickte mich an, mit einem Gesicht wie ein geprügelter Hund. «Irgendein Problem?», fragte ich. «Geld», antwortete er. «Geld ist immer ein Problem. Der eine hat’s, der andere nicht, der dritte will bloss welches wechseln.» «Wechseln?» Mit einem Schluck stürzte Corazza das halbe Bier herunter. «Man müsste eine Vertrauensperson haben, einen Einheimischen…» Da ich den Eindruck hatte, dass er mit sich selbst redete, fragte ich nicht nach. Oft sagen die Leute zu viel, und dann bereuen sie es. Und schauen dich böse an, als ob sie ihre Worte am liebsten zurücknehmen würden, und letztlich wechseln sie die Bar. Unser Platz ist irgendwo in der Mitte zwischen Licht und Schatten, und da müssen wir bleiben. Wir hören zu, sind zurückhaltend mit Ratschlägen. Viele, die hier vorbeikommen, müssten einen anderen Weg einschlagen: Manche schaffen es, andere verschwinden. Verschwinden… nein, eigentlich bleiben sie alle hier. Wir sind nicht in einer Metropole, wir wissen genau, wer wessen Sohn ist und wen es wohin verschlagen hat. Wenn einer aus der Reihe tanzt, akzeptieren wir das – nicht weil wir Mitgefühl hätten, sondern weil die Gewohnheit stärker ist. Den alten Alfio sehen wir nicht einmal mehr, er gehört schon zur Landschaft. Jeden Morgen trinkt Alfio Kaffee mit einem Schuss Cognac, dann gibt er mir mit einem Zeichen zu verstehen, dass ich den Kaffee anschreiben soll, nimmt seinen Aktenkoffer und schaut im Hinausgehen auf die Uhr, wie jemand, der verabredet ist. Corazza fragte mich, wer das sei. Ich erklärte ihm, dass er harmlos ist. «Er hat eine IV-Rente, aber er tut gern so, als ob er Arbeit hätte.» «Und ihr tut so, als ob ihr ihm glauben würdet?» Ich zuckte mit den Schultern. Glauben kostet nichts. Corazza und ich haben lange geplaudert, er ist die ganze Zeit am Tresen geblieben. Als ich ihm sagte, dass ich ihm helfen könne, war er beinahe überrascht. Er hatte mir erzählt, dass er sich mit Geldgeschäften beschäftige: Devisenhandel, Darlehen und solche Dinge. Einer seiner Kunden, ein Spanier, wollte drei Millionen Euro in Schweizer Franken wechseln, und so hatten sie ein Treffen in unserer Stadt vereinbart. Und da kam nun ich ins Spiel. Die Angelegenheit war heikel, sie konnten die drei Millionen Euro nicht einfach in einer Bar tauschen. Deshalb hatte Corazza sich überlegt, bei einer Bank nach


Bild: Der Koffer. (fotolia)

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Kurzgeschichte

einem Sitzungsraum für zwei, drei Stunden zu fragen. Er kannte niemanden in der Stadt, während ich schon immer hier wohnte. Ich bin Kunde einer Bank, man vertraut mir. Natürlich ist alles schiefgegangen, ihr habt es in der Zeitung gelesen. Die Bank hat mir für zwei Stunden einen Raum im ersten Stock gegeben. Um es kurz zu machen: der verdammte Corazza war ein Betrüger. Er wartete im Sitzungsraum auf seinen Kunden und gab sich dann als Direktor der Bank aus, und dieser Idiot ist darauf hereingefallen. Mit der Entschuldigung, dass er das Geld zählen wolle, entfernte sich Corazza für ein paar Minuten. In Wirklichkeit verliess er die Bank, und der Spanier sah ihn nie wieder. Die drei Millionen Euro nahm er natürlich mit. Der Mist ist, dass ich Corazza gesehen habe. Bevor er verschwand, kam er in der Bar vorbei und machte ein paar Tausend Euro locker, in einem Umschlag. Nur Alfio und ich waren da, es gibt keinen anderen Zeugen. Ich habe das Geld genommen, und das hat der Polizei nicht gefallen. Sie haben mich stundenlang verhört und schliesslich mit der Ankündigung, dass es noch nicht ausgestanden sei, gehenlassen. Tatsache: ich habe Mist gebaut, als ich Corazzas Komplize wurde, auch wenn man schwer bestimmen kann, wie sehr mir das bewusst war. Jedenfalls will die Polizei mich büssen lassen. Glücklicherweise ist nun heute abend etwas Seltsames passiert. Die Sperrstunde rückte näher, in der Bar war niemand mehr. Gerade wollte ich selbst gehen, als die Tür aufging und der alte Alfio hereinkam, wie gewöhnlich im Anzug, mit seinem Aktenkoffer und dem frisierten Haar. «So, ich habe gehört, dass du ein Betrüger bist», sagte er. «Was weisst denn du davon?», gab ich zurück. «Wer sagt das?» «…aber diesmal haben wir wohl Glück gehabt!» «Wie?» «Der Spanier hat sich für das richtige Modell entschieden.» Während er das sagte, legte Alfio seinen Aktenkoffer auf die Theke. Auch da begriff ich noch nicht. Der Alte musste es mir erklären. «Ein Augenblick hat genügt, als er die Quittung unterschrieben hat.» Er zwinkerte mir zu. «Der Bruchteil einer Sekunde, verstehst du, das war schon ein Wagnis…» Ein Wagnis. Ich weiss nicht, wo Alfio solche Wörter hernimmt. Jedenfalls hat er keine weiteren Worte darüber verloren. Er tippte sich mit zwei Fingern an die Stirn, als lüftete er einen imaginären Hut. Bevor er davonlief, machte er eine Art Verbeugung, den Koffer liess er stehen. Als ich zur Schwelle stürzte, war Alfio auf seinem alten Fahrrad schon weit weg, verlor sich in Licht und Schatten der Strassenlaternen. Ich kehrte an die Theke zurück und öffnete den Koffer. Drei Millionen Euro. Sofort machte ich den Deckel wieder zu. Die Zeitungen berichteten, man habe den Betrugskoffer leer am Stadtrand gefunden. Alfios Aktenkoffer, versteht sich, der dank eines überraschenden Zufalls dem des Spaniers ziemlich ähnlich sah. Alfio hatte sie vertauscht: Es war ihm gelungen, Corazza unbemerkt hereinzulegen. Und mir das Geld wie neu zurückzubringen. Und jetzt? Stunden sitze ich schon hier und schreibe, und ich habe mich noch nicht entschieden. Ich weiss, dass ich eigentlich zur Polizei sollte. Aber es ist auch schön, sich das Geld im Aktenkoffer vorzustellen – und an Reisen und verrückte Dinge zu denken. Es ist auch schön, die Augen zu schliessen und die Abenteuer zu sehen, die ich nie erleben werde. Es ist spät. Ich sollte die Bar schliessen und schlafen gehen. Das hier ist meine Stadt und etwas anderes brauche ich nicht. Das hier ist mein Leben. Für mich ist es Abenteuer genug, jeden Morgen die Bar aufzumachen, mit dem alten Alfio, den Stammgästen und den Laufkunden ein paar Worte zu wechseln. Etwas anderes brauche ich nicht. Aber warum kann ich dann nicht schlafen? � 18


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USEUM DER

EINSICHTEN

fund-orte 38

Clemens Umbricht Museum der Einsichten

fund-orte 38, limitierte Auflage, numeriert und vom Autor signiert CHF 28.– / EUR 19.–

Subtil und mit weitem Horizont – die neuen Gedichte von Clemens Umbricht, Sieger beim Rütegg-Preis für Lyrik 2011.

fund-orte Lyrikreihe des orte-Verlags seit 1995

VERLAG

orte-Verlag & Schweizer Literaturzeitschrift / Rüteggstrasse 48 / 9413 Oberegg AI / www.orteverlag.ch / info@orteverlag.ch

EIN LITERATURSTUDIUM IN EINEM UMFELD ZEITGENÖSSISCHER AESTHETISCHER PRAXIS UND THEORIE: MUSIK UND MEDIENKUNST, FINE ARTS, PERFORMANCE ART, LITERARISCHES SCHREIBEN UND LITERARISCHES ÜBERSETZEN (AUS DEN SPRACHEN DEUTSCH, FRANZÖSISCH, ITALIENISCH, SPANISCH, ENGLISCH UND RUSSISCH IN DIE ZIELSPRACHEN DEUTSCH UND FRANZÖSISCH) — AN EIGENEN PROJEKTEN ARBEITEN, IN WEITREICHENDEN NETZWERKEN MIT DEM SCHWEIZERISCHEN LITERATURINSTITUT, DEN UNIVERSITÄTEN VON BERN UND LAUSANNE UND WEITEREN KUNSTHOCHSCHULEN DER SCHWEIZ, MIT AUSGEZEICHNETER INFRASTRUKTUR, BEGLEITET IN MENTORATEN DURCH ETABLIERTE KÜNSTLERINNEN UND KÜNSTLER, AUTORINNEN UND AUTOREN, KOMPONISTINNEN UND KOMPONISTEN, ÜBERSETZERINNEN UND ÜBERSETZER — DAS IST DER MASTER OF ARTS IN CONTEMPORARY ARTS PRACTICE AN DER HOCHSCHULE DER KÜNSTE BERN. MEHR INFORMATIONEN UND TERMINE FÜR DIE ANMELDUNG UNTER: WWW.HKB.BFH.CH/DE/STUDIUM/MASTER/MACAP


Gespräch

Ein Nachmittag mit «Mama Brunetti» Ein deutscher Schriftsteller mischt sich im Walliser Dorf Ernen unter die Teilnehmer eines jährlich ausgebuchten Schreibseminars. Die Dozentin ist keine Geringere als die Bestsellerautorin Donna Leon. Eine satzweise Annäherung zweier Wortkünstler, die unterschiedlicher kaum sein könnten. Thor Kunkel trifft Donna Leon

Frau Leon, in Ihrem Workshop in Ernen vermitteln Sie seit neun Jahren den Teilnehmern wichtige Aspekte des Schreibens. Warum tun Sie das ausgerechnet in einem Dorf wie Ernen und nicht in der Zürcher Grossstadt oder in Bern, wo es möglicherweise mehr Teilnehmer gäbe? Ich komme gerne hierher, weil die Darbietungen der Musikwochen immer vom Feinsten sind und weil sich – über die Jahre hinweg – eine gewisse Vertrautheit zwischen mir und den Teilnehmern des Seminars eingestellt hat. Man könnte sagen, wir sind Freunde, die gerne lesen und sich an diesem wundervollen Ort treffen, um einmal ernsthaft – oder auch nicht – über das, was wir gelesen haben, zu plaudern. Welche Voraussetzung braucht ein Teilnehmer? Einmal abgesehen von den 590 Franken – ein abgeschlossenes Studium? Überhaupt nicht. Die Klasse setzt sich aus den unterschiedlichsten Leuten zusammen. Es sind alles Leseratten, die einfach gerne mehr Gelegenheit hätten, sich über Literatur auszutauschen. Die Tatsache, dass die Begegnung an diesem pittoresken Ort stattfindet, zeitgleich mit drei Barockkonzerten, erhöht natürlich noch das Vergnügen. Ich habe auch einmal einen Schreibkurs absolviert, 1981 am San Francisco Art Institute. Das Ganze nannte sich «creative writing» und befähigte mich später in London, nicht weit von Salman Rushdies damaliger Werbeagentur, einen Job als Werbetexter zu finden. Wie sind eigentlich Sie in die Werbung geraten? Mein Ausflug in die Werbung war recht kurz. Ich war Dozentin für Anglistik für dreissig Jahre. Gibt es für junge Schriftsteller ein besseres Training, als Beipackzettel, Multi-Coupon-Reklame und Gebrauchsanleitungen zu schreiben? (lacht) Ich denke, es ist eine gute Übung. Andererseits, wenn man ein Stück ernster Literatur sorgfältig liest und es dann ausführlich analysiert, ist das ebenso gut. Vielleicht sollte ich das mal tun. In zehn Jahren habe ich bloss einen einzigen Bestseller geschrieben, Sie dagegen zwanzig, dreissig…? Irgendetwas mache ich falsch. 20

Thor Kunkel ist deutscher Schriftsteller. Für Aufsehen sorgte er mit seinem Roman Endstufe (Eichborn, 2004), der eine heftige Debatte in den deutschen Feuilletons auslöste. Kunkel lebt seit 2009 im Wallis. Zuletzt von ihm erschienen: Subs (Heyne, 2011).

Donna Leon ist US-amerikanische Schriftstellerin. Ihre Romane erscheinen seit 1992 in einem regelmässigen jährlichen Rhythmus und sind beinahe ausschliesslich Bestseller. Bekannt wurde sie für ihre Krimis um den Venezianer Commissario Guido Brunetti. Zuletzt von ihr erschienen: Himmlische Juwelen (Diogenes, 2012).

Wissen Sie, ich denke nicht in Begriffen wie richtig und falsch. Ich habe keinen regulären Job, und deshalb habe ich viel Zeit, an meinen Büchern zu arbeiten. Und da das Schreiben enorm viel Spass macht, freue ich mich immer darauf, wie Sie sich sicherlich auch auf das Schreiben freuen. Ein Verleger sagte mir mal, das Buchgeschäft habe nichts mit Schreiben zu tun. Es ginge im wesentlichen darum, eine Formel zu finden. Deshalb ist er wahrscheinlich Verleger geworden und kein Schriftsteller. Lassen Sie sich von den gesellschaftspolitischen Veränderungen der letzten Zeit beeinflussen? Die westliche Welt ist korrumpierter und ambivalenter geworden. Gibt es in Ihren Fiktionen so etwas wie ein verstecktes, faktisches i-Tüpfelchen? Sehen Sie, ich bin nicht sicher, ob unsere wundervolle westliche Welt das Monopol auf Korruption und Unehrlichkeit hat. Es gibt viele Orte auf der Welt, wo der alltägliche Broterwerb bedeutend schwieriger und gefährlicher ist. Ich habe jedenfalls noch nie gelesen, dass man im Westen Politiker oder Geschäftsleute ermordet, aber vielleicht lese ich auch die falschen Zeitungen... …vielleicht leben Sie in einer anderen Zeit? Beim Lesen Ihrer Romane glaubt man manchmal, den Klang von Händel oder Antonio Bertali zu hören. Schreiben Sie zu Musik? Oder gibt es da vielleicht noch andere Stimulanzen? Nein. Wenn ich schreibe, kann ich nicht noch Musik hören: Es würde mich zu sehr ablenken...


Donna Leon, photographiert von Thor Kunkel.

… für mich klingt das, was Sie schreiben, immer auch etwas nach Georges Simenon, weniger nach Patricia Highsmith. Wer ist der literarische Pate der Donna Leon? Da Simenon auf Französisch schrieb, wage ich zu bezweifeln, dass es da eine Ähnlichkeit gibt. Highsmith gebrauchte kürzere Sätze und kam mit einem recht bescheidenen Vokabular über die Runden. Ich würde mir schmeicheln, wenn ich behauptete, meine Prosa erinnere an Ross MacDonald. Ross MacDonald war der geistige Vater von Privatdetektiv Lew Archer. Haben Sie sich deshalb für Commissario Brunetti entschieden? Sie hätten ja auch etwas anderes als Krimis schreiben können… Ich habe mich für Kriminalliteratur entschieden, weil ich davon an der Graduiertenschule jede Menge gelesen habe und einfach dachte: Das kannst du auch.

troskopischen Ausschlägen vergleichen – oder wie sehen Sie das? Ich kenne keine anderen Kriminalschriftsteller; deshalb kann ich nicht sagen, wie sie die Welt sehen. Meine eigene Weltsicht ist ziemlich düster, aber ich bleibe trotzdem optimistisch gestimmt. Ich glaube, Schriftsteller sind wie andere Leute, einmal abgesehen davon, dass wir von unserer Einbildungskraft leben. Haben Sie denn niemals unter Stress schreiben müssen? Ich vermute mal, ich bin ein ziemlich normaler Mensch und daher ruhig und zuversichtlich gestimmt. Schreiben ist etwas, was mir ungeheuren Spass macht; deshalb habe ich kaum Stress. Aber wie werden Sie mit Deadlines – also Abgabeterminen – fertig? Besonders wenn Sie die einmal nicht schaffen? Ich habe bisher jede Deadline geschafft.

In Brunettis erstem Fall «Venezianisches Finale» hatte ich manchmal den Eindruck, Sie seien selbst ein bisschen in Ihren Helden verliebt. «Wie durch ein dunkles Glas» klingt dagegen so, als hätten Sie innerlich die Scheidung eingereicht… Aber nein. Ich finde Brunetti noch immer bewundernswert.

Beeindruckend. Wären Sie stolz, falls einer Ihrer Studenten aus Ernen einen Krimi-Bestseller schreiben würde? Und würden Sie seine Karriere unterstützen? Aber ja, ich wäre natürlich sehr erfreut, wenn einer der Studenten ein gutes Buch schreiben würde. Sollte mir das Buch gefallen, würde ich es selbstverständlich empfehlen.

Kommen wir noch einmal auf das Schreiben zurück: Haben Schriftsteller, die bessere Kriminalliteratur schreiben, nicht generell eine negative Vorstellung von der Welt? Manchmal glaube ich, wir «Verschriebenen» sind alle nur Prismen, die das Licht der Welt – im übertragenen Sinne – filtern und intensivieren. Das Bewusstsein funktioniert dabei wie ein Brennglas. Was auf dem Papier entsteht, lässt sich abstrakt gesehen mit spek-

Zum Abschluss: Was können die Leser von Donna Leon in Zukunft erwarten? Wie wäre es hiermit: Den pensionierten Commissario Brunetti verschlägt es nach Ernen, wo er in Ihrem Workshop landet und sein eigenes Leben zu Ende schreibt. Fakt oder Fiktion? (lacht) Unmöglich. Würde Brunetti Venedig jemals verlassen, was ich übrigens für ein Ding der Unmöglichkeit halte, würde es ihn wohl eher nach Neapel oder Palermo ziehen. � 21


Buch des Monats: Schweiz

Vergessene Seele Francesco Micieli: Schwazzenbach. Schlaflos in Lützelflüh. Oberhofen am Thunersee: Zytglogge, 2012.

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Klaus Hübner ist Germanist und leitender Redaktor des «Fachdienstes Germanistik». Er lebt in München.

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er Ueli der Knecht und Ueli der Pächter nicht gelesen hat, kennt Die schwarze Spinne – Schullektüre bis heute. Über ihren Autor und ganz speziell über seine weniger bekannte, wahrhaft meisterliche Erzählung Die Wassernoth im Emmental kann man sich in der aktuellen Ausstellung des neuen GotthelfZentrums in Lützelflüh umfassend informieren. Jeremias Gotthelf alias Albert Bitzius (1797–1854) ist ein immer wieder liebenswerter Schweizer Klassiker – kernig, bodenständig, unsentimental und sozial engagiert. «Es soll in drei Tagen ein Kongress zu Jeremias Gotthelf stattfinden», heisst es zu Beginn der neuen Erzählung des 1956 in einem Ort mit dem wunderschönen Namen Santa Sofia d’Epiro geborenen Berner Schriftstellers Francesco Micieli. «Ich werde über ‹Gotthelf und die Fremden› sprechen. Fremdsein ist mein Job. Ich bin der Pressesprecher der Fremdheit.» Und zugleich kommt es dem Ich-Erzähler drei schlaflose Nächte lang so vor, als müsse er nach Lützelflüh zurückkommen, weil er dort etwas Wichtiges vergessen hat: «Eine Seele.» Dieser Angelo war einst mit seinen Eltern aus Italien eingewandert und erinnert sich nun an die emotional aufgeheizte Zeit der SchwarzenbachInitiative gegen die angebliche «Überfremdung» der Schweiz, die am 16. Juni 1970 mit nur 54 Prozent Nein-Stimmen abgelehnt worden war. «Die Beatles hatten sich getrennt, Janis Joplin und Jimmy (!) Hendrix waren gestorben, James Schwarzenbach wollte die Italiener dezimieren.» Die meisterhaft komponierte, dreiteilige Erzählung bietet Skizzen und Szenen, die das Leben einer Immigrantenfamilie in den siebziger Jahren vor Augen führen, mitsamt der Schilderung einer unglücklichen, ebenfalls vom Überfremdungsgerede überformten Jugendliebe und inklusive bissiger Kurzporträts einstiger Schulkameraden und anderer Dorfbewohner von damals. Über die Mutter heisst es einmal, sie habe nur nicht auffallen wollen: «Die Schweiz sollte gar nicht merken, dass sie da war.» Was aber ebenso wenig half gegen die weitverbreitete «Italiener raus!»-Mentalität wie

die Gigolo-Posen des Vaters oder das rebellische Aufbegehren des nicht nur in der Schule «auffälligen» Pop- und Rock-Sohns. Der Angelo von heute fragt sich mit Recht, weshalb er sich in seinen besten Jugendjahren ausgerechnet «mit Knoblauch und Mais in meinem Pult», mit körperlichen Attacken, verbalen Beleidigungen, Lokalverboten, Scham- und Schuldgefühlen beschäftigen musste. «Die siebziger Jahre waren traurig […] Mir kommen diese Jahre wie in ein jämmerliches Dämmerlicht getaucht vor, ein Grauton ohne Ausweg […] Tröstet es mich, wenn ich weiss, dass jeder seine eigene Fremdenfeindlichkeit verstecken möchte?» Hundert bewegende, lesenswerte Seiten. Francesco Micieli glückt eine ästhetisch elegante, lebenskluge und melancholische Reflexion über Nähe und Fremde, Heimat und Identität. In ständigem Gespräch mit Gotthelf, natürlich. Man kann und muss sein Buch auch als wichtigen Beitrag zur literarischen Landeskunde lesen, der an die von Schwarzenbachs Deportations-Initiative verschatteten Ängste und Albträume zahlreicher Kinder und Jugendlicher erinnert, die später ganz wesentlich zum Wohlstand und zum Ansehen der Schweiz beigetragen haben. Weshalb Schwazzenbach es verdienen würde, Schullektüre zu werden. Wie Die schwarze Spinne. �


Buch des Monats: International

Allein unter vielen. Blick in die Dunkelkammern New Yorks Teju Cole: Open City. Berlin: Suhrkamp, 2012.

«Walk around with nowhere to go.» Bob Dylan – Talkin’ New York

G

Miriam Hefti ist Germanistin und arbeitet im Zürcher Literaturhaus. Sie lebt in Zürich.

eräuschlos die Tür zum Alltag hinter sich ins Schloss ziehen. Für einmal nichts als zielloses Schweifen vor Augen: eine befreiende Ausgangslage des Daseins – vielleicht. Ein pas de deux mit dem Unvorhergesehenen zwischen einem spätmodernen Flaneur und dem Zufall in einer offenen, verwundeten – verwundbaren – Stadt. Diese beiden Tänzer bleiben auf den ersten Blick wenig anonym. Ihre konkreten Schritte, die wir geistig mitdenken, liegen ungegangen vor uns: Open City kann als eine durch kluge Reflexions- und Beschreibungskunst bestechende Geschichte des Amerikaners Teju Cole ganz konkret (was unmittelbar geschieht), aber auch metalogisch (den Stoffwechsel der heutigen USA im Blick) gelesen werden. Wir stadtwandern mit Julius, einem jungen Schwarzen am Ende seiner Ausbildung zum Psychiater, die Stadt heisst New York – manchmal auch Brüssel. Der Zufall aber, der wird viele Gesichter haben. Richtungslos bahnt sich Julius durch das gläserne Grossstadtdickicht, spurt Wege durch Menschentrauben, geht mit ihnen mit, im Gleichschritt, doch anders. «Anfänglich erlebte ich die Strassen als eine unaufhörliche Geräuschkulisse, ein Schock nach der Konzentration und relativen Ruhe des Tages, so als zerrisse jemand die Stille einer abgeschiedenen Kapelle mit einem dröhnenden Fernseher.» Anfangs streifen wir – als Einübung in die Sinne – durch die ruhigeren Strassen der Upper West Side. Julius verwebt Schichten vorbeiströmender Menschen. Seine Andersartigkeit zeigt sich uns in Gestalt des Einsamen in der Menge, aber auch in seiner Hautfarbe, die in der Geschichte eine subtile Rolle spielt. Fünf Jahre sind seit dem 11. September 2001 ins Land gegangen, die Verheissung «change and hope» ist allgegenwärtig, kann aber nicht über die Topographie seiner Einsamkeit hinwegtäuschen: «Unter freiem Himmel teilte ich meine Einsamkeit mit Tausenden, in der U-Bahn, in unmittelbarer Nähe fremder Menschen, einander rempelnd im Kampf um Platz und Luft zum Atmen.» Seine innere

Verfasstheit wird in den Begegnungen mit anderen Menschen und ihrer transzendentalen Obdachlosigkeit – äusserlich – in den klaffenden Narben Manhattans gespiegelt. Das Aufeinandertreffen mit anderen zeichnet einen soziologischen Querschnitt New Yorks. Das Treffen mit Farouq, einem marokkanischen Betreiber eines Internetshops, das zufällige Wiedersehen einer Jugendfreundin, die in überraschender Wendung in die Dunkelkammern der Hauptfigur leuchtet. Der Flug von New York in die belgische Hauptstadt, ein figuratives Übersetzen von der neuen in die alte Welt, wird ein Höhepunkt des Lesens. Im Flugzeug schliesst er Bekanntschaft mit einer amerikanischen Chirurgin – Dr. Maillotte. Mit ihr führt er – in der Raum/Zeit-Krümmung über den Wolken – Gespräche über das Anderssein qua Hautfarbe oder über die USA für sich und ihren abblätternden Glanz. Die Scharen von Vögeln, die Ende des 19. Jahrhunderts – als die Fackel von Lady Liberty noch den Schiffen den Weg in den Hafen Manhattans wies – in die Irre gelenkt und durch den Aufprall verendet waren, stehen als traurige Allegorie des Unfassbaren von 9/11 am Schluss des Romans, der vieles offen lässt – im besten Sinn. Zusammen etwa mit Chad Harbach (Die Kunst des Feldspiels) oder Kevin Wilson (Die gesammelten Peinlichkeiten unserer Eltern) wird Cole als «neue Stimme eines anderen Amerikas» kolportiert. Was auffällt: die grossen Themen der amerikanischen Gegenwartsliteratur haben sich verlagert. Der Gigantismus ist dem gewichen, was vor unser aller Augen liegt: der Sehnsucht nach dem Glück im Einfachen. �

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Kurzkritik

Literarische Kurzkritik #39 Dichterin der Liebe S. Corinna Bille: Schwarze Erdbeeren. Erzählungen. Mit einem Nachwort von Monique Schwitter. Zürich: Nagel & Kimche, 2012. besprochen von Helmut Dworschak, Germanist und Redaktor

B

eim grossen Publikum dürfte sie nur noch wenigen bekannt sein. Unter anderen hat ihr Mann, der Dichter Maurice Chappaz, dafür gesorgt, dass ihr Werk nicht ganz in Vergessenheit geriet. Liest man sie heute, so wirken die Erzählungen und Romane der am 29. August 1912 in Lausanne geborenen, am 24. Oktober 1979 in Sierre gestorbenen Dichterin S. Corinna Bille frischer und moderner als manches, das in der Gegenwart produziert wird. Ihr Stil ist präzis und direkt, ihre Bildsprache kühn und dicht. Ihre grossen Themen sind die Liebe und die Natur der Walliser Bergwelt. Dabei kann das Unerreichbare unmittelbar Wirklichkeit werden und was wirklich scheint, plötzlich für immer verloren sein. So legt sich der verliebte Ich-Erzähler in der Erzählung «Schwarze Erdbeeren» ins Gras, nachdem er die Frau seiner Träume unter den Betenden einer Prozession entdeckt hat. Er schliesst die Augen, «um in meinem Innern das Bild deutlicher zu bewahren, das ich wohl nie mehr sehen würde. Als ich sie wieder aufschlug, war Jeanne da und schaute mich an.» Bei Bille sind Phantasie und Realität ganz selbstverständlich aufeinander bezogen. Doch das leidenschaftliche Verlangen setzt sich der Gefahr aus, alles zu verlieren, auch das eigene Leben. Bis zum Schluss werden die Figuren in einer spannungsgeladenen Offenheit gehalten. Der Erzählband Schwarze Erdbeeren ist nun in der von Peter von Matt bei Nagel & Kimche herausgegebenen Reihe «Kollektion» neu aufgelegt worden, in der Übersetzung von Marcel Schwander aus dem Jahr 1975. Neun längere und kürzere Texte enthält der 1968 erschienene Band, und in fast allen deutet sich im Schatten des Verlangens das Verderben an. So auch in der Erzählung «Das ganze Leben vor mir», einer Variation des Motivs «Der Tod und das Mädchen». Oft geht es um eine unmögliche Liebe, von der Liebe zum verstorbenen Sohn bis zur inzestuösen Geschwisterliebe. In «Verpasste Liebe» versetzt sich eine alte, kranke Frau in ihre Kindheit zurück, auf der Suche nach dem Gefährten,

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der ihr bestimmt gewesen wäre. Sie liegt im Bett und hat Durst – aber diesmal soll es etwas Rechtes sein, kein Kräutertee und keine Milch. Und schon sieht sie über sich die Champagnerflaschen tanzen, die sie mit Schaum bespritzen. Sie selbst sei «immer wie verrückt verliebt in jemanden» gewesen, hat Bille einmal von sich selbst behauptet: «Welche imaginären Abenteuer!» Den Akt des Schreibens erklärte sie zu einem «Äquivalent des Liebesaktes». Da sind Kräfte im Spiel, die man in der Literatur der Gegenwart nicht selten vergebens sucht. Bille setzt sie ohne Pathos in Szene, fast beiläufig, und gerade so spürt man ihre Gewalt.

Aus den Tälern der Finsternis Silvio Huonder: Die Dunkelheit in den Bergen. Zürich: Nagel & Kimche, 2012. besprochen von Babina Cathomen, Germanistin und Redaktorin

«W

as ist das, was in uns lügt, mordet, stiehlt?» Diese Frage aus einem Brief Georg Büchners stellt Silvio Huonder einem Kapitel seines neuen historischen Krimis voran. Es ist eine der grossen Fragen der Menschheit, die auch Baron Johann Heinrich von Mont im Jahr 1821 umtreibt. Der 33-Jährige im steifen Gehrock ist als Polizeidirektor für Ordnung und Sicherheit im Kanton Graubünden zuständig, wo nach den napoleonischen Kriegen das Chaos herrscht. Er sieht sich als «Mann der Justiz», als «Apostel des Rechts» gar, der gegen die Finsternis im Menschen antritt. Frei von inneren Widersprüchen ist aber auch der Baron nicht: Den kriegerischen Napoleon bewundert er ebenso wie den Menschenfreund Pestalozzi. Das sogenannte «Lumpengesindel» lässt er noch immer auf dem Galgenhügel in Chur am Strick baumeln, trotzdem ist er dem humanitären Gedankengut der Aufklärung nicht abgeneigt. «Justitia hatte eine Waage in der einen, ein Schwert in der anderen Hand. Ihre Augen waren verbunden. Ihr Mitleid und ihr Erbarmen sollten das Urteil nicht trüben», versucht der Baron sich (auch vor sich selbst) zu rechtfertigen.


Historisch verbürgter Aufhänger von Huonders Roman ist ein brutaler Mord: In der Mühle bei Bonaduz wurden der Hausherr und seine beiden von ihm schwangeren Mägde mit zahlreichen Stich- und Hiebwunden in einer Blutlache aufgefunden. Baron von Mont setzt zwei Landjäger auf die Spur des mutmasslichen Mörders an – bald stellt sich heraus, dass die grausame Tat nicht das Werk eines einzelnen war. Die Verfolgungsjagd führt über steinige Wege durch die wild-rauhe Berglandschaft des Safientals. Viel Misstrauen schlägt den Landjägern von den Bauern entgegen, denen die harte Arbeit und die Armut ins Gesicht geschrieben stehen. Der in der Nähe von Berlin lebende Bündner Silvio Huonder entwirft in seinem Roman ein stimmiges Bild des Bergkantons im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts und macht die Düsternis in den Bündner Tälern greifbar. Gefängnisakten und Verhörprotokolle, die sich bei Originalzitaten im Text kursiv abheben, bilden den sorgfältig recherchierten historischen Boden. Die Fiktion bleibt, verglichen mit dem Potenzial des Stoffes, hinter der Faktenlage allerdings etwas zurück: Der Ton gerät teilweise gar protokollarisch und auch kompositorisch reicht Huonders neustes Werk nicht an das Niveau seines Romandebüts Adalina (1997) – mit seiner wunderbar leichtfüssigen Verknüpfung von Gegenwart und Vergangenheit – heran. Obwohl Huonder aus unterschiedlicher Perspektive berichtet, bleibt die Figurenzeichnung zu sehr an der Oberfläche. Der Antwort, was denn nun «in uns lügt, mordet, stiehlt», kommt die Leserschaft mit keinem der Protagonisten näher. Silvio Huonders Erzählkraft scheint dennoch durch: etwa an jenen Stellen, wo die ambivalenten Gefühle des Barons sein Trauma aus der Kindheit aufbrechen lassen. Recht und Gerechtigkeit, so lernte er bereits damals, sind nicht immer miteinander vereinbar.

Jenseits der Provinz Ernst Halter: Hinter den sieben Bergen. Erzählungen. Zürich: Limmat, 2012. besprochen von Pirmin Meier, Schriftsteller und Publizist

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er Aargau ist im 20. Jahrhundert, als er von Albin Zollinger zum «dunkeläugigen Kanton» designiert wurde, erst allmählich wieder auf die literarische Landkarte gerückt. Als langfristige Werte der neueren Aargauer Literatur erwiesen sich Erika Burkart und Hermann Burger, Klaus Merz und Hansjörg Schneider. Ernst

Halter, einst verheiratet mit Erika Burkart, ihr bedeutendster Lektor und nachhaltigster Förderer, wagt sich an eine Bestandsaufnahme, in der Erinnerungen wie aktuelle Betrachtungen des Kantons und seiner Bewohner nebeneinandergestellt sind. Die Erzählung «Über die sieben Berge» etwa liest sich als sprödes, aber präzises Porträt einer heruntergekommenen Mittellandgegend, vorwiegend aus der Perspektive des Autofahrers, der es vorzieht, statt der Autobahn seine Heimat einmal über «die sieben Berge», die zahlreichen, meist hügeligen aargauischen Binnenlandschaften, zu befahren. Landschaften, deren Bewohner manchmal sektenanfällig sind. Einstige Bräuche wie der Kiltgang sind anscheinend durch das Lockvogelangebot von ländlich-abgelegenen Striplokalen ersetzt worden, doch herrscht allgemein null Bock: «Im Wirtshausgarten sind die Tische leer, denn die Show der drei Schönen, Mercedes, braun, aus Jamaica, San San, gelb, aus Hongkong, und Uschi, weiss, aus Rubigen, wird drinnen abgezogen.» Aber wohl nur vor wenigen, gewiss nicht jungen Besuchern. «Seichte Zeit, ausgeräumtes Land, ohne Erinnerung, gut genug, dem Meistbietenden zugeschlagen zu werden. Zwischendurch mal ein Mopedfahrer.» Vom «Landvolk», wie es der Chronist Franz Xaver Bronner 1840 charakterisierte, kann in der Deutschschweizer Bandstadt kaum mehr gesprochen werden. Der wohl stärkste Text trägt den Titel «Mythen» und handelt von einem philosophierenden und zeitkritischen Club, geeint durch die gemeinsame frühere Schulzeit. Die Charakterisierung der beiden Hauptpersonen Fabius Dunkel, eines fanatischen Puppensammlers, und des Komponisten Herbert Lichtegg bringt neben einem ausdrucksstarken, am Beispiel der zerfallenden Stiftskirche die Jahrhunderte einbeziehenden Blick auf Zofingen starke zeitkritische Akzente, die aber im Nachwort zur «Wahrheit eines schwerstbedrohten Manisch-Depressiven» relativiert werden. Das Wichtigste an diesem intensiven Text scheint mir der Hinweis auf eine nicht nur im Aargau vorhandene aussenseiterische männliche Genialität. Halters Protagonisten Dunkel und Lichtegg (sprechende Namen!) sind trotz modellhafter Anklänge fiktive Gestalten, nicht fiktiv scheint hingegen die feuilletonistische Schilderung von Kunsthaus-Pionier Heiny Widmer (1927– 1984), wie er als Knabe auf dem Bözberg noch ganze Schwärme von Schmetterlingen beobachtet hat. Nun, wir erfahren: Diesen Aargau gibt es nicht mehr. Der Erzählband, dessen sieben ausgefeilte Stücke Halters narrative Meisterschaft im Entwickeln von Charakteren und im Wiedergeben von Stimmungen unterstreichen, wird keine Touristen in den Aargau locken, nicht einmal Sonntagsfahrer. Was bleibt, ist ein Rest von Poesie. Und Ernst Halter bleibt in diesen seinen Geschichten, die ihn ein Leben lang begleiteten, Stück für Stück Sprachvirtuose. Sein Haupt- und Lebenswerk, der Roman Jahrhundertschnee (2009), wird durch diesen Erzählband nicht übertroffen, lesenswert ist er allemal. 25


Kurzkritik

Beizer, Bauern, Bösewichte Urs Schaub: Der Salamander. Zürich: Limmat, 2012. besprochen von Isabella Seemann, Journalistin

disches Höhlensystem mit Bunkern aus dem Zweiten Weltkrieg… Das wirkt überladen und ist ohne den geringsten Anflug von ironischer Brechung inszeniert, wird in fahlem Graulicht des Winterdämmerns weichgezeichnet. Auch ein eigenbrötlerischer Ermittler, Landidylle wie im Freilichtmuseum und Redeweisen von anno dazumal reissen das nicht raus.

Aus der Schneekugel Yael Pieren: Storchenbiss.

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riminalkommissar a.D. Simon Tanner, der zu seiner Geliebten auf die Schären ausgewandert war, kehrt zurück ins Seeland. Und wie er an jenem nebelverhangenen Novembertag aus dem Regionalzug steigt, stürchelt er auch schon in seinen nächsten Fall: Vor ihm steht ein verschatteter junger Mann in dünnem Anzug, den Koffer fest an sich geklammert. Bis wir erfahren, was das Gepäckstück, das Tanner gutmütig bei sich aufbewahrt, enthält – ein blutbeflecktes Abendkleid mit Schusslöchern und ein salamanderförmiges Schmuckstück –, mäandert die Geschichte episch umher. Wir sind auf dem Lande, wo auch Kühe jede überflüssige Bewegung scheuen. Erst in den letzten Kapiteln überstürzen sich die Handlungen. Dazwischen bleibt viel Zeit für maulfaule Stammtischverbrüderungen und schwelgerische Essorgien. Tanner ist älter geworden, Essen sein neuer Sex. Kopulierte er in seinen früheren Fällen alle paar Seiten mit einer anderen Frau und liess die Leser wissen, wie «sein mächtig erigiertes Glied hin und her schwengelt, als wäre es der Klöppel einer Domglocke bei Feueralarm», schildert er jetzt mit enervierend pornographischer Detailtreue, welche Mahlzeiten er verspeist. Nur hin und wieder – der 62jährige Autor Urs Schaub muss seinem Ruf gerecht werden, er habe die Schweizer Krimi-Literatur erotisiert – geht es hurtig zur Sache, und eine Dreiviertelstunde nach Tanners erster Begegnung mit einer Boutiquebesitzerin liegen sie aufeinander. Das klingt dann wie die Karikatur einer Altherrenphantasie: «Volle Brüste, deren Spitzen weit abstanden», «ihr dunkler, starker Pelz», «ein Glied, das mächtig von ihm abstand» – über den Rest legen wir den gnädigen Mantel der Verschwiegenheit und wünschen uns, der Autor hätte dies ebenfalls getan. Bei diesen Exkursen geht das Krimi-Thema gelegentlich verloren. Am künstlerischen Handwerk kann es nicht liegen. Urs Schaub war über dreissig Jahre lang als Dramaturg tätig. Aktuell ist er beim Erziehungsdepartement Basel Stadt als Projektleiter für Leseförderung zuständig. Der schulmeisterliche Ton hat auf den Krimi abgefärbt. Als Ingredienzien kommen dann noch eine Sekte, Missionare in Afrika und die Fremdenlegion dazu, Drogenhandel, eine Maschine, die die Energie im Weltall anzapfen soll, ein unterir26

Zürich: Rotpunkt, 2012. besprochen von Martina Läubli, Germanistin

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in Storchenbiss ist ein roter Hautfleck auf dem Hinterkopf eines neugeborenen Säuglings. Dieses rote Mal erscheint zwar nur auf dem Nacken des Bruders der Erzählerin, der später in einer psychiatrischen Klinik verschwindet; als Prinzip stigmatisiert der Storchenbiss aber alle Personen im gleichnamigen Debütroman: Yael Pieren erzählt ausnahmslos von gezeichneten Menschen. Ihr Text erweist sich als loses Gefüge, in dem die Menschen wie Figuren in einem Mobile in der Leere schweben, voneinander isoliert und ohne Gewicht. Da ist eine junge Frau, die sich nach dem Ende einer Beziehung in einer leeren Wohnung einrichtet; oder ein Mann, der bereits mit sechzehn verschiedenen Füllfedern versucht hat, seine Geschichte aufzuschreiben; oder eine Frau, die nach einem Streit mit einem Mann die Treppe hinunterstürzt und dadurch einen Finger verliert. Auf ihnen allen lasten Einsamkeit und bleierne Stille; für sie alle bedeutet Leben radikaler Verzicht: «Mein wertvollster Besitz wäre eine Schneekugel. Das ist sie wirklich.» Yael Pieren zeichnet ein totenstilles, von einem lebendigen Alltag gänzlich abgerücktes Universum. Die Personen in dieser Schneekugel bleiben namenlos. Erst allmählich zeigt sich, dass hier ein Paar und dessen Tochter dem stillen Gestöber ausgesetzt sind. Und mit der zunehmenden Verflechtung der Kapitel lassen sich auch die Gründe für ihre Isolation erahnen; es sind Erfahrungen von Verlassenwerden und von häuslicher Gewalt, im Extremfall gar von Misshandlungen, denen etwa der Mann als Verdingbub ausgesetzt war, von Schlägen und von einer in den Hintern gerammten Mistgabel. Alle Figuren kämpfen mit ihrem eigenen «Knäuel an unliebsamen Erinnerungen» und mit dem damit verbundenen «Grauen». Dieses bricht dann und wann in unmittelbarer, plötzlicher Gewalt hervor.


Micieli reist Die junge Basler Autorin wagt viel. In ihrem Debüt sucht die Philosophiestudentin nach einer Sprache für die Auswirkungen von traumatischen Erfahrungen. Dazu wählt sie einen poetisch aufgeladenen Ton, dem ein hintergründiges Raunen innewohnt. Ein unheilvolles Grollen, der literarische Vorbote eines heftigen Sturms. Allerdings: die Ereignisse und familiären Verwerfungen zeichnen sich in den bedeutungsschweren Sätzen der Newcomerin nur schemenhaft ab. Yael Pieren versucht, mit Worten gegen die Verlassenheit anzukämpfen und Traumata mit einem Sprachrausch zu betäuben. Dabei deckt sie die namenlosen Charaktere nicht selten einfach zu. Ihr ambitionierter Roman fordert von den Lesenden also Geduld und Kombinatorik, beides wird belohnt mit Formulierungen, die die existentielle Beunruhigung der Romanfiguren auf den Punkt bringen: «Ich bin davon ausgegangen, dass man mit gewissen Umständen leben kann, ohne sie zu akzeptieren.» Unsere Ansichten über das Leben sind also nichts als Hilfskonstruktionen. Es könnte auch alles ganz anders (gewesen) sein. Dass einem beim Lesen diese Einsicht immer mehr unter die Haut kriecht, ist die literarische Leistung von Storchenbiss. Eine Lektüre für alle, die gern über die eigene Schneekugel hinausdenken.

Bern–Berlin: 8 Stunden, 8 Minuten. Menschen, die in der Früh lachen, fallen auf. Laut lachende Menschen wirken auf viele gar bedrohlich, ja vulgär – vor allem dann, wenn alle zur Arbeit fahren. Es stellt sich die Frage: Was ist bloss mit ihnen los? Es ist 7 Uhr und ich steige lachend in den Zug von Interlaken nach Berlin. Neben den Pappbecher Kaffee lege ich ein Buch. Das Objekt, das Grund meiner vulgären Tat ist: «Roger Rightwing köppelt das feingeistige Tischgespräch» (Lenos) von Dante Andrea Franzetti. «Um ihn herum waren alle verrückt geworden: Christoph Sünneli rast in ein Verkehrsschild und wird Sozialist. Der Korrektor Stomp verkleidet sich als Penner. Dark Vader will die AHV erhöhen. Und jetzt Mary-Lou.» Meine Lachanfälle im ruhigen Abteil erinnern mich an die Zeit meiner Diplomarbeit über das Theater von Dario Fo. In den heiligen Hallen der Nationalbibliothek von Florenz musste Gianna mich ganz streng

Das Kalb sind wir

anschauen, damit ich nicht wegen der urkomischen Einfälle Darios loslachte. Wir wären beide rausgeworfen worden. Einmal schaffte sie es nicht – und wir flogen

Peter von Matt: Das Kalb vor der Gotthardpost.

raus. Und verliebten uns. Franzetti ist ein genuiner

Zur Literatur und Politik der Schweiz.

Vertreter dieser Tradition, die auf die «Komödie» setzt,

München: Hanser, 2012.

um gesellschaftskritische Themen zu verhandeln.

besprochen von Christof Moser, Journalist

Manchmal bleibt dem Leser das Lachen im Halse stecken. Ich sitze mit Roger beim Psychiater. Vor Basel Badischer Bahnhof lege ich das Buch weg. Ich will nicht ohne Selbstkontrolle sein, wenn die Grenzwacht vorbeikommt.

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in Meisterwerk, dieses Buch. Poppig aufgezogen und präzise auf den Punkt geschrieben. Mit scharfer Klinge schlachtet Literaturprofessor Peter von Matt in seiner Textsammlung das verängstigte Kalb vor der Gotthardpost, das sich dem Fortschritt verweigernde Ich in uns allen, die wir Schweizer sind. Rudolf Kollers Kalb vor der Gotthardpost, 1873 gemalt, als Geschenk für Alfred Escher gedacht, der mit seiner Gotthardbahn das Ende der Postkutsche einläutete, ist Ausgangspunkt für eine rasante Reise durch die schweizerische Gesellschaft und Politik der letzten Jahrhunderte, von der Geburt allgegenwärtiger Mythen des Landes bis ins Jetzt, die moderne Schweiz, die sich an der Nabelschnur der Eidgenossenschaft zuweilen stranguliert, bis die Luft wegbleibt. Höchst kenntnisreich, entlang eines literarischen Kanons, von Albrecht von Haller über Jeremias Gotthelf bis zu Max Frisch und Friedrich Dürrenmatt, beschreibt von Matt den Aufstieg des widerborstigen Berglers zur Landesideologie. Und

Ab und an mache ich Kraftkurzschlafpausen. Zum Glück weckt mich ein netter Brezelverkäufer der Deutschen Bahn. Draussen stehen schon die Windräder vor den Toren Berlins. Wie die Ritter Don Quichottes. «Ich bin im falschen Film, das dachte er natürlich auch. Falscher Film! Aber man kann auch im falschen Film eine wichtige Rolle spielen. Was ist besser: die Nebenrolle im richtigen oder die Hauptrolle im falschen Film?» Darüber grübelnd: noch ein Nickerchen. Im sandigen Augenwinkel entdecke ich bald das Grips-Theater. Ich stecke, wieder lachend, das Buch in die Tasche und gehe Richtung Ausgang. Viel zu früh. � Francesco Micieli ist Schriftsteller und hat bei Reisen stets ein Buch für uns in der Tasche.

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Kurzkritik

räumt radikal mit derlei Mythen auf, indem er den Bogen in ihre Gegenwärtigkeit schlägt: «Noch immer kommen sich Leute, die stadtnah und an bevorzugter Lage in angenehmen Villen leben, als geborene Bergler vor, spielen im Nadelstreifenanzug den politischen Wurzelsepp und werden dafür von den anderen synthetischen Berglern begeistert beklatscht.» Ein Satz, den kein Poetry Slammer besser hinbekommen hätte. Einseitig ist von Matt aber nicht. Zerlegt er Schweizer Mythen, zielt er auch auf linke Intellektuelle, wie zum Beispiel im Essay «Das nationale Symbol der postheroischen Gesellschaft». Angesichts der Tatsache, dass mit Johanna Spyris Heidi die Hauptfigur aus einem «sentimentalen Kinderbuch» zum Symbol der Schweiz werden konnte, fragt von Matt listig: «Hat sich die Patriotismuskritik der Schriftsteller und Künstler gelohnt, wenn am Ende nur noch die intellektuelle Leere hinter einem Stück Kitsch übrigbleibt?» Peter von Matt ist ein modernes, süffiges Buch gelungen, Pflichtstoff für den Geschichtsunterricht. Allein schon wegen seines leidenschaftlichen Plädoyers, den Dialekt und das Hochdeutsche als sprachliche Einheit zu begreifen, das eine (angebliche Muttersprache) nicht gegen das andere (angebliche Fremdsprache) auszuspielen, an letzterem aber dringend wieder mehr zu schleifen. Weil wir stolz auf unsere helvetische Diglossie, also das Nebeneinander zweier gleichwertiger Sprachen, sein können. Peter von Matt schafft, was nicht viele schaffen, die sich mit Schweizer Geschichte beschäftigen: den ganzen alten Schweizer «Stolz» (Wilhelm Tell, einem dänischen Märchen entsprungen; die Neutralität, von aussen aufgezwungen usw.) komplett in Trümmer zu legen, um daraus zeitgemässen Stolz zu formen. Auch wenn die letzten drei, vier Essays abgehangene Füllstoffe sind: unbedingter Lesetip!

Menschenfrass Michail Schischkin: Briefsteller. München: DVA, 2012. besprochen von Olivia Bosshart, Kulturvermittlerin

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in grosser, anrührender Liebesroman» von einem «neuen Tolstoi» soll er sein, dieser Roman. So zumindest Buchrücken und Presse. Was lag also näher, als die Lektüre von Michail Schischkins Briefsteller mit Krieg und Frieden im Hinterkopf zu beginnen? Und da es sich hier um einen Brief-

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roman handelt: auch mit ein bisschen vergnüglicher Erinnerung an de Laclosʼ Gefährliche Liebschaften? Tatsächlich handelt Schischkins neuer Roman von Liebe und von Krieg, von Leidenschaft und Leid. Vom Liebesleid und vom Leid enttäuschter Hoffnungen. Vom Alleinsein, da der Geliebte in den Krieg zieht – und vom Alleinsein in einer erloschenen Beziehung. Aber am eindringlichsten beschreibt der seit 1995 in Zürich lebende Schischkin das physische Leiden, körperliche Schmerzen und schreckliche Verwundungen, die Menschen einander im Krieg zufügen. In einem Krieg, der noch Bajonette kannte und in dem Soldaten noch zu Fuss marschierten. «Jeder Schritt, den ich hier tue, hat nur deshalb einen Sinn, weil es ein Schritt auf Dich zu ist. Wohin ich auch gehe, ich bin auf dem Weg zu Dir», schreibt Wolodja seiner Geliebten. Und er schreibt von unerträglicher Hitze, sintflutartigen Regenfällen, Entbehrungen und Tod. Und mehr noch als die überzeugend realitätsnahen Schilderungen des tristen Alltags einer alt gewordenen und unglücklichen Frau im Jetzt, von dem Saschenkas Briefe berichten, sind es diese Beschreibungen des Boxer-Krieges, die den Leser hin- und herreissen. Zwischen Faszination und Bewunderung für den Autor einerseits und der Abscheu vor dem so eindrücklich Beschriebenen. Die bildhafte Eindringlichkeit der Sprache erinnert dabei an das Können Elfriede Jelineks: Wer ihre Klavierspielerin gelesen hat, mag bisweilen ihre Gabe verwünscht haben, so schreiben zu können, dass das Erzählte nahezu physisch spürbar wird. Wie es Schischkin hier gelingt, dem Leser so plastisch das Elend der Verletzten vorzuführen, die bei sengender Sonne im Lazarettzelt liegen, schreiend vor Schmerzen und darum bettelnd, man dürfe ihnen nicht die Gliedmassen amputieren, ist mehr als eindrücklich. Auch die Folgen der katastrophalen hygienischen Verhältnisse werden in derart anschaulichen Bildern heraufbeschworen, dass der Leser sich des Eindrucks kaum erwehren kann, gleichsam diese vergiftete Luft zu atmen. Er liest nicht, wie die Ruhr und andere Krankheiten sich langsam zwischen Verletzten, Sterbenden und Toten ausbreiten – er sieht es: «In einer Brandstätte […] wühlten ein paar asche-verklebte Schweine. […] Ein verglommener Arm ragte empor, bekam einen Stoss, die Finger bröckelten ab. Es stank wie die Pest. […] Jetzt habe ich also auch noch gesehen, wie Schweine gebratene Menschen fressen, […] aber wozu musste ich das?» Wer literarisierte Kriegsgreuel dieser Art verträgt, wird im Briefsteller ein beeindruckend kontrastreiches und sprachgewaltiges Buch finden, eines der besten dieses Literaturherbsts, das sich tatsächlich mühelos über Zeit und Raum hinwegsetzt.�


Kurze Sätze über Grate

Karakorum Highway to Hell

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Markus Rottmann lebt und schreibt in Zürich.

a ist dieses verschrobene Titelbild. Ein diesig verschleierter Gigant, der K2, die Majestät unter den Killern im Himalaya, keineswegs in voller Pracht, in partieller Unschärfe sogar, davor drei Männer im Gletschergeröll liegend, vom Kopfweh hingeschmettert, einer hält sich die Stirn. Die Expedition, das Siechtum in den stinkenden Stoffzelten, alles ist vorbei. Nicht das beste Bild dieser Pionierfahrt ans obere Ende der Welt. Doch in keiner anderen Aufnahme flirrt das Verderben besser. Wie ein Fluch lastet auf beiden Expeditionen die ihnen unbekannte Höhenkrankheit – und Aleister Crowley. Aber es gibt auch heitere Aufnahmen. Oscar Eckenstein, wie er auf abschüssigem Gletschereis mit Pfeife im Mund seine neuesten Erfindungen vorturnt: Kurzstiel-Pickel und Steigeisen! Der Engländer praktiziert den führerlosen Alpinismus, was ihm «abscheuliche Beziehungen zum Alpenclub einträgt», ihn aber wohl wenig geniert haben dürfte. Er war unter den ersten, die in den Karakorum vordrangen, und schart nun Gleichgesinnte um sich für die Reise zum K2. Bis dahin nur indischen Geologen durchs Fernrohr bekannt. Mit dabei: Jules Jacot Guillarmod, Schweizer Arzt und Photograph. Dann das erste Bild von Aleister Crowley, dem grossen Okkultisten und Würdenträger des redlich erworbenen Titels «verruchtester Mensch der Welt». Hier sitzt der Teufel auf einem weissen Pferd, apart in farbige Decken gehüllt. Übelgelaunt blickt er um sich, die Malaria im Leib. Ausgerechnet der renitente Poet und Drogenfreak wird Zeltpartner des Schweizer Expeditionsarztes. Das grosse Tier 666 ist er zwar noch nicht, doch gemäss Guillarmods Tagebuchnotizen menschlich und hygienisch schon ein richtiger Sauhund. Dass er den Arzt beinahe täglich im Schach schlägt, hilft auch nicht. Sie werden nicht gemeinsam auf dem K2 stehen – und schon gar nicht auf dem Kangchenjunga, von dem Crowley nach dem tödlichen Unglück eines Bergsteigers als quasikrimineller Expeditionsleiter endgültig in die Hölle seiner Opiate absteigen sollte. Guillarmods Wut auf «diese Pest» hätte nicht grösser sein können – aber sollen. Denn schon bald zerschellt sein um Wissenschaftlichkeit bemühtes Vermächtnis an der rasenden Egomanie des britischen Exzentrikers.

Das erstaunt nicht, seine Tagebücher füllt Guillarmod wie ein besserer Aktuar. Doch bringt er Photographien mit nach Hause, die an Faszination und Exotik in nichts dem dunklen Poeten nachstehen. Obwohl er als Laternenbildvortragender in den Salons der Belle Epoque Erfolge feierte, setzten sich Crowleys Phantastereien durch. Erst jetzt hat Charlie Buffet die 12 000 Glasplatten aus der Dunkelheit geholt und zu einem Photoband ediert, der mit pointierten Texten die Ereignisse der beiden Expeditionen neu erzählt und richtigstellt. Sie werden zur Geschichte zweier Männer, die in grosser Hassfreundschaft verbunden waren, als Sonderlinge im damaligen nationalistisch geprägten Alpinismus: der Schweizer und der Satanist. Im Nachhinein betrachtet, sind Guillarmods Bilder von erdrückender Symbolik, aber auch voll monumentaler Freude am Aufbruch und an den Bergen. Es gibt dieses Gruppenbild vom Lager VI kurz vor dem Unglück am Kangchenjunga, das einzige übrigens, auf dem Crowley dabei ist; Guillarmod hatte sich auf der zweiten Expedition geweigert, ihn zu photographieren. Das Lager scheint zu schwanken zwischen den beiden Abgründen des Schneegrats, Fetzen flattern von den Zelten und den Bergsteigern. Lässig hängen sie in der Todeszone wie eine von Fellini inszenierte Bande alpiner Piraten. Der einzige, der in die Kamera blickt, trägt eine gespenstische Gesichtsmaske. Oder das unschlagbare Porträt von Crowley in Schwefel badend. Oder die erste jemals aufgenommene Photographie des K2. Leider nicht im Mondlicht, findet Guillarmod. Oder die beiden Kuhlen im Gletscher, Schlafsackabdrücke der Männer, die hier langsam einsanken als ob in ihr Grab. Oder die Bergsteiger am nassen Schlund eines Wasserfalls namens «Teufels Küche», Crowleys Kletterfelsen im schottischen Hochland. Was nur hat Guillarmod hierher getrieben, um dem unerträglichen Klaus Kinski seiner ersten Expedition die Leitung seiner nächsten zuzusichern? Ein Bildband, der in seiner Grossartigkeit nicht zu fassen ist. � Charlie Buffet: Pionier am K2 – Jules Jacot Guillarmod. Entdecker und Fotograf im Himalaya, 1902–1905. Zürich: AS-Verlag, 2012.

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Impressum / Aussicht

Impressum «Literarischer Monat», Nr. 09 Ausgabe Dezember 2012 / Januar 2013 Sonderbeilage des «Schweizer Monats» VERLAG SMH Verlag AG HERAUSGEBER & CHEFREDAKTOR René Scheu rene.scheu@schweizermonat.ch

Freie Sicht auf neue Bücher. Das ist der «Literarische Monat»! Erscheinungstermine 2013

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RESSORT KULTUR Michael Wiederstein michael.wiederstein@schweizermonat.ch KORREKTORAT Roger Gaston Sutter Der «Literarische Monat» folgt den Vorschlägen zur Rechtschreibung der Schweizer Orthographischen Konferenz (SOK), www.sok.ch.

1. März

Stage Serena Jung serena.jung@schweizermonat.ch

1. Mai

Titelbild Christian Uetz

1. Juli

GESTALTUNG & PRODUKTION Sabine Ruepp, www.aformat.ch

1. Oktober

MARKETING & VERKAUF Urs Arnold urs.arnold@schweizermonat.ch

1. Dezember

ADMINISTRATION/LESERSERVICE Anneliese Klingler (Leitung) anneliese.klingler@schweizermonat.ch Rita Winiger rita.winiger@schweizermonat.ch ADRESSE «Schweizer Monat» SMH Verlag AG Vogelsangstrasse 52 8006 Zürich +41 (0)44 361 26 06 www.schweizermonat.ch ANZEIGEN anzeigen@schweizermonat.ch DRUCK pmc Print Media Corporation, Oetwil am See www.pmcoetwil.ch BESTELLUNGEN www.schweizermonat.ch Unterstützung UBS Kulturstiftung Oertli-Stiftung

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Anregende Essays fernab des Mainstreams und ein erfrischender Panoramablick auf Neuerscheinungen der Schweizer Literatur. Neue Ideen. Das ist der ‹Schweizer Monat›. Ich freue mich auf jede Ausgabe.» Thomas Hürlimann, Schriftsteller

Die Lesezeitschriften

im Doppelpack. Jetzt abonnieren! www.schweizermonat.ch


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Hernán Ronsino Letzter Zug nach Buenos Aires Roman ISBN 978-3-03762-022-9 Übersetzung aus dem Spanischen von Luis Ruby. 104 Seiten, gebunden, mit Lesebändchen.

Kaspar Schnetzler Nach Berlin Der Roman eines sehnsüchtigen Zürchers, der unter dem weiten preußischen Himmel traumwandelt und schließlich im Emmental gebodigt wird.

Die Originalausgabe erschien 2009 unter dem Titel Glaxo im Verlag Eterna Cadencia in Buenos Aires.

Kaspar Schnetzler Nach Berlin Roman ISBN 978-3-03762-021-2 502 Seiten, gebunden, mit Lesebändchen. 1000 Exemplare der Erstauflage sind in Naturleinen gebunden und nummeriert.

Die Originalausgabe erschien 2011 unter demselben Titel bei Libella, Paris.

Max Rüdlinger

Max Rüdlinger Verreist – Eine Landkarte des Abschweifens ISBN 978-3-03762-027-4 192 Seiten, farbige Fotos, broschiert, fleurs de benbil V XII, 2. Auflage

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Mix Weiss Vabanque Journal einer Amour fou ISBN 978-3-03762-026-7 200 Seiten, gebunden, mit Lesebändchen. Der Zigeuner Vladimir und die Journalistin Julieta in einer Liebesgeschichte um Leben und Tod.

Pedro Lenz Übersetzung: Raphael Urweider

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Olivier Sillig Olivier Sillig Skoda Roman ISBN 978-3-03762-023-6 84 Seiten, gebunden, mit Lesebändchen. Aus dem Französischen von Claudia Steinitz. Antikriegsroman um einen jungen Soldaten und ein Baby.

Hernan Ronsino

Mix Weiss VA BA NQU E Journal einer Amour fou

Pedro Lenz Der Keeper bin ich Roman ISBN 978-3-03762-024-3 171 Seiten, gebunden mit Lesebändchen. Die Originalausgabe erschien 2010 unter dem Titel Der Goalie bin ig im Verlag Der gesunde Menschenversand. Der Verlag dankt der Kulturstiftung Pro Helvetia für die Unterstützung bei der Finanzierung der Übersetzung durch Raphael Urweider.

Unterhaltung mit Haltung – seit 2001 Josefstrasse 52 8005 Zürich www.bilgerverlag.ch


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