Schweizer Monat, 1007, Juni 2013

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Z u wa n d e ru n g : D i e S c h w e i z p ro f i t i e rt au c h l i t e r a r i s c h ! M i t T e x t e n vo n Margrit Zinggeler, Francesco Micieli und Michail Schischkin

Ausgabe 1007 Juni 2013 CHF 20.– / Euro 17.–

D i e Au t o r e n z e i t s c h r i f t f ü r P o l i t i k , W i r t s c h a f t u n d K u lt u r

Endspiel Bankgeheimnis Die meisten Banker haben es längst begraben. Einer nicht. Er will es in die Bundesverfassung schreiben. Was treibt Thomas Matter?

Europa schmecken und denken Hans Magnus Enzensberger, Beat Kappeler, Reiner Eichenberger, David Stadelmann, Bruno S. Frey und Michail Ryklin vermessen den Kontinent neu

Die fünf grössten Risiken unserer Zeit Ein Höllenritt mit dem Schnell- und Tiefdenker Didier Sornette


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Schweizer Monat 1007  Juni 2013  Editorial

Editorial

A

René Scheu Herausgeber

usländische Fiskalbehörden haben sich am helvetischen Schutz der finanziellen Privatsphäre nicht die Zähne ausgebissen, wie selbstbewusst auftretende Schweizer Politiker bis vor kurzem gemutmasst haben. Vielmehr hat sich der Bundesrat im Verbund mit grossen einheimischen Finanzinstituten still vom Bankgeheimnis gegenüber ausländischen Kunden verabschiedet. Nun will ausgerechnet ein Bankier den Schutz der finanziellen Privatsphäre in die Bundesverfassung schreiben und spricht – scherzhaft? – von einer «Réduit-Strategie». Ist es ziviler Ungehorsam, der den Unternehmer Thomas Matter antreibt – oder doch eher Geschäftssinn? Und ist das Bankgeheimnis – eigentlich ein Bankkundengeheimnis – mehr als der Fetisch einer heilen helvetischen Republik, die gerade dabei ist, sich abhanden zu kommen? Mehr im grossen Gespräch ab S. 12. – Bankenkritiker René Zeyer liefert ab S. 23 eine polemisch-pointierte Sicht auf den Grossbankenplatz Schweiz. Die Situation scheint zerfahren. Warum tun sich Banken und Politik so schwer damit, eine kohärente Position zu beziehen? Wir bleiben dran. In der Juli/August-Ausgabe warten wir mit konstruktiven Vorschlägen zur Zukunft des helvetischen Finanzplatzes auf. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) macht neuerdings mit nur schwer nachvollziehbaren Urteilen von sich reden. Nachdem der EGMR hierzulande lange kein Thema war – die Schweiz trat der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) im Jahre 1974 bei –, regt sich nun zunehmend Widerstand. Und es stellt sich die Frage: Verstösst der EGMR womöglich gegen die EMRK, die eigene rechtliche Grundlage? Findet mithin eine willkürliche Auslegung der «Menschenrechte» statt, die ihnen letztlich irreversiblen Schaden zufügt? Mehr dazu in der kritischen Bestandesaufnahme des aufstrebenden niederländischen Intellektuellen Thierry Baudet ab S. 28. Wir trafen Hans Magnus Enzensberger, das grosse deutsche Schriftsteller-Multitalent, im Frühjahr in Ascona. Er war guter Dinge und gewährte uns spontan eine positiv gestimmte Blattkritik. Was er sich noch wünscht? Mehr schräge Texte – zum Beispiel die «Rezension eines Ikea-Katalogs aus poetologischer Sicht». Wir baten ihn lieber um einen Text über Europa. Und haben ihn bekommen. Für «schräg» befinden wir seine kulinarische Reise über den Kontinent nicht – literarisch-schmackhaft ist sie allemal. Mehr zu Bacalhau, Risotto und Fruit Cake in unserem Dossier zu Europa, das einen kritisch-konstruktiven Kontrapunkt zum aktuellen EU-Bashing setzt und voller vielfältiger Überraschungen steckt, ab S. 45. Vielfalt ist nicht nur das Stichwort dieses Dossiers, sondern auch ein Kennzeichen des aktuellen Literaturplatzes Schweiz. Die in den USA lehrende Literaturprofessorin Margrit Zinggeler erklärt ab S. 80, wieso dieser Umstand jüngst vor allem den sinnlich schreibenden Immigranten zu verdanken ist. Die Schriftsteller Michail Schischkin (S. 90) und Francesco Micieli (S. 86), beides Vertreter dieser Gruppe, flankieren Zinggelers These mit exklusiven literarischen Beiträgen. Anregende Lektüre!

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Inhalt  Schweizer Monat 1007  Juni 2013

Inhalt

Anstossen

Vertiefen

7 Der Bürger und die «Bürgerlichen» René Scheu

47 Ist es angerichtet? Europa schmecken und denken

8 Vermittelter Luxus Xenia Tchoumitcheva 8 «Exgüsi, entschuldiget Sie…» Gottlieb F. Höpli 9 Vogelgezwitscher Niko Stoifberg und Lina Müller 10 Die Bombe Wolfgang Sofsky 13 Der Chef ist kein Papa Reinhard K. Sprenger

50 1_Was is(s)t Europa? Hans Magnus Enzensberger 55 2_Die Super-EFTA Beat Kappeler 60 3_So hat die EU eine grosse Zukunft Reiner Eichenberger und David Stadelmann 64

4_Experimentierfreudiges Europa Bruno S. Frey

69 5_Was die Europäer gern vergessen Michael Wiederstein spricht mit Michail Ryklin

Weiterdenken

Erzählen

14 Fetisch Bankgeheimnis? René Scheu trifft Thomas Matter

75 Jede (wirklich jede) Idee hat eine faire Chance Simon M. Ingold

21 Szenen einer Ehe zwischen Politik und Grossbank Hans Geiger

76

23

82 Sinnlicher, engagierter und besser Margrit Zinggeler

Auf den Spuren der Dinosaurier René Zeyer

Das Meer in der Stadt Giorgio von Arb

28 Heilige, Bürger, Bürokraten Nassim Nicholas Taleb

88 Der Gast Francesco Micieli

29 «Was passiert, wenn die Gelder kurzerhand abgezogen werden?» Florian Rittmeyer trifft Christine Lagarde

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30 Das Europa der Menschenrechte Thierry Baudet 33 Hier liegt ein Hund begraben Mirjam B. Teitler

Larionows Aufzeichnungen Michail Schischkin

95 Die Brücke Rahel Senn 96 Nacht des Monats Serena Jung trifft île flottante 98 Vorschau & Impressum

39 Grüne Bauernschläue Christian Hoffmann 40 Viren, Inflation und Nuklearsprengköpfe René Scheu und Florian Rittmeyer treffen Didier Sornette 46 Zur Lage der Politikverdrossenheit Markus Fäh & Andreas Oertli Titelbild: Thomas Matter, photographiert von Thomas Burla.

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Schweizer Monat 1007  Juni 2013  Inhalt

14 Wenn wir die finanzielle Privatsphäre nicht mehr schützen, dann sind wir auf dem Weg zum totalen Staat. Thomas Matter

40 Bakterien werden immer resistenter gegen Antibiotika, und wir laufen Gefahr, den Krieg gegen die Bakterien zu verlieren. Didier Sornette

Christine Lagarde auf Seite

29

Die unkonventionelle Geldpolitik hat die Kapitalflüsse in emerging markets getrieben. Was passiert, wenn diese Gelder kurzerhand abgezogen werden?

Hans Magnus Enzensberger auf Seite

50

Man kann über die unglaubliche Vielfalt Europas viel debattieren, reden und schreiben – um sie aber wirklich zu erfahren, sollte man sie schmecken.

Michail Ryklin auf Seite

69

Wer von einer EUdSSR spricht, hat mit grosser Wahrscheinlichkeit nie in der UdSSR gelebt.

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Wissen Sie, was morgen ist? 2 Szenario 2: Die Schuldenkrise eskaliert. Immer Wir wissen es nicht. Deshalb denken wir in Szenarien,

mehr Staaten zieht es unkontrolliert in den «Roten Abgrund» und der Euro bricht auseinander. Die wirtschaftliche Lage gerät

um Ihr Vermögen zu schützen.

dabei ausser Kontrolle. Szenario 1: Die industrialisierte Welt bleibt

1

überschuldet und wachstumsschwach. Das «Aussitzen und Wursteln» setzt sich fort. Die Probleme werden weiterhin durch billiges Geld und ständig neue Verschuldung in die Zukunft verschoben.

5 Szenario 5: Dank tiefgreifenden Reformen

3 Szenario 3: Die überschuldeten Länder schnallen den Gürtel rigoros enger. Einschneidende Sparmassnahmen gehen einher mit massiven Lohneinbussen. Diese «Schmerzhafte Anpassung» treibt Europa in eine Rezession.

4 Szenario 4: Asien und weitere Schwellenländer

entsteht wieder Wachstum und Staatsschulden

entwickeln sich weiterhin rasant. Treibende Kraft ist die aufstrebende Mittelschicht in den

sinken. Wirtschaftliche Ungleichgewichte in der Eurozone bauen sich ab. Die «Stetige

Schwellenländern. Vom wirtschaftlichen Aufstieg des «Goldenen Ostens» profitiert auch der

Bewältigung» ist ein beschwerlicher, aber erfolgversprechender Weg.

Rest der Welt.

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Ohne Scheuklappen

Der Bürger und die «Bürgerlichen» von René Scheu, Herausgeber und Chefredaktor

Q

uizfrage: Was ist heute ein Bürger? Das ist jemand, der sich mit Hilfe seines politischen Mitspracherechts holt, was ihm als Teilhaber des Staates zusteht. Oder genauer: der sich das holt, von dem er glaubt, dass es ihm zustehe. Dies scheint mir eine mittlerweile mehrheitsfähige Definition des Selbstverständnisses von Bürgern spätdemokratischer Gesellschaften zu sein. An dieses Selbstverständnis fühlte ich mich erinnert, als ich jüngst eine Werbe-E-Mail des SP-Nationalrats und SM-Autors Cédric Wermuth erhielt. Er beklagt darin die angeblich zunehmende Ungleichheit in der Verteilung von Vermögen und Einkommen in der Schweiz und lanciert zugleich – ich zitiere – die «‹Nehmt den Reichen das Geld weg›-Tour». Die Adressaten werden ironiefrei dazu aufgefordert, sich der Vermögen und Einkommen anderer Leute zu bedienen. Moralische Skrupel sind nicht angebracht, denn es hat sich längst herumgesprochen, dass Reichtum Diebstahl sei. Nun ist es am «Volk», sich jenen Teil des «Volksvermögens» zurückzuholen, der ihm nach eigenem Ermessen zusteht (Marxens «Expropriation der Expropriateure»). Aufmerksame Zeitgenossen muss diese wieder salonfähig gewordene kollektivistische Denkungsart ebenso beunruhigen wie die Stigmatisierung einer Minderheit («die Reichen»). Aber vor allem – hatten jene, die sich einst die Demokratisierung der Gesellschaft auf die Fahnen schrieben, wirklich diesen Bürger vor Augen? Soziologen unterscheiden gerne zwischen «citoyen» und «bourgeois», zwischen dem guten, gemeinwohlorientierten Mitmenschen und dem kaltherzigen, auf die eigenen Pfründe bedachten Egoisten. Marxens Verächtlichmachung der «bourgeoisie», der Klasse der ausbeutenden Kräfte, wirkt bis heute nach. Dies beschert linken Politikern aller Parteien viel Mobilisierungspotential. Dabei lassen sie ausser Acht (oder nehmen bewusst in Kauf), dass sie damit jene Art von Mensch schaffen, gegen den sie Sturm zu laufen vorgeben: den Eigennutzmaximierer. Der Staatsbürger wird darauf trainiert, bloss noch auf sich selbst fixiert zu sein und durch sein politisches Verhalten seine staatliche Rente zu erhöhen. Er entscheidet, andere bezahlen die Zeche; er handelt, andere tragen die Folgen. Klassiker des politischen Denkens wussten, dass eine Demokratie auf Dauer nur funktionieren kann,

wenn der «citoyen» zugleich «bourgeois» ist – wenn er, in den Worten Immanuel Kants, «sein eigener Herr ist». Und Herr seiner selbst ist nur, wer «irgendein Eigentum habe (wozu auch jede Kunst, Handwerk, oder schöne Kunst, oder Wissenschaft gezählt werden kann), welches ihn ernährt». Unabhängigkeit – geistige und ökonomische Unabhängigkeit, also auch Unabhängigkeit vom Staat – sind unverzichtbare Voraussetzungen für ein verantwortungsbewusstes Leben als Bürger. Ohne Unabhängigkeit keine Verantwortung. Und ohne Verantwortung kein Gemeinwohl. Wobei «Gemeinwohl» jenseits des politinstrumentellen Gebrauchs eine plausible Bedeutung hat: Ich, Bürger, denke nicht nur hier und heute an mich, sondern zugleich an meine Familie, meine Eltern und Grosseltern, meine Nachbarn, meine Arbeitskollegen, an meine und ihre Zukunft. Sich bürgerlich nennende Politiker haben sich einst für die Bürger im vollen Sinne – «bourgeois» und «citoyen» – eingesetzt. Wer sie heute agieren sieht, kommt zum Schluss, dass sie an die Richtigkeit ihrer Anliegen selbst nicht mehr glauben. Geblieben ist «bürgerliche Rhetorik» ohne ein Vorleben bürgerlicher Grundsätze. Die «Bürgerlichen» erscheinen allzu oft als Vertreter fremder Interessen, als Karrieristen und Berufspolitiker; dass sie sich die Hände schmutzig machen, «ihre Haut aufs Spiel setzen» (vgl. Nassim Taleb auf S. 28), ist in solchen Lebensläufen nicht mehr vorgesehen. Cédric Wermuth – auch er Berufspolitiker, allerdings weil er wirklich an den Stand der Berufspolitiker glaubt – putzt derweil die Klinken. In seiner E-Mail schreibt er weiter: «Du lädst mindestens zehn Leute zu dir nach Hause zum Essen ein, und ich bringe den Vortrag mit – zum Dessert gibt’s einen spannenden Diskus­ sionsabend am Familien- oder WG-Tisch.» Hier zieht ein antibürgerlicher Nationalrat von Haus zu Haus, Tag für Tag, um für sozialistische Initiativen und Anliegen zu werben. Wermuth ist sich für nichts zu schade. Da hat ein Chrampfer die bürgerlichen Tugenden verinnerlicht und agiert wie ein Politunternehmer (wenn das Business auch vor allem in Schwatzen besteht). Über so viel schmutziges Engagement rümpfen bürgerliche Politiker gerne die Nase. Dabei könnten sie von Wermuth viel lernen.� 7


Anstossen  Schweizer Monat 1007  Juni 2013

Kultur leben

Vermittelter Luxus

W

«Exgüsi, entschuldiget Sie…»

Xenia Tchoumitcheva

Gottlieb F. Höpli

ist Ökonomin und Model.

war bis ins Jahr 2009 Chefredaktor des «St. Galler Tagblatts» und ist Präsident des Vereins Medienkritik Schweiz.

er in der Gesellschaft nicht nur mitschwimmt, sondern sie von aussen beobachtet, sieht, wie der Einzug des Internets das Konsumverhalten verändert hat. Aus blossen Konsumenten sind wählerische Kunden geworden. Sie kaufen nicht mehr einfach, worauf man sie mit Plakatwänden oder klassischen Werbungen ansetzt. Sie haben – zum Teil ganz neue – Ansprüche. Vorbei also die Zeiten, in denen das blosse Zurschaustellen unerreichbarer Hollywoodstars mit teuren Armbanduhren die Leute bewogen hat, sich einen Zeitmesser zu kaufen. Der moderne Kunde will sich mit etwas identifizieren, das er als authentisch wahrnimmt und das einen Bezug zu seiner Lebenswirklichkeit hat. Darauf beruht der Erfolg von RealityTV, darauf setzen Modejournalisten, die ihren Lesern jene Looks und Designer präsentieren, die sie selbst handverlesen haben. Gleichzeitig wollen Teilnehmer der Konsumöffentlichkeit ihre Meinung ausdrücken. Und sie wollen, neu, ständig bewerten. Bis vor wenigen Jahren noch hat das kaum ein Unternehmen ernst genommen, bis heute haben viele Anbieter keine Ahnung, ob – und wenn ja, wie – sie sich im Netz bewegen sollen. Zuerst haben sie das Internet als neues Medium verschlafen, nun verschlafen sie auch die neue Konsumentenkanalisierung im Netz: Dass fast jeder zweite Schweizer heute bei grösseren Anschaffungen zuerst im Netz nach Produkten sucht, ist vielen Anbietern unbekannt oder weiterhin ein Rätsel. Ich glaube, dass Gründe dafür einerseits in verkrusteten Unternehmensstrukturen liegen, andererseits im Alter des Kaders begründet sind: viele Entscheidungsträger sind keine «digital natives». Sie sehen im Internet immer noch eine andere, mitunter fremde Welt. Ich habe kürzlich ein Projekt gestartet, das in diese Lücke springen will und versucht, meine Anzahl von «followern» und meine Bekanntheit wirksam einzusetzen. Die Idee ist so simpel wie effektiv: ich empfehle persönlich ausgewählte Luxusartikel, und über meinen Bekanntheitsgrad erreiche ich viele Menschen, die sich dafür interessieren. Sie vertrauen mir – und ich führe im Gegenzug anspruchsvolle Kunden durchs Angebotschaos. Ein perfektes Modell. �

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Controcorrente

D

raussen schien die Sonne. Drinnen, wo ich verabredet war, nur Dämmerlicht. Prompt stolperte ich über einen Schirm, den ein Gast nachlässig an einen Stuhl gelehnt hatte. «Entschuldigung», entfuhr es mir unwillkürlich. Erst als der deutsche Gast lachte, kam ich ins Grübeln. Entschuldigung? Bei wem und wofür? So etwas gebe es auch nur bei den Schweizern, die sich für alles und jedes entschuldigten, erklärte der erheiterte Gast seinem Landsmann. «Sie, Entschuldigung!», rief auch eine Dame im Café der Bedienung hinterher. Ihr war nach der Bestellung noch etwas eingefallen. Es tönte nicht nach Bedauern darüber, die Serviertochter noch einmal zurückrufen zu müssen. Eher nach einem Befehl, den man besser nicht überhört. Entschuldigung? Ein wahrer helvetischer Entschuldigungs-Kult! Bei unseren nördlichen Nachbarn undenkbar. Und von deutschen Expats als weiterer Beleg für das übergrosse schweizerische Harmoniebedürfnis genommen: Probleme nie direkt, nur in Watte gepackt ansprechen, möglichst nur im Konjunktiv darüber reden. Und ein Dauerbrenner dazu: Der «Nebelspalter», die einstmals bekannte Zeitschrift mit satirischem Anspruch, karikierte den Schweizer immer wieder als «Herrn Schüüch», als Gegenteil des als Grossmaul dargestellten Deutschen, der sich in jeder Lebenslage zuerst die Frage stellte: Was denken jetzt wohl die anderen? Seine Erscheinung war die fleischgewordene Bitte um Entschuldigung dafür, dass er überhaupt existierte. Der Riss in unserem helvetischen Selbstwertgefühl sitzt anscheinend tief: Einerseits sehen wir uns immer noch als das auserwählte, von zwei Weltkriegen verschonte Volk. Andererseits zittern wir, wenn wir nicht mehr weltweit geliebt und bewundert werden. Unser Selbstwertgefühl ist, sagen wir es offen, im Keller. Und nicht einmal darin sind wir einzigartig: Selbstüber- und -unterschätzung liegen ja oft nahe beieinander. PS: Entschuldigung, dass ich Sie mit dieser Kolumne belästigt habe! �


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Stoifberg/Müller

Vogelgezwitscher

Niko Stoifberg ist Autor und Journalist in Luzern, Lina Müller Illustratorin und Künstlerin in Altdorf. 2012 haben sie gemeinsam «Das Blaue Büchlein» veröffentlicht, eine Sammlung von 366 «Vermutungen». Ihre Cartoons erscheinen erstmals und exklusiv im Schweizer Monat.

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Bild: Keystone AP/Ben Thorndike


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Sofskys Welt

Die Bombe

schuss fest. Ein Augenblick verändert alles. Soeben feierten die Zuschauer noch die Hobbyläufer, die gerade das Ziel erreichten. Doch jetzt ist alles in Trümmern, zersplittertes Glas, abgerissene Gliedmassen, Taubheit, Panik. Bevor der Bewegungssturm der Flucht losbricht, gibt es einen Zwischenmoment der Erstarrung, der Benommenheit, des instinktiven Selbstschutzes. Einige krümmen sich zusammen, ziehen die Knie an oder bedecken das Gesicht. Viele halten sich den Kopf, wischen sich die Augen, andere liegen nur da. Sie haben keinen Begriff, was mit ihnen geschehen ist. Das plötzliche Ereignis macht die Stetigkeit der Zeit zunichte.

U

So tief ist diese Zäsur, dass das unbefragte Weltvertrauen zerstört ngerührt schreitet der Photograph durch das Chaos. Er sucht

und soziale Bindungen zersprengt sind. Fast jeder ist mit sich

nach dem Motiv, nach dem besten Bild der ungeheuren

beschäftigt. Allein das Paar am linken oberen Bildrand, von dem

Begebenheit. Nur wenige Schritte sind es bis zu der Stelle, wo soeben

nur die Beine sichtbar sind, klammert sich aneinander. Auch eine

die Bombe explodiert ist. Gelassen hält er die Kamera griffbereit

einzelne helfende Hand ist in dem Qualm zu erkennen. Im rechten

in der Rechten. Die Welt ringsum ist aus den Fugen. Menschen

Vordergrund torkelt ein kräftiger Mann mit Sonnenbrille vor sich

wurden durch die Druckwelle zu Boden geworfen, sie liegen auf

hin und reibt sich halbblind die Augen. Mit der Rechten, in der

dem Rücken, dem Bauch, auf der Seite, einer kriecht auf allen

er eine Einkaufstüte hält, wollte er die junge Frau in der hellgrünen

vieren. Zwei junge Männer stürmen davon, einem hat es Hose und

Windjacke auffangen. Nun greift seine Geste ins Leere, sie sieht

Jacke zerfetzt. Auch das Mädchen im pinkfarbenen Kapuzenshirt

und hört nichts. Die Explosion hat Augen und Ohren, die Sinnes-

läuft jetzt weg. Eine Sekunde zuvor hatte es sich noch den beissen-

fenster zur Welt, zugeschlagen. Diese Blockierung der Sinne

den Qualm aus dem Augenwinkel gerieben. Viele halten sich die

erklärt die affektive Anästhesie des Schocks. Bevor Angst, Panik

Ohren zu, betäubt von dem plötzlichen Knall. Sie hören nichts von

und Fluchtimpulse einsetzen, müssen Sinne und Gehirn Unheil

dem Schreien, Wimmern und Klagen. Auch wenn sie an Leib und

und Gefahr allererst wahrgenommen haben.

Gliedern unversehrt sind, die Wucht der Detonation hat sie im

Nicht nur der Photograph auf dem Bild, auch der Urheber des

Innersten getroffen. Manche haben durch den Schock ihr Gleich-

Bildes, der sich zufällig in einem Büro oberhalb der Szene aufhielt,

gewicht verloren, ein einziger Augenblick hat sie aus ihrer

zeigt eine erstaunliche Kaltblütigkeit. Zwischen den Fensterstäben

Welt gerissen.

hat der Hobbyphotograph das Geschehen dokumentiert. Ihm fielen

Das Photo von dem Bombenanschlag in Boston ist ein seltenes

sofort die beiden flüchtenden jungen Männer auf. Während alle in

Dokument. Es zeigt einen Tatort wenige Sekunden nach der

Schreck erstarrt waren, stürmten sie schon davon. Das FBI hatte

Explosion. Und es hält die Reaktionen der Menschen im Zustand

daraufhin die beiden Männer im Verdacht, die Attentäter zu sein.

des Entsetzens fest. Obwohl nur wenige Meter vom Detonations-

Aber vielleicht war ihre Schrecksekunde nur kürzer als die der an-

punkt entfernt, ist kein Blut zu sehen. Der ältere Mann im roten

deren Zuschauer. Manche Photographen indes scheinen der selte-

Hemd, der am Boden liegt, ist jedoch schwer verletzt. Minuten

nen Spezies anzugehören, die überhaupt kein Erschrecken kennt. �

später wird man die Blutlache erkennen, in der er liegt. Die Bombe war von simpler Bauart, ein Schnellkochtopf, gefüllt mit Nägeln, Metallkugeln, Klammern von Reissverschlüssen, kleinen scharfkantigen Geschossen, die durch die Luft wirbelten und wie Splitter in Kopf und Körper eindrangen. Vielen Verwundeten mussten mehrere kleine Metallteile aus dem Körper operiert werden. Da die Bomben in Rucksäcken am Boden abgestellt waren, wurden meist Füsse und Beine amputiert. Nur wenige Bilder halten die Zeitform der Plötzlichkeit, wie sie für Attentate oder Explosionen typisch ist, in einem Schnapp-

Wolfgang Sofsky ist Soziologe und Autor.

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Manager 2.0

Der Chef ist kein Papa

F

reunde in der Not sind nicht so selten, wie uns das Sprichwort glauben macht. Einige warten geradezu auf die Not, um zu helfen. Mit dem Eifer eines Trüffelhundes suchen sie das Missliche. Es ist ihnen verdriesslich, nicht helfen zu können. Sie ärgern sich, wenn der Kollege mit seiner Not selber fertig wird. Denn sie werden arbeitslos. Erzürnter Zwischenruf: «Wie verhält es sich denn mit der Fürsorgepflicht des Vorgesetzten?» Die Idee, die Mitarbeiter als Objekte eigener moralischer Pflichterfüllung wahrzunehmen, hatte schon immer die Schwäche, den Mitarbeitern Bedürftigkeit zu unterstellen und damit die Besonderheit der beteiligten Personen auszuklammern. Wer als Vorgesetzter moralisch und verantwortlich handeln wollte, hat also Unterschiede, Fähigkeiten und Reifegrade der Mitarbeiter zugunsten einer reflexhaften Helfensfixierung verdrängt. Als guter Vorgesetzter gilt bis heute, wer «seine Leute» verteidigt. Es ist einigen MitFürsorge und Gleich­ arbeitern nach wie vor recht, behandlung schliessen unter dem Regenschirm des sich wechselseitig aus. Vorgesetzten die behütete Sicherheit des Kindes zu geniessen. Nicht selten infantilisieren sie sich gerne selbst, um passiv bleiben zu können. Sie appellieren an die Fürsorgepflicht ihres Vorgesetzten, nutzen diese geradezu aus, überfordern sie mitunter, muten ihm moralischen Druck und Hilfeleistung bedenkenlos zu («Wozu ist er denn da?») und manipulieren ihn mit kalkulierter Selbstviktimisierung. Das hat Folgen: Fürsorgliches Verhalten hat immer einen Zug zur Entmündigung des angeblich zu Schützenden. Beschützen hält die Menschen klein. Das alles unter dem Vorzeichen des Verstehens, Verständnishabens und Verständniszeigens. Solches Führungsrollenverhalten produziert am Ende gerade jene gelernte Hilflosigkeit, die von vielen Vorgesetzten ausgebeutet wird, um ihre Unersetzlichkeit zu inszenieren: «Ich werd’ mal sehen, was ich für Sie tun kann...» Die eitle Selbstdarstellung des Beschützers: Wer sich in seiner gütigen Vater- bzw. Mutterrolle gefällt, muss alles tun, um erwachsenes Verhalten seiner Mitarbeiter zu verhindern.

Reinhard K. Sprenger ist Philosoph und einer der führenden deutschen Managementberater. Zuletzt von ihm erschienen: «Radikal führen» (2012).

Wer das so offen ausspricht, erntet Empörung. Viele wohlmeinende und ehrlich bemühte Führungskräfte fühlen sich missverstanden. Sie erreiche ich nur, wenn ich an ihrer guten Absicht ansetze und sie bitte, diesen Gedanken nicht vorschnell zu verwerfen: Auch ein ehrlich wohlmeinender Paternalismus ist blind für den zugreifenden und bevormundenden Modus seiner Beziehung zum Menschen. Er hat die patriarchalische Struktur nur «netter» gemacht. Es ist schon einigermassen widersinnig, dass jene, die sonst hartnäckig auf dem Gleichheitsgrundsatz beharren, gleichzeitig an der schiefen Beziehung der Fürsorge festhalten. Um den eigenen Bestand zu sichern? Wichtig ist: Fürsorge und Gleichbehandlung schliessen sich wechselseitig aus. Ist der Mitarbeiter ein gleichberechtigter Partner, dann sind Respekt, Distanz und Achtung geeignete Beziehungsqualitäten. Das muss dann das Grundgesetz sein: Gegenüber Personen, die ihre Interessen und Ansprüche öffentlich artikulieren können, verbietet sich Fürsorglichkeit. Aus all dem darf nun nicht geschlossen werden, jede gefühlte Bindung, jede gegenseitige Unterstützung, gar Nächstenliebe aufzukündigen. Gemeinschaftliche Interessen müssen auch durch den Vorgesetzten wahrgenommen werden. Doch gilt es, zwischen Fürsorge und Unerbittlichkeit von Fall zu Fall zu unterscheiden. Das ist keine leichte Aufgabe. Die Versuchungen liegen an beiden Enden der Skala: ganz auf Distanz zu gehen oder sich in öliger Kumpanei zu wärmen. Beide Extreme verfehlen die Führungsaufgabe: Spannungen auszuhalten und produktiv zu machen. Andere zu achten heisst immer auch, sie in ihren selbstgewählten Vorhaben zu unterstützen. Ein solches Verhalten darf aber nicht der Vorgesetztenrolle geschuldet sein. Es kann allenfalls unserem Menschsein entspringen, dem Grundsatz, alle Menschen in gleicher Weise als autonome Individuen zu achten, gleichgültig, wie sie mir begegnen. Es darf weder als Geber noch als Nehmer den anderen als defizitär voraussetzen, noch seine Selbständigkeit verletzen. � 13


«Den helvetischen Bürgerstaat gehen die finanziellen Verhältnisse eines unbescholtenen Bürgers nichts an.» Thomas Matter

Eidgenössische Volksinitiative

«Ja zum Schutz der Privatsphäre» Die Bundesverfassung wird wie folgt geändert (Änderungen kursiv): Art. 13 Schutz der Privatsphäre 1 Jede Person hat Anspruch auf Schutz der Privatsphäre. 2 Jede Person hat Anspruch auf Achtung ihres Privat- und Familienlebens, ihrer Wohnung sowie ihres Brief-, Post- und Fernmeldeverkehrs und auf Schutz ihrer finanziellen Privatsphäre. 3 Jede Person hat Anspruch auf Schutz vor Missbrauch ihrer persönlichen Daten. 4 Dritte sind im Zusammenhang mit direkten Steuern, die von den Kantonen veranlagt und eingezogen werden, zur Auskunft gegenüber Behörden über eine Person mit Wohnsitz oder Sitz in der Schweiz, die der Auskunftserteilung nicht zustimmt, nur im Rahmen eines Strafverfahrens und ausschliesslich dann berechtigt, wenn der begründete Verdacht besteht, dass: a. zum Zweck einer Steuerhinterziehung gefälschte, verfälschte oder inhaltlich unwahre Urkunden wie Geschäftsbücher, Bilanzen, Erfolgsrechnungen oder Lohnausweise und andere Bescheinigungen Dritter zur Täuschung gebraucht wurden; oder b. vorsätzlich und fortgesetzt ein grosser Steuerbetrag hinterzogen oder dazu Beihilfe geleistet oder angestiftet wurde. Über das Vorliegen eines begründeten Verdachts entscheidet ein Gericht. 5 Im Zusammenhang mit indirekten Steuern gelten für die Auskunft gegenüber Behörden die Voraussetzungen nach Absatz 4 sinngemäss. In anderen als steuerlichen Belangen regelt das Gesetz die Voraussetzungen, unter denen Auskunft erteilt werden darf. 14


Schweizer Monat 1007  Juni 2013  Weiterdenken

Fetisch Bankgeheimnis? Der eigene Fiskus will es nicht. Die ausländischen Steuerbehörden wollen es nicht. Manche Politiker wollen es nicht mehr. Viele Banken wollen es auch nicht mehr. Das einst unverhandelbare Schweizer Bankgeheimnis wird gerade abgehandelt. Der Bankier Thomas Matter hält stoisch dagegen. Mit guten Gründen. René Scheu trifft Thomas Matter

Herr Matter, Hanspeter Thür, von Amtes wegen eidgenössischer Datenschützer, hat im April 2012 in einem Gespräch mit diesem Magazin gesagt: «Ich stehe zu 100 Prozent hinter dem Bankgeheimnis als Schutz der Privatsphäre der Bankkunden.» 1 Nun scheint selbst eine Mehrheit der Banker das Bankgeheimnis – eigentlich ein Bankkundengeheimnis – für verzichtbar zu halten, seit das Geschäftsmodell mit unversteuertem Geld von Kunden aus OECD-Staaten mehr Risiko als Profit verspricht. Gehören Sie zusammen mit dem Datenschützer zu den letzten Mohikanern, die das Bankkundengeheimnis um jeden Preis verteidigen wollen? Es ist erfreulich, über den moralischen Support des eidgenössischen Datenschützers zu verfügen. Und der Eindruck trügt. Wir sind längst nicht die einzigen. Nach der neuesten Umfrage der Bankiervereinigung sind 86 Prozent der Schweizer Bevölkerung der Meinung, dass die finanziellen Daten von Bankkunden gegenüber Dritten geschützt werden müssen. Frau Bundesrätin Widmer-Schlumpf, ihre Berater und einige Banken irren also: Die meisten Schweizer wollen keinen automatischen Informationsaustausch mit den Steuerbehörden. Auf dem Spiel steht ein fundamentales Prinzip des helvetischen Rechtsstaates – der Schutz der Privatsphäre. Geht es also letztlich darum, die Bankkunden vor den Banken zu schützen? Und das will ausgerechnet ein Bankier in die Bundesverfassung schreiben? So weit ist es offenbar gekommen… Für unsere Regierung ist mittlerweile alles verhandelbar – das Aufgeben rechtsstaatlicher Prinzipien ist bloss eine Frage des Preises oder des Drucks, der auf uns ausgeübt wird. Ich sehe das anders. Der Schutz des Kunden – also des Bürgers – in seiner finanziellen Privatsphäre war von Anfang an der Kern des Bankkundengeheimnisses, nur ging das irgendwann vergessen. Es ist doch beschämend zu sehen, wie manche Banken ihre Kunden und Mitarbeiter verraten – nur um ihre Haut zu retten. Rechtssicherheit ist für ein kleines Land wie die Schweiz matchentscheidend. Diese Sicherheit gilt es gegen Interessen Dritter zu verteidigen. «Einer gegen alle». Grosses Gespräch von René Scheu mit Hanspeter Thür zum Bankgeheimnis, in: «Schweizer Monat», Ausgabe 996, Mai 2012, S. 15–20.

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Thomas Matter ist Unternehmer. Er ist Verwaltungsratspräsident der Neuen Helvetischen Bank, die er 2011 mitgründete, und Inhaber der Beteiligungsgesellschaft Matter Group. 2011 war er Kandidat für den Nationalrat. Er ist Quästor und Mitglied der Parteileitung der Schweizerischen Volkspartei (SVP) des Kantons Zürich. René Scheu ist Herausgeber und Chefredaktor des «Schweizer Monats».

Gut gebrüllt. Nur: das Bankkundengeheimnis existiert gegenüber dem Ausland de facto längst nicht mehr. Als wir 2009 vor der Organisation für Entwicklung und Zusammenarbeit OECD quasi über Nacht eingebrochen sind und 2010 auch noch Gruppenanfragen zuliessen, haben wir es gegenüber dem Ausland faktisch abgeschafft. Aber das heisst ja nicht, dass wir es im Inland ebenfalls aufgeben müssen. Ganz im Gegenteil. Auf die von Ihnen lancierte Initiative kommen wir noch zu sprechen. Aber was Es geht nicht nur mich an dieser Stelle interessiert: Haben Sie sich um Steuereinnahmen, mit dem automatischen sondern Informationsaustausch um Ideologie. von Bankdaten gegenüber dem Ausland abgefunden? Die in dieser Sache unverdächtige englische Regierung hat eine Studie in Auftrag gegeben, die zum Schluss kommt, dass der automatische Informationsaustausch für den Fiskus der datenhungrigen Staaten mehr Kosten verursacht als Nutzen stiftet. Trotzdem ist es gut möglich, dass er in Europa zum Standard werden wird. Natürlich bin ich damit nicht einverstanden. Denn dadurch wird die Steuerehrlichkeit nicht erhöht, aber das ist auch gar nicht der Punkt. Es geht hier nicht nur um Steuereinnahmen, sondern um Ideologie – und um eine Neudefinition des Verhältnisses zwischen Staat und Bürger. Der Staat kommuniziert dem Bürger: «Pass auf, ich kann dich immer und überall durchleuchten. Du bist mir Rechenschaft schuldig, nicht ich dir. Du musst mir täglich beweisen, dass du ein guter Bürger bist – denn ich habe guten Grund, vom Gegenteil auszugehen.» 15


Weiterdenken  Schweizer Monat 1007  Juni 2013

«Steuerehrlichkeit» ist der kuriose Begriff der Stunde – und Steuerhinterziehung, wir wissen es, ist eine Sünde. «Steuerkonformität» ist neben der Bereinigung der Vergangenheit auch der Hauptpunkt der sogenannten «Weissgeldstrategie» des Bundesrats, der die Bankiervereinigung ebenfalls zugestimmt hat. «Weissgeldstrategie» ist für mich eigentlich ein Unwort! Denn damit wird unterstellt, dass die Schweizer Banken vorher eine «Schwarzgeldstrategie» verfolgt hätten. Das trifft aber für die meisten Banken nicht zu. Auch inhaltlich beurteile ich die Strategie des Bundesrates kritisch. In keinem Land der Welt haben die Banken die Aufgabe, den Steuerstatus des Geldes ihrer Kunden final zu überprüfen – aus gutem Grund: das ist materiell gar nicht möglich. Selbst wenn Ihnen der Kunde eine Steuererklärung vorlegt, können Sie nicht wissen, ob Sie gefälscht ist oder nicht. Schon heute muss eine schweizerische Bank enorm viele Abklärungen treffen, die ein Normalsterblicher nicht mehr nachvollziehen kann. Was aber passiert, wenn Sie Ihr Geld nach Frankfurt oder London bringen? Sie können dort problemlos ein Konto eröffnen, ohne dass jemand nach dem Steuerstatus fragt. Die Wirkung ist in der Tat paradox: Je stärker die Bank in die Abklärung involviert ist, desto mehr macht sie sich zur potentiellen, unwissenden Mittäterin eines Kunden, der sein Geld allenfalls vor seinem Fiskus verstecken will. Die neuen erweiterten Was heisst Sorgfaltspflichten, wie sie so schön heissen, sind das «international»? perfekte Mittel, um den FiDie Welt ist ja bedeutend nanzplatz Schweiz zu degrösser als die OECD. montieren. Kein anderes Land kommt auf solche Ideen, und kein Land, auch keine Organisation – nicht einmal die OECD – fordert das von der Schweiz. Das ist wirklich einzigartig. Die Leute, die sich in der Schweiz solche Gesetze ausdenken, wollen aus den Banken den verlängerten Arm des Staates machen. Begründet wird dies mit dem Beitrag zur guten Reputation des Finanzplatzes Schweiz. Eintreten wird aber das Gegenteil – wir werden Vertrauen verlieren, das Geld internationaler Sparer und Anleger wird abfliessen. Was macht denn einen guten Finanzplatz mit intakter Reputation aus? Es braucht wirksame Gesetze zur Abklärung der Herkunft der Gelder, gegen Geldwäscherei und gegen Terrorismusfinanzierung – diese sind ja bereits in Kraft und funktionieren sehr gut, auch im internationalen Vergleich stehen wir hervorragend da. Ansonsten sollten sich die Banken aber um ihre Kunden kümmern, statt sie ständig zu behelligen. Und wenn die nicht «steuerehrlich» sind? Es ist Aufgabe von deren Fiskus, dafür zu sorgen, dass die Leute ihre Steuern zahlen. Das ist beim besten Willen nicht die Aufgabe der Banken. 16

Das stimmt in der Theorie. In der Praxis ist es aber so, dass der ausländische Fiskus in finanziell und sozial gespannten Zeiten Informationen über die Steuerzahler haben will – und die Schweiz unter Druck setzt, wenn sie diese Informationen nicht liefert. Das ist die Situation, in der wir uns real befinden. Natürlich, deswegen wollen diese Länder ja auch, dass in Europa bald der automatische Informationsaustausch kommt. Allerdings wird es sehr schwierig für sie werden, all diese Daten auch zu bewältigen. Wir müssen uns auch bewusst sein, dass der automatische Informationsaustausch nicht weltweit zum Standard werden wird. Die Amerikaner beispielsweise werden da niemals mitmachen. Da kann der europäische Fiskus nicht viel ausrichten. Er würde besser die Steuerehrlichkeit fördern, indem er Vertrauen in die Bürger setzt, die Steuern senkt und die Steuergelder glaubwürdig investiert statt verschwendet. Das ist die helvetische Sicht – und das wird er in absehbarer Zeit leider nicht tun. Wie also soll die Schweiz pragmatisch mit ausländischen Kunden verfahren? Meiner Meinung nach sollten wir uns an die internationalen Standards halten. Die Frage lautet dabei: was heisst «international»? Die Welt ist ja bedeutend grösser als die OECD. Wenn sich, sagen wir, die fünfzig bedeutendsten Staaten weltweit auf einen Standard einigen könnten, sollte die Schweiz sicherlich nicht abseits stehen. Wenn aber die OECD etwas beschliesst, und Singapur oder auch China mit Hongkong machen nicht mit, ist das für die Schweiz als internationaler Finanzplatz ein Problem. Dann sollte sie von ihrem Vetorecht Gebrauch machen, das bisher, wie es scheint, nicht eingesetzt wurde. Was inländische Kunden angeht, sollten wir als souveräner Staat nach unseren eigenen Regeln verfahren. Die OECD-Regeln gelten für 34 Staaten. China und Russland beispielsweise gehören nicht dazu. Wie empfehlen Sie, mit solchen Kunden zu verfahren? Erstens, wir leisten natürlich keine Beihilfe zu Steuerhinterziehung, generell nicht. Weiter halten wir uns an die bestehenden Sorgfaltspflichten. Finden wir keine Verdachtsmomente, können wir das Geld annehmen. Den Passus zur Beihilfe in der aktuellen Sorgfaltspflichtvereinbarung könnte man übrigens gut mit einem Satz ergänzen, wonach die Banken Kundengelder nicht annehmen dürfen, wenn sie wissen oder starke Indizien haben, dass das Geld nicht versteuert ist. Wie würden Sie gegenüber einem amerikanischen Kunden verfahren? Grundsätzlich gilt dasselbe, das ist aktuell allerdings eine spezielle Situation. Da muss jede Bank selber wissen, wie sie die Risiken in diesem Geschäft einschätzt. Wie gehen Sie vor, wenn ein verfolgter Syrer anklopft? Wie mit chinesischen, russischen oder allen anderen ausländischen Bürgern.


Thomas Matter, photographiert von Giorgio von Arb.

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Schweizer Monat 1007  Juni 2013  Weiterdenken

Und wie wäre das Vorgehen gemäss neuen Sorgfaltspflichten? Falls die Finanzplatzstrategie des Bundesrates wie vorgesehen umgesetzt wird, dann bräuchte man wohl eine Bestätigung der syrischen Steuerbehörden, dass das Geld versteuert wurde. Das ist natürlich total weltfremd. Und ein Schweizer Kunde? Unter der erweiterten Sorgfaltspflicht müsste auch ein Schweizer Kunde den Nachweis erbringen, dass das Geld versteuert wurde – zum Beispiel mit einer Bescheinigung der Steuerbehörde. Ironischerweise wäre das nicht der Fall, wenn er sein Geld auf eine Bank ins Ausland brächte. Man kann den Ast, auf dem man sitzt, auch selber absägen… Dies ist also das zu verhindernde Szenario: weltfremde inländische Regulierung und die Abschaffung des Bankkundengeheimnisses auch im Inland? Genau. Wir haben einen souveränen Bürgerstaat. Wir können autonom entscheiden, wie viel uns die Privatsphäre wert ist. Theoretisch schon. Praktisch ist es so, dass die Souveränität nicht absolut ist und die Schweizer Regierung unter Berufung auf internationale Stimmungen und Zwänge regelmässig einknickt – und damit bedenkliche Signale an ihre Bürger aussendet: Man kann über alles reden, auch im Inland. Zuerst war das Bankgeheimnis ja angeblich unverhandelbar. Kurze Zeit später wurde es für Ausländer quasi abgeschafft, wobei uns versichert wurde, dass dies die in der Schweiz lebenden Bürger nicht betreffe. Und nun heisst es plötzlich, wir brauchten gleich lange Spiesse – wenn das Bankgeheimnis für Ausländer nicht mehr gelte, dann dürfe es auch für Inländer nicht mehr gelten, weil man die inländischen gegenüber den ausländischen Steuerbehörden nicht benachteiligen will. Ein Einknicken auf Raten. Es ist nun an den Bürgern, sich zu engagieren. Und genau das tue ich. Man wird Ihnen vorwerfen, ein überholtes Businessmodell aufrechterhalten zu wollen: das Geschäft mit Steuerhinterziehung und Schwarzgeld. Diese Kritik kommt von jenen, die daran arbeiten, das Kind mit dem Bade auszuschütten. Ich bin selbstverständlich dafür, dass Steuervergehen geahndet werden. Mir geht es um den Schutz der Privatsphäre auch in finanziellen Belangen, das ist letztlich eine gesellschaftliche Frage. Darum haben wir die Initiative lanciert. Wenn es nach Ihnen geht, soll künftig in der Verfassung stehen: «Jede Person mit Wohnsitz oder Sitz in der Schweiz ist in ihrer finanziellen Privatsphäre geschützt.» Schon jetzt steht in Artikel 13 der Bundesverfassung: «Jede Person hat Anspruch auf Achtung ihres Privat- und Familienlebens.» Und weiter: «Jede Person hat Anspruch auf Schutz vor Missbrauch ihrer persönlichen Daten.» Wo liegt der Unterschied? Wer heute seine Kontodaten offenlegen muss, ist nackt – sein ganzes Leben, seine Entscheidungen, seine Handlungen, seine Präfe-

renzen, seine Leidenschaften, seine Krankheiten sind im Prinzip zugänglich. Darum müssen wir den Schutz der finanziellen Privatsphäre explizit in die Verfassung schreiben. Sie ist dort bisher mit keinem Wort erwähnt. Und zweitens: der Begriff «Missbrauch» ist interpretationsbedürftig. Der Staat wird nie sagen, dass er Missbrauch betreibt, wenn er in den Daten seiner Bürger herumschnüffelt. Darum braucht es eine unmissverständliche Formulierung. Auch an Ihrer Formulierung der Initiative (siehe Kasten) beginnen sich die Juristen bereits die Zähne auszubeissen. Die Kritik: sie sei offen, mehrdeutig und fördere die Verordnungskompetenz des Bundesrats. Ich bin nicht der Meinung, dass unsere Initiative zu viel Interpretationsspielraum bietet. Die Formulierung ist glasklar. Warum nennen Sie das Kind nicht beim Namen und reden vom Schutz der «finanziellen Privatsphäre» statt vom Bankkundengeheimnis? Weil es genau darum geht: um die Verhinderung des gläsernen Bürgers... ...Sie werden sich die Kritik gefallen lassen müssen, dass Sie bloss Ihre vermögenden Kunden schützen wollen. Glauben Sie das im Ernst?

Es ist an den Bürgern, sich zu engagieren. Und genau das tue ich.

Die Kritik wird kommen, keine Frage. Aber stimmen Sie ihr zu?

Nein. Aber Sie müssen das nicht mir, sondern dem Wahlvolk erklären können. Ich scheue die Auseinandersetzung nicht. Ich stehe gerne hin und erkläre, was auf dem Spiel steht: nicht der Schutz von Steuerhinterziehern, sondern der Schutz der eigenen Privatsphäre des Bürgers. Dieses Gut haben wir uns über Jahrhunderte erkämpft. Es kann doch nicht sein, dass es nun aus Bequemlichkeit oder Gleichgültigkeit einfach so wieder preisgegeben wird. Es gibt dafür keinen plausiblen Grund. Und warum muss der Schutz gleich in die Verfassung? Es stimmt – das Bankkundengeheimnis ist in Artikel 47 des Bundesgesetzes über die Banken und Sparkassen geregelt. Aber jetzt steht ja zur Debatte, dass dieses Gesetz abgeschwächt oder verwässert wird. Darüber kann das Parlament in Eigenregie entscheiden. Dagegen wollen wir vorbeugen. Sie waren 2011 Kandidat für den Nationalrat und wollten selbst ins Parlament. Ja. Als Unternehmer und kritischer Beobachter, nicht als Mitglied der Classe politique. 19


Weiterdenken  Schweizer Monat 1007  Juni 2013

Das gehört zur politischen Rhetorik. Das sagen alle. Ich meine das so. Ich bin ja nicht Nationalrat, oder vielleicht noch nicht, deshalb ergreife ich als Bürger zusammen mit Verbündeten jetzt auch das Mittel der Initiative. Ich höre aus allen Ihren Worten ein grosses Misstrauen gegenüber «denen da oben» heraus. Aber als gut vernetzter Bankier haben Sie direkten Zugang zu den Machtkanälen. Leider nicht. Der politische Betrieb folgt vielmehr einer eigenen Dynamik. Es laufen diverse Vernehmlassungsverfahren – einmal geht es um Empfehlungen zur Umsetzung der Vorschläge der GAFI, einer Unterabteilung der OECD, die sich mit Geldwäscherei befasst, ein anderes Mal um die Sorgfaltspflichten der Banken, die künftig die Steuerkonformität des Geldes von in- und ausländischen Kunden überprüfen müssen. Das Ziel ist stets dasselbe: Aufweichung der finanziellen Privatsphäre und Herstellung des gläsernen Bürgers auch im Inland unter Umgehung der Bürger. Kann Ihre Initiative auf die Unterstützung der noch verbliebenen PrivatDie grossen, international banken zählen? Das werden wir sehen. tätigen Banken haben wohl Klar ist: die grossen, interwenig Interesse am national tätigen Banken Bankkundengeheimnis. haben wohl wenig Interesse am Bankkundengeheimnis. Sie erwirtschaften einen Grossteil ihres Umsatzes im Ausland. Und sie werden von Leuten geführt, die auch jederzeit woanders arbeiten könnten. Uns hingegen geht es nur ums Prinzip. Den helvetischen Bürgerstaat gehen die finanziellen Verhältnisse eines unbescholtenen Bürgers nichts an. Punkt.

Es gab wohl noch selten so viele Volksinitiativen wie zurzeit. Die Mehrheit der Vorstösse wie Erbschaftsinitiative und 1:12-Initiative kommt aber von ganz links. Die Linken wissen, dass sie nach der Finanzkrise ein kleines Zeitfenster haben, um ihre Anliegen allenfalls durchzubringen. Sie setzen auf Proteststimmen. Und ich gebe gerne zu: Sie machen ihre Aufgabe gut. Die Schweiz ist orientierungslos, selbst bürgerlich denkende Schweizer «hintersinnen» sich. Das wird sich hoffentlich bald wieder legen. Sie hoffen? Ich bin mir sicher. Das sind Leute, die mit beiden Beinen im Leben stehen. Die haben sich gesagt: Es gab zu viele Exzesse in der Teppichetage, das dulden wir nicht, wir müssen ein Zeichen setzen. Dieselben Leute werden erkennen, dass es nun einige auf Exzesse der anderen Art abgesehen haben: Bevormundung und Enteignung. Den nächsten «Abzocker», den es zu thematisieren gilt, ist der Staat.

Wenn die Dinge so klar liegen und die Bevölkerung so klar hinter dem Bankkundengeheimnis steht, warum holen sich dann die bürgerlichen Politiker keine Meriten, indem sie es ebenfalls verteidigen? Das ist doch in vollem Gange, sehen Sie sich nur unser überparteiliches bürgerliches Initiativkomitee an. Was die BDP und auch Teile der CVP angeht, sind das ja eigentlich keine bürgerlichen Parteien mehr, auch wenn die BDP ein «B» im Namen hat.

Kommen wir zurück zur Einschätzung des obersten Datenschützers. Im besagten Interview sagte Hanspeter Thür auch, dass das letzte Wort in der Frage des Bankgeheimnisses das Volk haben dürfte bzw. müsste. Sie haben es mit Ihrer Volksinitiative darauf angelegt, Thürs Versprechen wahr zu machen. Wenn wir die finanzielle Privatsphäre nicht mehr schützen, dann sind wir auf dem Weg zum totalen Staat. Deutschland hat für jeden nachvollziehbar gezeigt, wie das geht. Im Jahre 2000 existierte das deutsche Bankgeheimnis noch. Zwei Jahre später erhielten deutsche Strafverfolgungsbehörden unter dem Deckmantel «Terrorismusbekämpfung» das Recht, per Knopfdruck beliebig auf Bank- und Postkonten zuzugreifen. Ein paar Jahre später erhielten die deutschen Steuerbehörden unter dem Deckmantel «Steuerehrlichkeit» dieselben Befugnisse. Heute weiss der deutsche Steuerstaat alles über die finanziellen Verhältnisse – also über das Intimste – seiner Bürger. Er kann alle Kontobewegungen nachvollziehen. Er weiss, wo sie einkaufen. Natürlich weiss er auch, welche Ärzte sie konsultieren, welche Krankheiten sie haben. Ich verstehe darum Herrn Thür, wenn er hier dagegenhält. Und ich verstehe die Linken von heute nicht, die ihre Skepsis gegenüber dem «Fichenstaat» plötzlich abgelegt zu haben scheinen.

«Bürgerlich», was heisst denn das heute überhaupt? Der bürgerliche Politiker setzt sich ein für die Freiheit des Bürgers. Möglichst viel Freiheit für das Individuum, möglichst wenig Einschränkung durch den Staat. Der Staat hat die Aufgabe, das Leben und das Eigentum des Bürgers zu schützen, das ist seine wichtigste Aufgabe. Der Bürgerliche ist also das Gegenteil eines Etatisten. Aber er ist auch kein Staatshasser. Er ist ein Staatsskeptiker, der den von Natur aus wachsenden Staat in seine Schranken weist. Und darum sage ich: Er muss auch die finanzielle Privatsphäre schützen.

Ein interessanter Punkt. Dieselben, die einst aus dem Staat Gurkensalat machen wollten, verbünden sich heute mit ihm. So wie die Bürgerlichen bis 1989 an den Schalthebeln der Macht sassen und darum die Zusammenarbeit von Staat und Wirtschaft lobten, sind es heute die einstigen Staatsverächter, die den Staat verehren. Hat es damit zu tun, dass sie den propagierten Marsch durch die Institutionen erfolgreich zu Ende gebracht haben? Klar. Und dann gibt es eben ein paar alte Linke und echte Bürgerliche, die sich ihre Staatsskepsis bewahrt haben – nicht aus Opportunismus, sondern aus Prinzip.

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Das Bankkundengeheimnis hat in diesem Zusammenhang eine wichtige Funktion. Aber verwandeln Sie es nicht in eine Art Fetisch? Im digitalen Zeitalter können Sie die Daten ohnehin nicht schützen. Irgendeine Daten-CD findet immer den Weg an einen Staat, der zu Hehlerei bereit ist. Ich sehe es genau umgekehrt: Weil Datenklau so einfach war wie noch nie, muss der Straftatbestand verschärft werden. Wer Bankdaten entwendet, muss wissen, dass ihm nicht nur eine kleine Busse von 5000 Franken, sondern eine einschneidende Haftstrafe droht. Als liberal denkender Mensch habe ich Mühe mit der Verhängung solcher Strafen. Aber hier geht es um den Schutz eines fundamentalen Freiheitsrechts, und hier muss der Staat durchgreifen. Ich habe die Privatsphäre stets verteidigt. Aber zugleich stelle ich fest, dass sich hier gesamtgesellschaftlich ein Wandel vollzieht. Wer seine intimsten Bilder freiwillig auf Facebook postet, hat nur ein rudimentäres Bewusstsein für den Wert eines persönlichen Freiraums. Die Verfügbarkeit und Untilgbarkeit persönlicher Bilder und Informationen auf sozialen Plattformen schafft eine neue Situation, mit der wir erst mal zurechtkommen müssen. Ich bin überzeugt: Das Bewusstsein für den Wert von Selbstbestimmung wird sich auch hier langfristig durchsetzen. Ihr Optimismus ist gross. Der Mensch ist lernfähig. Ich habe Vertrauen in seine Fähigkeiten. Solange er denkt wie Sie. Solange er überhaupt denkt. Am Ende setzt sich immer die Freiheit durch, das zeigt die Geschichte. Aber ich gebe Ihnen insofern recht, als es immer wieder Rückschläge und Gegenbewegungen gibt. Es ist ja auch nicht so, dass alle Länder in dieselbe Richtung gehen. Wir haben in der Schweiz dank direkter Demokratie die Wahl und können unseren eigenen Weg gehen. Wann kommt Ihre Initiative zur Abstimmung? Ich gehe von einer Abstimmung frühestens im Jahre 2015 aus. Wir wollen bald mit dem Sammeln der Unterschriften beginnen. Bis dann kann viel geschehen – und vieles schon überholt sein. Es ist höchste Zeit für die «Réduit-Strategie», wie ich sie scherzhaft nenne: einen Kern – vor allem den Schutz der finanziellen Privatsphäre im Inland – festigen und dann von da aus agieren. Wenn das Volk diese Strategie gutheisst – und davon bin ich überzeugt –, müssen wir eben einige Verschlimmbesserungen der letzten Jahre wieder rückgängig machen, um erfolgreich vorwärts zu kommen. Das ist zweifellos unschön, aber es geht nun mal nicht anders. �

(Selbst-)Demontage des Finanzplatzes Schweiz IV Hans Geiger

Szenen einer Ehe zwischen Politik und Grossbank Den ersten Dolchstoss haben Bundesrat und Finma dem Bankgeheimnis mit der Lieferung der Daten von 250 UBS-Kunden an die USA am 18. Februar 2009 versetzt. Der zweite folgte ein halbes Jahr später, als der Bundesrat ein Abkommen mit den USA zur Amtshilfe in Steuersachen abschloss. Darin versprach die Schweiz, für 4450 Konten amerikanischer Kunden der UBS innerhalb von 360 Tagen eine Verfügung zur Herausgabe der verlangten Informationen zu erlassen. Beide Male ging es darum, die Grossbank vor amerikanischer Strafverfolgung zu bewahren. Bei Wegelin und anderen kleineren Banken sah das später anders aus. Im Dezember 2009 erhob ein UBS-Kunde gegen die Herausgabe seiner Informationen beim Bundesverwaltungsgericht Beschwerde. Das Gericht hat den Rekurs mit Urteil vom 21. Januar 2010 gutgeheissen. Das vom Bundesrat abgeschlossene Abkommen mit den USA erwies sich im nachhinein als widerrechtlich, die Voraussetzungen zur Amtshilfe waren nicht gegeben. Statt die Chance zu nutzen, die sich aus dem Gerichtsentscheid ergab, und sich aus der Umklammerung durch die USA und die UBS zu lösen, wählte der Bundesrat den Weg der Abhängigkeit. Er erhob das Abkommen zum Staatsvertrag und damit zur Parlamentssache. Das Parlament hätte die Schwäche des Bundesrates immer noch korrigieren und die Folgen aus den Verfehlungen der Bank dort platzieren können, wo sie hingehören: bei der UBS. Nach diversen politischen Kuhhändeln und zufälligen Konstellationen stimmten die Räte dem Staatsvertrag anfangs Juni 2010 jedoch zu. Damit war das Unheil besiegelt. Den Schaden tragen alle Schweizer Bürger und einige Kunden der UBS, die sich auf den Rechtsstaat Schweiz verlassen hatten. Bundesrat und Parlament haben mit dem Staatsvertrag rückwirkend das Recht geändert. Das machen sonst nur Bananenrepubliken und Willkürstaaten. Bei allem, was die Schweiz mit den Amerikanern ausgehandelt hat, hat sie von diesen keine Gegenleistung verlangt. Und auch nicht von der UBS.

Hans Geiger ist emeritierter Professor am Institut für Banking und Finance an der Universität Zürich. Von 1970 bis 1996 war er tätig bei der SKA, der heutigen Credit Suisse.

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Auf den Spuren der Dinosaurier Die Schweizer Grossbanken schaffen unbeherrschbare Risiken. Sie sind selbst zum Systemrisiko geworden. Eine Provokation. Eine schonungslose Analyse der Situation. Und eine Handvoll konstruktiver Überlegungen zur Zukunft des Bankenplatzes Schweiz. von René Zeyer

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enn Dinosaurier des Sprechens mächtig gewesen wären, hätten sie gesagt: «Die Erde ist ohne uns nicht vorstellbar. Nur ein Weltuntergang könnte unser Ende sein.» Ein Meteor besiegelte ihr Schicksal, und die Welt steht noch. Schweizer Universalbanken gleichen in vielem den Dinosauriern. Nur hat kein Meteor eingeschlagen. Sondern drei Entwicklungen haben ihr Schicksal besiegelt. Erstens. Ihr Ausflug in die grosse weite Welt des Investmentbanking hat im Desaster geendet. Die UBS-Investmentbank zahlte von 2006 bis Ende 2010 an ihre Angestellten 34 Milliarden Dollar aus. Dafür stellten sie in der gleichen Zeit einen kumulierten Verlust von 44,8 Milliarden Dollar her. Zweitens. Bei der Spekulation mit gehebelten Derivaten, also mit Fremdgeld unterlegten Wettscheinen, ist mit noch so schönen Algorithmen und der Rechenkraft von Supercomputern das Risiko nicht kontrollierbar. Drittens. Das Geschäftsmodell, geschützt durch das Bankgeheimnis mit der Verwaltung von Schwarzgeldern hübsche Extraprofite einzufahren, ist am Ende. Es ist in der Wirtschaftsgeschichte nichts Neues, dass fundamentale Veränderungen traditionelle Produktionsweisen obsolet werden lassen. Wer sich nicht anpasst, verändert, neu erfindet, ist zum Untergang verurteilt. Die Schweizer Textil- und Maschinenindustrie kann davon ein Lied singen. Man spricht für gewöhnlich von einem Paradigmenwechsel. Tabula rasa. Neustart. Der Schweizer Finanzplatz ist dazu offensichtlich nicht in der Lage. Das liegt zum einen daran, dass die beiden Grossbanken, aber auch einige grössenwahnsinnig gewordene Kantonalbanken und die sich vom Genossenschaftsgedanken immer mehr verabschiedende Raiffeisen nicht zur Selbstreflexion willens oder fähig sind. Wie die Dinosaurier, nur in einer modernen Ausformung. Übersicht verloren Selbst Fachleute verlieren sich im Zahlendickicht der jüngsten Jahresbilanzen der beiden Grossbanken. Einfachste Kernzahlen – wie etwa ist das Verhältnis zwischen verlustabsorbierendem Eigenkapital und dem Bilanzrad? – sind nicht mehr eruierbar. Sprechen wir im Falle der CS bei einer Bilanzsumme von 924 Milliarden und einem ausgewiesenen Eigenkapital von 42 Milliarden

René Zeyer ist promovierter Germanist, freier Publizist und Autor u.a. von «Cash oder Crash» (2011) und «Bank, Banker, Bankrott» (2009).

über eine Kernkapitalquote von 4,5 Prozent? Oder mit Hilfe des Zauberworts «Risikogewichtung» von 9,4 Prozent, wenn wir die «Look-through Swiss Core Capital Ratio» anwenden? Oder nehmen wir lieber Basel 2,5, dann kämen wir auf stolze 15,6 Prozent. Sind da eigentlich in SPV (Special Purpose Vehicles) ausgelagerte Volumen und Risiken dabei? In einem Satz: der Dinosaurier weiss nicht mal selbst, wie viel er wert ist, was er verdient, welchen Risiken er dabei ausgesetzt ist. Niemand weiss es. Erschwerend kommt zum anderen hinzu, dass die Grossbanken in einer weiteren Eigenschaft den Dinosauriern gleichen: grosser Körper, kleines Hirn. Das bemerkt man nicht an Verhältniszahlen, sondern an einem Vakuum. Das tut sich auf, wenn man die Frage in den Raum Neustart. stellt: Wo sind denn die Strategien für die Zukunft? Der Schweizer Finanzplatz Wie soll’s mit dem Finanzist dazu offensichtlich platz Schweiz weitergehen? nicht in der Lage. Wo liegen gemeinsame Interessen, wie unterscheiden sie sich bei Regional-, Kantonal-, Privat- und Grossbanken? Wo stehen die in fünf, in zehn Jahren? Und wie kommen sie dahin, auf gemeinsamen oder getrennten Wegen? Trotz Think Tanks, Strategy Committees, beliebig anmietbarer Denkkraft von Experten, Wissenschaftern, Instituten: auf diese einfachen Fragen hört man keine Antwort. Wenn man von Unsinn wie «Weissgeldstrategie» oder «Globallösung» einmal absieht. Es kann nicht Aufgabe einer Bank sein, behaftbar die steuerlichen Verhältnisse ihr anvertrauter Gelder abzuklären. Da die USA in keiner Form an einer «Globallösung» interessiert sind, weil eine mit ihr verbundene Globalbusse weniger lukrativ wäre als sich kumulierende Einzelbussen, wird es die nicht geben. Ein bewährtes und ertragreiches Geschäftsmodell ist obsolet geworden. Zudem sind noch Restanzen aus der Vergangenheit zu 23


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erledigen. Also braucht es zwei Strategien. Eine zur Vergangenheitsbewältigung, eine zur Gestaltung der Zukunft. Verwenden wir einen banalen Dreisprung. Die Vergangenheit Unbestreitbar liess sich das Schweizer Bankkundengeheimnis als profitträchtiger Schutz bei der Beihilfe zu Steuerhinterziehung verwenden. Nachdem es durch die Schweizer Regierung und die UBS geschleift worden ist, muss hinterzogenes Steuersubstrat zehn Jahre zurück ausgeliefert werden. Die Verantwortung dafür obliegt natürlich dem Steuerhinterzieher, nicht dem Helfer. Rechtsimperialistische Forderungen nach Multimilliardenbussen für den Helfer müssten von der Schweizer Regierung eigentlich vehement zurückgewiesen werden. Dann verhandelt man und legt einen Betrag auf den Tisch, der irgendwo in der Mitte zwischen Maximalforderungen und Minimalangeboten liegt. Da es nur ganz wenige Schweizer Banken geben dürfte, die nicht mindestens ein Dutzend oder mehr ausländische Steuerhinterzieher beherbergt haben, liesse sich da eigentlich problemlos ein Verteilungsschlüssel errechnen. Die Gegenwart Die erste Frage, die man sich stellen muss, lautet: Was ist die USP, das Alleinstellungsmerkmal von Schweizer Geldhäusern? Was machen nicht alle anderen auch, manchmal besser, meistens nicht schlechter? Damit stossen wir auf Faktoren, die nicht in erster Linie innerhalb der Finanzwelt liegen. Nämlich Stabilität, Rechtssicherheit, Neutralität, partizipative Demokratie, funktionierende Infrastruktur und Wirtschaft, langfristige Sicherheit, gespeist aus langer Tradition und immer wichtiger in der heutigen Welt. Oder ganz einfach: Wer ein Vermögen weder aus kurzfristigem Gewinnstreben noch in erster Linie mit der Absicht, staatliche Abgaben so weit wie möglich zu vermeiden, anlegen will, hat keine Alternative zur Schweiz. Dort ist es zwar nicht unbedingt vor dem Zugriff seines eigenen Staates geschützt, aber wenigstens in einem stabilen gesellschaftlichen Umfeld aufbewahrt. Die Zukunft Wenn Extraprofite wegfallen und ein Vermögensverwalter mangelnde Fachkenntnis nicht länger durch Reputationsmanagement, teures Bewirten, Einladungen und unnütze Geschenke ersetzen kann, dann muss er halt wieder zu seinem angestammten Beruf als Staubsaugervertreter oder Autohändler zurückkehren. Wenn Analystenheere trotz Superalgorithmen und mathematischen Zauberformeln immer wieder daran scheitern, eine zutreffende Aussage über die zukünftige Entwicklung einer Aktie, eines Fonds, eines Marktes zu machen, dann kann man sie problemlos einsparen. Wenn Retrozessionen, Kick-backs, Churning und jede Form von Extrakommissionen keine Quelle von Zusatzprofiten mehr darstellen, dann reichen auch ein bescheidener Schreibtisch, zwei Stühle und ein Computer zur Kundenbetreuung. Das macht den Kunden froh, wenn er wieder mit der bewährten Schweizer Bescheidenheit betreut wird. Und dann gibt es noch einen weiteren, wichtigen Faktor. 24

Die Industrialisierung des Banking 95 Prozent aller Bankgeschäfte lassen sich schon längst automatisiert abwickeln. Konto- und Börsengeschäfte, ganze Vermögensanlagen brauchen keine «massgeschneiderten» Lösungen mehr. Das ist wie bei einem Anzug. Natürlich ist ein Massschneider in der Savile Row in London eine feine Sache. Auch ein gut sitzender Brioni hat seinen Charme. Aber selbst ein Anzug von H&M unterscheidet sich oft nur für den Kenner von einem à la misure. Wer Luxus, persönliche Dienstbarkeit braucht (und zahlt), wohlan. Da aber nicht mal gemanagte Fonds in den letzten zwanzig Jahren einen passiven Fonds in der Performance geschlagen haben, ist das alles doch offensichtlich verzichtbar. Die Rolle der OECD Was die Aufbewahrung von Geld betrifft, gibt es einen Nebenaspekt. Steuerehrlichkeit wird mit der US-Kontrollkrake FATCA (Foreign Account Tax Compliance Act) und/oder mit den Standards der OECD (Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung) erzwungen. Nun gibt es aber grössere Teile der Welt, die weder mit FATCA noch mit der OECD etwas zu tun haben. Neben der Schweiz sind in der OECD lediglich 33 Länder dieser Welt vertreten. Darunter natürlich die üblichen Schwergewichte wie USA, Japan und die meisten Staaten Europas. Die BRIC-Staaten (Brasilien, Russland, Indien, China), die ganze arabische, schwarzafrikanische und grössere Teile der lateinamerikanischen Welt aber nicht. Diesem nicht zu vernachlässigenden Teil der Welt gegenüber gelten also OECD-Regeln nicht. Eine Chance für das traditionelle Schweizer Banking, das weiterhin nach dem Geschäftsprinzip arbeiten will: no risk, no fun. Zwei Szenarien Das ist die Auslegeordnung. Welche möglichen Zukunftsszenarien lassen sich daraus ableiten? Man könnte es nun kompliziert machen und eine Matrix von interagierenden, multifaktoriellen Entscheidungsfeldern aufbauen, diese mit Eintrittswahrscheinlichkeiten versehen und im gleichen Gestrüpp enden, wie es die Jahresbilanz einer Schweizer Grossbank darstellt. Oder man beschränkt sich auf die beiden Ränder der möglichen zukünftigen Entwicklung, auf Banglisch ein «worst case»- und ein «best case»-Szenario. Im schlimmsten Fall wird die Schweizer Regierung weiterhin vor rechtsimperialistischen Forderungen aus dem Ausland kapitulieren. Der Schweizer Finanzplatz wird mit existenzbedrohenden Bussen für vergangene Untaten überzogen. Schweizer Banken exponieren sich weiterhin in globalen Spekulationsgeschäften mit unbeherrschbaren Risiken. Darüber vernachlässigen sie stabile und ertragreiche Sparten wie das Asset Management und die moderne Verwaltung namhafter Vermögen. Befeuert durch die hochriskante Niedrigzinspolitik auch der Schweizerischen Nationalbank investieren sie in sich dadurch aufpumpende Blasen, wie beispielsweise im heimischen Immobilienmarkt. Mit der Fortführung des gescheiterten Universalbankmodells erpressen sie eine implizite oder sogar explizite Staatsgarantie. Denn sobald Spareinlagen und Pensions-


RenĂŠ Zeyer, photographiert von Philipp Baer.

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gelder in Gefahr geraten, wenn wegen zu tolldreistem Zocken im hochriskanten Eigenhandel der Bankrott droht, müsste die Staatsfeuerwehr wieder mit neugedrucktem Geld den Brand löschen. Da mit all diesen Geschäftsmodellen keine Wertschöpfung generiert wird, zudem kurzfristige Zockergewinne mit langfristig verlorenen Multimillionenboni vergoldet werden müssen, führt diese Fortsetzung der bekannten Strategie mit mathematisch prognostizierbarer Wahrscheinlichkeit in den Abgrund. Im besten Fall wird die Schweizer Regierung ihres Amtes walten und eine politische Lösung finden. Für ein Problem, das Banken – unabhängig von der moralischen Bewertung des Geschäftsmodells «Beihilfe zur Steuerhinterziehung» – nicht lösen können: dass sie sich mit der Praktizierung, wohlgemerkt bis heute im Rahmen der Schweizer Rechtsordnung, in unlösbare Konflikte mit supranational geltenden Währungsräumen begeben. Denn darauf laufen Informationsgesetze wie FATCA ja hinaus: Willst du im Dollarraum geschäften, dann spielst du nach unseren Regeln. Weltweit, auch in der Schweiz. Die Politik schafft die Rahmenbedingungen, dass die Bussen für vergangene Steuersünden in erträglichem Ein Dinosaurier Rahmen bleiben und damit die Vergangenheit ein kann sich für alle Mal bewältigt ist. nicht gesund­Durch die Konzentration schrumpfen. auf die einmalige USP des Finanzplatzes Schweiz, sichere und stabile Vermögensanlage mit grösstmöglicher Garantie einer Werterhaltung, fliessen aus dem OECD-Raum Multimilliarden an steuerlich geordneten Neugeldern in die Schweiz. Und von ausserhalb? Nun, das können wir der Risikofreudigkeit einzelner Bankinstitute überlassen. Wenn ein Geldhaus weiterhin Appetit auf hochriskante Einsätze im Zockercasino verspürt, wenn es mit den Big Boys bei Merger & Acquisition oder bei IPOs mitspielen will: Wohlan, eine entsprechende Abspaltung innerhalb einer Holdingstruktur ist ja kein Zaubertrick. Diese Strategie, Rückkehr zu bewährten Werten, Rückzug aus unkontrollierbaren, globalen virtuellen Geldwolken, würde den Schweizer Finanzplatz zu einem Fels in der Brandung, zu einem Leuchtturm machen, an Attraktivität kaum zu überbieten. Eigentlich ist die Antwort doch trivial, welches der beiden Szenarien anzustreben ist. Nur gibt es dabei ein Problem: Ein Dinosaurier kann sich nicht gesundschrumpfen. Er kann sich auch nicht ein grösseres Gehirn wachsen lassen. Übertragen auf moderne Grossbanken: das Problem besteht nicht in erster Linie aus geldgierigen Zockerbankern. Es besteht auch nicht aus systemgefangenen Mitgliedern der Geschäftsleitung, die in konstanter Überforderung, geplagt von Jetlag und in Informationsfluten ertrinkend, eine Entscheidung nach der anderen treffen müssen, deren Auswirkungen sie nicht im Ansatz überschauen. Das Problem besteht auch nicht in Verwaltungsräten, die eigentlich für 26

die strategische Planung zuständig wären, aber dafür weder die Zeit noch die Qualifikation haben. Das sind alles nur Symptome. Das Problem ist: Diese Art von Bank – die Universalbank – ist krank. Todkrank. Nicht therapierbar. Nicht reformierbar. Nicht zur Selbstheilung fähig. Es ist diesen Gebilden systemimmanent nicht möglich, das Offenkundige und Triviale umzusetzen. Wo wird’s also hingehen? Nun, immerhin der Chef der Eidgenössischen Finanzmarktaufsicht Finma, Patrick Raaflaub, formuliert es trocken: «Das Risiko, dass weitere Banken zusammenbrechen, besteht.» Das muss man sich wirklich auf der Zunge zergehen lassen. Der oberste Bankenaufseher verkündet nicht etwa, dass der Bankenplatz Schweiz dank schärfsten Kontrollen und Regulatorien, dank grundsolider Tradition so stabil und wetterfest wie das Matterhorn sei. Dass in allen Ländern der Welt, inklusive USA, England, Deutschland oder Luxemburg, Banken zusammenkrachen können. Aber doch nicht in der Schweiz, schliesslich haben wir hier vom Sündenfall UBS gelernt und in den vergangenen drei Jahren alle nötigen Konsequenzen gezogen. Da die Dinosaurier nicht aus eigenem Vermögen ihre Masse verringern können, auf dass ein Umfallen nicht einen Krater so gross wie die Schweiz auslöse, sondern höchstens ein kleines, lokales Beben, wurden sie halt von der dafür vorgesehenen staatlichen Behörde zwangsweise gesundgeschrumpft. Wenn Raaflaub das gesagt hätte, wenn das die Finma getan hätte, könnten wir uns Hoffnung machen, dass das zweite Szenario eintritt. So aber müssen wir uns damit trösten, dass der Anteil des Schweizer Bankenplatzes an der gesamten Wertschöpfung nach eigenen Angaben bloss 6,2 Prozent beträgt.1 Das Rausschmeissen von Mitarbeitern und das Verkleinern zu umfangreicher Bilanzräder erledigen die Banken ja schon ansatzweise selbst. Noch sprudeln zwar die Boni, aber sie landen nicht mehr so direkt und schnell auf den Konten der Direktorenklasse. Aber Banking hat einen grossen Vorteil. Es besteht grösstenteils aus Fassade, Reputationsmanagement, einem Haufen Computer und Personal. Im Gegensatz zur Textil- oder Maschinenindustrie wird selbst ein gewaltiges Einschrumpfen des Schweizer Banking keinen sichtbaren Krater hinterlassen. Einige Arbeitslose, freier Büroraum an bester Lage, mehr wird da nicht sein. Gelegentlich wird man einen leicht hilflosen, gut gewandeten Herrn sehen, der vor einem Billettautomaten steht und sich fragt, wie man eigentlich ein Ticket fürs Tram löst. Weil er sich nicht mehr erinnern kann, wie das geht. Weil er sich nicht daran erinnerte, dass es nur eine Generation zuvor zum guten und üblichen Ton gehörte, dass auch der Bankdirektor mit der Strassenbahn zur Arbeit fährt. Natürlich wird dieser sehr wahrscheinliche Niedergang von lautem Wehklagen und düsteren Ankündigungen eines fast sicheren Endes der Schweiz begleitet werden. Aber keine Bange. Das hätten die Dinosaurier auch so gehalten. Wären sie des Sprechens mächtig gewesen. �

http://www.swissbanking.org/20120702-2400-factsheet_finanzplatz_schweizrva.pdf (Seite 3, gesamte Wertschöpfung minus 4,1 Prozent Versicherungen)

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Heilige, Bürger, Bürokraten Wer will bloss seine eigene Haut retten? Und wer setzt seine Haut aufs Spiel? Eine Unterscheidungshilfe. von Nassim Nicholas Taleb

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er Mensch lässt sich nach Nassim Nicholas Taleb drei Handlungstypen zuordnen, die zugleich drei ethischen Kategorien entsprechen. Es gibt – erstens – jene seltenen Exemplare, die ihre Haut aufs Spiel setzen, um anderen zu helfen – das sind sozusagen die Heiligen. Es gibt – zweitens – jene, die ihre Existenz aufs Spiel setzen, um Erfolg zu haben – scheitern sie, tragen sie allein die Konsequenzen; gelingt ihr Vorhaben, profitieren auch andere davon. Das sind die Unternehmer. Und es gibt – drittens – jene, die die Risiken ihres Handelns anderen überantworten (ohne deren Wissen) und den Profit grosszügig selbst einstreichen, wobei sie ihre Lage ständig schönreden. Scheitern sie, zahlen andere den Preis; haben sie Erfolg, streichen sie den Sondergewinn exklusiv ein. Dazu zählen u.a. Politiker, Firmen-

Nassim Nicholas Taleb ist Professor für Risikoforschung am Polytechnischen Institut der New York University und Autor des Bestsellers «Der schwarze Schwan: Die Macht höchst unwahrscheinlicher Ereignisse» (2008). Er ist Hedge-Fonds-Investor und ehemaliger Wall-Street-Händler.

chefs und Journalisten. Die folgende Tabelle, die wir mit freundlicher Erlaubnis von Nassim Taleb abdrucken, ist seinem neuen Buch «Antifragilität. Anleitung für eine Welt, die wir nicht verstehen» (Knaus, 2013, S. 511) entnommen. Sie ist so einfach wie einleuchtend – und mag manchem durch den wirr-wolkigen ethischen Diskurs der Gegenwart dienen. (RS) �

Die grundlegende Asymmetrie im Bereich der Ethik

Setzt die eigene Haut nicht aufs Spiel

Setzt die eigene Haut aufs Spiel

(Sichert sich selbst die Vorteile, verlagert

(Behält Nachteile für sich,

die Nachteile auf andere – besitzt eine

nimmt seine Risiken auf sich)

verborgene Option auf Kosten anderer)

Setzt die eigene Haut um anderer willen aufs Spiel – bringt sich mit Leib und Seele ein (Nimmt die Nachteile der anderen auf sich – universelle Werte)

Bürokraten

Bürger

Heilige, Ritter, Krieger, Soldaten

Phrasendrescherei

Taten, kein Geschwätz

Gehaltvolle Worte

Consultants, Sophisten

Kaufleute, Geschäftsmänner

Propheten, Philosophen (im vormodernen Sinn)

Grosse Unternehmen

Handwerker

Künstler, einige Handwerker

Manager (Anzugträger)

Kleinunternehmer

Kleinunternehmer, Innovatoren

Theoretiker, Datenknechte, Analysten

Labor- und Feldforscher

Querdenker

Zentralregierungen

Regierungen von Stadtstaaten

Stadtregierungen

Lektoren

Schriftsteller

Grosse Schriftsteller

Journalisten, die «analysieren» und Prognosen formulieren

Spekulanten

Journalisten, die Risiken auf sich nehmen und Betrugsfälle (innerhalb von Regierungen oder Wirtschaftsunternehmen) aufdecken

Politiker

Aktivisten

Rebellen, Dissidenten, Revolutionäre

Banker

Trader

(Würden sich nicht auf die vulgäre Ebene des Handels herablassen)

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«Was passiert, wenn die Gelder kurzerhand abgezogen werden?» Christine Lagarde ist eine der mächtigsten Frauen der internationalen Politik. Doch selbst die Chefin des Internationalen Währungsfonds fragt sich, warum die Liquidität nicht ankommt, wo sie sollte. Ein kurzer Austausch über Risiken und Nebenwirkungen. Florian Rittmeyer trifft Christine Lagarde

Madame Lagarde, der IWF verfolgt die weltweiten Flüsse des Kapitals, das aufgrund der erhöhten Liquidität in historisch beispiellosem Umfang vorhanden ist. Hat die versorgende Geldpolitik zur Bekämpfung der vergangenen Exzesse die Samen für neue Exzesse und neue Crashes gesät? Wo sehen Sie neue Risiken, die durch die Neuverpackungen der alten Risiken entstanden sind? Wenn wir über Geldpolitik sprechen, gibt es aktuell zweierlei Risiken. Das erste Risiko besteht darin, dass die unkonventionelle Geldpolitik nur bis zu einem bestimmten Punkt funktioniert. Tiefzinsstrategien, wie die Fed, die EZB, die Bank of England und die Bank of Japan sie anwenden, sollten sich auf der untersten Ebene auswirken, wo Kredite gewährt werden. Das heisst, sie sollten der Person nützen, die sich mit genügend Sicherheiten ein Haus kaufen will, oder dem Kleinunternehmen, das sich Geld leiht, um eine neue Infrastruktur aufzubauen. Wir sehen aber nicht, dass der Prozess in dieser Form funktioniert. Die grosse Frage ist: warum nicht? Es gibt verschiedene Erklärungsmöglichkeiten. Funktioniert der Prozess nicht, weil die Geldpolitik nicht so kalibriert ist, wie sie sollte? Oder behalten die Banken die zusätzliche Liquidität bei sich, weil sie sich um die sorgen? Oder liegt der Grund darin, dass sich die Leute am Ende der Kette – der Hauskäufer oder der Kleinunternehmer – sagen: Warum sollte ich investieren, wenn alles so riskant ist und ich keine Ahnung habe, wie sich die Dinge in Zukunft entwickeln? Vielleicht handelt es sich um eine Mischung aus allen drei Elementen. Auf jeden Fall stellt das Resultat, nämlich die mangelhafte Effektivität der Geldpolitik, aus meiner Sicht das erste Risiko dar. Das zweite Risiko erwartet uns in Zukunft. Die unkonventionelle Geldpolitik hat die Kapitalflüsse in emerging markets getrieben – fragen Sie in der Türkei, in Brasilien, Mexiko oder Indonesien nach. Die freuen sich erst mal darüber. Diese Länder erleben, wie Investitionen zu ihnen fliessen. Manche Investitionen sind langfristig angelegt: das ist gut, denn einige dieser Länder können so ihre Infrastruktur finanzieren. Aber einige der Investitionen sind reine Portfolio-Investitionen – und können sich sehr schnell anderswohin bewegen. Hier lauert also ein weiteres Risiko: Was passiert, wenn diese Gelder kurzerhand abgezogen

Christine Lagarde ist geschäftsführende Direktorin des Internationalen Währungsfonds (IWF). Die Rechtsanwältin war jahrelang für die US-Kanzlei Baker & McKenzie tätig, zuletzt als Präsidentin der Geschäftsführung. Von 2007 bis 2011 war sie französische Wirtschafts- und Finanzministerin. Florian Rittmeyer ist Politik- und Wirtschaftsredaktor des «Schweizer Monats».

werden? Wie gehen die betroffenen Länder mit einem plötzlichen massiven Kapitalrückzug um? Wir sehen, dass einige Länder dämpfende Massnahmen ergreifen. Kolumbien oder Chile etwa sind daran, ihre Finanzmärkte zu vertiefen und die finanzielle Infrastruktur auszubauen, um diese Kapitalflüsse einzufangen. Dennoch halte ich den schnellen Kapitalabfluss zusammen mit der Effektivität der Geldpolitik für die aktuell grössten Risiken. � Treffen mit Christine Lagarde

V

erglichen mit den Problemen, die Mohamoud Ahmed Nur als Bürgermeister der 2,5-Millionen-Stadt Mogadischu zu lösen habe, sei ihre tägliche Arbeit eigentlich einfach. Christine Lagarde sitzt entspannt im ledernen Sessel in einem zum Medienraum umfunktionierten Saal der Universität St. Gallen und sinniert vor den Journalisten darüber, wie sich der tägliche Gang zur Arbeit wohl anfühle, wenn man permanent mit Morddrohungen konfrontiert sei. Sie selbst hat auch schon Drohungen erhalten – allerdings nur vereinzelte. Dennoch, wenn Lagarde öffentlich auftritt, ist sie umringt von schwarz gekleideten Personenschützern. Auch am St. Gallen Symposium, an dem sie dieses Jahr zum elften Mal teilnahm. Das Thema lautet «Rewarding Courage». Mut besitzt die 57jährige Französin, hat sie doch früh gelernt, sich durchzusetzen: drei jüngere Brüder, erste Geschäftsführerin der Kanzlei Baker & McKenzie, erste Finanzministerin eines G-7-Mitglieds und erste Direktorin des Internationalen Währungsfonds. Von einer der wohl einflussreichsten Frauen der Welt geht eine gleichsam graziöse Machtausstrahlung aus. Sie versteht es, ein Lächeln innert Sekundenbruchteilen in demonstrative Entschlossenheit zu verwandeln, und sie weiss um das Gewicht ihrer Worte. Nein, einfach ist ihre Arbeit nicht. Aber sie hat sie gewollt – und weiss, dass noch vieles auf sie zukommt. (FR)

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Das Europa der Menschenrechte Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) wurde nach dem Krieg geschaffen, um die Grundrechte der Bürger zu schützen. Heute greift er unverblümt in die Gesetzgebung seiner Mitgliedstaaten ein. Seine Entscheide wirken willkürlich, wie auch die Schweiz zu spüren bekommt. Was tun? von Thierry Baudet

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ebst dem Europa in Brüssel, der EU, gibt es noch ein anderes Europa: das Europa des Europarates mit Sitz in Strassburg. Es sind zwei völlig verschiedene Organisationen, die man nicht miteinander verwechseln darf. Der Europarat hat 47 Mitgliedstaaten, die EU 27, bald 28. Der Europarat hat keine Euro-Währung und beschäftigt sich nicht mit dem internen Markt. Zwar hat der Rat einen Commissioner, der Themen traktandieren kann und Rapporte produziert, und er hat einen Gerichtshof, den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR). An diesen können sich Einwohner der Mitgliedstaaten des Europarates wenden, wenn sie sich in ihren «Menschenrechten» verletzt fühlen. Dieser Gerichtshof ist das weitaus wichtigste Organ des Europarates, und er nimmt Klagen von Einwohnern der Mitgliedstaaten entgegen, welche die Verletzung derartiger «Menschenrechte» an den Pranger stellen. Als Idee ganz bestimmt lobenswert. Das Problem ist jedoch, Das Problem ist, dass Menschenrechte der Inflation ausgesetzt sind. dass Menschenrechte Der Gerichtshof hat mittder Inflation lerweile eine Warteliste ausgesetzt sind. von mehr als 150 000 Verfahren. Er fällt durchschnittlich mehr als drei Entscheidungen pro Tag. Und er gerät immer öfter in Konflikt mit Regierungen von Mitgliedstaaten, wenn er demokratisch abgesegnete Verfahren als mit den «Menschenrechten» unvereinbar erklärt. Kürzlich gerieten beispielsweise die Schweiz, die Niederlande und Italien in Konflikt mit dem Gerichtshof. Das Vereinigte Königreich zweifelt unterdessen öffentlich am Existenzrecht des EGMR. Aber bevor wir weiter darauf eingehen, müssen wir zuerst den Begriff «Menschenrechte» etwas näher untersuchen. Gibt es «universelle Menschenrechte»? Denn darüber besteht noch einige Begriffsverwirrung. Viele, die von «universellen Menschenrechten» sprechen, meinen etwas anderes, als sie tatsächlich sagen. Oft geht es nicht um «Rechte» im juristischen Sinn, sondern um «humanitäre Grundsätze», «christliche Prinzipien» oder «naturrechtliche Überzeugungen». 30

Thierry Baudet zählt zu den aufstrebenden Intellektuellen der Niederlande. Er wurde bei Paul Cliteur und Roger Scruton an der juristischen Fakultät in Leiden mit der Dissertation «The Significance of Borders. Why Representative Government and the Rule of Law Require Nation States» (Leiden & Boston 2012) promoviert. Frits Bolkestein, vormaliger niederländischer Handels- und Verteidigungsminister sowie EU-Kommissar, nannte das Buch einen «Reality-Check für Europa».

«Menschenrechte» ist der gemeinsame Nenner für grundsätzliche Prinzipien der Gerechtigkeit geworden. Genozid, Unterdrückung, schwerer Machtmissbrauch – es ist zur Gewohnheit geworden, unsere Missbilligung dieser Erscheinungen als Verletzung von «Rechten» zu bezeichnen. Wir sprechen von schweren Menschenrechtsverletzungen, welche bei einem Krieg in Afrika vorkommen. Wir werfen dem Regime in Burma vor, es «trete fundamentale Rechte mit den Füssen». Die Verwendung des Wortes «Rechte» in diesem Sinn ist metaphorisch. Es wird nicht auf real bestehende Rechte verwiesen, die man im Juristenjargon «positivierte» oder «positive Rechte» nennt (vom lateinischen ponere, niederlegen oder ausfertigen). Von positivem Recht wird nämlich erst gesprochen, wenn Rechte in einer gesetzlichen Bestimmung festgelegt sind – wie zum Beispiel in jener der Europäischen Menschenrechtskonvention – und wenn man in der Folge das Recht bei einem Richter, der einen als Rechtssubjekt anerkennt, geltend machen kann. Spricht man von «universell geltenden Menschenrechten», würde das – juristisch gesehen – bedeuten, dass alle Menschen – weltweit – den gleichen Anspruch hätten auf eine Anzahl für jedermann immer und überall geltender Rechte. Derartige «Menschenrechte» wurden nie in einem Vertrag festgelegt. Es gibt ebenso wenig einen Weltrichter, welcher einheitliche Anwendung gewährleistet. Die «Allgemeine Erklärung der Menschenrechte» von 1948 hat keine juristische Geltung. Es ist eine Erklärung und kein Vertrag. Der Internationale Pakt über bürgerliche und politische Rechte (Zivilpakt, IPbpR) und der Internationale Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (Sozialpakt, IPwskR), beide 1966 geschlossen, erheben nicht den Anspruch, «Menschenrechte» zu kodifizieren, sondern Bürgerrechte, politische Rechte, wirtschaftliche Rechte usw. Ferner


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haben diese Verträge auch keine Direktwirkung auf die nationalen Rechtsordnungen. Im übrigen umfassen diese Rechte ein derart breites Spektrum, dass von einem «universellen Kern» fundamentaler Gerechtigkeit kaum die Rede sein kann. Sogar das ominöse Recht von Gefangenen auf Besserung und Wiedereingliederung (Art. 10 Abs. 3 IPbpR) wird proklamiert, ebenso das Recht berufstätiger Mütter auf bezahlten Urlaub, das Recht auf einen «angemessenen Lebensstandard», das «Recht, vor Hunger geschützt zu sein» sowie das «Recht auf höchstmögliche körperliche und geistige Gesundheit» (Art. 10, 11 und 12 IPwskR). Es ist evident, dass diese «Rechte» keine universellen, äussersten Grenzen der Gerechtigkeit abstecken. Sie sind allenfalls lobenswerte Verhaltensvorschläge (auch wenn «Besserung von Strafgefangenen» an den Archipel Gulag erinnert), sie «universelle Menschenrechte» zu nennen, ist Karikatur. Noch wichtiger aber: Diese Rechte können nicht zentral erzwungen werden. Es gibt eben keinen Weltrichter, geschweige denn eine Weltpolizeimacht. Deswegen wird ihre Interpretation von Land zu Land unterschiedlich sein. Länder wie Chile oder Ghana haben andere Standards von «höchstmöglicher körperlicher und geistiger Gesundheit» als die Schweiz und Schweden. China und Saudi-Arabien verstehen unter «Besserung von Strafgefangenen» etwas anderes als wir. Von universell existierenden Rechten kann wie auch immer keine Rede sein. Aber nicht nur, weil sie nie kodifiziert wurden und auch nie erzwungen werden können, gibt es keine universellen Menschenrechte. Angenommen, wir würden sie kodifizieren und zentral durchsetzen, dann würden sie unvermeidbar im Widerstreit sein mit unseren demokratischen und rechtsstaatlichen Prinzipien. Dies deshalb, weil selbst die Anwendung der grundlegendsten Rechte immer richterliche Abwägung und Entscheidung verlangt. Die Einführung «universeller Menschenrechte» würde nicht nur einen regelrechten Vertrag sowie einen Weltgerichtshof voraussetzen, sondern auch eine kulturelle Einheitlichkeit erfordern. Angenommen, man macht aus dem «Recht auf Leben» ein universelles Menschenrecht. Bedeutet dies dann ein Verbot von Abtreibung und Euthanasie? In vielen Kulturen ist dies die herrschende Auffassung. Oder bedeutet es ein Verbot der Todesstrafe? Europäer (zumindest die Angehörigen der europäischen Elite) sind sehr wohl dieser Meinung, viele Amerikaner nicht. Für Sozialisten würde Recht auf Leben in jedem Fall natürlich kostenlose Gesundheitsversorgung und Gratismedikamente für jedermann bedeuten. Erfordert Recht auf Leben bei näherer Betrachtung nicht, dass der Staat die primären Lebensbedürfnisse für alle garantiert? Passiv zuzuschauen, während jemand stirbt, ohne ihm Hilfe zu leisten, käme doch Mord gleich? Oder nehmen wir das Diskriminierungsverbot. Würde das nicht die Abschaffung aller Erbmonarchien bedeuten? Eigentlich schon – genau wie die Vorschrift, dass amerikanischer Präsident nur werden kann, wer in Amerika geboren ist. Weil kein einziger Mensch genau gleich ist wie ein anderer, ist das Diskriminierungsverbot theoretisch endlos in seiner Anwendung (und ebenso kollidiert «Chancengleichheit» beispielsweise mit der Existenz von Familien und Privat-

eigentum). Das Diskriminierungsverbot gerät fortwährend in Konflikt mit klassischen Freiheitsrechten wie der Vereinsfreiheit, der Meinungsäusserungsfreiheit, der Gewissens- und der Religionsfreiheit. Wo genau liegt die Grenze? Wie müssen wir diese miteinander kollidierenden Prinzipien gegeneinander abwägen? Kurz und gut: ein juristisches Konzept universeller Rechte erfordert ein zentralisiertes Interpretationssystem. Und eine solche Interpretation ist derart abhängig von regionalen Kulturunterschieden und der Interpretation durch Richter, dass eine globale («universelle») Interpretation von «Menschenrechten» auf eine Diktatur im Weltmassstab hinauslaufen würde. Darum ist es nur gut, dass im juristischen Sinn keine universellen Menschenrechte existieren – es würde das Ende unserer Freiheit bedeuten. Das Problem der Verfassungsgerichtsbarkeit Wohl gibt es in den meisten Ländern Grundrechte. Sie haben dieselbe Form wie das, was oft unter «Menschenrechten» verstanden wird: Sie betreffen Meinungsäusserungsfreiheit, Gewissensfreiheit, das Recht auf ein korrektes Gerichtsverfahren und derartiges. Sie sind indessen fundamental anders als «Menschenrechte», weil sie keinen Universalitätsanspruch haben, sondern nur Geltung beanspruchen für das Land, in dem sie gelten – und in dessen Kontext. Und eine der wichtigsten konstitutionellen Debatten, welche seit der Einführung von modernen Verfassungen im Lauf des achtzehnten und neunzehnten Jahrhunderts gewütet haben, ging über genau denselben Punkt: nämlich über den Status der Grundrechte. Denn auch Grundrechte sind nicht unproblematisch. Grob unterscheidet man zwei Schulen: Die einen vertreten die Auffassung, Das Problem ist, dass GrundGrundrechte müssten eine Direktwirkung auf die narechte immer multiinterpretionale Rechtsordnung hatierbar sind. Ihre Bedeutung ben, die andern wollen ist nie evident. den Grundrechten nur eine indirekte Wirkung zuerkennen. Oder auch: diejenigen, welche finden, dass Grundrechte dem Bürger ermöglichen sollten, den Richter anzurufen, um ein konkretes Verhalten oder dessen Unterlassung zu erzwingen (Direktwirkung), und diejenigen, welche der Meinung sind, Grundrechte hätten den Charakter eines Auftrages an den Gesetzgeber, den in den Grundrechten formulierten Prinzipien ernstlich Rechnung zu tragen (indirekte Wirkung). Was hat man denn von Rechten, so argumentieren viele, die man nicht vor dem Richter durchsetzen kann? Das Problem ist indessen, dass Grundrechte immer multiinterpretierbar sind. Ihre Bedeutung ist nie evident. Kurzum, Grundrechte erfordern eine politische Entscheidung. Das ist umso eher dann der Fall, wenn Grundrechte miteinander kollidieren, wie etwa das Diskriminierungsverbot und die Meinungsäusserungsfreiheit bei der Debatte über das multikulturelle Zusammenleben. 31


Weiterdenken  Schweizer Monat 1007  Juni 2013

Die Frage, wo hier präzis die Grenzen zu ziehen sind, werden viele mit Recht mit politischen und nicht mit juristischen Abwägungen beantwortet sehen wollen, und dies ist denn auch exakt der Grund, warum viele führende Politikphilosophen Gegner der Direktwirkung von Grundrechten waren. Der Gesetzgeber, nicht der Richter, müsse diese Abwägung machen, so lautet die Argumentation. Der Richter wendet Gesetze an, welche die Grundrechte konkretisieren, aber er hält sich fern von politischen Erwägungen über die Reichweite der Grundrechte selbst. Ein gutes Beispiel für die Gefahr, welche die Verfassungsgerichtsbarkeit mit sich bringt, sind die Vereinigten Staaten von Amerika, wo die Ernennungen der Richter des Supreme Court – exakt wegen ihrer Macht auf diesem Gebiet – politische Ernennungen sind. Diese Richter können nämlich via ihre Rechtsprechung weitreichende Entscheidungen treffen auf Gebieten wie der nationalen Sicherheit (Praktiken auf Guantánamo Bay als «Folterungen» qualifizieren), Ethik (Abtreibung und Euthanasie zulassen oder verbieten), Strafrecht (Todesstrafe zulassen oder verbieten), Immigration (Ausweisung von Asylsuchenden zulassen oder Die Frage ist, warum die Richter verbieten) und des interin Strassburg freie Bahn haben nationalen Rechts (Versollten, ihre Auffassungen dem träge als verfassungsmässig erklären oder nicht). Rest von Europa aufzuzwingen. Amerikanische Präsidenten, die neue Richter vorschlagen dürfen, wählen Richter aus, deren Auffassungen mit den ihrigen übereinstimmen. Der Senat, der die Ernennungen bestätigen muss, kann sich querlegen, wenn die Mehrheit eine andere politische Auffassung hat, so wie es mit dem von Ronald Reagan vorgeschlagenen Konservativen Robert Bork geschah, dessen Ernennung 1987 vom Senat abgelehnt wurde. Amerikaner wissen, wo die Richter ihres Supreme Court politisch stehen, und wägen ihre Chancen ab, um bestimmte gewünschte politische Änderungen durchzusetzen, wenn ein Richter ersetzt wird. Um dieser Politisierung des Rechts zu begegnen, kennen beispielsweise die Schweiz und die Niederlande die Verfassungsgerichtsbarkeit nicht. Der Europäische Gerichtshof Aber das führt uns unvermittelt wieder zurück zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. Entgegen dem ursprünglichen Sinn auch der niederländischen Verfassung wird eine Überprüfung der Verfassungsmässigkeit niederländischer Gesetze durch diesen Gerichtshof ermöglicht, weil die Niederlande 1953 mit lediglich einfacher Mehrheit die Europäische Menschenrechtskonvention ratifizierten. Diese verpflichtet die Mitgliedstaaten, die Auffassungen einer Gesellschaft von «Richtern» (in Anführungszeichen, weil man gemäss Art. 21 EMRK nicht einmal 32

Richter sein muss, um «Richter» in Strassburg werden zu können) eines Gerichtshofs in Strassburg zu akzeptieren. Gegenwärtig hat der Gerichtshof 47 Mitgliedstaaten, die je einen «Richter» stellen.1 Diese Richter werden auf Vorschlag der Mitgliedstaaten durch die parlamentarische Versammlung des Europarates ernannt. Mit einem Richter aus jedem Mitgliedstaat haben Länder wie Monaco und Aserbeidschan gleich viel zu sagen wie Deutschland und Grossbritannien (wobei alles, was bei den Beratungen gesagt wird, natürlich übersetzt werden muss). Die EMRK umfasst einen breiten Fächer von Rechten (in 15 Artikeln) und wird ergänzt durch eine Anzahl Protokolle mit noch mehr Rechten. Einwohner aus allen Mitgliedstaaten (Bürger und Nichtbürger) können beim EGMR eine Klage einreichen – immer gegen einen Mitgliedstaat gerichtet. Durch seine Rechtsprechung hat der Gerichtshof in den letzten Jahren überdies seine Jurisdiktion auf militärische Angehörige der Mitgliedstaaten in besetztem Gebiet ausgedehnt. So wurde beispielsweise das Vereinigte Königreich 2011 verurteilt, nachdem irakische Staatsangehörige eine Klage gegen das Verhalten britischer Soldaten während einer Nachtpatrouille in der irakischen Provinz Basrah eingereicht hatten.2 Die Kriterien, ob eine Klage anhand genommen wird oder nicht, sind dabei rein formeller Art: Der innerstaatliche Rechtsweg muss erschöpft sein (Art. 35 Ziff. 1 EMRK), Klagen dürfen nicht anonym eingereicht werden usw. Von einer inhaltlichen Beschränkung der Jurisdiktion des Gerichtshofs beispielsweise auf «ausschliesslich sehr schwere Fälle» ist nicht die Rede. In Diskussionen über die Legitimität des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte machen die Befürworter oft als erstes geltend, der Gerichtshof stehe aufkommenden Demokratien wie Bulgarien, Russland und der Türkei bei. Der Gerichtshof biete Journalisten und Dissidenten die Chance, frei an der Debatte teilzunehmen, er trage zur Verbesserung der Lebensbedingungen von Gefangenen bei und er stärke die Position von Frauen. Es trifft in der Tat zu, dass der Gerichtshof den erwähnten Staaten regelmässig auf die Finger klopft – wobei die Entscheide oft negiert werden, indem die zugesprochenen Schadenvergütungen nicht ausbezahlt werden oder indem ein verlangter Zusatz zur Gesetzgebung nicht zustande kommt.3 Der Gerichtshof macht aber viel mehr, als nur aufkommenden Demokratien beizustehen. Er richtet sich oft auf Westeuropa und zwingt erwachsene Demokratien mit einem funktionierenden Rechtsstaat dazu, ihre demokratisch zustande gekommenen Verfahren zu überprüfen. Der EGMR greift nicht nur bei Folterungen oder dem Verschwinden von Menschen ein, bei obskuren Behördenpraktiken oder bei unverhüllten ethnischen Säuberungen, sondern auch bei so alltäglichen Themen wie dem Stimmrecht für Gefangene, Einrichtungen im öffentlichen Schulwesen, dem Verfahren bei Hausgeburten, Vorschriften betreffend Hausdurchsuchungen und Polizeiverhöre. 4 Überdies bemüht sich der Gerichtshof um wichtige innerstaatliche Fragen wie Asyl- und Immigrationspolitik, nationale Sicherheit und Terrorismusbekämpfung.5


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Die Frage ist, warum die Richter in Strassburg freie Bahn haben sollten, ihre Auffassungen zu diesen Themen dem Rest von Europa aufzuzwingen – und das findet der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte selbst eigentlich auch. Der Gerichtshof anerkennt, dass die Richter ein äusserst kleines Grüppchen bilden, welches ausserhalb der Kontrolle nationaler Parlamente steht. Darum hat der Gerichtshof die Doktrin der «margin of appreciation» entwickelt, als Hilfsmittel zur Unterscheidung zwischen «fundamentalen Fragen», welche weiterhin unter die Jurisdiktion des EGMR fallen sollen, und weniger fundamentalen, eher alltäglichen Fragen, welche der nationalen Ebene von Rechtsprechung und Politik vorbehalten bleiben sollten. Gemäss der margin of appreciation behalten Mitgliedstaaten ihren eigenen Interpretationsspielraum. Der Gerichtshof würde so nur «marginale Prüfung» vornehmen und ausschliesslich als ultimativer Wachhund über das grundsätzlichste Recht zum Einsatz kommen. In den Worten des niederländischen Richters am EGMR, Egbert Myjer, gewährt der Gerichtshof eine Art Garantie für europäische Minimalstandards: «Solange ein Staat nur nicht durch die europäische Minimalnorm fällt.» 6 Das tönt natürlich prächtig. Das Problem ist allerdings, dass der Gerichtshof den Spielraum dieser margin of appreciation selbst bestimmt. Mit der Folge, dass der Gerichtshof immer mehr Fragen in seinem Kompetenzbereich ansiedelt. Leonard Hoffmann, vormaliger Richter am Britischen Supreme Court, formuliert es so: «In der Praxis hat der Gerichtshof für Menschenrechte die Doktrin von der margin of appreciation lange nur ungenügend angewendet. Er konnte der Versuchung nicht widerstehen, die Jurisdiktion stets weiter auszudehnen und den Mitgliedstaaten uniforme Regeln aufzuerlegen.»6 So hat der Gerichtshof Grossbritannien wegen der Weigerung verurteilt, verurteilten Straftätern während ihres Gefängnisaufenthalts das Stimmrecht zu gewähren. Und dies, während der Britische Supreme Court darüber 1 Der Gerichtshof hat zehn Gründungsstaaten, nämlich Belgien, Dänemark, Frankreich, Irland, Italien, Luxemburg, die Niederlande, Norwegen, das Vereinigte Königreich und Schweden. 2 Al-Skeini und weitere versus Vereinigtes Königreich (Application nr. 55721/07), 7. Juli 2011. Zum Vergleich mit früheren Verfahren betreffend extraterritoriale Jurisdiktion siehe Bankovic und weitere versus Belgien und weitere (Application nr. 52207/99 [2001] ECHR 890), 12. Dezember 2001. Siehe auch: Alasdair Henderson, «Al-Skeini vs. United Kingdom», in Human Rights and Public Law Update (14. Juli 2011). 3 Bis heute wurde keine systematische qualitative Untersuchung über die Umsetzung der Entscheide des EGMR vorgenommen. Diverse Studien haben aber darauf hingewiesen, dass Russland den Entscheiden des EGMR nicht nachkommt. Vgl. Julia Lapitskaya: ECHR, Russia, and Chechnya: two is not company and three definitely a crowd. In: International Law and Politics, NYU, vol. 43 (2011), S. 479–547. 4 Hirst versus Vereinigtes Königreich (nr. 2) (Application nr. 74025/01), 6. Oktober 2005; Lautsi versus Italien (Application nr. 30814/06), 3. November 2009 und 18. März 2011; Ternovszky versus Ungarn (Application nr. 67545/09), 14. Dezember 2010; Sanoma Verleger BV versus Niederlande (Application nr. 38224/03), 14. September 2010; Salduz versus Türkei (Application nr. 36391/02), 27. November 2008. 5 Beispielsweise im Oktober 2010 die Verhinderung der Ausweisung von Asylsuchenden durch den Erlass von Interimsmassnahmen. Vgl. MSS versus Belgien und Griechenland (Application nr. 30696/09), 21. Januar 2011. Bemerkenswert in diesem Casus war das spärliche Beweismaterial, welches der Kläger in bezug auf die Situation in Griechenland vorlegte, wo er behauptete, sich aufgehalten zu haben. Siehe auch den Casus von Kelly et al. versus Vereinigtes Königreich (Application nr. 30054/96), 4. Mai 2001. 6 Leonard Hoffmann: The Universality of Human Rights. Judical Studies Board Annual Lecture, 19. März 2009.

Lex and the City Mirjam B. Teitler

Hier liegt ein Hund begraben Simba, das ist meine zehnjährige «Zürcher Sennenhündin». Ebenso alt wie sie ist ihre Beziehung zu ihrem Tierarzt. Doch die ist nun zu Ende – das Zürcher Veterinäramt will es so. Warum? Nun, ab einem Alter von 70 Jahren sind Tierärzte verpflichtet, alle zwei Jahre ihre Fähigkeit zur Führung einer Praxis mit einem ärztlichen Zeugnis zu attestieren. Simbas Tierarzt ist über 75 Jahre alt. Er reichte fristgerecht ein Gesuch um Verlängerung der Praxisbewilligung ein. Statt einer Bewilligungsverlängerung im Briefkasten fand er bald darauf zwei Inspektoren vom Veterinäramt auf der eigenen Fussmatte. Sie schritten durch seine Praxis, er kam sich derweil vor wie ein Verbrecher. Die Beamten stellten fest: die Voraussetzungen für die Verlängerung der Bewilligung sind nicht erfüllt. Vor allem seien die Privatapotheke und die Akten nicht ordnungsgemäss geführt. Nach mehr als 40 Jahren ordnungsgemässen, nie beanstandeten Betriebs entschied sich Simbas Arzt also für einen Rückzug aus dem Berufsleben. Wo liegen die Grundlagen für dieses staatliche Einschreiten? Bei der Recherche im Netz stosse ich auf eine eidgenössische und kantonale Gesetzesflut, die die Dokumentation der Akten, die Voraussetzungen für die Führung einer Privatapotheke und die Weiterbildungspflicht von Tierärzten bis ins Detail – und identisch wie bei den Humanmedizinern – regelt. Diese Gleichstellung kann wohl kaum als sachgerecht betrachtet werden. Mit gesundem Menschenverstand ist klar: Ein Menschenleben ist ein höherwertiges Rechtsgut als ein Tierleben. Diese Tatsache rechtfertigt erweiterte Sorgfaltspflichten und einen grösseren Bürokratieapparat in der Humanmedizin. Überdies trägt der Staat die Kosten hierfür mit. Und bekanntlich bestimmt, wer zahlt. Simba aber unterliegt keinem Versicherungszwang, und ihre Rechnungen bezahle ich. Als mündige Bürgerin sollte ich auch selber bestimmen können, ob ich für sie eine elektronische Krankengeschichte will – oder eben nicht. Als Hundemama hätte ich mir einen verhältnismässigeren Entscheid und weniger Bürokratie erhofft. So erhält Simba im hohen Alter noch eine elektronische Krankengeschichte. Welch virtuelles Hundeglück!

Mirjam B. Teitler ist Rechtsanwältin und Partnerin bei Teitler Legal and Media Consulting.

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erwogen hatte, es bestehe in demokratischen Gesellschaften ein breites Spektrum von Einschränkungen und das Vereinigte Königreich befinde sich irgendwo in der Mitte dieses Spektrums. Im Verlauf der Zeit werde diese Haltung verschoben werden können (...), aber die Position innerhalb dieses Spektrums sei ganz klar eine Sache des Parlaments und nicht der Gerichte. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte sah dies anders und hielt zudem fest, es gebe keinen Beweis, dass das Parlament je versucht habe, zu einer Abwägung widersprüchlicher Interessen zu kommen oder die Verhältnismässigkeit eines allgemeinen Stimmverbotes für verurteilte Gefangene zu überprüfen [...]; möglicherweise könne angenommen werden, dass das Parlament, indem es sich dafür ausgesprochen habe, noch nicht verurteilte Gefangene von der Aberkennung des Stimmrechts auszunehmen, implizit die Notwendigkeit bekräftigt habe, die Einschränkungen des Stimmrechts für verurteilte Gefangene weiterzuführen. Dennoch

Hirst versus Vereinigtes Königreich (nr. 2) (Application nr. 74025/01), 6. Oktober 2005 Greens und M.T. versus Vereinigtes Königreich (Applications nrs. 60041/08 und 60054/08), 23. November 2010. 9 Tyrer versus Vereinigtes Königreich (Application nr. 5856/72), 25. April 1978. 10 Leonard Hoffmann: Foreword. In: Bringing Rights Back Home. Michael PintoDuschinsky: Making human rights compatible with parliamentary democracy in the UK. London: Policy Exchange, 2011, S. 7. 11 Salah Sheekh versus die Niederlande (Application nr. 1948/04), 11. Januar 2007. 7

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könne nicht behauptet werden, die Mitglieder der gesetzgebenden Gewalt hätten auch nur eine einzige substantielle Debatte geführt im Lichte der heutigen Strafrechtspolitik und der heutigen Massstäbe für Menschenrechte über die dauernde Rechtfertigung des Weiterführens einer so allgemeinen Einschränkung des Stimmrechts von Gefangenen.7 Es ist, zurückhaltend ausgedrückt, bemerkenswert, dass ein supranationaler Gerichtshof sich nicht nur ein Urteil über das Strafrechtssystem eines Mitgliedstaates anmasst, sondern sich auch noch in weitläufigen Betrachtungen ergeht über die Qualität nationaler parlamentarischer Beratungen. 2010 konstatierte der EGMR, das Vereinigte Königreich habe seine Gesetzgebung über das Stimmrecht von Gefangenen – entgegen dem Willen des Gerichtshofs – immer noch nicht angepasst, worauf er die eigenen Auffassungen in dieser Sache noch einmal bekräftigte und zum Schluss kam, dass «der beklagte Staat Gesetzesvorschläge [...] einzureichen hat innert sechs Monaten nach dem Datum, an welchem dieses Urteil rechtskräftig wird».8 Einige Tage vor dieser Entscheidung des Gerichtshofs hatte der britische Premier David Cameron erklärt, er werde «physisch unpässlich» beim Gedanken, dass Gefangene ein Stimmrecht erhalten sollten, und er erhielt für seinen Widerstand gegen die Anpassung der entsprechenden Bestimmungen im britischen Strafrecht die Unter-

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stützung einer überwältigenden Mehrheit des Parlaments. Aber dies war für den Gerichtshof kein Anlass, seinen eigenen Standpunkt zu überdenken. Das britische Parlament stimmte im Februar 2011 mit einer Mehrheit von 234 gegen 22 für die Anwendung des Stimmrechtsverbots für Gefangene. Im April 2011 verwarf der EGMR mit einer anonymen Kammer von fünf Mitgliedern das britische Ersuchen, bei der Grossen Kammer Berufung einzureichen, womit das angefochtene Urteil rechtskräftig und dem Vereinigten Königreich die Verpflichtung auferlegt wurde, vor dem 11. Oktober seine Gesetzgebung zu ändern. In der Sache Tyrer gegen Vereinigtes Königreich erklärte der Gerichtshof 1978 erstmals, dass «die Konvention ein lebendiges Instrument ist, welches (...) im Lichte der heutigen Verhältnisse ausgelegt werden muss» – was bedeutete, dass sich der Gerichtshof nicht mehr länger einer strikt wörtlichen Interpretation des Konventionstextes verpflichtet fühlte.9 Die Folge ist, dass der Gerichtshof die unter seine Jurisdiktion fallenden Rechte immer grosszügiger interpretierte. «Der Strassburger Gerichtshof hat sich selber eine ausserordentliche Macht verliehen, um in den Rechtssystemen der Mitgliedstaaten des Europarates Mikromanagement zu betreiben», so Lord Hoffmann im Jahre 2011.10

So urteilte der Gerichtshof, der somalische Asylbewerber Salah Sheekh dürfe nicht aus den Niederlanden ausgewiesen werden, weil eine Ausweisung einen Eingriff in sein Recht, nicht gefoltert zu werden, bedeuten würde. Die niederländische Immigrationsbehörde war zuvor zum Schluss gelangt, dass für Salah Sheekh kein Risiko bestand, gefoltert zu werden. Und so wird ein nationales Immigrationsverfahren, das nach einer ausgedehnten öffentlichen Debatte zustande gekommen und schliesslich durch ein demokratisch gewähltes Parlament ausgeformt worden war, schlicht ausgehebelt. 11 Auf der gleichen Linie liegt der Entscheid, mit welchem die Kleine Kammer des Gerichtshofs unlängst der Schweiz mit 5 zu 2 Stimmen untersagte, einen mehrfach verurteilten nigerianischen Drogendealer und Sozialhilfeempfänger auszuweisen. Da der Mann mit seiner Ex-Frau Zwillingstöchter habe, sei es «von übergeordnetem Interesse», dass die Kinder in der Nähe ihres Vaters aufwachsen könnten. Der Beispiele sind Legion und das Spannungsfeld zwischen nationalen Abwägungen und den ethischen Anwandlungen des Gerichtshofs ist endlos. So entschied der EGMR in der Rechtssache Lautsi versus Italien anfänglich, dass die obligatorischen Kruzifixe in den Klassenzimmern öffentlicher Schulen in Italien eine Verletzung des Rechts auf Religionsfreiheit (Artikel 9 EMRK) darstellten, zusam-

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men mit Artikel 2 des Ersten Protokolls, welches verlangt, dass «der Staat das Recht der Eltern auf Erziehung und Unterricht in Übereinstimmung mit ihren eigenen religiösen und philosophischen Überzeugungen respektieren soll», und verurteilte Italien zur Bezahlung von 5000 Euro für «immateriellen Schaden». Das Urteil erfolgte einstimmig und die Wortwahl des Entscheids war sehr dezidiert und kritisch: «Der Gerichtshof erwägt, dass die Anwesenheit eines Kruzifixes in Klassenzimmern die Verwendung von Symbolen in einem spezifischen historischen Kontext übersteigt (...). Der Gerichtshof erkennt, wie ausgeführt, dass es unmöglich ist, Kruzifixe in Klassenzimmern nicht zu bemerken. (...) Die Anwesenheit eines Kruzifixes kann durch Schüler jeden Alters leicht als religiöses Symbol gedeutet werden (...). Was für manche religiöse Schüler ermutigend sein kann, kann für Schüler, welche einem anderen Glauben oder gar keiner Religion anhangen, emotional störend sein. Dieses Risiko ist insbesondere bei Angehörigen einer religiösen Minderheit hoch.»12 Im Berufungsverfahren warf der Gerichtshof seine eigene Schlussfolgerung völlig über den Haufen. Mit einer grossen Mehrheit von 15 gegen 2 kam der Gerichtshof nunmehr unvermittelt zum Schluss, es liege keine Verletzung der Menschenrechtskonvention vor. Der Gerichtshof beginnt die Diesmal urteilte der EMRK ganz normal als Gesetz Gerichtshof, dass «der Entauf die Verfahren anzuwenden, scheid, eine Tradition fortzusetzen oder nicht, im die ihm vorgelegt werden. Prinzip in den Ermessensspielraum des beklagten Staates fällt». Überdies erwog der Gerichtshof, dass «ein Kruzifix an der Wand im wesentlichen ein passives Symbol ist». Er fügte dann noch folgende Schlussfolgerung an: «Der Gerichtshof verfügt über keinen Beweis, dass das Anbringen eines religiösen Symbols an den Wänden eines Klassenzimmers Einfluss auf die Schüler haben kann, und kann deshalb redlicherweise nicht feststellen, ob dieses Symbol einen Effekt hat oder nicht auf junge Menschen, deren Überzeugungen noch nicht ausgeformt sind.»

Lautsi versus Italien (Application nr. 30814/06), 3. November 2009. Lautsi versus Italien (Application nr. 30814/06), 18. März 2011. J.A. Pye (Oxford) Ltd. versus Vereinigtes Königreich (Application nr. 44302/02), 15. November 2005 und 30. August 2007. 15 Hatton versus Vereinigtes Königreich (Application nr. 36022/97), 8. Juli 2003. 16 Der Europäische Gerichtshof scheint die Konvention manchmal auch als Verfassung der angenommenen Vereinigten Staaten von Europa zu handhaben, wie es der Gerichtshof selbst festhielt im Verfahren Loizidou versus Türkei (Application nr. 15318/89), 23. März 1995. Darin umschrieb der Gerichtshof die Menschenrechtskonvention als ein «Verfassungsinstrument der Europäischen öffentlichen Ordnung». Siehe dazu weiter: R.A. Lawson und H.G. Schermers: Leading Cases of the European Court of Human Rights. Ars Aequi Libri: Nijmegen, 1997, S. VII. 17 O'Halloran en Francis versus Vereinigtes Königreich (Grosse Kammer) (Application nrs. 15809/02 und 25624/02), 29. Juni 2007. 18 Von Hannover versus Deutschland (Application nr. 59320/00), 24. Juni 2004. 12 13

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Der Gerichtshof erinnerte die Klägerin überdies daran, dass sie «als Elternteil das volle Recht behält, ihre Kinder aufzuklären und zu beraten, ihre natürlichen Funktionen als Erzieherin auszuüben und sie entsprechend ihren eigenen philosophischen Überzeugungen zu leiten».13 Zwei andere Beispiele der Ambivalenz des Gerichtshofs sind die Verfahren von Pye versus Vereinigtes Königreich und Hatton versus Vereinigtes Königreich. Im ersten Verfahren beugte sich der Gerichtshof über die Frage, ob die britischen Verjährungsregeln für Grundbesitz im Widerstreit seien mit dem Recht auf Schutz des Eigentums (Artikel 1 des Ersten Protokolls). Anfänglich lautete der Entscheid des Gerichtshofs, es liege tatsächlich ein Widerstreit vor, aber in der Folge fand die Grosse Kammer, England habe doch das Recht, selber über derartige Fragen zu bestimmen.14 Im zweiten Verfahren entschied der Gerichtshof mit 5 gegen 2 Stimmen, dass die Nachtflugverordnung für den Flughafen Heathrow, welche der zuständige britische Minister aufgrund seiner Einschätzung der nationalen wirtschaftlichen Interessen und in Absprache mit dem Parlament erlassen hatte, das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens der Anwohner in der Umgebung des Flughafens verletze (Artikel 8 EMRK). Erneut machte die Grosse Kammer diesen Entscheid zunichte, und zwar mit einer Mehrheit von 12 gegen 5. 15 Wenn die beiden Kammern des Gerichtshofs derart unterschiedliche Auffassungen haben, wie «universell» können dann die fundamentalen Prinzipien sein, aufgrund derer sie die Streitsache beurteilt haben? Ist es nicht ein Ausgangspunkt eines supranationalen Menschenrechtsgerichtshofs – und war das nicht der Ausgangspunkt des EGMR –, dass er sich ausschliesslich mit den grundlegendsten Prinzipien der Gerechtigkeit befasst? Selbstverständliche oder evidente Prinzipien sozusagen, mit welchen kein vernünftiger Mensch uneins sein kann? Die Idee eines supranationalen Menschenrechtsgerichtshofs ist, dass es bestimmte «fundamentale» Werte gibt, über welche wir uns allemal einig sind, und dass der Gerichtshof diese Werte zu schützen hat, während eher alltägliche oder diskutable Fragen in der Befugnis der nationalen Politik bleiben sollen. Es wird immer deutlicher, dass der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte sich nicht zum Ziel setzt, diese bescheidene und äusserst beschränkte Rolle zu spielen. In einer beträchtlichen Anzahl von Verfahren macht der Gerichtshof mehr, als nur die universellen moralischen Prinzipien, welche unmittelbar von jeder zivilisierten Nation anerkannt werden, in Worte zu fassen. Unverdrossen beginnt der Gerichtshof die EMRK ganz normal als Gesetz auf die Verfahren anzuwenden, die ihm vorgelegt werden – und damit akzeptiert der Gerichtshof diese Gruppe von Richtern aus 47 Staaten faktisch als die höchste Autorität in Fragen, welche einen stets alltäglicheren Charakter erhalten.16 Einer der Richter des Gerichtshofs hat sich letzthin sogar dahingehend geäussert, Geschwindigkeitsbeschränkungen auf Autobahnen könnten die Verletzung eines universellen Men-


Verbesserungsvorschläge Diese Situation kann so nicht bestehen bleiben. Just für diejenigen, deren Herz für die Grundrechte schlägt, ist dies tragisch. Der EGMR wurde einst gegründet, um als massgebende Instanz über Menschenwürde und eine anständige politische Ordnung zu wachen. Gerade die Menschen an der Peripherie von Europa, wie

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schenrechts bedeuten. Er erwog, dass «es mir schwer fällt, das Argument zu akzeptieren, dass sich Hunderte von Schnellfahrern irren und nur die Regierung im Recht ist».17 In anderen Fällen nimmt der Gerichtshof nicht die Regierungen der Mitgliedstaaten, sondern deren Richter ins Gebet. So fegte der EGMR den Entscheid des Deutschen Bundesverfassungsgerichts vom Tisch, wonach Fotos der Prinzessin von Hannover in der Regenbogenpresse publiziert werden durften. Gemäss dem Europäischen Gerichtshof verletzte das ihr Recht auf Privatleben. Die Fotos bildeten gemäss dem Gerichtshof keinen «Beitrag zu einer Debatte von allgemeinem Interesse».18 Deutschland, im Hinterkopf wohl noch immer seine besondere Vergangenheit beim Beschneiden der Meinungsäusserungsfreiheit, hatte anders darüber gedacht. Einige werden der Ansicht sein, man könne diese Fotos durchaus publizieren, andere werden diese Meinung nicht teilen. Wir können trefflich darüber debattieren, diese Fragen sind «der Stoff, aus dem die Politik gemacht ist», um Prospero zu paraphrasieren. In seinem zustimmenden Votum zur Mehrheitsmeinung bei diesem Entscheid ergriff der slowenische Richter Zupancic übrigens die Chance, um einmal darzulegen, was er von der Meinungsäusserungsfreiheit so hält: «Ich glaube, die Gerichte haben bis zu einem gewissen Mass und unter amerikanischem Einfluss aus der Pressefreiheit einen Fetisch gemacht (...). Es ist Zeit, dass das Pendel wieder in die andere Richtung ausschlägt, nach einer Art Gleichgewicht zwischen dem, was privat und abgeschirmt, und dem, was öffentlich und nicht abgeschirmt ist. Die Frage ist, wie wir diesem Gleichgewicht Gestalt geben und das kontrollieren können.» Nett, zu wissen, dass dieser Slowene offenbar so darüber denkt. Meinungsäusserungsfreiheit als amerikanischer «Fetisch». Abgesehen von seiner zweifellos politischen Stellungnahme, es sei «Zeit, dass das Pendel wieder in die andere Richtung ausschlägt», ist auch sehr bemerkenswert, dass er es als eine Aufgabe des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte erachtet, diesem Thema Gestalt zu geben und es kontrollieren zu können. Aus solchen Urteilen geht hervor, dass Strassburg nicht nur immer mehr Jurisdiktion über immer mehr Fragen und in immer mehr Details an sich zieht, sondern für sich auch eine Rolle vorgesehen hat, welche mit dem demokratischen Rechtsstaat ganz bestimmt auf gespanntem Fuss steht. In der Praxis reichen die Entscheide des Gerichtshofs viel weiter. Das kommt dadurch, dass die Rechtsprechung des Gerichtshofs von nationalen Richtern in nationalen Gerichten als Präzedenz angewendet wird, und zwar auch in Ländern, welche in den betreffenden Verfahren gar nicht Partei waren.

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in Rumänien und Bulgarien, und darüber hinaus, wie in der Türkei, Aserbeidschan und Georgien, werden wegen der Enthusiasten eines fortwährend auswuchernden Gerichtshofes im Stich gelassen. Wenn diese Instanz Haupt- und Nebensachen nicht mehr voneinander unterscheiden kann, wenn der Gerichtshof nationale öffentliche Debatten unterminiert und Partei in politischen Fragen ergreift, unterminiert er sich selbst. Darum ist es Zeit, über Möglichkeiten nachzudenken, den Europäischen Gerichtshof zu reformieren. Inzwischen mache ich einen Anfang mit fünf Vorschlägen: 1. Richter und Europarats-Offizielle haben sich politischer Stellungnahmen zu enthalten Nebst den bereits erwähnten Stellungnahmen von Richter Stanislav Pavloschi (Geschwindigkeitsbussen als Rechtsverletzung) und Bostjan Zupancic (Meinungsäusserungsfreiheit als Fetisch) denke ich hier beispielsweise auch an eine Stellungnahme des niederländischen Richters am Europäischen Gerichtshof, Egbert Myjer, in einem Interview mit De Volkskrant (14. Januar 2011). Er erEs ist Zeit, über Möglichkeiten klärte darin, er bedauere, dass man «stets intolerannachzudenken, den ter» werde. Er schien sich Europäischen Gerichtshof zu stören an der «billigen zu reformieren. Rhetorik von Leuten, die sich Menschen mit einer andern Glaubensüberzeugung (...) überlegen fühlen». Dergleichen Aussagen passen nicht zu einem über den Parteien stehenden Gericht und erfolgen auf Kosten der Autorität der Urteilssprüche dieses Gerichts. 2. Zweidrittelmehrheit Weil es ein Angelpunkt eines Menschenrechtsgerichtes ist, dass es über Dinge urteilt, über die man billigerweise nur eine Meinung haben kann, ist es eigentlich nicht mehr als logisch, solche Fragen mit Zweidrittelmehrheit zu entscheiden. Zurzeit erfolgt das jedoch mit einfacher Mehrheit. Um die Schwelle für eine Verurteilung zu erhöhen, soll in Verfahren von untergeordneter Bedeutung oder in solchen, in denen man getrost geteilter Meinung sein kann, weniger schnell eine Konventionsverletzung angenommen werden können. Damit bleiben die «universellen» Ansprüche des Gerichtshofes besser gewährleistet. 3. «Inhalt» als Nichtzulassungskriterium Man kann auch über eine mehr formelle Einrede nachdenken, welche Mitgliedstaaten gegen die Zulassung einer Anklage vorbringen können. Dabei könnte, um triviale Verfahren zu verhindern, in den Konventionstext aufgenommen werden, dass eine Sache von «ausreichendem materiellem oder immateriellem Interesse» sein und beispielsweise eine «ernstliche» Verletzung von Rechten darstellen muss (anstelle einer blossen «Verletzung»). 38

4. «Politische Debatte» als Nichtzulassungskriterium Ein weiteres überlegenswertes Nichtzulassungskriterium ist, wenn das Recht oder die Politik, welche wegen eines möglichen «Widerstreits mit den Menschenrechten» zur Diskussion stehen, Gegenstand einer politischen Debatte sind. Wenn Fragen wie beispielsweise die Asylproblematik oder der Islam und die Integration explizit im Fokus einer aktuellen politischen Debatte sind, dann hat der Gerichtshof weniger Bewegungsfreiheit, sich darüber auszulassen. Wir kennen bereits die Norm, dass sich die Politik nicht zu einem rechtshängigen Verfahren äussern sollte. In bezug auf den Europäischen Gerichtshof könnten wir an das umgekehrte Prinzip denken: Ist eine nationale politische Debatte im Gang, steht es dem Europäischen Gerichtshof zu, zu schweigen. 5. Evaluation der Entscheide Weil der Gerichtshof jährlich Tausende von Verfahren erledigt, wird die Rechtsprechung bald einmal unübersichtlich. Hier kann durch eine Evaluation der Entscheide des Gerichtshofs durch die nationalen Parlamente ein beispielsweise jährlicher Check eingebaut werden, wobei sich die nationalen Parlamente explizit zur Wünschbarkeit des vom Gerichtshof eingeschlagenen Kurs äussern können. Das könnte eventuell auch an eine stärkere Rolle des Ministerkomitees oder der parlamentarischen Versammlung des Europarates gekoppelt werden. Schlussfolgerung Diese Anpassungen sollten die Gefahr eines Wucherns und damit – schlussendlich – einer Aushöhlung des Europäischen Gerichtshofes grösstenteils beheben. Eine grosse Anzahl der Sachen, in welche sich der Gerichtshof heute einmischt, wird er dann als «gemäss nationalen Vorlieben unterschiedlich» abtun können. Der ursprüngliche Gedanke der margin of appreciation, des Ermessensspielraums also, würde auf diese Weise wieder hergestellt, die zentnerschwere Arbeitslast des Gerichtshofs vermindert, und er würde nur noch bei evidenten Formen von Staatsterror eingreifen, solchen von der Art, welche kein zivilisiertes Land gutheissen und kein normaler Mensch billigen könnte. Das war schliesslich auch die Absicht des Gerichtshofs und allein darin liegt seine Legitimität. � Übersetzung aus dem Niederländischen von Christian Huber


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Freie sicht

Grüne Bauernschläue

D

er Kanton Fribourg ist stolz auf die Qualität seiner landwirtschaftlichen Erzeugnisse. Darunter finden sich schmackhafte Käsesorten wie Vacherin, Greyerzer oder «Bleu de Fribourg», aber auch Butter und Fette. Natürlich möchten die Fribourger Bauern, dass die Schweizer Konsumenten fleissig ihre Produkte kaufen. So weit, so verständlich. Was aber, wenn diverse Produzenten ausländische Palmöle den inländischen Fetten vorziehen? Dann gibt der Kanton Fribourg seinen unwilligen Kunden auch einmal grosszügig «Nachhilfe»: Im vergangenen Jahr lancierte er eine Standesinitiative, die den Import tropischen Palmöls unter Strafe stellen sollte. Besonders schlau: die Initiative diente offiziell nicht den Fribourger Fetten, sondern dem Schutz des tropischen Regenwalds und der Schweizer Konsumenten. Damit liegt Fribourg im Trend, denn immer häufiger werden Vorstösse laut, die dem internationalen Handel im Namen des Umwelt- und Ver- Grösstes Opfer des grünen braucherschutzes Steine in Protektionismus ist am den Weg legen und ausländiEnde der Umweltschutz. schen Handelspartnern einseitig Nachteile auferlegen. Ein Beispiel: kompensatorische Klimaschutzabgaben auf Importe aus Ursprungsländern, die keinen ausreichend teuren Klimaschutz betreiben. Manchmal versteckt sich der Protektionismus auch im Detail, etwa wenn ein Glühbirnenverbot einseitig ausländische Produzenten trifft, da die inländischen bereits auf neue, «akzeptable» Technologien setzen. Besonders häufig trifft der grüne Protektionismus aber landwirtschaftliche Produkte – wie im Fall des tropischen Palmöls: Der Kampf des Kantons Fribourg, wie auch diverser Nationalräte, gilt dabei vorgeblich möglichen Umweltschäden durch intensiven Palmenanbau in Herkunftsländern wie Malaysia und Indonesien. Kritisiert wird auch eine mögliche Gewichtszunahme beim Konsum gesättigter Fettsäuren aus Palmöl. Doch die ehrenhafte Sorge um Mutter Natur und menschliches Übergewicht erscheint bei näherem Hinsehen zweifelhaft: Die Ökobilanz heimischer Alternativöle ist nicht unbedingt besser als jene des sehr ertragreichen und daher billigeren Palmöls.

Christian P. Hoffmann ist Assistenzprofessor für Kommunikations­ management an der Universität St. Gallen und Forschungs­leiter am Liberalen Institut.

Günstige Anbaubedingungen und ihre hohe Produktivität machen die tropischen Ölpalme zu einem Exportschlager. Auch gesundheitlich weist das Palmöl Vorteile gegenüber hydrierten Ölen auf, die Konsumenten durch Transfette belasten. Nur zählen sachliche Einwände wenig, wenn eine protektionistische Massnahme in ein grünes Gewand gehüllt wird. Umwelt- und Verbraucherschutz geniessen in der öffentlichen Wahrnehmung grosse Sympathien – sie verfügen über eine Art «Legitimationsbonus». Widersprüche und kritische Nachfragen sind politisch heikel. Genau das macht den grünen Protektionismus so attraktiv für findige Interessengruppen. Wer also seine Partikularinteressen auf Kosten der Allgemeinheit durchsetzen will, sollte ihnen einen «grünen Anstrich» verpassen – und so Widerstände minimieren. Auffällig ist, wie gerade die Agrarlobby ihr grünes Herz entdeckt: In der Schweiz und auf EU-Ebene gelten Importschranken und Subventionen nun nicht mehr der Ernährungssouveränität, sondern der Naturpflege und der Artenvielfalt. Besonders absurd: grösstes Opfer des grünen Protektionismus sind am Ende nicht nur die Konsumenten und ausländischen Produzenten, sondern gerade auch der Umweltschutz. Denn der schlimmste Feind der Umwelt ist die Armut. Menschen, die um ihr Überleben kämpfen, kümmern sich nicht um ein nachhaltiges Wirtschaften. Armut aber wird zementiert, wenn der Austausch von Gütern eingeschränkt wird. Die Wirtschaftswissenschaften sind sich seit jeher einig: Freihandel steigert die Effizienz der Ressourcenallokation – und damit auch den Wohlstand. Gerade die Bewohner der ärmsten Länder brauchen darum den Freihandel, vor allem von Agrarprodukten. Wer sich wirklich um den Erhalt des Regenwalds sorgt, sollte darum den Handel mit den Erzeugnissen der Tropenländer begrüssen, darunter auch dem Palmöl. Nur so kann Armut wirksam bekämpft werden, und davon profitiert am Ende auch Mutter Natur.� 39


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Viren, Inflation und Nuklearsprengköpfe Resistente Bakterien, Schuldensümpfe, oligarchische Demokratien, nukleare Abfälle: grosse Probleme türmen sich auf. Didier Sornette sucht unerschrocken nach Lösungen. Ein Höllenritt von einem Gespräch mit einem der führenden Risikoforscher durch die Welt der sichtbaren und unsichtbaren Gefahren. René Scheu und Florian Rittmeyer treffen Didier Sornette

Herr Sornette, wir möchten mit Ihnen über die grössten Probleme und Risiken der aktuellen Zeit sprechen. Beginnen wir mit… …Europa. Okay? Ja, klar, wir sitzen ja in der Schweiz sozusagen mittendrin. Schiessen Sie los. Europa ist zwar noch immer der weltweit grösste Konsument. Was aber sein politisches Gewicht betrifft, befindet es sich auf dem absteigenden Ast. Wir können anhand von Daten messen, wie sich das Baryzentrum des Planeten während der letzten 20 Jahre nach Osten verschoben hat: Ein Blick auf das globale BIP belegt dies ebenso wie eiBakterien ner auf die Lichtkarte der Nasa. Das Gleichgewicht werden immer der Macht, des Wohlresistenter stands und der Innovation gegen Antibiotika. bewegt sich also ostwärts. Das ist die geopolitische Sicht – die per se weder gut noch schlecht ist. Was sie aber zweifelsfrei mit sich bringt, ist mehr Diversität, und Diversität ist grundsätzlich gut. Als reale Gefahr für den Menschen sehe ich nämlich deren Gegenteil: die Einheitlichkeit. Wie meinen Sie das? Sehr plastisch, und damit wären wir schon bei einem anderen Problem: Bakterien etwa werden immer resistenter gegen Antibiotika, und wir laufen Gefahr, den Krieg gegen die Bakterien zu verlieren. Der Grund für diese Entwicklung liegt unter anderem in der massenhaften einheitlichen Anwendung von Antibiotika auf Tiere. Dadurch, dass Bakterien in Zuchtbetrieben permanent auf Abwehrstoffe prallten, wurden einige Mutanten allmählich resistent und setzten sich – nach dem Gesetz von Darwin – gegen die anderen durch. Um Wirksamkeit zu entfalten, braucht ein Medikament heute deshalb die hundertfache Dosis dessen, was bei der Entdeckung des Penicillins nötig war. Und gegen einige bakterielle Infekte greifen gar keine Antibiotika mehr. Das ist ein Thema, das mich stark beschäftigt. 40

Didier Sornette ist Professor für Entrepreneurial Risk an der ETH Zürich, wo er auch Direktor des Financial Crisis Observatory ist. Er ist Mitglied des Swiss Finance Institute und zählt zu den weltweit führenden Risikoforschern. Das Interview wurde auf Englisch geführt und vom «Schweizer Monat» auf Deutsch übersetzt. René Scheu ist Herausgeber und Florian Rittmeyer Redaktor für Politik & Wirtschaft des «Schweizer Monats».

Wenn wir die Lehre der Diversität auf Europa übertragen, ist der Kontinent also auf dem Holzweg: Die Union bewegt sich verstärkt in Richtung Einheit. Tatsächlich kommt es mir auf die allgemeine Bedeutung der Diversität an: In keinem Kontext sollte man alle Eier in einen Korb legen. Doch gerade das tut der Westen immer stärker, sein Problem besteht darin, einerseits Innovation fördern zu wollen und andererseits das Denken allenthalben zu vereinheitlichen: Überall stehen McDonaldʼs, wir ernähren uns alle gleich, alle Städte sehen gleich aus, wir benutzen vereinheitlichte medizinische Behandlungsmethoden – das hemmt unsere Innovationskraft. Politisch kann man die Sache auch umgekehrt sehen: Müsste Europa nicht einheitlicher auftreten, um als globaler Machtfaktor eine Rolle zu spielen? Ich frage Sie: Was ist Macht? Nach klassischer Definition ist Macht die Fähigkeit, andere gegen ihren Willen zu einem Verhalten zu bewegen bzw. zu zwingen, das zu tun, was man von ihnen wünscht. Ich glaube, wir überschätzen ökonomische Macht. Die ganze Diskussion krankt daran, dass wir BIP-Wachstum mit Glück verwechseln. Es gibt aussagekräftige Hinweise darauf, dass das Glück von US-Amerikanern seit den 1970er Jahren stagniert, während sich das BIP parallel mehr als verfünffacht hat. Macht ist dagegen wichtig, um sich selbst verteidigen zu können. Und damit wären wir wieder beim heutigen Europa, das auf einer Illusion gebaut ist: jener des Maastricht-Vertrags und der Einführung des Euro. Damals dachte man, dass der einfache Zugang zu Krediten die fundamentalen Unterschiede von Kulturen und Denkweisen auf-


Didier Sornette, photographiert von Giorgio von Arb.

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lösen könne. Doch die Ziele und Vorstellungen in Griechenland unterscheiden sich von jenen in Deutschland. Warum will man dann alles uniformieren? Weil Politiker für gewöhnlich keine Spezialisten für dynamisch komplexe Systeme sind. Die Ausnahme ist vielleicht Angela Merkel als Physikerin, doch ihr Verhalten scheint von anderen Faktoren bestimmt zu sein. Ganz allgemein sind Politiker sehr rational und intelligent, wenn es darum geht, ihren eigenen Nutzen zu maximieren. Wir dürfen uns keine Illusionen machen: Das Ziel der von uns gewählten Politiker besteht nicht darin, unsere Probleme zu lösen, sondern wiedergewählt zu werden. Dabei sind Politiker keine besseren oder schlechteren Menschen als andere, man steht mit ihnen vor einer allgemeinen Schwierigkeit, die in der Ökonomie als «PrincipalAgent-Problem» bekannt ist: Wie die Nutzenfunktion eines Agenten – sei er Politiker oder Manager – mit jener des Auftraggebers – egal ob Bürger oder Aktionär – in Einklang gebracht werden kann, ist eine der grossen Fragen unserer Zeit. Dann bleiben wir bei dieser Frage: Warum können wir Fehlentwicklungen sehen – Wir Europäer und gleichzeitig hoffen, dass sich alles von alleine löst? sind Feiglinge, und In meinen Augen handelt die Banken es sich bei fast allen heute profitieren davon. zu beobachtenden Fehlentwicklungen um ein Problem von Anreizen. Die gesamte Struktur unserer Anreize ist morsch – und zwar überall! Wenn eine Firma den Amazonas verunreinigt oder Umweltschäden verursacht, die die Lebensgrundlage von Tausenden von Menschen zerstören, dann handelt es sich in diesen Fällen um Vorgänge, die genauso von gewissen Anreizen geprägt sind wie die bekannten Exzesse des Bankenwesens. Wenn es rational ist, sich so zu verhalten, dass Schaden entsteht, müsste man ein Heiliger sein, um sich «gut» zu verhalten. Die ganze Welt ist unethisch an ihren Wurzeln! Ein weiteres Beispiel bieten die Fehlanreize des medizinischen Establishments und der Pharmaindustrie. Weil die, zynisch gesagt, von der Krankheit der Menschen lebt? Exakt. In dieser ganzen Branche liegen die Anreize darin, uns geringfügig krank zu halten. Richtig wäre doch der umgekehrte Anreiz, wie er in Indien und China bekannt war: Der Arzt wird nur dann bezahlt, wenn seine Patienten gesund sind. Sobald die Patienten erkranken, wird die Zahlung gestoppt. Das entspräche einer wahren medizinischen Ethik. Nur kommen wir nicht mehr zu diesem Schluss, weil wir uns längst daran gewöhnt haben, für Krankheiten zu zahlen. Der Patient ist Nachfrager von Gesundheitsleistungen, die pharmazeutische Industrie und das Gesundheitswesen stellen das Angebot bereit. Aus rationaler Sicht würde der Patient 42

seine Kosten minimieren und dafür sorgen, dass er möglichst gesund bleibt. Mit solch rational handelnden Patienten wären die schlechten Anreize, die für Ärzteschaft und Pharmaindustrie bestehen, irrelevant. Wir verstehen, worauf Sie hinauswollen: wir sind keine vollständig rational handelnden Wesen… …und auch nicht vollständig informiert. Das Problem liegt darin, dass wir im Gefüge von Angebot und Nachfrage eine sogenannte Informationsasymmetrie haben: Da wir wenig über Gesundheit und Krankheit wissen, sind wir von der Ärzteschaft und der Pharmaindustrie abhängig. Unsere Nachfrage nach Medikamenten und Gesundheitsprodukten ist also verzerrt durch das (Über-)Angebot der Pharmaindustrie und verleitet uns zu mehr Konsum. Wenn also falsche Anreize die Hauptursache unserer Probleme sind, stellt sich die Frage, wer über die Legitimation verfügt, im öffentlichen Leben neue und bessere Anreize einzuführen. Konkret: Wie entstehen neue Anreize und wie hält man sie frei von unbeabsichtigten Konsequenzen? Das ist eine gute und sehr schwierige Frage. Grundsätzlich gilt: In einer Gesellschaft kann es mehrere gleichzeitig existierende Gleichgewichte geben, was dazu führen kann, dass ein System in einem dysfunktionalen Gleichgewicht stecken bleibt. Häufig bilden die Leute, die einen Übergang anstreben, eine Minderheit. Man sieht das in Syrien, Libyen, Ägypten oder in China. Damit ist die Frage nur verschoben: Wie ist denn der Übergang von einem dysfunktionalen in ein neues Regime zu schaffen? Am sinnvollsten ist es, sich an den Massnahmen jener Länder zu orientieren, die funktionieren und glückliche Bewohner haben, etwa die Schweiz, Singapur, Dänemark, Schweden oder Kanada. Kanada durchlief in den 1990er Jahren eine grosse Krise. Was haben die Kanadier damals getan? Sie hatten den Mut, alle Banken zu verstaatlichen – für eine bestimmte Zeit – und sie dann wieder in die Freiheit zu entlassen. Diesen Mut haben wir in Europa nicht. Mit anderen Worten: Wir Europäer sind Feiglinge, und die Banken profitieren davon. Sie können sich von der Zentralbank zu null Prozent Zinsen Geld leihen und dieses dann zu 6 Prozent an Italien oder Griechenland verleihen. In der Ökonomensprache ist das ein «free lunch». Politiker und Manager in den Chefetagen sind sich dessen natürlich bewusst. Sie akzeptieren dies als das kleinere Übel. Das grössere Übel wäre der Kollaps des Bankensystems. Tatsächlich sollte man realisieren, dass viele grosse europäische sowie auch US-Banken Zombies sind, die auf Stapeln von faulen Wertpapieren sitzen. Der erwähnte «free lunch» ist ein Mechanismus, unter anderem, um diese Zombie-Banken in Europa zu rekapitalisieren – also mit frischem Kapital auszustatten. Die Kosten haben dann die Steuerzahler und Bürger zu bezahlen, mit zusätzlichen langfristigen Konsequenzen, die zu einer langsamen, aber unaufhaltsamen Verarmung der Nationen führen.


Schweizer Monat 1007  Juni 2013  Weiterdenken

Es sind also letztlich wir Bürger, die in Form von höheren Steuern, entwerteten Vermögen und Inflation bezahlen? Ja, das heisst: Die ausgewiesene Inflationsrate ist zwar bisher noch nicht wirklich angestiegen – sie beträgt in vielen Ländern immer noch zwei bis drei Prozent –, aber das ist nur die offizielle Lesart. Wenn die Gebäudepreise in Zürich um bis zu 60 Prozent ansteigen, dann handelt es sich dabei auch um Inflation, wenn auch auf Vermögenspreisen. Die offizielle Inflationsrate klammert die Preise für Energie und Miete aus, doch wenn wir den durchschnittlichen Konsumenten nehmen, machen diese beiden Elemente einen Grossteil der Lebenskosten aus. Die offizielle Inflationsrate ist also, wenn man so will, manipuliert.

In der Wachstumsfrage ist es wichtig, die historische Dimension des aktuellen Problems zu sehen. Ich selber hatte eine Art AhaEffekt, als ich realisierte, dass die Ursachen der heutigen Probleme 30 Jahre zurückreichen. Nach dem Zweiten Weltkrieg folgte ein bis in die 1970er Jahre anhaltender Boom des Wiederaufbaus, aus dem reales Wachstum mit realer Wohlstandsvermehrung und realem Lohnzuwachs resultierte. Als die westlichen Volkswirtschaften begannen, Zeichen von Müdigkeit zu zeigen, als das Bretton-Woods-System zurückgedrängt wurde, zwei Ölschocks und eine grosse Inflation einsetzten, begannen wir, nach neuen Quellen des Wachstums zu suchen – und fanden sie in den Finanzinnovationen und den Schulden.

Wie wird die Entwicklung hier weitergehen, wagen Sie einen Blick in die Glaskugel? Ich erwarte eine leichte Abschwächung des globalen Wohlstands. Vor der Krise von 2007 betrug die Rendite auf risikolose Anlagen in den USA etwa 5 Prozent. Die Inflation lag in der gleichen Zeit etwa bei 2 Prozent. Man konnte also 3 Prozent Rendite erhalten, ohne dafür Risiken einzugehen. Heute ist die Rendite 0 Prozent und die Inflation 3 Prozent. Es verlieren also alle mindestens 3 Prozent.

Die historische Entwicklung ist einleuchtend, doch erhellt sie noch immer nicht, wie der Glaube entstehen konnte, virtuelles Geld schaffe reales Wachstum. Mit der Wende zu den neuen Wachstumsquellen war die Hoffnung verbunden, dass die produzierende Wirtschaft schneller wachsen würde als die Rate, mit der wir uns verschuldeten, um dieses Wachstum anzutreiben. Doch stellte sich das langfristig als falsche Hoffnung heraus. Insofern bildeten die 1970er Jahre eine Übergangsphase in Langfristig kann die eine komplett neue Ära, die zu Beginn der 1980er finanzielle Sphäre nur den ihren Anfang nahm: Von Wert der realen Wirtschaft nun an bewegte sich alles widerspiegeln. zu einer ökonomischen Ordnung hin, die auf Schulden basierte.

Wir sind von der Frage hergekommen, wie Fehlanreize zu brechen wären, und Sie haben für die Verstaatlichung von Banken plädiert, obwohl es ja gerade die Staaten waren, die sich über Jahrzehnte über beide Ohren verschuldet haben. Das ist nicht schlüssig… Es geht mir weniger um ein Plädoyer als um eine Analyse, ich beziehe mich auf die Beispiele von Schweden und Kanada: Beide erlebten in den 1990er Jahren schwere Krisen, beide haben während dieser Krisen ihre Banken verstaatlicht, und beide befinden sich heute in guter Lage. Es ging mit dieser Massnahme nicht darum, die Banken zu kontrollieren, sondern den lebenswichtigen Fluss von Geld sicherzustellen. Und die Verstaatlichung war auch nur temporär: Gleich nach dem Ende der Krisen wurden die Banken in die Freiheit entlassen, und jetzt spielt wieder ein freies System. Wenn die Dinge aber aus den Fugen geraten, funktioniert die unsichtbare Hand nicht mehr. Und die Kosten dieser beiden Interventionen waren viel geringer als jene, die wir uns zurzeit in Europa aufbürden. …und dies noch dazu bei unsicherer Wirkung! Dennoch – «Verstaatlichung der Banken» klingt in unseren Ohren grauenvoll. Tatsächlich stützen sich die ganzen Rettungsmassnahmen auf reine Hoffnung, denn Länder wie Spanien, Portugal und Griechenland sind strukturell nicht wettbewerbsfähig. Wenn ihnen also Geld gegeben wird, hilft dies wenig. Rational ist der Ansatz im Grunde nachvollziehbar – wenn das Wachstum zurückkehrt, werden die Schulden proportional kleiner. So lief es in der Vergangenheit: Wir wuchsen jeweils aus dem Schuldensumpf. Aber ist das auch dieses Mal möglich? Woher soll das Wachstum denn kommen? Es ist eine Illusion zu glauben, das Drucken von Geld würde automatisch zu Wachstum führen. Wäre dies so, bräuchten wir ja nicht mehr zu arbeiten.

Um effektiv zu gesunden, müsste man also logischerweise auf diesen Scheidepunkt zurückkommen. Das ist einfacher gesagt als getan. Beginnen wir bei ersterem: Wie kann das gehen? Man muss einsehen, dass man nicht Wachstum, Wachstum, Wachstum fordern kann, ohne danach zu fragen, wie überhaupt gewachsen werden kann. Zweifelsohne sind Finanzinnovationen wichtig und gut: Wenn man beispielsweise eine neue Biotechnologie entwickelt, dominiert auf Seiten der Investoren gemeinhin die Zurückhaltung davor, ein so grosses und unbekanntes Risiko zu finanzieren, und folglich ist es hilfreich, Derivative und andere Instrumente zu erfinden. Doch langfristig kann diese finanzielle Sphäre nur den Wert der realen Wirtschaft widerspiegeln. Das heisst: Wir brauchen nicht mehr Kreativität in der Finanzwirtschaft, sondern in der Physik, der Chemie, der Biologie … kurz, in der Sphäre der realen Produktivitätsgewinne. Nur so kann die Finanzsphäre versprechen, was die reale Wirtschaft leistet. Das klingt letztlich nach Common Sense – ist der gesunde Menschenverstand ein geeigneter Ratgeber in komplexen Fragen? Common Sense ist ein heikler Massstab. Er kann zu gesunden Reaktionen führen, aber auch ins Gegenteil kippen: Man könnte den 43


Weiterdenken  Schweizer Monat 1007  Juni 2013

Common Sense zum Beispiel auch dafür verantwortlich machen, dass es in Deutschland zum Aufstieg der Nazis gekommen ist. Es gibt zahlreiche einfache Experimente, die zeigen, wie einen der gesunde Menschenverstand auf falsche Fährten führt. Würden Sie zum Beispiel glauben, dass man ein Ding mit konstanter Kraft anschieben muss, damit es eine konstante Geschwindigkeit hat? Wenn Sie so fragen: Nein! Nun gut, die meisten Menschen glauben das aber – und sie liegen falsch, denn einen Gegenstand muss man nur mit konstanter Kraft schieben, weil es eine konstante Kraft des Widerstands gibt, die Anziehungskraft; gäbe es die nicht, bräuchte konstante Geschwindigkeit Schulden sind nicht nur das null Kraft. Vor solchen unsichtbaren Kräften versagt Resultat ausgabefreudiger der Common Sense. Kurz, Politiker, sie sind die Schuld ich würde keine Politik auf von uns allen. Common Sense abstützen. Wenn wir mit Politik etwas verbessern wollen, müssen wir das Problem an den Wurzeln angehen. Und diese reichen vielmals weit zurück. Damit wären wir wieder beim Grundproblem der falschen Anreize. Wie sind sie in der Domäne der Politik zu setzen, damit Demokratien besser funktionieren, als sie es heute tun? Wir wissen, dass die Demokratie eine grosse Show ist, gewählt wird der grösste Showman oder die Person, die am besten und am meisten verspricht. Viele seriöse Studien zeigen, dass Politiker aufgrund ihres Äusseren gewählt werden. Das heisst: die Wähler schauen auf das Aussehen, die Kunst des Redens und die Kunst, Versprechungen zu machen – und die Kandidaten bedienen diese

Erwartungen. Einmal gewählt, folgen dann allenfalls noch kosmetische Aktionen; zu verlieren haben sie nichts mehr, schlimmstenfalls werden sie nicht wiedergewählt. Das bedeutet letztlich, dass wir die Politiker haben, die wir verdienen. Und diese haben einen Hang, neue Schulden zu produzieren, weil sie damit dem Ruf der Wähler folgen? Schulden sind nicht nur das Resultat ausgabefreudiger Politiker, sie sind die Schuld von uns allen. Für die Illusion des endlosen Geldes sind wir letztlich alle selbst verantwortlich. Gleiches gilt für die Gesundheit: Indem wir Ärzte zu Spezialisten für das Wohlergehen unseres eigenen Körpers erküren, schaffen wir eine Kultur der Spezialisierung, die dazu führt, dass die Verantwortung des einzelnen verwässert wird. Aber zurück zur Frage nach der besseren Politik. Stellen wir uns mal ein Design vor, in dem die von den Politikern gemachten Versprechen aufgezeichnet und die Anzahl Sitze im Parlament regelmässig in Frage gestellt werden, wenn die Versprechungen nicht erfüllt werden: Ein solches Modell böte zum Beispiel die Möglichkeit, die Löhne der Politiker von der Einhaltung der Versprechungen abhängig zu machen. Mit solchen Anreizen könnte das wiederbelebt werden, was wir im Englischen «skin in» nennen, persönliche Haftung für die eigenen Taten. In Brüssel und anderswo gibt es heute enorme Exzesse. In Frankreich zum Beispiel muss ein hart arbeitender Mensch 40 Jahre krüppeln, um 1500 Euro Rente zu erhalten, während ein europäischer Parlamentarier mit einem kurzen Einsatz auf das Zehnfache kommt. Auch hier gilt deshalb: Die Anreize sind komplett morsch. Die Parlamente stimmen über ihre eigenen Löhne ab und werden sie sich sicher nicht selber kürzen. Besonders Frankreich und die USA stecken in ihren dysfunktionalen Systemen fest. Da liegt die Folgerung nahe, dass die Demokratie in der Krise ist. Teilen Sie diese Ansicht?

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Schweizer Monat 1007  Juni 2013  Weiterdenken

Für mich gibt es ohnehin nur eine funktionierende Demokratie auf dieser Welt: die Schweiz. Die französische Demokratie ist ein Witz, ebenso die amerikanische. Sind das wirklich Demokratien? Die USA sind vielmehr eine Oligarchie, in der man Wahlen mit Geld kauft. Wie sollen oder können Demokratien denn aus Sicht des Naturwissenschafters funktionieren? Wir verfügen über grundlegende Erkenntnisse aus Wissenschaft und Anthropologie und wissen, dass sich unser Gehirn evolutionär so entwickelt hat, dass es mit einer Gruppe von 100 bis 150 Menschen kooperieren kann – und an dieser Gruppe orientieren wir uns. Die Politik kann sich nicht von unserer Biologie und unserer neurologischen Veranlagung entkoppeln, wir vertrauen, auch politisch gesehen, jenen Menschen, mit denen wir in Kontakt stehen. Die Schweiz hat dies verstanden: Schweizer sind in erster Linie Bürger ihrer Gemeinde, nicht des Bundesstaats. Sie bezahlen den Grossteil der Steuern an Gemeinde und Kanton. Ist also der Föderalismus der Kern der Selbstbeschränkung in einer Demokratie und das Geheimnis ihres Erfolgs? Es gibt zahllose Beweise dafür, dass politische Systeme von unten nach oben gebaut sein sollten. Darum: ja, ich stimme Ihnen zu. Zahllose Länder zeigen aber zurzeit das Gegenteil. Etwa Frankreich: seine Demokratie ist eine Monarchie mit Klientelcharakter! Oder Russland! Viele russische Wissenschafter und Gastprofessoren hier an der ETH beklagen sich darüber, dass in Russland 10 Prozent der Bevölkerung vom System profitieren, während 90 Prozent darunter leiden. Wer Zugang zur Regierung, der Polizei und den Oligarchen hat, ist gutgestellt, und wer sonst etwas von der Verwaltung will oder eine Bewilligung braucht, muss zu Bestechungen greifen. Das klingt insgesamt wenig erbaulich – und bringt uns zurück zur Anfangsfrage: Wie schätzen Sie die weltpolitische Lage im allgemeinen ein? Aus einer geopolitischen Warte, mit Blick auf Indien, China oder Russland, sieht man grosse Probleme aufziehen. Wir leben in einer aussergewöhnlichen Welt, und ich würde in keiner anderen leben wollen – aber es ist definitiv keine ruhige Zeit. Wir haben 60 relativ ruhige Jahre erlebt – oder zumindest erscheint es heute, wo wir wissen, dass der Kalte Krieg friedlich ausgegangen ist, so – und erachten es nun als selbstverständlich, in einem Zustand des Friedens zu leben. Doch ist diese Wahrnehmung falsch, es finden zurzeit auf dieser Welt etwa 50 Kriege statt. Und wissen Sie, wie viele einsatzfähige Nuklearsprengköpfe es heute gibt? Die naheliegende Annahme ist: weniger als während des Kalten Kriegs. Das täuscht. Damals hingen Tausende von Sprengköpfen wie ein ständiges Damoklesschwert über den Menschen; man war sich der Gefahr dauernd bewusst. Heute befinden sich zwar 10 000 solcher Waffen in Vorbereitung, 2000 sind in den USA und Russland ständig auf hoher Alarmstufe – doch denken die meisten kaum je daran. Wir

wähnen uns im Frieden, obschon wir geopolitisch eine nie gesehene Aufrüstung beobachten können: Niemals gab die Welt so viel Geld für Waffen aus, die USA bauen ihre militärische Kraft weiter aus, China rüstet mit grosser Geschwindigkeit auf. Natürlich könnte man sagen, dass diese Ausgaben der Wahrung des Friedens dienen, in Wahrheit aber geht es den Mächten darum, sich Respekt zu verschaffen. Wir befinden uns in einem Zustand ausserordentlicher Spannung. Wir haben über die Gefahren der Einheitlichkeit gesprochen, über Anreizprobleme und deren Auswirkungen auf Wirtschaft und Politik und die weltpolitische Sicherheitslage. Vor welchen weiteren grossen Problemen sehen Sie die Menschheit stehen? Wir wähnen uns im Frieden, Das hängt von der Zeitachse ab: Es gibt kurz-, obschon wir geopolitisch eine nie gesehene Aufrüstung mittel- und langfristige Probleme. Ein Problem mit beobachten können. mittel- und langfristigen Auswirkungen ist jenes der industriellen und nuklearen Abfälle und Verschmutzungen. Seit den gewaltigen Wachstumsjahren der Nachkriegszeit sind zahllose synthetische Chemikalien erfunden, aber die wenigsten von ihnen rigoros analysiert worden. Wir haben eine Unmenge von Stoffen in Umlauf gebracht, von denen wir nicht wissen, wie sie sich langfristig auswirken, und dazu mit nuklearen Aktivitäten Abfälle erzeugt, die für ewig ausserhalb der botanischen Zyklen gehalten werden müssen. Wie wäre es, wenn wir diese Abfälle ins Weltall schiessen würden? Das wäre nur eine Übergangslösung; es wäre weder energetisch noch ökonomisch sinnvoll. Die Kosten, ein Kilo Abfall ins All zu katapultieren, sind höher als der Wert eines Kilos Gold! Zudem weiss man in Expertenkreisen sehr genau, dass eine Rakete mit einer Wahrscheinlichkeit von 5 bis 10 Prozent explodieren oder einen anderen Unfall haben kann. Würde die Rakete Nuklearabfälle transportieren, würde dies zu einem hohen Risiko werden, sollte der Abfall zurück auf die Erde fallen und in der Biosphäre zerstreut werden – genau das, was wir eigentlich hätten vermeiden wollen. Für Nuklearabfälle gibt es drei Zeitachsen – 10 hoch 2, 10 hoch 4 und 10 hoch 6 Jahre –, von denen sich die letzte über Millionen von Jahren erstreckt. Zwar ist die Radioaktivität in dieser Phase geringer, die Abfälle sollten aber trotzdem ausserhalb botanischer Zyklen, also beispielsweise in Salzminen, gelagert werden. Wir nutzen die Technologie allerdings erst seit 50 Jahren und verfügen noch über keinerlei Erfahrungen, auf die wir zurückgreifen können. Es gibt keine Statistiken über längere Zeit. Wie kann man über solch lange Zeiträume überhaupt Prognosen machen? Nun, das Problem der Prognosen beginnt schon viel früher, in der Phase 10 hoch 2, also in verhältnismässig kurzen Zeitspannen von 45


Weiterdenken  Schweizer Monat 1007  Juni 2013

10 bis 100 Jahren. Das Managen von heiklen industriellen Operationen erfordert verantwortliches Handeln, und wir gehen wie selbstverständlich davon aus, dass dies gegeben ist und unsere Gesellschaften also stabil sind. Was aber passiert, wenn Situationen instabil werden? Heute verfügen Staaten wie Irak, Bangladesch oder Pakistan über nukleare Konstruktionen. Der Irak beispielsweise besass Al Tuwaitha, eine nukleare Forschungsanlage in der Nähe von Bagdad. Diese wurde 1981 zerstört, später wieder aufgebaut, angefüllt mit nuklearen Substanzen. Die Anlage wurde nach dem Sturz von Saddam Hussein geplündert, mit unabsehbaren Folgen, auch bezüglich einer möglichen Kontamination. Werden solche Länder instabil, kann das in Katastrophen enden. Um also auf Ihre Die Illusion der Stabilität Frage nach den grössten Problemen der Menschin sehr fragilen Systemen heit zurückzukommen: Ich ist vielleicht das grösste glaube, die Illusion der Problem. Stabilität in sehr fragilen Systemen ist eines davon – vielleicht das grösste. Heisst Illusion: Stabilität gibt es nie und nirgends? Die einzige langlebige Struktur ist die katholische Kirche, die seit 2000 Jahren existiert (lacht). Sie ist aber eine Ausnahme, den Normalfall bilden permanente periodische Ausbrüche von Konflikten und sozialen Instabilitäten, die in extremen Fällen in Kriegen enden. Welche Faktoren beeinflussen diese Ausbrüche oder, anders gefragt, was sorgt in unseren Systemen für (In-)Stabilität und wie ist dagegen anzugehen? Immer wieder gilt: Man revoltiert, wenn man hungrig ist. Die Französische Revolution brach nach einer Dürrephase und schlechten Ernten aus, dem arabischen Frühling ging eine Verdoppelung der Nahrungspreise voran, und auch der Niedergang der Sowjetunion ist stark von Nahrungsmittelknappheit befördert worden: Als nach den Ölschocks der Ölpreis in den 1980er Jahren zusammengebrochen war, fehlten dem Regime die Mittel, um genügend Nahrung zu importieren. Das hat die Entwicklungen von 1989 beschleunigt. Revolutionen entstehen aus Stress – und für die Sicherheit der Welt ist es deshalb zentral, zu beobachten, wo sich Stress aufbaut, das heisst: wo sich kritische Gebiete befinden, in denen der Zugang zu Nahrung erschwert ist, der Wille zur politischen Machtteilung fehlt, nukleare Kraftwerke stehen… all das müssen wir auf dem Radar haben. Denn sterben werden wir letztlich nicht an der Finanzkrise. �

Markus Fäh und Andreas Oertli

Zur Lage…

… der Politikverdrossenheit Der Verdruss hat in ganz Europa einen neuen Höhepunkt erreicht. Die Bürger fühlen sich verraten und verkauft. Von Politikern und ihren Parteien, denen sie noch vor kurzem voller Zuversicht vertraut und ihre Stimme gegeben haben. Verkauft! In Zypern stehen sie vor geschlossenen Banken, weil sie den Beteuerungen der Politiker, dass ihre Ersparnisse sicher seien, geglaubt haben. Lüge! Heute zahlen sie für das Versagen der sogenannten europäischen Elite. Verraten! Wer im Nachgang zu Fukushima für Parteien gestimmt hat, die die sofortige Energiewende versprachen, nimmt heute zur Kenntnis, dass «die» es doch nicht so eilig damit haben. Wer die Vertreter eines Programms für wirtschaftliche Stimulierung wählte (was auch immer das im Detail heisst…), beobachtet die gleichen Leute heute bei Konzessionen an allerlei partikularistische Begehrlichkeiten. In Italien warteten die Menschen selbst Monate nach der Wahl auf die Schaffung einer handlungsfähigen Regierung. Die Beispiele sind Legion: Parteipolitiker versprechen, vergessen, wechseln die Meinung. Ihr Hauptinteresse ist es, gewählt zu werden. Zu diesem Zweck streuen sie den Bürgern Sand in die Augen und vermeiden es, schmerzhafte Reformen durchzuziehen. Sie halten sich an angebliche Meinungsumfragen und bekommen bei Medienschelte weiche Knie. Die Parteien und ihre Wähler stecken in einer destruktiven Symbiose: Die einen sind korrumpiert durch ihre Macht, ihren verengten Denkhorizont und die vermeintlichen Sachzwänge, die anderen gelähmt durch die Bequemlichkeit des einzelnen, das Klammern an die Restprivilegien der verwöhnten Westler. Eine Art Stockholm-Syndrom: Wähler und Politiker halten sich gegenseitig als Geiseln. Wir glauben schon längst nicht mehr an die heutige Spielform der Demokratie (Stimm- und Wahlbeteiligung!). Wir glauben aber, dass die Mehrheit der anderen daran glaubt. Illusion! Damit lullen wir uns selber ein. Wachen wir auf. Kündigen wir den in Mutlosigkeit erstarrten diffusen Einheitsparteien unser Vertrauen und nehmen wir die Probleme selber unter die Lupe. Schreiben wir dagegen an. Regen wir uns auf. Sagen wir im Bekanntenkreis, was uns nicht passt. Geben wir der Demokratie einen neuen Sinn. Nehmen wir sie uns zurück aus den Händen der Parteien und ihrer Vertreter.

Markus Fäh ist Psychoanalytiker/Coach. Andreas Oertli ist Unternehmensberater/Coach.

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Ist es angerichtet?

Europa schmecken und denken Dossier

Bild: Jonas Ginter / Fotolia

Was is(s)t Europa? Hans Magnus Enzensberger 2 Die Super-EFTA Beat Kappeler 3 So hat die EU eine grosse Zukunft Reiner Eichenberger und David Stadelmann 4 Experimentierfreudiges Europa Bruno S. Frey 5 Was die Europäer gern vergessen Michael Wiederstein spricht mit Michail Ryklin 1

Für die Unterstützung bei der Lancierung des Dossiers danken wir Dr. Georges Bindschedler, Bern. 47


«Politische Innovationen entstehen dort, wo man ihnen freien Lauf lässt. Es ist höchste Zeit für die EU, über tragfähige Lösungen von unten nachzudenken.» Georges Bindschedler, Unternehmer, Bern

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IntroDossier

Ist es angerichtet? Europa schmecken und denken

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assen von arbeitslosen Jugendlichen, eine als Spaltpilz wirkende Währung, Schuldensumpf, gestörtes Verhältnis zwischen Paris und Berlin – es ist derzeit ein Leichtes, die Europäische Union als krisenuntaugliches Gebilde zu kritisieren, das irgendwann an den ökonomischen und politi-

schen Realitäten zerschellt. Auch in dieser Zeitschrift wird seit Jahren dezidiert und mit guten Gründen Kritik geübt am intransparenten Machtapparat in Brüssel, verfehlter Top-down-Politik und verführerischem Utopismus. Doch gerade in Zeiten der Krisen sind Kritiker dazu aufgefordert, konstruktive Gegenvorschläge und Gegenentwürfe zum angeblich alternativlosen Weg des Sichdurchwurstelns vorzubringen, statt bloss wohlfeil weiter zu kritteln. Europa lebt von der Vielfalt der Ideen und Mentalitäten, die sich in ständigem Wettbewerb befinden und den Akzeptanztest immer wieder neu zu bestehen haben. Gerade laden Grossbritanniens Gedankenspiele mit einem Austritt auch die Schweiz ein, sich mit der mithin als Tabu behandelten Frage nach der Zukunft der EU neu zu befassen. Ist ein Rück-, Ab- oder Umbau denkbar? Die neue Ungewissheit bietet eine echte Chance, um über Alternativen zum Status quo nachzudenken, die von bekannten Mustern wie «mehr Europa» oder «weniger Brüssel» abweichen. Es stellt sich ebenso simpel wie grundsätzlich die Frage: Was ist Europa eigentlich? Wie soll es künftig aussehen? Und was

Kontinents im Weg?

steht der Idee eines weiterhin prosperierenden

Weil Europa nicht nur eine Kopf-, sondern auch eine Bauchfrage ist, tritt Hans Magnus Enzensberger für uns eine kulinarische Tour d’Horizon an und fragt: Was is(s)t Europa? Die Ökonomen Bruno S. Frey, Beat Kappeler, Reiner Eichenberger und David Stadelmann zeigen, wie die EU institutionell anders aussehen könnte. Und der russische Philosoph Michail Ryklin präsentiert eine russische Aussensicht auf den mit sich hadernden Kontinent – und führt vor Augen, dass Vielfalt dort floriert, wo man sie entstehen lässt. Wir wünschen anregende Lektüre. Die Redaktion

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Vertiefen / Dossier  Schweizer Monat 1007 juni 2013

Was is(s)t Europa?

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Eine kulinarische Tour d’Horizon über den «alten» Kontinent von Hans Magnus Enzensberger

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an kann über die unglaubliche Vielfalt Europas viel debattieren, reden und schreiben – um sie aber wirklich zu erfahren, sollte man sie nicht zuletzt auch schmecken. Reisen wir also für einmal mit dem Gaumen, schauen in die Töpfe, lupfen manchen Korken – von Helsinki bis Palermo, von Lissabon bis Berlin, von Brüssel bis zum Peloponnes.

Hyvää ruokahalua! Ein Zeitreisender würde sich die Augen reiben. Was, das soll Helsinki sein? War das nicht damals, in den Siebzigern, eine provinziell gemütliche, langsame Stadt, mit einem Hauch von sozialistischer Kargheit? Und heute: überall Boom, Mode, Elektronik, Kunst, Grossbanken, Beschleunigung… Alles trendig und teuer… Das ganze Land auf dem Spitzenplatz der internationalen Statistiken! Aber das täuscht. Nur Geduld! Im August liegt die Hauptstadt so verlassen da, dass die Touristen beinahe unter sich sind. Wer von ihnen an Herzbeschwerden leidet, tut gut daran, Helsinki im Sommer zu meiden; denn der tüchtige Kardiologe hat sich, wie seine Kollegen, zurückgezogen, dorthin, wo ihn keine E-Mail erreicht und wo kein Handy piepst – aufs Land. Der Patient, der ihn dort finden wollte, in Karelien oder auf einer der tausend Inseln im Schärengarten, müsste sich auf eine lange Reise mit dem Fahrrad oder mit dem Boot gefasst machen. Der Arzt aber wird nach der Sauna seelenruhig in den See vor dem Haus springen oder ein bisschen fischen gehen. Danach erst, gegen fünf Uhr – so will es die Landessitte – gibt es ein ausgiebiges Mittagessen. An Hering oder Rentierfleisch, 50

Preiselbeeren und Pilzen wird es nicht fehlen, und wenn keine frischen Semmeln da sind, greift der Arzt zu dem hartgebackenen Roggenbrot, das an einem Nagel an der Wand hängt; denn das hält ewig. Spät am Abend treffen sich die stummen einsamen Trinker aus dem Kaurismäki-Film vor der Dorfscheune. Dort schallt ein finnischer Tango durch die weisse Nacht, und den Doktor ergreift eine Wehmut, klar wie Wodka. Kippis! Es werden wohl nicht die Glaspaläste und die schrägen Bars von Helsinki sein, denen Europas erfolgreichste Nation ihr sisu verdankt, diese eigentümlich zähe Energie, mit der sie die Schweden und die Russen, Armut und Krieg überstanden hat, sondern schon eher jene träumerischen, hinterwäldlerischen Tage und Nächte auf dem weiten Land. Buon appetito! «Italien ist eine Grossmacht», sagt er, legt den Kopf schief und prüft, wie wir auf seine dreiste Behauptung reagieren. Giacomo führt ein Restaurant in Bologna, dessen Namen wir nicht verraten. Bologna la grassa, la dotta: die Gelehrte, weil hier die erste europäische Universität gegründet wurde, und die Üppige, weil ein leerer Bauch nicht gerne lernt. Daher die phantastischen Auslagen der Delikatessenläden und der Marktstände und die vorzüglichen Restaurants, von denen eines unser Freund Giacomo führt. Es ist schwer zu finden; denn eine Lichtreklame gibt es nicht, und die diskrete Pforte liegt in einem Hinterhof. «Du lachst», sagt Giacomo. Er ist enttäuscht, weil wir ihm nicht widersprechen.

Hans Magnus Enzensberger ist Dichter, Schriftsteller, Herausgeber und Übersetzer. Er zählt zu den bekanntesten Intellektuellen Deutschlands und beschäftigt sich seit Jahrzehnten mit der Vielfalt des «alten» Kontinents. Von ihm u.a. erschienen: «Ach Europa!» (1989) und «Sanftes Monster Brüssel oder Die Entmündigung Europas» (2011).

«Du hast recht», sagen wir. «Ihr seid eine Grossmacht, aber nur in der Küche.» «Eben! Niemand kann mit uns konkurrieren, auch kein McDonald's. Wir sind allgegenwärtig, von Buenos Aires bis Tokio. Pasta, Pizza, Balsamico und Tiramisù – und das ist nur der Anfang. Ich rede gar nicht von Pesto und Parmesan, Grappa und Barolo. Eine kulinarische Weltsprache. Da können die Amerikaner, die den Espresso in Plastikbechern servieren, nicht mithalten. Und was heisst bei euch in Deutschland ‹zum Italiener gehen›? Das heisst einfach so viel wie essen. Allerdings, was sie euch dort vorsetzen, ist meistens nicht der wahre Giacomo – zu Deutsch der wahre Jakob! Da müsst ihr schon nach Italien kommen.» «Nach Bologna?» «Ach was! Wohin ihr wollt. Ins Piemont, nach Sizilien, in die Lombardei, nach Ligurien, in die Campania. Denn mit unserer Einheit ist es gottlob nicht weit her.» «Genau wie bei uns in Deutschland.» «Auf die lokale Tradition kommt es an. Gut essen ist eine Frage der Moral. Ich pfeife auf die Originalität. Mit der Designerküche könnt ihr mich jagen! Ja, meine Lieben, Italien besteht aus lauter unvergleichlichen Herzogtümern, und um die zu erobern, braucht ihr Zeit, eine empfindsame Zunge und einen guten Magen.»


Hans Magnus Enzensberger, photographiert von Hans-Bernhard Huber / laif.

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Vertiefen / Dossier  Schweizer Monat 1007  Juni 2013

Bon appétit! Gibt es Belgien? Das ist eine oft gestellte Frage; es soll sogar Belgier geben, die’s bezweifeln. Der böse Baudelaire nannte dieses schöne Land, das erst im Jahre 1830 erfunden worden ist, einen diplomatischen Homunculus. Seitdem wohnen dort Flamen mit Wallonen, ja sogar mit Deutschen, wenn auch in getrennten Apartments, unter einem Dach. Zu welchem dieser Stämme Brüssel mit seinen europäischen Glasbunkern gehört, weiss niemand. Alle diese Landstriche können auf eine scheckige Geschichte zurückblicken. Niemand wollte ihre Bewohner in Ruhe lassen, die Burgunder, die Österreicher und die Spanier nicht, weder die Franzosen noch die Niederländer, ganz zu schweigen von den Deutschen. Wo also wächst hier das Rettende? Die grossen Zeiten der Malerei liegen schon vierhundert Jahre zurück; damals gab es noch keine Belgier, und es ist auch schon ein Weilchen her, dass der Jugendstil Furore machte. (Vom Kongo zu sprechen, wäre wohl nicht sehr höflich.) Was also ist es, das Belgien zusammenhält? Schwer zu sagen. Yves Leterme, ein flämischer Ministerpräsident, sagt: «Der König, die Fussballmannschaft und ein paar Biere.» Aber ist es nicht eher eine weit mächtigere Instanz – nämlich der Bauch und sein unerschütterliches Wissen davon, was gut ist? Alle Küchen der Nachbarn, der Okkupanten, der Einwanderer, der Juden, der Afrikaner hat der belgische Magen verdaut und ist sich selber dabei doch treu geblieben. Das wissen auch die zahllosen Gäste, die jahraus, jahrein quasi steuerfrei in Brüssel speisen, sehr zu schätzen: Kommissare, Generalsekretäre, Präsidenten, Vizepräsidenten, Generaldirektoren, Direktoren, Referenten, Lobbyisten, Waffenhändler, Einflussmakler und Agenten. Es wäre ein Fehler, wenn wir ihnen den Platz an der europäischen Tafel überliessen. Also: bon appétit und smakelijk eten! Jó étvágyat! «Rätselhafte Leute», sagt einer, der es wissen muss, denn er lebt seit vielen Jahren in Budapest. «Aber sie lassen sich’s nicht anmerken. Wer auf ihre wunderbaren Operet52

ten und auf ihre k.u.k. Gemütlichkeit hereinfällt, ist selber schuld. Die Türken, die Österreicher und die Russen haben zu spät bemerkt, dass mit den Ungarn nicht so gut Kirschen essen ist. Nur in ihrer Sprache kommt die Wahrheit zum Vorschein. Man sagt ihnen nämlich nach, und sie sind die letzten, die es bestreiten würden, dass sie ursprünglich hinter dem Ural zu Hause sind und dass sie nach wie vor ihren Hunnenkönig Attila verehren. Das ist natürlich sehr lange her. In Europa sind sie wahrscheinlich die gescheitesten Einwanderer. Ihre Sprache ist wunderbar, und in ihren Cafés wim-

Niemand braucht sich vor uns zu fürchten, und schon ganz und gar nicht vor dem, was wir essen.

melt es von Dichtern. Nur versteht man leider kein Wort davon.» Nicht einmal auf der Speisekarte! Vielleicht bilden Sie sich ein, ein Restaurant hiesse auch in Ungarn Restaurant, und ein kräftiges Gulasch hiesse Gulasch. Weit gefehlt, im étterem müssen Sie schon ein pörkölt bestellen, und was die Paprika angeht, so ist das ein Fremdwort aus dem Serbischen, während der berühmte Palatschinken sich aus dem Rumänischen herleitet. Es gab nämlich Zeiten, zu denen Ungarn viel grösser als heute war, und das merkt man seiner Küche an. Einst gehörten ganz Siebenbürgen, die Slowakei, Slawonien, Kroatien, die Batschka und das Banat dazu, und gelegentlich gibt es heute noch Ärger mit den Nachbarn, der Ungarn wegen, die jenseits der Grenzen leben. Der ungarische Reichstag, in dem die Herren Abgeordneten Lateinisch sprachen, sass bis 1917 in Pressburg, auch Pozsony, Prešpurk, Bratislawa oder Posonium genannt. Das ist alles interessant und gut zu wissen, nur sollte es niemandem auf der Seele liegen, der auf einem Weingut in Abaújszántó oder Sátoraljaújhely einen gebratenen Wels oder Karpfen bestellt und sich dazu ein

Fläschchen Tokaji Aszú genehmigt. Zugegeben, die Ortsnamen sind Zungenbrecher – aber keine Sorge, die Reise lohnt sich, und einmal ans Ziel gekommen, heisst es: English spoken, Si parla italiano und Man spricht Deutsch. Also: Jó étvágyat! Have a nice meal! Sie war immer gefürchtet, die englische Küche. Niemand hat ihre grossen Erfindungen so recht gewürdigt, die, wie das Sandwich, in der ganzen Welt verzehrt werden. Kein Mensch braucht ein Wörterbuch, um zu wissen, was ein Steak ist, besser noch: ein Roastbeef – oder ein Keks (das ist eigentlich ein kleiner cake). Trotzdem, es lag unleugbar ein Hauch von Tristesse über der herkömmlichen englischen Kochkunst. Wer erinnert sich nicht an die schwerverdaulichen pies, ganz gleich, ob die Füllmasse aus Hammelfleisch, Fisch oder Nieren bestand; die giftgrünen Erbsen aus der Dose; die fish and chips aus der Strassenküche? Und auch den eleganteren Restaurants fehlte die Ambition, dem Puritanismus den Vogel zu zeigen. Damals, in der guten alten Zeit, gab es eine einfache Methode, in England ausgezeichnet zu essen. Man vermied Lunch und Dinner und konzentrierte sich auf die Randzonen: Frühstück und low tea; damit war der ganze Tag aufs angenehmste zu bestreiten. Ein ordentliches breakfast bestand aus einer Kanne Tee (vom Kaffee sah man besser ab), einem Obstsaft, Butter und Toast in einem silbernen Ständer; aber das war nur der Anfang. Es standen ferner auf dem Tisch: Bücklinge, gegrillte Tomaten, Würstchen, Bacon und Rührei, Porridge, Black Pudding, und wem das noch nicht genug war, Lammnierchen in Sherry. Damit kam man bis zum Nachmittagstee ohne weiteres über die Runden. Und dort boten sich auf dem silbernen Tablett und auf der Etagere aus WedgwoodPorzellan erstens die berühmten Gurkenschnitten, Sandwiches mit Lachs, Cheddar, Ei und Kresse, zweitens scones und clotted cream mit allen möglichen Konfitüren und drittens shortbread, muffins, fruit cake und Victoria sponge als Nachspeise. Diese Zeiten sind vorbei. Heute ist London sinnlos teuer und äusserst kosmopoli-


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tisch geworden. Niemand hat mehr Zeit für ein ausgiebiges Frühstück. Pasta, Tandoori und Wok haben gesiegt, und sogar der Kaffee ist keine dünne Brühe mehr. Oh, wir haben Schottland vergessen! Der heilige Andrew möge uns verzeihen! Ja, die Ausländer wissen nie so recht zu unterscheiden zwischen England, Britannien und dem Vereinigten Königreich. So entgeht ihnen manches, zum Beispiel das schottische Nationalgericht. Die amerikanische Aufsichtsbehörde hat verkündet, es sei ungeeignet für den menschlichen Genuss, und seine Einfuhr untersagt. Dabei hört sich das Rezept sehr interessant an: es handelt sich um einen Schafmagen, gefüllt mit einem Hack aus Lunge, Herz und Leber, mit Brühe, Talg und Hafermehl gekocht und mit Rübenbrei serviert. Wer tapfer ist, sollte im Norden der Insel nicht versäumen, eine Portion haggis zu bestellen. K‘! Als Henry Miller, ein Amerikaner auf der Flucht vor Amerika, kurz vor dem Zweiten Weltkrieg nach Griechenland fuhr, geriet er hemmungslos ins Schwärmen. Ein Arkadien! Ein intaktes Land, ungetrübt von der modernen Zivilisation! Ländlich, arm, patriarchalisch, bevölkert von gastfreundlichen, herzensoffenen Menschen! So kann man’s im Koloss von Maroussi lesen. Eine schöne Projektion. Aber er hat’s dort nur fünf Monate lang ausgehalten. Vielleicht ging es ihm auf die Dauer doch ein wenig zu verschlafen und eintönig zu in diesem Paradies? Vielleicht hat er deshalb dem Ouzo so eifrig zugesprochen und dabei gegen den Landesbrauch verstossen, der da heisst: Man isst nicht, ohne zu trinken, und trinkt nicht, ohne zu essen. Aber was stand damals auf dem Tisch? Die Speisekarte war nicht gerade üppig: Hammel, Calamari und das ewige mousaka. Lange Fastentage ohne Fleisch und die beklemmend süssen chalvas und baklavas. Nur die Zutaten waren immer frisch: das Obst und das Gemüse aus dem eigenen Garten, das Olivenöl und der berühmte Honig. So hatte die Selbstversorgung doch ihr Gutes. Das ist lange her, und der Tourismus hat solchen bukolischen Zuständen schon

vor Jahrzehnten den Garaus gemacht. Kein Land kann, ohne seine Tugenden einzubüssen, dauernd Millionen von Gästen ertragen, die lauthals nach dem verlangen, was es überall gibt: nach der sogenannten «internationalen Küche». Die unvermeidliche Folge waren lieb- und geschmacklose, im Pauschalpreis inbegriffene Menüs. Dagegen helfen nur die besseren Traditionen des Landes. Zu denen gehört es, dass man, anders als im Norden, spät und stundenlang zu Abend isst und dabei sich ereifert, streitet und wieder versöhnt; schliesslich ist auch die Rhetorik eine griechische Erfindung. Guten Appetit! Darf ich ausnahmsweise wir sagen? Ich gehöre nämlich dem Stamm an, von dem hier die Rede ist. Was mir an uns, den Deutschen, auffällt, ist, dass wir uns, nach einem beispiellosen Anfall von Aggressivität, eine sonderbar defensive Haltung angewöhnt haben. Dafür gibt es viele Indizien. Unsere Bosse und unsere Werbefritzen sprechen am liebsten ein schauderhaftes Englisch, so als wäre ihnen das Deutsche, das sie oft nur annähernd beherrschen, nicht gut genug. Die Bundeswehr ist eine absolut harmlose Vereinigung. Wer sich immer noch vor uns fürchtet, wie zum Beispiel unsere polnischen Nachbarn, hat nicht begriffen, wie hasenherzig wir sind. Das macht sich auch bemerkbar, wenn es ums Essen geht. Denn da drohen tausend Gefahren. Wer einfach isst, was er will, wann er will, so viel er will, der hat hierzulande einen schweren Stand. Warum achtet er nicht auf sein Gewicht? Warum widersetzt er sich den Empfehlungen der Diätberater? Und ist das, was er zu sich nimmt, auch ökologisch einwandfrei, fördert es seine Fitness? Oder steht gar etwas potentiell Krebserregendes auf dem Beipackzettel? So viel zur latenten Panik, die einem leicht den Appetit verderben kann. Auf der anderen Seite schüchtern uns die Kenner ein, die uns predigen, dass, wie bei einer Olympiade, nur die Spitzenleistungen zählen. Dies oder jenes, belehren uns die Fernsehköche, sei nun einmal der aktuelle Trend, um nicht zu sagen, der neue Kult. Denn mit dem, was wir bisher gegessen ha-

ben, könnten wir, international gesehen, nicht mithalten und schon gar nicht punkten. Aber warum eigentlich nicht? Man wirft uns vor, dass wir nicht genügend Geld ausgeben für das, was wir uns einverleiben; wir seien, wie es vornehm heisst, allzu preissensibel. Wenn das so ist, handelt es sich tatsächlich um ein besonders unappetitliches Laster, nämlich um Geiz. Nur – der Kritiker, der daraus den Schluss zieht, mit der deutschen Küche sei es nicht weit her, der irrt sich sehr. Ein bisschen mehr Selbstvertrauen, wenn ich bitten darf! Es muss wahrhaftig nicht immer der Inder, der Italiener, der Thai oder der Japaner mit seinem Sushi sein. Denn manchmal liegt das Gute nah. Wer einen proletarischen Touch bevorzugt, kann in Berlin fündig werden, mit Eisbein, Erbsensuppe und Bulette. Die Aalsuppe schmeckt am besten in Hamburg. Der Süden kann mit Schweinshaxen und Leberknödeln aufwarten. Wem der Sinn nach Feinerem steht, bitte! In Baden wird er auf seine Kosten kommen. Und wo gäbe es besseres Brot, bessere Würste, bessere Mehlspeisen als in Deutschland? Na also. Lassen wir uns nicht einschüchtern! Sagen wir es grad heraus: Niemand braucht sich vor uns zu fürchten, und schon ganz und gar nicht vor dem, was wir essen. Nu maa I spise! Zu den erfreulichsten Eigenschaften der Dänen gehört, dass sie verfressen sind. Man kann es beim besten Willen nicht anders ausdrücken, höchstens auf Dänisch, in der nuancenreichen und geheimnisvoll artikulierten Sprache der Einheimischen, die nicht ganz zu Unrecht auf ihren subtilen Humor Wert legen. Als es auf dem Kontinent noch karger zuging, nahm manch einer die Fähre von Grossenbrode nach Gedser, einzig und allein des märchenhaften Buffets wegen, das dort den Passagier erwartete. Liebevoll angerichtet die Hummermayonnaise, die Hering-, Curry-, Waldorf- und wer weiss was für unbekannte Salate, mit äusserst nahrhaften Saucen und Remouladen, die nach Meerrettich, Senf oder Kräutern schmeckten. Wer sich nun bei der Ankunft in einem Schlaraffenland wähnt, ist natür53


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lich leicht zu enttäuschen. So weit ist es auf dem Lande mit der Phantasie nicht her, nur mangeln darf es an gar nichts. Man greift grosszügig hin und spült das Ganze mit ein paar Gläsern Aquavit und einem grossen Tuborg hinunter. Auch das Tivoli ist nicht mehr, was es einmal war: eine Zauberinsel mitten in der Grossstadt Kopenhagen. Übrigens stellen sich dem Neuankömmling so manche Rätselfragen. Warum heisst ein schlichter Kartoffelbrei mit Speck und Zwiebeln «Brennende Liebe»? Wie kommt es, dass sich eine süsse Gewohnheit aus Blätterteig wienerbrød nennt, obwohl es gar kein Brot ist und obwohl es in Wien kein Wienerbrot gibt? Ist es nicht schwer zu verwinden, dass man am Mittag sich zur frukost an den Tisch setzt, am Abend hingegen zu middag speist? Ganz andere Fragen gilt es in den erfreulichsten Etablissements der Hauptstadt zu beantworten. Dort herrscht die Kalte Mamsell. Im berühmtesten dieser Lokale, bei Ida Davidsen an der Store Kongensgade, gibt es nichts anderes als smørrebrød, also Butterbrote. Aber davon rund zweihundert verschiedene Sorten! Und in welcher Fülle! Roastbeef, Aal, Garnelen, Leber-, Wild-, Geflügelpastete, Eier, Schinken, Gänsebrust, Dorschkaviar, alles üppig mit Mayonnaise garniert, und sogar ein kleines Steak à la minute… Und damit nicht genug, denn auch unter den dünngeschnittenen Scheiben, die all das zu tragen haben, kann der Gast zwischen Grau-, Schwarz-, Weiss- und Vollkornbrot wählen. Am besten nimmt man die ellenlange Karte zur Hand und kreuzt an, was einem gefällt. Wer da an Diät denkt, hat schon verloren. Bom proveito! Lügen haben kurze Beine. Daher bin ich lieber gleich geständig: Das Beste an Portugal ist nicht die Küche. Es sind die Portugiesen. Sie werden sie liebenswürdig, höflich, stolz und melancholisch finden. Hektik und Wichtigtuerei sind ihnen fremd, und wenn Sie die schlimmsten Hotelklötze an der Algarve meiden, finden Sie immer noch genug, was Sie entschädigen wird für manches, was Sie entbehren werden. 54

Nichts, natürlich, gegen das Wildkaninchen in Rotwein, mit Pilzen und Tomaten, oder ein caldo verde, die Gemüsesuppe, zu der, wenn es mit rechten Dingen zugeht, eine Art Grünkohl gehört. Fischsuppe, Schaf- und Ziegenkäse, allerhand Mandelgebäck – geschenkt! An die Schweinelendchen mit Muscheln werden Sie sich vielleicht gewöhnen, aber ob Ihnen das mit dem unvermeidlichen bacalhau gelingt? Da bin ich mir nicht sicher. Diese Nationalspeise, der Stock- oder Klippfisch, ist nicht jedermanns Sache. Man sagt, es gebe dafür 365 Rezepte, eines für jeden Tag, und ich befürchte, dass das die reine Wahrheit ist. Sie können diesen Dörrfisch als Auflauf, als Frikadelle, als Salat, in jeder nur denkbaren Form geniessen. Dass es den Portugiesen nicht an Ironie fehlt, beweisen ein paar Redensarten, die immerhin eine gewisse Skepsis ausdrücken: «Einem den Klippfisch zu machen» heisst so viel wie ihn herabsetzen, und ficar em águas de bacalhau sagt man, wenn etwas schiefgeht. Wenn Sie Trost brauchen sollten, halten Sie sich an die vorzüglichen portugiesischen Weine. Sie sind nicht so berühmt, wie sie verdienen, wahrscheinlich, weil sie nicht in grossen Mengen und zu löblich geringen Hektarerträgen erzeugt werden; aber ich versichere Ihnen, dass sie es in sich haben. Der Madeira ist ja ganz aus der Mode gekommen; eigentlich schade; auf der Insel können Sie noch uralte Jahrgänge trinken; denn das süsse Zeug hält sich fast ewig. Worauf es aber ankommt, das sind Dão, Bairrada, Alentejo und natürlich der Douro, wo nicht nur der legendäre Portwein wächst – da können Sie ein Dutzend Rebsorten probieren, von denen Sie noch nie gehört haben, und niemand zwingt Sie, wenn Sie sich an ihm, wie ich vermute, bald sattgegessen haben, eine Portion Stockfisch dazu zu essen. Smacznego! An der polnischen Landwirtschaft haben sich die Kommunisten die Zähne ausgebissen. Sie mussten ihre Kollektivierungspläne schleunigst an den Nagel hängen. Die Herrschaft über den Kochtopf liessen die Polen sich nicht nehmen. Ein hoher Grad von

Selbstversorgung war die Regel, und auch heute noch wird eingemacht, was der Garten hergibt; da mögen die Sonderangebote im Supermarkt noch so billig sein. Überhaupt hört beim Essen der Spass auf. Jedesmal, wenn es mit der Fleischversorgung haperte, gingen die Arbeiter auf die Strasse, und die Miliz musste das Feld räumen. Leider war ich noch nie am Heiligen Abend in Polen. Man sagt aber, es sei dort guter katholischer Brauch, zwölf Speisen auf den Tisch zu bringen, eine für jeden Apostel, alle fleischlos, also diesmal kein bigos, der sonst unvermeidlich ist: Kraut, Wurst, Fleisch, Pilze, ein einziger Mantsch – die Polen sind ein mykophiles Volk, will heissen, sie kennen sich mit Pilzen, aber auch mit anderen Waldfrüchten aus. Nur ein fetter Karpfen kann an Weihnachten nicht schaden. Ein Stuhl, sagt man, muss an diesem besonderen Abend immer frei bleiben, vermutlich für Jesus. Sonst genügt auch eine Tasse barszcz (keine Angst vor dem szcz, «schtsch» tut es auch), dazu ein Pastetchen hier und ein Pfannkuchen dort. Oder eine Pilz-, Kuttel-, Sauerkraut-, Krebs-, Graupen- oder saure Mehlsuppe, und danach ein paar pierogi, Maultaschen, in denen sich alles Mögliche verbergen kann. Und zwischendrin immer mal ein Glas Tee. Achtzig Liter Bier schafft jedes statistische Landeskind mühelos im Jahr, und auch sein Wodkakonsum kann sich sehen lassen: Zubrowka oder Wyborowa sind sehr zu empfehlen, aber auch Chopin war Pole und hat sich als Ruhmesblatt ein Schnapsetikett verdient. Mit Kleinigkeiten gibt man sich dabei nicht ab: die korrekte Bestellung lautet: sto gram, ein zehntel Liter; unter dem tut es der tapfere Pole nicht. Hier nun endet unsere kleine kulinarische Reise. Aber seien Sie versichert: sie liesse sich ohne weiteres fortsetzen. Und wenn Sie Europas Vielfalt einmal durchprobiert haben, so bietet es sich an, direkt wieder von vorne zu beginnen. Daher zum zweiten Gang nochmals: guten Appetit! � Weitere kulinarische Länderportraits von Hans Magnus Enzensberger in: Roberto Schell: Was isst Europa? Wien: Christian-Brandstätter-Verlag, 2007.


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Die Super-EFTA

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Grossbritannien will bald über den Verbleib in der EU abstimmen. Zum Glück. Denn damit öffnet sich ein Zeitfenster für eine neue, von unten herauf gebaute europäische Einigung – für ein Europa mit Schweizer Beteiligung. von Beat Kappeler

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er sich mit dem europäischen Dogma der Alternativlosigkeit nicht abfinden will, stösst früher oder später auf eine kleine Organisation mit grossem Potential: die EFTA. Die vier Buchstaben stehen für European Free Trade Association und umschreiben letztlich nichts anderes als eine Freihandelszone für Industriegüter, ergänzt durch bilaterale Verträge für die freie Bewegung von Personen, Kapital und viele Dienste. Die EFTA schliesst ein weltweites Netz von Freihandelsabkommen ein, aber sie lässt jedem Mitgliedsland freie Hand für seine interne Gestaltung. Das macht die Organisation zum richtigen europäischen Modell der «Vielfalt in der Einheit» – jener Losung, der auch die Europäische Union (EU) entsprechen sollte,

Die EFTA lässt jedem Mitgliedsland freie Hand für seine interne Gestaltung.

aber nicht entspricht. Ein Zusammenschluss der europäischen Länder soll dort erfolgen, wo er produktiv, friedenssichernd und freiheitsstiftend wirkt, nämlich in einer Zone des freien Austauschs von Gütern, Diensten, Kapital und Personen, bei bleibender nationaler Zuständigkeit aller übrigen Belange, wie in der EFTA, NAFTA, in asiatischen Freihandelszonen. Diese Einschätzung führt gegenüber den gegenwärtigen – und künftigen – Kon-

vulsionen der EU zur notwendigen intellektuellen Lufthoheit. Dieser Kontinent ist mit seinen zentralistischen, voluntaristischen Lösungen aus hohler Hand von selbstbeflügelten Europapolitikern gründlich gescheitert – das richtige Modell muss auf dem Erfolgsweg Europas aufbauen: das ist der Wettbewerb der Lösungen, wie die einzelnen Nationen sich einrichten, wie ihre kulturelle Verschiedenheit es verlangt und wie die Geschichtsforscher es belegen (etwa der Wirtschaftshistoriker David S. Landes). Dennoch machten genügend gemeinsame Werte den Kontinent unverwechselbar fortschrittlich: persönliche Freiheit, Demokratie im Staat, föderale Lösungen, Subsidiarität, Weltoffenheit, Selbstbestimmung der Völker für ihre nationale Zugehörigkeit. Das Europa der Slogans Gerade der letzte Vorteilspunkt Europas, die Selbstbestimmung der Völker, kennzeichnet die letzten zwei Jahrzehnte viel eher als die sogenannte europäische Einigung. Denn die im 15. und 16. Jahrhundert zusammengeschlossenen Grossstaaten lösen sich gemäss dem Wunsch der in sie hineingepferchten Völker teilweise auf – es trennten sich die baltischen und zentralasiatischen Staaten von Russland, die Ukraine 1918 und wieder 1990, die Tschechoslowakei löste sich 1993 auf, Irland trat 1922/1949 aus Britannien aus, Jugoslawien zerfiel 1992 und in Katalonien, Schottland, Belgien, Norditalien melden ernstzunehmende Bewegungen Ansprüche auf Sezessionen an. Aus späterem Rückblick also wird dieser Zerfall der vermeintlichen National-

Beat Kappeler ist Ökonom und Autor der «NZZ am Sonntag». Er ist profilierter Kommentator des Zeitgeschehens und hat zahlreiche Bücher veröffentlicht, zuletzt «Wie die Schweizer Wirtschaft tickt. Die letzten 50 Jahre und die nächsten» (2011).

staaten in ihre kulturellen, völkermässigen Teilelemente klar erkennbar sein als eine säkulare Rückbewegung der heute vor fünfhundert Jahren zusammengeschmiedeten Grossreiche. Aber lassen wir dieses Thema beiseite. Sicher ist, dass die unter dem Titel der EU im Maastrichter und Lissabonner Vertrag erfolgte Zentralisierung des Kontinents keine lineare und zwangsläufige Entwicklung war, keine ist, sein muss, sein wird, und dass die beschwörenden Konzepte, die heute noch von der Lufthoheit des Integrationsmodus profitieren, die Geschichte nicht auf ihrer Seite haben. Im Krisengewitter der letzten Jahre ist es zu einem Selbstläufer geworden, die historischen europäischen Errungenschaften zu instrumentalisieren. Insbesondere auch der Slogan «Europa ist ein Friedensprojekt» geht in die Irre, denn den Frieden im Kontinent seit 1945 verdanken wir dem amerikanischen Schutzschild der Nato sowie dem endlich demokratisch gewordenen Deutschland. Seine dem Volk und dem Parlament nicht verantwortlichen Gewaltregierungen hatten die letzten vier Kriege unter Europäern losgetreten – 1866, 1870, 1914 und 1939. Nie hätten die Troisième République oder das British Empire von sich aus losgeschlagen. 55


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Der andere Slogan, der das Scheitern des Euro verkleistern soll, lautet: «Der Euro ist Europa», und zeugt von beispielloser Verdinglichung der Idee. Eine Geldsorte soll den europäischen Geist tragen. Andere Slogans gehen bis zur Klitterung und zum Hohn, etwa wenn der EU-Präsident Van Rompuy einem allenfalls austretungswilligen Britannien nachruft: «Ein Freund geht in die Wüste.» Britannien gelüstet es aber nach Freiheit und nach der Welt, nicht nach der Wüstenei der Gleichschaltung in Brüssel. Denn diese geht in die Irre, auf drei Wegen: 1. Die Sehnsucht nach weltpolitischer Grösse In der globalisierten Wirtschaft sind die treibenden Akteure Firmen, nicht Staaten oder Regionalunionen. Eine Eigenheit der als Globalisierung beschriebenen Dynamik ist, dass die allzuständig geglaubte Politik zu kurz greift. Eine Regionalunion wäre nur eine Korrektur der Globalisierung, wenn sie autark würde (was die EU in manchen Fragen auch anstrebt, aber nie erreichen wird). Doch gerade eine regionale Abschottung ist weder freiheitlich noch politökonomisch sinnvoll. Geschlossene Grenzen sind Völkergefängnisse, offener Austausch aber ist ein Politikergefängnis, in dem die von den

Der Euro wurde eine Währung ohne Staat, und die Mitgliedsländer sind Staaten ohne Währung.

Bürgern eingesetzten Stellvertreter ihre politischen Taten vergleichen lassen müssen. Hingegen gewinnt die globalisierte Wirtschaft ihren Ordnungsrahmen durch globale Strukturen wie die Welthandelsorganisation, die Weltpatentorganisation, die Arbeitsorganisation, Klimagipfel, die Fernmeldeunion. Der Anspruch der EU, eine Antwort auf die Globalisierung zu sein, ist daher inkongruent zum Problem. Mehr Gewicht in Weltorganisationen zu haben, 56

rechtfertigt keine EU – die grossen Mitglieder haben dieses Gewicht auch für sich. Im Gegenteil, die EU verhandelt oft direkt mit USA, China, Russland und setzt die Weltorganisationen ins Abseits. Doch der Anspruch, dem US-Imperium auf Augenhöhe gegenüberzutreten, ist geradezu lächerlich. Die USA wagen Blut, eigenes und fremdes, für die internationale Ordnung, Europas Baroness Ashton verschickt Communiqués. 2. «Primat der Politik» ohne Legitimität Die fast gesamte Politik der EU seit dem Maastrichter Vertrag ist eine fatale Verbindung mit zeitgenössischen (den EWG-, EG-, Unionsverträgen nicht innewohnenden) Ideologien eingegangen. Keynesianische Ankurbelungstechniken und umverteilende Budgets zugunsten von mehr als der Hälfte der Bürger und Länder sind national aufgebaut, angewandt und von den europäischen Behörden gestützt, im Euro sogar fundiert worden (durch Billigzinsen, Hilfspakete, Geldschöpfung der EZB). Das Resultat ist eine Überschuldung der Einzelstaaten, welche das gesamte europäische Projekt gefährdet und die Völker auf Jahrzehnte hinaus in Hungerkuren festhalten wird. Schlimmer noch, die EU baut auf «dem Primat der Politik» auf, also auf dem Vorrang von Visionen der Politiker gegenüber tangiblem, überprüfbarem Nutzen von Politik. Deshalb kam auch der inhaltsleere Slogan auf, dass die EU immer gleichzeitig «Erweiterung und Vertiefung» brauche, dass die Kopfgeburt einer zentralen Währung nötig sei. Doch wegen deren überhasteter (politisch als Zündung weiterer Integrationsstufen veranlasster) Einführung wurde der Euro eine Währung ohne Staat, und die Mitgliedsländer sind Staaten ohne Währung. Dies führte notwendigerweise zur Krise dieses Euro, dann zu laufenden Versuchen, diese Integrationsstufen unbemerkt und unter dem Zwang der Verhältnisse einzuführen, wie Euro-Bonds, Hilfspakete unter klarem Bruch von Art. 125 des Lissabonner Vertrags oder ein zentrales Euro-Länder-Budget oder auch die für Ökonomen erschütternde Rolle der EZB, welche die Staatsbudgets des Südens mit Interventionen finanziert. «Outright Monetary Transactions» und «Emergency

Liquidity Assistance» sind die verklärenden Begriffe dazu, ein Orwellscher Newspeak, denn es handelt sich bei diesen Massnahmen gerade nicht um monetäre, sondern um fiskalische Politik. Die meisten der EU-Politiken folgen dem Muster der nationalstaatlichen Interventionen entlang dem alten Industriemodell der 70er Jahre – Industriepolitiken, feste Papierwährungskurse, Umverteilung an als hilflos aufgefasste Bürger, Länder, Abmilderung jeder ökonomischen Sanktion für fehlerhaftes Verhalten durch erneute Geldversprechen. Kurz, eine Unfähigkeit zu leiden, eine in Politik verflüssigte Verdrängung der Realität. Der «Primat der Politik» ohne parlamentarische oder direktdemokratische Legitimation ergibt sich seit 1958 aus der Formulierung des «immer engeren Zusammenschlusses», wie sie in den Römer Verträgen festgehalten wurde. Dieser Auftrag wird vom Europäischen Gerichtshof im Zweifelsfall unweigerlich zugunsten strengerer Integration ausgelegt. Das Subsidiaritätsprinzip hat schon aus diesem Grund keinerlei rechtswirksame Bedeutung in der EU. 3. Das Kartell der Schuldner Die unter dem Zwang bisherigen Scheiterns der Währungsunion angestrebten zusätzlichen Integrationsschritte werden die EU vollends in die «géométrie variable», in ein Europa der verschiedenen Geschwindigkeiten lenken. Das wäre aus liberaler Sicht erwünscht, ist aber nicht beabsichtigt. Widerstände gegen die Fiskalunion, gegen die Bankenunion melden sich, Britannien macht in Finanzregulierungen und – zusammen mit Schweden, Dänemark, Polen – im Euro nicht mit, Finnland nicht bedingungslos bei den Hilfspaketen an den Süden. Weitere Widerstände werden aufkommen, wenn es den wenigen nur halbwegs überschuldeten Nettozahlern der Hilfspakete und im European Stability Mechanism dereinst klar wird, dass gemäss den in Frage kommenden Stimmrechtsregeln (im ESM, Lissabonner Vertrag, in der Fiskalunion) das Kartell der Schuldner die Sanktionen gegen seine frivole Fiskalpolitik verhindern kann. Die EU wurde und wird also zentral aufge-


Beat Kappeler, photographiert von Thomas Burla.

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baut, spult einen vermeintlich linearen Ausbau ab. Doch die Krisen, die hastigen Korrekturen vor- und rückwärts, der Bruch des Beihilfeverbots und der EZB-Solidität, die wachsenden Widerstände der Protestparteien in Nord und Süd zeigen klar: ein Zeitfenster öffnet sich für eine subsidiäre, von unten herauf gebaute Einigung – für eine echte EFTA. Kontrastprogramm einer liberalen EU Wie also sähe die EU aus ohne die Ideologien der 70er Jahre, ohne den vermeintlich schmerzverhindernden Keynesianismus, ohne die Umverteilungen und ohne die «immer engeren» Harmonisierungen? Eine Super-EFTA wäre dies, also Freiheit in Güter-, Dienste-, Kapital- und Personenverkehr. Die Harmonisierungen würden, wie in Freihandelszonen üblich, nur das Notwendigste regeln, um einen echten, gemeinsamen Markt zu schaffen. Harmonisierungen würden nicht auf dem grössten, sondern auf dem kleinsten gemeinsamen Nenner (KGN) erfolgen. Das ist schon beim Bruchrechnen die Lösung, es entspricht dem «Razor» Wilhelms von Ockham (14. Jh.), wonach man nicht mehr Bedingungen als nötig erfinden solle. Es würde also keine Mehrwertsteuer von mindestens 15 Prozent vorgeschrieben, wie heute in der EU, sondern von höchstens 8%, wie sie die Schweiz kennt. Das gleiche Prinzip gälte in der Arbeitsmarkt-, Sozial-, Umwelt-, Konsumenten-, Fiskal-, Finanz- und Bankenpolitik (wenn überhaupt). Denn auch hier ist die Subsidiarität und Normalität seit 1958 absichtlich ausgehebelt, weil soziale Normen «im Sinne des Fortschritts», also auf höchstem erreichtem Stand, harmonisiert werden sollen. Damit schützte Frankreich seine überrissenen Standards. Doch bei Harmonisierungen auf Grundlage des KGN würde der Wettbewerb der Lösungen blühen. Man sähe, dass Dänemark und die Schweiz annähernd vollbeschäftigt sind, beide mit freiem Kündigungsrecht der Firmen, welche daher auch massiv einstellen, Dänemark hingegen mit einem enormen Umverteilungsstaat, jedoch ohne Arbeitsbelastung durch Lohnprozente, sondern mit hoher Mehrwertsteuer, welche den Expor-

teuren rückerstattet wird. Dänemark ist konkurrenzfähig wie die Schweiz, diese dank massvollen Lohnprozenten und Mehrwertsteuern, dank freiem Arbeitsmarkt und Berufslehre. Man sähe, dass Frankreich all dies nicht pflegt und verarmt. Eine liberal harmonisierende EU hätte im Vertragstext nicht den «immer engeren Zusammenschluss» stehen, sondern «die Subsidiarität gleichwertiger Lösungen», und dies würde vom Gerichtshof durchgesetzt. Dies brächte auch ein echtes Cassisde-Dijon-Prinzip zum Durchbruch: Die technisch notwendigen Normen eines gemeinsamen Marktes kämen zustande, mehr nicht. Die Gegenofferte Es ist rein logisch, dass grosse Unionen weniger demokratisch sein können als kleine Körperschaften – weil in Grossorganisationen der direktdemokratische Zugriff, aber auch der parlamentarische Regelungskreis der Mitgliedstaaten weniger inhaltlichen Umfang haben kann. Wenn sogenannt demokratische Steuerungen in Grossstaaten gälten, sind sie nach allen Regeln der Politologie Kuhhändeln über die Sachgebiete hinaus unterworfen, weil sonst gar keine Massnahmen zustande kommen. Es werden also Sachentscheide entfremdet um der Opportunität willen. Das wird die grosse amerikanische Union ruinieren, befürchtet man heute. Und im Anwendungsfall der EU werden heute und künftig keynesianische, schuldenfinanzierte Umverteilungen zu kontinentweiten, ruinösen Monstern. Würden ausserdem europaweite Volksabstimmungen als quasidemokratische Legitimierung eingeführt, dann glitte die «Kompetenz-Kompetenz» auf die EU-Ebene. Ein EU-Organ – das EU-Volk – würde die Kompetenzen der EU mit blossen Mehrheiten definieren. Dies wäre der Übergang zur Tyrannei der Mehrheit in einem kulturell, ideologisch und historisch vielfarbigen Kontinent. Es wäre das Ende des Wettbewerbs der Lösungen, das Ende europäischer Freiheit und Prosperität. Die Befürworter einer anderen, der EFTA ähnlichen europäischen Einigung ha-

ben das AOC echter Europäer. Diese intellektuelle Lufthoheit müssen Schweizer Vertreter der Diplomatie, der Politik, der Kultur und der Medien wieder auszustrahlen lernen. Wie 1830, als die liberale Schweiz ein Leuchtturm im monarchisch-restaurativen Europa war, oder zur Zeit der Faschismen. Europäische Grosspolitik ist nicht gefeit vor Fehlern. Und sie hat schon mehrmals Fehler gemacht, katastrophale Fehler.

Eine liberal harmonisierende EU hätte im Vertragstext «die Subsidiarität gleichwertiger Lösungen» stehen.

Der ganz praktische Test solcher Überzeugungsarbeit kommt schon 2015, wenn Britannien über seinen Verbleib in der EU abstimmt. Dann muss die Gegenofferte in den Köpfen und auf dem Tisch liegen. Wie 1961, als die Schweiz die alte EFTA anstiess und gründete. Gelingt der Umschwung, wird die Schweiz bald schon in einer liberalen europäischen Integrationsstufe leben, die eine Mehrheit des Kontinents umfassen kann, die massgebend für Europa sein wird. �

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So hat die EU eine grosse Zukunft

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Plädoyer für eine raffinierte Mischung aus «mehr Europa» und «weniger Brüssel» von Reiner Eichenberger und David Stadelmann

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ber die allgemeinen Ziele der Europäischen Union herrscht weitgehend Einigkeit: Die EU soll ein freiheitlicher und friedlicher Wohlstandsraum sein. Sie soll von Vielfalt geprägt sein, denn Vielfalt ist ein Wert an sich sowie Voraussetzung für fruchtbaren Wettbewerb. Die EU soll keine Wohlstandsinsel sein, denn sie profitiert vom Wohlstand ihrer Nachbarn durch Handel, Ideenaustausch und Wettbewerbsdruck. Die EU soll durch nachhaltige Politik auch zukünftigen Generationen hervorragende Lebensbedingungen bieten. Und die EU soll eine positive Rolle zur Mehrung der Freiheit und des Wohlstands in der ganzen Welt spielen. Umstritten ist hingegen, wie diese Ziele erreicht werden sollen. Eine Gruppe von Europäern beruft sich auf das Mantra von «mehr Europa» und wünscht sich eine umfassendere und raschere Integration der EUMitglieder durch die Stärkung zentraler Institutionen. Die Idee eines europäischen Bundesstaats aber erzeugt vehemente Opposition von jenen Europäern, die sich «weniger Brüssel» wünschen und die Entscheidungen (wieder) möglichst dezentral ansiedeln wollen. Ein unüberbrückbarer Gegensatz? Nicht unbedingt. Wir schlagen im folgenden eine Lösung vor, die die Vorteile beider Wege vereint: eine Stärkung der zentralen Entscheidungsträger bei gleichzeitiger massiver Dezentralisierung mit echter lokaler Autonomie.

Heutige Stärken und Schwächen der EU Wo steht die EU heute? Sie hat mindestens fünf Stärken, die den genannten Zielen zuträglich sind: 60

1. Der offene Binnenmarkt mit freiem Güter-, Dienstleistungs-, Kapital- und Personenverkehr ist ein riesiger Erfolg! Er ist der Wohlstandsmotor Europas und hat den Menschen eine zuvor ungeahnte Bewegungsfreiheit gebracht. 2. In der EU herrscht grosse Vielfalt – kulturell, sprachlich, politisch und ökonomisch. Zwar leiden einige Mitgliedsstaaten unter grossen Problemen. Doch vor allem in Skandinavien sowie im und an der Grenze zum deutschen Sprachraum schneiden viele Länder im internationalen Vergleich sehr gut ab und gehen ihre wirtschaftlichen Herausforderungen wirkungsvoll an. Diese Vielfalt bietet Lernmöglichkeiten, die den Krisenländern eine Chance geben, ihre Probleme in den Griff zu bekommen. 3. Die EU steht bezüglich nachhaltiger Entwicklung im internationalen Vergleich nicht schlecht da. Das zeigt sich in der Umwelt- genauso wie in der Finanzpolitik. Trotz der offensichtlichen Überschuldung einiger Mitglieder ist die durchschnittliche Verschuldung auf gesamteuropäischer Ebene klar tiefer als jene der USA und Japans. 4. Die EU ist verglichen mit anderen Ländern und Regionen der Welt in vielerlei Beziehung ein Hort der Freiheit. Das gilt sogar im Vergleich mit den USA. Deren Bürger sind selbst dann steuerpflichtig, wenn sie nicht dort leben, und die gesellschaftlichen Zwänge infolge Übermoralisierens und politischer Überkorrektheit dürften dort weitaus einschneidender und einschränkender sein als in der EU. 5. Die EU spielt eine vergleichsweise positive Rolle in der Weltpolitik. Sie bedroht die Welt weit weniger stark als andere politi-

Reiner Eichenberger ist Professor für Finanzwissenschaft an der Universität Fribourg (Schweiz) und Forschungsdirektor von CREMA (Center for Research in Economics, Management, and the Arts, Schweiz).

David Stadelmann ist Professor für Volkswirtschaftslehre an der Universität Bayreuth (Deutschland) und Research Fellow von CREMA (Schweiz).

sche Grossmächte, die permanent Kriege gegen Drogen, Terrorismus und Geldwäscherei führen, die die mit diesen Übeln zusammenhängenden Probleme oft nur noch verschlimmern sowie in andere Bereiche verdrängen und für viele Länder katastrophale Folgen haben. Gleichzeitig ist die EU mit Problemen konfrontiert, deren Gewicht schwer auf künftigen Generationen lastet. Sieben davon erscheinen in unserem Zusammenhang besonders wichtig: 1. Viele EU-Länder sind wirtschaftlich und gesellschaftlich weit weniger erfolgreich, als sie mit einer alternativen Wirtschafts- und Sozialpolitik sein könnten. Insbesondere leiden sie unter einer Arbeitslosigkeit, deren Mass sozialen Sprengstoff birgt. Verantwortlich dafür sind völlig verkrustete Arbeitsmarktstrukturen, die aus unsinnigen Regulierungen resultieren, die wiederum eine Folge mangelnder Reformanreize für Regierungen sind. Eine Deregulierung der Arbeitsmärkte würde zwar nach wenigen Jahren bedeutende Wohlstandsgewinne bringen, kurzfristig aber die Profiteure der heutigen Regelungen belasten, etwa die «Insider», die heute durch unkündbare Arbeitsverträge geschützt sind.


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2. Die Einkommensungleichheit in der EU ist erschreckend hoch. Genau genommen ist sie sogar höher als in den USA. Während dort die Unterschiede zwischen den Bundesstaaten in die Masse für individuelle Ungleichheit einfliessen, beziehen sich die Daten aus der EU im Regelfall auf die durchschnittliche Ungleichheit innerhalb der einzelnen Länder. Würde aber die Ungleichheit in der EU so wie in den USA systematisch über den gesamten Wirtschaftsraum gemessen, würde die EU schlechter abschneiden. 3. Die EU leidet unter starken Zentrifugalkräften. Die schnelle wirtschaftliche Entwicklung Chinas, Indiens und anderer Schwellenländer lässt nicht nur die Nachfrage nach hochtechnologischen Produkten und Dienstleistungen, sondern auch das Angebot an weniger anspruchsvollen Produkten wachsen. Das bewirkt eine schnelle Veränderung der «terms of trade», des internationalen Handelswerts der Güter und Dienstleistungen. Die technologisch führenden eher nördlichen EU-Länder profitieren dabei weit mehr von der weltwirtschaftlichen Entwicklung als die südlichen Länder. 4. Zahlreiche EU-Länder leiden an einer tiefen Steuermoral ihrer Bürger, hoher Korruption und schlechter regionaler/ lokaler Standortpolitik. Ein Hauptgrund dafür ist die völlige Überzentralisierung dieser Länder. In ihnen fliesst oft fast das gesamte Steueraufkommen zuerst in die Hauptstadt, von wo es dann nach einem undurchschaubaren Verteilkampf über undurchsichtige Transfers und nahezu gänzlich unabhängig vom lokalen Steueraufkommen zurück an die Regionen und Gemeinden fliesst. Folglich sind die Bürger kaum motiviert, selbst Steuern zu zahlen und die Steuerzahlung ihrer Mitbürger zu kontrollieren. Nicht nur ist damit die Steuermoral tief, vielmehr wird Steuerhinterziehung sogar sozial anerkannt. Wer Steuern zahlt, statt mit seinem Geld die lokale Wirtschaft zu stützen, wird zum eigentlichen Sünder. Zugleich lohnt sich für Lokalpolitiker eine gute Standortpolitik weit weniger, weil die so erzielbaren Steuereinnahmen ja gänzlich abfliessen. Wichtig ist für sie, im Transfergemauschel in der Hauptstadt vorne mit dabei zu sein.

5. In manchen EU-Ländern wurden viele Gesetze und Regulierungen erlassen, die gar nicht wirklich darauf ausgerichtet waren, tatsächlich auch umgesetzt zu werden. Dabei wurden Steuergesetze oft in unsinniger und missbräuchlicher Weise ausgestaltet. Ein erster Reformschritt in Krisenländern ist nun oft, zuerst einmal die bestehenden Gesetze und insbesondere die Steuergesetze ernsthafter durchzusetzen. Wenn aber Länder wie Griechenland oder Italien all die viel zu komplizierten, verzerrenden und oft viel zu hohen Steuern wirklich einzutreiben versuchen, sind die Konsequenzen für die Wirtschaft dramatisch. 6. Die EU hat keine Regierung im Sinne von demokratisch gewählten Entscheidungsträgern, die starke Anreize haben, eine gute Politik für die EU als Ganzes zu entwickeln und durchzusetzen. Alle volksgewählten Entscheidungsträger sind auf nationaler Ebene gewählt und dementsprechend eher «Beutejäger zu Brüssel» als wirklich Anwälte einer guten gesamteuropäischen Politik. Damit unterscheidet sich die EU von den USA, die eine vergleichsweise starke Zentralregierung haben, die die nationalen öffentlichen Güter wenigstens teilweise erbringt. Gleichzeitig können bei den derzeitigen Strukturen der EU Fehler der nationalen Regierungen allzu leicht den «Bürokraten in Brüssel» angelastet werden. 7. Die erfolgreichen Regionen der meisten EU-Länder leiden zunehmend unter ihrer eingeschränkten Autonomie. Die schnell zunehmende Globalisierung stärkt den internationalen Standortwettbewerb und damit das Bedürfnis nach schnellem, autonomem und effizientem Handeln auf regionaler und lokaler Ebene. Dank dem EU-Binnenmarkt sind die Regionen weniger auf die Integration in einen nationalen Markt angewiesen, aber sie benötigen mehr Freiheiten, um sich in den internationalen Markt zu integrieren und sich an veränderte Bedingungen anzupassen. Erklärung: Es ist immer die Vielfalt Der eben skizzierte heutige Zustand der EU geht generell – aber natürlich nicht ausschliesslich – auf eine Eigenschaft Europas zurück: Vielfalt. Diese ist paradoxerweise

Quelle sowohl vieler europäischer Stärken wie auch Schwächen. Vielfalt ist einerseits Voraussetzung für fruchtbaren Wettbewerb, doch die in Europa mit ihr verbundene Vielsprachigkeit mindert gleichzeitig den Wettbewerb. Sie macht es für die Bürger schlecht funktionierender Staaten teuer, in andere Länder abzuwandern. Gleichzeitig erschwert sie das Lernen von anderen Staaten (und mindert die Chancen, dass beispielsweise dieser Artikel in Slowenien, Spanien oder Irland gelesen wird). Der Wettbewerb spielt deshalb vor allem innerhalb von Sprachräumen mit mehreren unabhängigen Ländern. Der intensive Wettbewerb zwischen den deutschsprachigen sowie zwischen den skandinavischen Ländern ist unseres Erachtens massgeblich am Erfolg dieser beiden Ländergruppen beteiligt. In Sprachräume mit nur einem Land wie etwa dem griechischen fällt es den Bürgern und Politikern hingegen viel schwerer, von positiven ausländischen Beispielen zu lernen. Die grosse Vielfalt und Vielsprachigkeit innerhalb der EU hat bisher das Entstehen einer starken Zentralregierung verhindert. Dies bringt gewisse Nachteile, aber auch grosse Vorteile mit sich. Starke Zentralregierungen grosser Einheiten erliegen leicht einer Kontrollillusion, die sie glauben macht, sie könnten Übel wie Drogen und Terrorismus mit einer Strategie der harten Hand besiegen. Genauso erlaubt es erst die Zentralisierung der Fiskalkompetenzen in grossen Einheiten, die Kosten von Staatsschulden und sonstiger schlechter Politik auf die nächsten Generationen abzuwälzen. Wie wir anderenorts ausführlich zeigen, kapitalisieren sich die Schulden von kleinen staatlichen Einheiten mit mobilen Bürgern und mobilem Kapital in den dortigen Bodenpreisen aufgrund in Zukunft erwarteter höherer Steuern oder geringerer öffentlicher Leistungen, d.h. mit wachsenden Staatsschulden sinken die Bodenwerte. 1 Die Last zusätzlicher Schulden tragen in kleinen Ländern deshalb nicht die zukünftigen Steuerzahler, sondern die heutigen Bodenbesitzer. In grossen Ländern hingegen können die zukünftigen Einwohner der Be61


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steuerung auf zentraler Ebene schlechter ausweichen und tragen deshalb einen beträchtlichen Teil der Schuldenlast mit, weshalb die Landpreise weniger stark sinken. Die Finanzierung des Staates mittels Verschuldung ist deshalb vor allem für die heutigen Einwohner grosser Länder attraktiv, weil sie so einen Teil der Kosten auf zukünftige Generationen abwälzen können. Schliesslich kann auch die Vielsprachigkeit eine wirkungsvolle Dezentralisierung behindern. In kleinen Sprachräumen gibt es oft nur einen einzigen Staat. In solchen Sprachräumen entwickelt sich leichter eine nationale Orientierung mit Überzentralisierung. Häufig ist die Zentralisierung auch historisch bedingt. Staaten, die ganze Sprachräume umfassen, sind oft in Einigungs- oder Unabhängigkeitskämpfen entstanden, die zumeist zu einer Überbetonung der nationalen Ebene führen. Auch dieser Mechanismus wird durch den wettbewerblichen deutschsprachigen und den skandinavischen Raum illustriert. Die Gemeindeautonomie ist in diesen beiden Ländergruppen deutlich höher als im Rest der EU, der aus Sprachräumen mit nur einem oder zwei Nationalstaaten besteht. Vorteile von Zentralisierung und Dezentralisierung vereinen Wie kann die EU vor diesen Hintergründen die eingangs erwähnten Ziele erreichen? Unabdingbar ist, dass sie Institutionen schafft und entstehen lässt, die die Vorteile von Zentralisierung und Dezentralisierung vereinen. Zum einen bedürfen Entscheidungsträger auf EU-Ebene wirkungsvoller Anreize, gute Lösungen für die EU insgesamt zu entwickeln. Zum anderen braucht es echte lokale Autonomie. Doch wie geht zusammen, was sich vordergründig zu widersprechen scheint? Wir präsentieren nachfolgend einen Katalog von konkreten Massnahmen, die uns geeignet scheinen, diese scheinbar widerstrebenden Kräfte positiv zu bündeln. Stärkere zentrale Institutionen Eine Stärkung der Union ist nur zu erreichen, wenn die wichtigsten Entscheidungen auf EU-Ebene von volksgewählten Ent62

scheidungsträgern vorbereitet, getroffen und umgesetzt werden. Dazu sollte aber keinesfalls ein System wie in den USA mit einem einzelnen starken nationalen Entscheidungsträger, dem Präsidenten, eingeführt werden. Denn er würde den gleichen Kontrollillusionen und Machtverführungen wie manche US-Präsidenten zu erliegen drohen. Deshalb müsste er auch gleich wie sie durch vielerlei «checks and balances» kontrolliert werden, die allzu oft zu Politikblockaden führen. Die bessere Lösung besteht darin, dass die wichtigsten Entscheidungen durch mehrere Personen getroffen werden, die alle auf EU-Ebene in einem Wahlkreis im Majorzverfahren volksgewählt werden. Dieses Entscheidungsgremium hätte eine gewisse Verwandtschaft mit einem volksgewählten Bundesrat oder den heutigen Kantonsregierungen. Das Majorzverfahren führt dazu, dass die Politiker mehrheitsfähige Positionen vertreten müssen.2 Da kein einzelnes Land der EU mehr als 17 Prozent der Wähler stellt, könnten solche Politiker keine nationalen Positionen vertreten, sondern müssten möglichst in der ganzen EU Stimmen sammeln und damit möglichst eine für die Bürger aller Länder gute Politik verfolgen. Die Vielsprachigkeit steht Wahlen in einem gesamteuropäischen Wahlkreis keinesfalls entgegen. Weil kein Politiker alle Sprachen der EU beherrscht, würden sie den Wahlkampf nicht alleine, sondern mit Unterstützung von Spezialisten für die einzelnen Länder/Sprachen führen. Dank den sprachlichen Barrieren müssten Spitzenpolitiker weniger durch schöne Reden als durch konkrete Politik glänzen. Die Stärkung der zentralen Institutionen müsste allerdings durch Mechanismen begleitet werden, die die mit ihnen einhergehenden Gefahren bannen. Hinsichtlich der Fiskalpolitik wären strikte Schuldenbremsen zu etablieren. Entscheide, die eine Zentralisierung von neuen Entscheidungskompetenzen bewirken, müssten dem Volk in bindenden Abstimmungen ohne Beteiligungsquoren vorgelegt werden. Daneben sollte das Volk auch auf EU-Ebene die Möglichkeit erhalten, die Politik und insbesondere die Institutionen aktiv durch Volksinitiativen mitzugestalten.

Echte Dezentralisierung Die EU kommt nicht umhin, in den einzelnen Mitgliedsländern eine wirksame Dezentralisierung durchzusetzen, um Gemeinden und Regionen zu stärken. Die Gemeinden und Regionen bedürfen für die effiziente Bereitstellung von lokalen und regionalen öffentlichen Leistungen echter Besteuerungs- und Ausgabekompetenzen. Die Dezentralisierung muss dabei nicht symmetrisch sein, sondern kann asymmetrisch sein und einzelnen Gebietskörperschaften mehr Autonomie als anderen geben. Wenn alle Gebietskörperschaften das gleiche Ausmass an Autonomie haben müssen, droht die notwendige Dezentralisierung verschleppt zu werden, weil es immer einzelne Körperschaften gibt, die von der neu zu schaffenden Autonomie überfordert zu werden drohen. Illustrativ für den Erfolg asymmetrischer Dezentralisierung ist Spanien, das zahlreiche Kompetenzen in grösserem Ausmass dezentralisiert hat und wo die Regionen mit besonders grosser Autonomie – insbesondere das Baskenland oder Navarra – heute weit besser dastehen als die stärker von Madrid abhängigen Regionen. Wirksamer politischer Wettbewerb auf allen Ebenen In allen Bereichen der Politik – auf Ebene der EU, der Nationalstaaten, der Re­ gionen und Gemeinden – sollte der politische Wettbewerb mit drei Massnahmen gestärkt werden. 1. Die Bürger müssen mehr Einfluss bekommen. Die gegen mehr direkte Demokratie regelmässig vorgebrachten Argumente sind hinfällig. Das zeigt nicht nur die wissenschaftliche Literatur zur direkten Demokratie. Illustrativ für die Chancen und Möglichkeiten der Stärkung der direkten Demokratie sind die deutschen Bundesländer Bayern sowie Hamburg, wo seit 1995 die direkte Demokratie auf lokaler Ebene mit grossem Erfolg massiv gestärkt wurde. Keine der Befürchtungen der Gegner von mehr direkter Demokratie hat sich dort bewahrheitet. 2. Zwischen der Regierung (oder Par­ lamentsmehrheit) und konkurrierenden Entscheidungsgremien muss Wettbewerb


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geschaffen werden. Dafür sind im Majorzverfahren volksgewählte Kritik- und Kontrollgremien nötig, die alle Vorschläge der Regierungen kritisieren und kontrollieren können und im Parlament oder noch besser direkt dem Volk konkrete Alternativvorschläge vorlegen können. Solche Kritik- und Kontrollgremien existieren in jeder Schweizer Gemeinde mit Gemeindeversammlung in der Form von Rechnungsprüfungs- oder Geschäftsprüfungskommissionen. Sie können nicht nur – wie etwa der deutsche Bundesrechnungshof oder der EU-Rechnungshof – vor allem die gesetzestreue Mittelverwendung prüfen und im nachhinein über die Politik schimpfen, sondern im vornhinein – also vor den Entscheidungen – die Politikalternativen evaluieren und kritisieren. Unsere Forschung dazu zeigt, dass starke Rechnungsprüfungskommissionen einen äusserst fruchtbaren Einfluss auf die Qualität der Finanzpolitik haben.3 Diese Gremien haben auch ganz andere Anreize als Oppositionsparteien. Während letztere selbst an die Regierungsmacht wollen und deshalb immer versuchen, die Politik der Regierung möglichst zu torpedieren und zu blockieren, wollen die Mitglieder von Rechnungsprüfungskommissionen zumeist als Kommissionsmitglied wiedergewählt werden. Deshalb erarbeiten sie konstruktive Vorschläge zur Verbesserung der Regierungspolitik. 3. Der repräsentativ-demokratische Wettbewerb muss gestärkt werden. Dafür sollte ein «Markt für gute Politik» geschaffen werden, in dem die Wohnsitzvorschriften für Kandidaten bei Wahlen aufgehoben werden. Heute dürfen in fast allen Ländern für die politischen Ämter auf lokaler und regionaler Ebene nur Politiker kandidieren, die in der betreffenden Gebietskörperschaft Wohnsitz haben – die grosse Ausnahme sind Bürgermeister in Deutschland und insbesondere Baden-Württemberg. Durch diese Vorschrift werden die lokalen Politiker vor Wettbewerb von auswärtigen geschützt und ihre Anreize geschwächt, eine gute Politik zu betreiben.4 Solange Politiker nicht leicht in andere Gebietskörperschaften wechseln können, haben sie Anreize, eine Politik zu betreiben, die eher ihren eigenen Zielen dient. Sie werden also mög-

lichst das Budget erhöhen, die Steuern nicht senken, keine direkte Demokratie einführen und keine Aufgaben dezentralisieren. Wenn Politiker hingegen in andere Gebietskörperschaften wechseln können, erhalten sie bessere Anreize, eine Politik zu betreiben, die der Bevölkerung nützt. Denn dank ihrer erworbenen Reputation aus kleineren Gemeinden oder Regionen können sie in andere, grössere Gebietskörperschaften wechseln und leiden dann nicht mehr unter ihren bürgerfreundlichen, aber «politikerfeindlichen» Reformen. Wettbewerb zwischen EU und Alternativen stärken Der Wettbewerb mit den nichteuropäischen EU-Ländern setzt Anreize, die die Entscheidungsträger auf EU-Ebene dazu anspornen, eine bürgerorientierte Politik zu betreiben. Die EU und ihre Mitgliedsländer profitieren auf vielfältige Weise von den Aussenseitern: Diese können oft leichter mit neuen Konzepten experimentieren, was Lernmöglichkeiten eröffnet. So haben schon viele Politikideen aus der Schweiz, wie die Einführung von Schuldenbremsen, ihren Weg in EU-Länder gefunden. Die EU sollte deshalb Aussenseiter nicht diskriminieren, sondern fördern. Gleichzeitig ist es wichtig, dass auch der Austritt aus der EU möglich ist. Oft können Konflikte viel besser gelöst werden, wenn ein Austritt wenigstens denkbar ist. Eine Austrittsdrohung ist ein wichtiges Instrument zur Verhinderung von Entscheidungen, die einzelnen Ländern grosse Kosten auferlegen. Damit ein Austritt aus der EU ohne grosse Kosten möglich ist, ist es nötig, potentiellen Aussteigern konkrete Alternativen anzubieten. So könnte jedem bestehenden EU-Mitglied garantiert werden, dass

es auf Antrag in den EWR übertreten kann oder bei einem Austritt automatisch gewisse neue vertragliche Bindungen mit der EU wie etwa Freihandelsabkommen eingehen kann. Einheitlichere Ergebnisse und Wohlstand Gute Politik entsteht durch gute Institutionen. Diesbezüglich besteht auf allen Ebenen Europas Handlungsbedarf. Dabei sollte die EU keinesfalls die Institutionen der USA als Vorbild nehmen. Denn mit den Institutionen der USA wären auch die Leiden der USA verbunden. Vielmehr braucht die EU eine neue raffinierte Mischung aus einer Stärkung der zentralen Entscheidungsträger bei gleichzeitiger massiver Dezentralisierung mit echter lokaler Autonomie. Uns schwebt ein flexibler politischer Raum vor, in dem «best practice»-Institutionen etabliert werden und in dem die Regionen ihre eigenen Institutionen weiterentwickeln können. Insbesondere derzeit schlecht dastehende Länder könnten durch Dezentralisierung viel gewinnen und von erfolgreichen Beispielen lernen. Dies würde über längere Sicht zu einheitlicheren Ergebnissen und Wohlstand führen, da jeweils die erfolgreichen Beispiele übernommen würden. Unterschiede zwischen den Regionen innerhalb der EU würden dadurch verkleinert und die bestehenden Zentrifugalkräfte würden eingedämmt. Gleichzeitig kann eine sorgfältige Machtteilung und direkte Volkswahl der Entscheidungsträger auf EU-Ebene verhindern, dass sich die EU wie andere «Weltmächte» gebärdet. Wird parallel dazu der politische Wettbewerb auf allen Ebenen gestärkt, schafft dies für die Entscheidungsträger Anreize, eine Politik im Sinne der Bürger zu betreiben und die politischen Institutionen im diskutierten Sinne weiterzuentwickeln. �

1 Reiner Eichenberger und David Stadelmann: Wenn Staatsschulden nicht auf die Zukunft überwälzbar sind. In: Neue Zürcher Zeitung, 23.1.2013, S. 28 (verfügbar auch auf www.oekonomenstimme.org). Reiner Eichenberger und David Stadelmann: How Federalism Protects Future Generations from Today's Public Debts. In: Review of Law & Economics 6 (3), Dezember 2010, S. 395–420. 2 David Stadelmann, Marco Portmann und Reiner Eichenberger: Preference Representation and the Influence of Political Parties in Majoritarian vs. Proportional Systems: An Almost Ideal Empirical Test. CREMA Working Paper Series, WP 2012-03, Center for Research in Economics, Management, and the Arts (CREMA), 2012. 3 Mark Schelker und Reiner Eichenberger: Auditors and fiscal policy: Empirical evidence on a little big institution. In: Journal of Comparative Economics 38 (4), Dezember 2010, S. 357–380. 4 Reiner Eichenberger und Michael Funk: The deregulation of the political process. Towards and international market for good politics. In: Geoffrey Brennan und Giuseppe Eusepi (Hg.): The Economics of Ethics and the Ethics of Economics. Values, Markets, and the State. Cheltenham: Edward Elgar, 2009. Reiner Eichenberger und Michael Funk: Wider den politischen Heimatschutz. In: Schweizer Monat 993, Februar 2012, S. 22–25.

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Experimentierfreudiges Europa

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Der starre Nationalstaat in der heutigen Form kann in einer vernetzten Welt immer mehr Probleme nicht mehr lösen. Europa hat das Zeug, sich als Experimentierfeld neuer dynamischer politischer Einheiten zu bewähren. Dafür braucht es freilich Mut – und eine Abkehr von etablierten Institutionen. von Bruno S. Frey

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ie europäische Einigung baut auf territorialen Nationalstaaten auf – diese Feststellung ist offensichtlich und wird gemeinhin als selbstverständlich betrachtet. So hat der Präsident der Kommission der Europäischen Union (EU), José Manuel Barroso, jüngst einen «Plan für eine Föderation von Nationalstaaten» vorgelegt. 1 Ähnlich schlägt die «Zukunftsgruppe» der Aussenminister von EU-Staaten in ihrem Bericht vom September 2012 eine Weiterentwicklung bzw. Stärkung der EU im Rahmen der bestehenden Nationalstaaten vor.2 Die EU – ein neuer, echter Staatenbund? Ich möchte in meinem Beitrag auf eine andere, bisher kaum bedachte und fruchtbarere Möglichkeit eines zukünftigen Europas hinweisen. Fruchtbarer deshalb, weil

Die europäische Einigung muss von den zu lösenden Problemen ausgehen.

sie der Vielfalt und der Freiheit wesentlich besser entspricht. Und kaum bedacht, weil sie sich ausserhalb der Modelle bewegt, die in Brüssel, Frankfurt, Paris und London diskutiert werden. Meine Vorschläge lassen sich in drei Thesen zusammenfassen: 3 1. Die Nationalstaaten bestimmen zwar weiterhin den europäischen Einigungs­ prozess, doch bedürfen sie der Flexibilisierung. 64

2. Die Einigung muss von den zu lösenden Aufgaben ausgehen, weil sich viele anstehende Probleme nicht mehr im Rahmen reiner Nationalstaaten lösen lassen; die künftigen politischen Einheiten müssen sich neu entsprechend bilden. Ich nenne sie Endogene Politische Einheiten (EPE). 3. Diese neuen Einheiten können schrittweise eingeführt werden. Politik vollzieht sich im Rahmen eines flexiblen und dynamischen Netzes, das der Vielfalt Europas gerecht wird. Welchen Zweck hat die europäische Einigung? In der Entwicklung hin zur heutigen EU lassen sich zwei Stränge unterscheiden: zum einen das politisch orientierte Friedensprojekt und zum anderen das wirtschaftlich orientierte Freihandelsprojekt. Im Europa des Jahres 2013 stellt sich ernsthaft die Frage, ob die heutigen Institutionen diese Zwecke künftig erfüllen können. Frieden in Europa Die Konzeption der Nationalstaaten hat im 19. Jahrhundert erhebliche Fortschritte gebracht. Besonders wegweisend ist die Idee der Verfassung als grundlegendes staatliches Konzept, an die sich die drei staatlichen Gewalten (Parlament, Exekutive und Judikative), nichtstaatliche Organisationen und die Einwohner zu halten haben. Damit einher geht der Rechtsstaat und die Gewaltenteilung, die durch checks and balances die Freiheit der Bürger schützen. Im 20. Jahrhundert haben jedoch die Nationalstaaten zu Katastrophen in Form zweier Weltkriege geführt. Im Ersten Welt-

Bruno S. Frey ist Distinguished Professor of Behavioural Science an der University of Warwick und Forschungsdirektor von CREMA (Center for Research in Economics, Management, and the Arts) sowie Professor an der Zeppelin-Universität Friedrichshafen.

krieg sind rund 10 Millionen Soldaten gefallen, davon in Deutschland 2 Millionen, in Österreich-Ungarn 1,5 Millionen und in Frankreich 1,3 Millionen. Daneben ist eine riesige Zahl von Zivilpersonen zu Tode gekommen. Der Zweite Weltkrieg hat gemäss Schätzungen bis zu 60 Millionen Leben gekostet. In Europa haben weitsichtige Staatsmänner wie Robert Schumann, Jean Monnet, Alcide De Gasperi oder Luigi Einaudi ein Friedensprojekt auf den Weg gebracht, das zukünftige Kriege verhindern sollte. Sogar der Engländer Winston Churchill hat in seiner Rede vom 19. September 1946 an der Universität Zürich dazu aufgerufen («Let Europe arise!»). Unglücklicherweise hat er den Ausdruck «the United States of Europe» verwendet. Das Frankreich von Charles de Gaulle und das Deutschland von Konrad Adenauer haben die ersten Voraussetzungen für europäische Institutionen geschaffen, mit deren Hilfe Friede zwischen den Nationalstaaten gesichert werden sollte. Die beiden grossen Staatsmänner waren insofern Kinder ihrer Zeit, als sie wie selbstverständlich von der Nation als handelnder Einheit ausgingen. In bezug auf das politisch orientierte Friedensprojekt ist auf drei wichtige Probleme hinzuweisen:


Bruno S. Frey, photographiert von Philipp Baer.

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– Gemeinhin nehmen die EU und ihre Vorläufer für sich in Anspruch, den Frieden zumindest im Kern Europas bewahrt zu haben. Das mag sein, jedoch lässt sich ebenso gut argumentieren, dass der europäische Einigungsprozess nur möglich war, weil Frankreich und Deutschland Frieden geschlossen haben. – Die europäischen Institutionen haben keinen merklichen Beitrag zur Lösung innerstaatlicher Konflikte geleistet, wie sie sich in Bürgerkriegen wie in Nordirland oder Spanien entluden. – Die europäischen Institutionen sind durch ein Demokratiedefizit gekennzeichnet. Die Wochenzeitschrift «The Economist» titelte vor einem Jahr etwas hämisch: «An ever deeper democracy deficit» – womit sie natürlich auf Jacques Delors’ Vorstellung einer «ever deeper Eu-

Die politischen Grenzen sollen sich endogen – also von innen nach aussen – anpassen.

ropean integration» anspielt. Die EU kann sicherlich nicht als eine politische Institution bezeichnet werden, die für das 21. Jahrhundert Vorbildlichkeit beanspruchen kann. Sie ist, wie Max Haller anmerkte, ein eindeutiges Elitenprojekt, an dessen Teilnahme die Bürger weitgehend ausgeschlossen sind, 4 und es werden keinerlei Neuerungen eingeführt, die der heutigen Kommunikationstechnologie, etwa Volksabstimmungen mittels Internets, entsprechen. Das politische Einigungsprojekt ist somit etwas weniger glanzvoll, als es auf den ersten Blick erscheint. Freihandel in Europa Das zweite europäische Projekt ist wirtschaftlicher Natur und kann ebenfalls als grosse Leistung bezeichnet werden. Die Schaffung des gemeinsamen Marktes hat Handelshemmnisse zwischen den Natio66

nalstaaten wesentlich abgebaut und teilweise sogar völlig beseitigt. Dieser Fortschritt wurde jedoch mit hohen Kosten erkauft, die in dreierlei Weise anfallen: – Die europäische Bürokratie in Brüssel hat eine kaum mehr überschaubare Zahl von Regulierungen und Direktiven erlassen. Der britische Think Tank «Open Europe» berechnet, dass die seit 1957 erlassenen Rechtsnormen 667 000 Seiten umfassen. Heute gelten davon 170 000 Seiten, wovon 100 000 Seiten in den letzten zehn Jahren entstanden. Werden die Seiten des heute bestehenden Acquis communautaire aufeinandergeschichtet, ergibt sich ein Stoss von 44 Metern, also beinahe der Höhe der Nelson-Säule auf dem Trafalgar Square. – Harmonisierung und damit Uniformierung hat in vielen Bereichen der Wirtschaft den Wettbewerb ersetzt.5 Vor einer derartigen Zentralisierung Europas hat schon der deutsche Ökonom Wilhelm Röpke ausdrücklich gewarnt. – Anstelle flexibler Angebote für neue Beitrittsländer wird nach dem rigiden Prinzip von «ganz oder gar nicht» die vollständige Übernahme des Acquis communautaire verlangt – als wären die darin enthaltenen Vorschriften das einzig Richtige. Ein weiterer Punkt kommt hinzu, der damit nur indirekt zusammenhängt. Die monetäre Einigung sollte den Handel unter EU-Staaten erleichtern. Mit der wirtschaftlich alles andere als zwingenden, wohl aber politisch gewollten Einführung des Euro sind scharfe Konflikte aufgetreten. Sie haben manche Kommentatoren veranlasst, von einem «Europa des Unfriedens» statt von einem «Europa des Friedens» zu sprechen – durchaus zu Recht. Es wäre eine Ironie der Geschichte, wenn der Euro den Handel unter EU-Staaten am Ende erschweren würde. Endogene Politische Einheiten (EPE) Gegenüber den heutigen Institutionen der EU lässt sich ein ganz anderes Europa denken: ein Europa, das der vielfachen kulturellen, politischen und wirtschaftlichen Diversität Raum gibt und sie fördert statt hemmt. Dazu sind – wie bereits angedeutet

– neuartige politische Einheiten notwendig, die sich an den zu lösenden Problemen orientieren. Am Anfang steht der Zweck – und nicht gegebene politische Grenzen. Dies führt zu einer neuen Art von Zusammenschlüssen, die dem europäischen Ideal gerechter werden als der eingeschlagene Weg. Es ist sinnvoll, zuerst die zu bewältigenden Probleme zu identifizieren und anschliessend dafür geeignete politische Einheiten zu schaffen. Somit wird hier vorgeschlagen, den heute üblichen Weg – Behandlung der Aufgaben innerhalb der bestehenden nationalen Grenzen – umzukehren: Die politischen Grenzen sollen sich endogen – also von innen nach aussen – anpassen, damit die bestehenden Aufgaben möglichst effektiv gelöst werden können. Je nach Problem können diese Einheiten grösser oder kleiner als die bestehenden Nationalstaaten sein. Nur zufällig hat eine bestehende Nation gerade die für die notwendige Aufgabe geeignete territoriale Ausdehnung. Diese Endogenen Politischen Einheiten (EPE) unterscheiden sich auch von den europäischen Regionen, weil deren Grenzen weitgehend durch historische Zufälligkeiten bestimmt sind. Die Politische Ökonomie lehrt uns, dass möglichst lokale politische Entscheidungen von Vorteil sind, weil nur dann ein genügender Anreiz besteht, die Nutzen und Kosten unterschiedlicher Lösungen zu berücksichtigen. Die Bevölkerung engagiert sich politisch umso mehr und umso kompetenter, je vertrauter ihr die zur Entscheidung anstehenden Probleme sind. Ein Entscheid über die Organisation der lokalen Abfallentsorgung fällt leichter als über ein allgemein geltendes Gesetz zu gentechnisch veränderten Pflanzen. Die neu entstehenden EPE sollen eine derartige räumliche Ausdehnung aufweisen, dass sie die Gesamtkosten aus Spillover-Effekten und Entscheidungskosten minimieren. Die EPE sind also durch drei Eigenschaften geprägt: Sie gehen von existierenden Problemen aus (endogen), dienen den betroffenen Bürgern (politisch) und bilden Zweckverbände (Einheiten).


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«Endogenität» – Einheiten sollen aufgrund der zu lösenden Probleme entstehen und sich nicht nach den bestehenden historischen Grenzen politischer Körperschaften richten. – Sie sollen von unten angeregt und organisiert werden und nicht von oben aufoktroyiert werden. – Je nach Aufgabe können diese Politischen Einheiten von einzelnen Personen, Teilen bestehender politischer Körperschaften (etwa Stadtbezirken), Gemeinden oder Regionen gebildet werden. «Politisch» – In einer modernen, zukunftsgerichteten Welt müssen die EPE demokratisch organisiert und legitimiert sein. Dabei können die Betroffenen nicht nur abstimmen, indem sie in herkömmlicher Weise zu den Urnen schreiten oder postalisch ihren Willen bekunden, es müssen auch die Möglichkeiten des elektronischen Wählens und Abstimmens genutzt werden. Empirische Untersuchungen belegen, dass Bürger sich wegen des geringeren Aufwands besser informieren und vermehrt in politischen Angelegenheiten engagieren. – Politisch beziehen sich die EPE nicht notwendigerweise auf eine staatliche Organisation. So sind beispielsweise die Chinesen in ganz Asien und zunehmend auch in Europa ansässig und bilden infolge ihrer Sprache, Kultur und Handlungsweise eine Einheit, die weit über die chinesische Volksrepublik hinausgeht. Eine ähnliche Diaspora mit politischem Gewicht sind die Juden oder die Kurden. Beide lassen sich nicht auf eine bestehende politische Einheit reduzieren. «Einheiten» – Sind die Einheiten formell organisiert, können sie privat, halböffentlich oder staatlich sein. – Ein- und Austritt müssen flexibel sein, damit sich die Endogenen Politischen Einheiten an verändernde Bedingungen anpassen können. Dazu sind Regeln notwendig, die auf der Verfassungsebene, also hinter dem Schleier der Unwissenheit, festgelegt werden. Denkbar ist eine Erhe-

bung von Gebühren, wenn die austretende Einheit während ihrer Mitgliedschaft einen Kapitalzuwachs erfahren hat. Wer etwa in einer EPE sein Humankapital mit dem bestehenden Bildungsangebot aufbauen konnte, das andernorts monetär entgolten wird, sollte eine entsprechende Abgeltung leisten. Es sind auch Eintrittskosten denkbar, wenn die Eintretenden damit einen Kapitalgewinn erzielen. Die flexibel gestalteten Regeln für Ein- und Austritt führen zu einer wettbewerblichen Situation. Besonders effiziente EPE erreichen damit eine vorteilhafte finanzielle Lage. Endogene Politische Einheiten sind mitnichten nur eine theoretische Spekulation. Dies sei durch einige Beispiele illustriert: – Der durch Ab- und Anflug des Flughafens Zürich verursachte Lärm betrifft verschiedene geographische Einheiten in unterschiedlichen Schweizer Kantonen und deutschen Landkreisen. Heute wird das Problem mühsam und wenig erfolgreich auf nationaler Ebene angegangen, obwohl insbesondere die Entscheidungsträger in Berlin und Bern weit von den Problemen entfernt sind. Sinnvoll wäre eine neue politische Einheit, welche die hauptsächlich betroffenen räumlichen Gebiete umfasst und die bestehenden Landesgrenzen überschreitet. – Der Verkehr über die Alpen betrifft einige Gebiete stark, während andere Gebiete der europäischen Nationen davon wenig oder gar nicht tangiert werden. Eine neu zu bildende politische Einheit der massgeblich Betroffenen sollte die entstehenden Probleme angehen, wobei wiederum die nationalen Grenzen weitgehend irrelevant sind. – Auch Tourismusregionen überschreiten häufig die existierenden politischen Körperschaften. So sind am Fremdenverkehr im Bodenseeraum geographische Gebiete in drei unterschiedlichen Ländern und vielen verschiedenen Kantonen, Landkreisen bzw. Bundesländern beteiligt. Auch dafür sollte eine EPE geschaffen werden, damit die entsprechenden Aufgaben erfolgversprechend angegangen werden können.

– Die gegenwärtig (noch) eine Aufnahme in die EU anstrebende Türkei könnte in verschiedenste EPE glaubwürdig und als volles Mitglied eintreten, insbesondere im wirtschaftlichen Bereich. Weder die EU noch die Türkei müssten einen unbefriedigenden Kompromiss zu Aspekten eingehen, zu denen grundsätzlich unterschiedliche Auffassungen bestehen. Eine vollständige Übernahme des Acquis communautaire entfällt. Ein ähnliches Vorgehen ist mit den nordafrikanischen Ländern Marokko, Tunesien, Algerien und Libyen möglich. In mancherlei Hinsicht entsprechen ihre kulturellen Normen und politischen Institutionen nicht den Vorstellungen der europäischen Länder. Eine engere Verbindung zu Europa ist jedoch erwünscht. – Das Konzept der EPE ermöglicht es, auch den Wünschen einiger Teile von National-

Endogene Politische Einheiten sind mitnichten nur eine theoretische Spekulation.

staaten wie Kataloniens, des Baskenlands, Nordirlands, Flanderns, Korsikas oder Schottlands nach mehr Souveränität entgegenzukommen und somit die Gefahr weiterer terroristischer Auseinandersetzungen zu mindern. Diese Körperschaften würden sich in das Netz einer Vielzahl von EPE eingliedern. Für die Konstruktion der EPE könnte von multinationalen Unternehmen gelernt werden. Sie haben manche organisatorischen Probleme, mit denen sich auch Staaten konfrontiert sehen, seit langem überwunden. Sie stellen eine Weiterentwicklung der Zweckgemeinden und Zweckverbände dar, die allerdings meist technokratisch orientiert sind, keine direkte Mitsprache der Bürgerinnen und Bürger vorsehen, bei denen jedoch Ein- und Austritt möglich sind. Die EPE sind mit verschiedenen Vorschlägen verwandt, die zur Verbesserung der staatlichen Aktivität entwickelt wur67


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den. Am nächsten stehen die Functional Overlapping and Competing Jurisdictions, die auf gemeinsame Arbeiten mit Reiner Eichenberger zurückgehen.6 Ähnliche Vorschläge sind «artificial states»7 und die von Paul Romer vorgeschlagenen «chartered cities» sowie die auch in der Schweiz etwa durch Konrad Hummler propagierten Städtestaaten, die sich über die schwerfälligen nationalen Regulierungen und Vorschriften hinwegsetzen und effizientere Regeln beschliessen können. Wesentlich weiter geht das «Seasteading», das völlig selbständige politische Einheiten in internationalen Gewässern vorsieht, die sich eine beliebige Verfassung geben und wettbewerblich handeln.8 Schrittweise Einführung der EPE Skeptiker mögen argumentieren, dass es wegen der institutionellen Verfestigung der EU müssig sei, derart abweichende Vorstellungen über die zukünftige europäische Einigung und Vertiefung vorzuschlagen. Dieses Argument sticht aus zwei Gründen nicht oder nur begrenzt. EPE können direkt an die ursprüngliche Idee und institutionelle Ausgestaltung der europäischen Einigung anknüpfen. Frankreich und Deutschland haben sich als erste auf eine problemorientierte Institution geeinigt. Weil Kriege ohne Stahl (und Kohle) undenkbar waren, wurde die Montanunion beschlossen. Sie band insbesondere die deutsche Stahlindustrie in einen europäischen Kontext, wodurch weitere Kriege zwischen den beiden Ländern verunmöglicht wurden. Auch der EuratomVertrag kann als eine aufgabenorientierte politische Einheit im Sinne der EPE aufgefasst werden. Zweitens, EPE können von der heutigen Struktur der EU ausgehend partiell eingeführt werden. Damit wird der Gedanke des «Europe à la carte» und des «Europa unterschiedlicher Geschwindigkeiten» zur erstrebenswerten Norm und nicht zu einer zu bekämpfenden Verirrung. Werden EPE auf diese Weise sukzessive eingeführt, ist es ein natürlicher Prozess, dass das Gewicht des zentralistischbürokratischen Teils der EU über die Zeit 68

abnimmt und sich ein dynamisches, wettbewerbliches Netz unterschiedlicher politischer Körperschaften entwickelt. Mit diesem schrittweisen Vorgehen brauchen die bestehenden politischen Körperschaften nicht abgeschafft zu werden; sie werden jedoch gegenüber den neu geschaffenen EPE an Bedeutung verlieren. Dabei ist immer zu überlegen, für welche politischen Probleme sie die richtige räumliche Ausdehnung aufweisen. Die EPE überwinden auch die Tendenz der durch Territorien definierten Nationalstaaten, Kriege zu führen. Empirischen Untersuchungen folgend, sind Individuen eher bereit, für ein Territorium zu kämpfen und zu sterben als für andere Formen der Identifikation.9 Je verwobener das Netz von politischen Einheiten, desto stabiler wird die Friedensordnung.

Einheiten ohne Rücksicht auf die bestehenden nationalen Grenzen zu bilden. Diese EPE sollen in Europa gesetzlich ermöglicht werden; die Initiative und ihre Bildung sollen hingegen von unten erfolgen. Damit diese Aufgaben erfolgreich angegangen werden können, müssen die Einheiten über weitgehende Finanzautonomie verfügen, d.h. die notwendigen Steuern und Ausgaben selbst bestimmen können. Eine derartige Neuausrichtung der europäischen Einigung ist unmittelbar möglich und entlastet die heutigen Nationalstaaten. EPE ermöglichen ein dynamisches Netz von politischen Einheiten, das der Vielfalt Europas entspricht. � Bei diesem Essay handelt es sich um eine überarbeitete Fassung der Rede, die am 6. Dezember 2012 anlässlich der Verleihung des Röpke-Preises für Zivilgesellschaft des Liberalen Instituts gehalten wurde.

Die Alternative ist möglich Die europäische Einigung hat mit der aufgabenorientierten Montanunion richtig angefangen. Danach wurden allerdings sowohl das Friedensprojekt als auch das Freihandelsprojekt ausschliesslich auf Ebene der Nationalstaaten vollzogen. Damit wurde eine politische Ordnung gewählt, die massgeblich für die katastrophalen Kriege in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts verantwortlich ist und ein weiteres Fortschreiten der europäischen Einigung behindert. In diesem Beitrag wird eine Alternative vorgeschlagen, die parallel zur bestehenden Ordnung entstehen kann und die heutigen Institutionen entlastet. Ausgangspunkt sollen die zu bewältigenden wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Aufgaben sein; dazu sind die geeigneten territorialen Plan für eine Föderation von Nationalstaaten. In: Neue Zürcher Zeitung, 13. September 2012, S. 5. Ein Strauss von Ideen für die Zukunft der EU. In: Neue Zürcher Zeitung, 19. September 2012, S. 4. 3 Eine Kurzfassung dieses Vorschlags ist in der FAZaS erschienen. Vgl. Bruno S. Frey: Weg mit den Nationalstaaten. In: «Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung», 25. November 2012, S. 34. 4 Max Haller: Die europäische Union als Elitenprojekt. Aus Politik und Zeitgeschichte, 23–24. Juni 2009, S. 18–23. 5 Vgl. z.B. Gerd Haberman: Noch nicht verbrüsselt. In: Schweizer Monat 995, April 2012, S. 56–57. 6 Bruno S. Frey: Ein neuer Föderalismus für Europa: Die Idee der FOCJ. Tübingen: Mohr Siebeck, 1997. Bruno S. Frey und Reiner Eichenberger: The New Democratic Federalism for Europe. Functional, Overlapping and Competing Jurisdictions. Cheltenham: Edward Elgar, 1999. 7 Alberto Alesina, William Easterly und Janina Matuszeski: Artificial States. In: Journal of the European Economic Association 9 (2), April 2011, S. 246–277. 8 Patri Friedman und Brad Taylor: Seasteading: Competitive Governments on the Ocean. In: Kyklos 65, Mai 2012, S. 218–235. 9 Vgl. z.B. John A. Vasquez: The War Puzzle Revisited. New York: Cambridge University Press, 2009. Siehe auch: Paul D. Senese und John A. Vasquez: The Steps to War: An Empirical Study. Princeton: Princeton University Press, 2008. 1

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Schweizer Monat 1007  Juni 2013  Vertiefen / Dossier

Was die Europäer gern vergessen

5

Als Flüchtling kam der Philosoph Michail Ryklin 2005 aus Russland nach Deutschland. Im Interview erklärt er, was er an Europa schätzt, wie politische Repressionsapparate funktionieren – und warum auch der müde Europäer gut daran tut, seine gesellschaftlichen Freiheiten aktiver zu verteidigen. Michael Wiederstein spricht mit Michail Ryklin

Herr Ryklin, Sie sind einer der profiliertesten Intellektuellen Russlands, im Westen bekannt als Kenner der Moskauer Politik. Für einmal will ich aber mit Ihnen über Ihre Wahlheimat reden. Über Berlin? Zwei Stufen höher: über Europa. Wir erhoffen uns von Ihnen eine Aussensicht auf den Kontinent. Deshalb zunächst: Wieso sind Sie eigentlich in Deutschland gelandet? Nun, ganz verlassen habe ich Russland ja nicht. Genau genommen pendle ich zwischen Berlin und Moskau, verbringe aber – so weit richtig – mehr Zeit in Berlin. Die Beweggründe für meine Emigration sind politischer Natur: Meine Frau, die Dichterin und Regimekritikerin Anna Michal-

Sehen Sie: in Europa können Sie politische Missstände anprangern.

tschuk, nahm im Jahr 2003 als Künstlerin an der Ausstellung «Achtung: Religion» teil. Das hat sie zur politisch Verfolgten gemacht, für die ein Leben in Russland gefährlich wurde. Die Ausstellung fand im Sacharow-Zentrum in Moskau statt und widmete sich zeitgenössischer Kunst. Unter anderem dort zu sehen: die Darstellung von Christus auf dem Werbeposter für Coca-Cola oder

ein Ölgemälde mit drei auf dem Hakenkreuz, dem christlichen Kreuz und dem Sowjetstern gekreuzigten Figuren. Die Ausstellung wurde am 14. Januar 2003 eröffnet und schon vier Tage später von militanten orthodoxen Christen verwüstet. Richtig. Entgegen den Annahmen der Teilnehmer kam es daraufhin nicht zu einem ordentlichen Prozess gegen die Randalierer, sondern zu Ermittlungen gegen die ausstellenden Künstler aus den verschiedensten Ländern, denen man Anstiftung zum Aufruhr und manch anderes vorwarf. Und das, obwohl alle künstlerischen Aktivitäten zuvor bewilligt worden waren. Meiner Frau wurde wegen «Schürens von religiöser Zwietracht» dann tatsächlich der Prozess gemacht. Keiner weiss bis heute, wieso gerade sie auf der Anklagebank sitzen musste. Mehr als eineinhalb Jahre lang, bis zum Frühjahr 2005, dauerte der Prozess. Ihre Frau wurde in allen Punkten freigesprochen. Ja. Die anderthalb Jahre waren eine Tortur für mich und meine Frau, es war aber auch eine Zäsur in der jüngeren Geschichte Russlands. Damals wurde erstmals offenbar: Wer in Putins Russland öffentlich Kritik am Regime äussert, wird öffentlich blossgestellt. Meine Frau musste damals freigesprochen werden, man konnte ihr schlicht nichts Gesetzeswidriges nachweisen. Eine peinliche Angelegenheit für Moskau, ein ernster Grund für meine Frau und mich, das Land schnellstmöglich zu verlassen – ja zu fliehen (Anm. d. Redaktion: s. Kasten auf S. 70). Sehen Sie: in Europa können Sie politische Missstände anprangern. In jedem

Michail Ryklin ist russischer Philosophieprofessor und Autor, ausserdem Korrespondent der europäischen Kulturzeitschrift «Lettre International». Seit 1997 leitet er den Fachbereich «Philosophische Anthropologie» an der Akademie der Wissenschaften in Moskau und veröffentlichte u.a.: «Kommunismus als Religion. Die Intellektuellen und die Oktoberrevolution» (2008). Ryklin lebt in Moskau und Berlin. Michael Wiederstein ist Kulturredaktor des «Schweizer Monats».

EU-Land fühlen Sie sich als kritischer Geist deshalb sicherer als in Russland. Und vor allem: in den EU-Ländern sind Legislative, Judikative und Exekutive getrennt – in Russland gibt es das heute nicht mehr. Russische Gerichte sind nicht unabhängig! Ihre Entscheidungen kommen unter Druck von oben zustande, von Seiten der Politik, von Putin – ebenso die Handlungen der Polizei. Wenn friedlich Protestierende verprügelt werden, so nicht deshalb, weil sich Polizisten auch gern einmal abreagieren, sondern weil ein Befehl vorliegt. Ein Befehl von wem? Es gibt eine Nulltoleranzpolitik seitens der Putin-Regierung: Seit Putins Wahl im Jahr 2000 kann jeder, der in Russland politisch nicht mit der Regierung einig ist und das offen sagt, sicher sein, dass er dafür bestraft wird – unter Jelzin war Russland deutlich freier. Putin hat die Gesetze geändert, die Meinungsfreiheit eingeschränkt: Heute ist Protest in Russland fast nicht mehr möglich. Nach den gefälschten Wahlen 2011 gingen Hunderttausende auf die Strasse – und etliche von ihnen wurden am 6. Mai 2012 unter 69


Vertiefen / Dossier  Schweizer Monat 1007  Juni 2013

den Augen der ganzen Welt verprügelt. Noch heute sitzen Dutzende von politischen Gegnern Putins in Haft, nur weil sie im letzten Jahr an einer Demonstration in Moskau teilgenommen haben. Hier haben wir es mit einem Rückschritt zu tun, einer Beschneidung essentieller bürgerlicher Freiheiten und Sicherheiten. Letztlich ist das der Grund, wieso ich die EU diesem Russland vorziehe: der Rechtsstaat wurde hier nicht so häufig mit Füssen getreten. Die Liste liesse sich aber beliebig fortsetzen: Pressefreiheit, Versammlungsfreiheit... das ist in Russland alles konsequent unter Beschuss. In der EU nicht. Einspruch! Im Januar 2013 wurde seitens einer von der EU-Kommission eingesetzten Beratergruppe angeregt, allen EU-Staaten «unabhängige» Medienräte vorzuschreiben, die bei «minderwertiger» Berichterstattung Strafzahlungen verhängen, Gegendarstellungen erzwingen oder Medien die Zulassung entziehen können. Das ist nichts anderes als Zensur durch die Hintertür. Es mehren sich die Stimmen, die mit

Blick auf Brüssel deshalb polemisch von einer «EUdSSR» sprechen. (seufzt) Wer von EUdSSR spricht, hat mit grosser Wahrscheinlichkeit nie in der UdSSR gelebt. Das ist Polemik, die sich aus Ignoranz speist – obschon ich derartige Zensurbestrebungen für absurd halte. Auch die politische Zentralisierung bereitet mir Sorgen. Es gibt ja diesen Traum des vereinten, nein: des vereinheitlichten, des einheitlichen Europas. Der ist so alt wie nachvollziehbar, da der Kontinent im letzten Jahrhundert ein Spielball der unterschiedlichsten Ideologien war, was in Kriegen und Terror der Nationalstaaten gegeneinander gemündet ist. Aber dieser Traum wird und muss auch auf absehbare Zeit einer bleiben. Warum? Die Unterschiede zwischen den einzelnen Ländern existieren nun einmal, es sind in erster Linie Mentalitäts- und Kulturunterschiede, die sich politisch nicht innerhalb kurzer Zeit ändern lassen. Gerade sehen wir doch, was passiert, wenn man glaubt,

man könne alle diese Länder mit gleicher Elle messen. Sie meinen den Euro und den Versuch, über eine einheitliche Währung politische Einigkeit zu erzeugen? Ja, zunächst den Euro, dessen ganzes Konzept von politischer Naivität zeugt. Diese Naivität zeitigt nun ihre Folgen: Die Deutschen müssen einsehen, dass sie die kulturellen, wirtschaftlichen und damit letztlich auch religiösen Unterschiede zu Südeuropa unterschätzt haben, man sie also nicht einfach «abschalten» oder «umpolen» kann, die Mentalitäten der Südeuropäer. Letztere müssen derweil auf die harte Tour lernen, dass ihr eigener, über Jahrhunderte gepflegter Umgang mit Geld im gleichen Boot mit Deutschland einfach nicht mehr möglich ist: Einzelne Länder können im Euroraum nicht mehr im Alleingang abwerten. Die Währungsunion führte letztlich also zu einem finanzpolitischen Freiheitsverlust aller, das ist die Kehrseite der EuroMedaille, die man lange versteckt hielt. Und: es ist unredlich, diesen Freiheitsver-

Das Gespräch mit Michail Ryklin

D

er Herr am anderen Ende der Leitung Zürich–Berlin

Politik auseinandersetzte, hat 2007 das Land verlassen,

kommt immer mehr in Fahrt, je länger man sich

nachdem sie sich aus politischen Gründen verfolgt sah.

mit ihm unterhält. Michail Ryklin, einer der be-

Nur wenige Monate nach ihrer Emigration – am 10. April

kanntesten zeitgenössischen Philosophen Russlands, be-

2008 – wurde sie tot in einer Berliner Spree-Schleuse ge-

schäftigt sich seit Jahrzehnten mit dem «intellektuellen

funden. In den Taschen ihrer Jacke steckten schwere

Austausch» zwischen seiner Heimat und Europa, vornehm-

Steine, ihre Leiche wies eine Kehlkopfverletzung und

lich auch mit den Nachwirkungen der grossen Ideologien

fleckige Hautverfärbungen am Hals auf. War es Selbst-

hier wie dort. Wenn er die mannigfachen Verflechtungen

mord? Was es politischer Mord? Das ist bis heute unge-

philosophischer Denkschulen über Jahrhunderte hinweg

klärt. «Wegen Streitigkeiten zwischen Polizei und Ge-

skizziert, erweckt er den Eindruck, in Europas Geschichte

richtsmedizin konnte die Todesursache damals nicht

daheim zu sein. Die Gegenwart kennt er aber ebenso gut: In

ermittelt werden», sagt Ryklin, immer noch hörbar betrof-

Russland, so berichtet er besorgt, sei jüngst ein regelrechter

fen. Ernüchtert von den Reibereien zwischen Gerichtsme-

Stalin-Kult entstanden, der von der Politik fleissig bedient

dizin und Polizei recherchierte Michail Ryklin selbst – und

werde. Und wer die vielerorts drastischen Beschneidungen

schrieb jüngst ein Buch darüber, das voraussichtlich Ende

bürgerlicher Rechte kritisiere, werde verfolgt. Verfolgt, wie

des Jahres bei Suhrkamp erscheinen wird. Dass jemand,

sich das Europäer nicht (mehr) vorstellen können oder wol-

der politische Verfolgung am eigenen Leib zu spüren be-

len. Ein Opfer dieser Verfolgung wurde Ryklins Frau Anna

kam, über EU-kritische Termini wie «EUdSSR» nur den

Michaltschuk. Die russische Künstlerin und Lyrikerin, die

Kopf schütteln kann, erinnert den Europäer an seine nach

sich stets kritisch und in aller Öffentlichkeit mit Putins

wie vor glückliche Situation in Sachen Freiheitsrechte –

Russland und dem Einfluss der orthodoxen Kirche auf die

und regt zu deren Nutzung an. (MW)

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Schweizer Monat 1007  Juni 2013  Vertiefen / Dossier

lust im Sinne eines europäischen Traumes einfach zu bagatellisieren. Im Grund ähnelt die Situation in der EU derjenigen Deutschlands nach 1990. Damals herrschte grosser Wiedervereinigungsrummel… …eine richtige Euphorie! Aus zwei Deutschlands wurde wieder eines. Zumindest auf dem Papier – denn die Kulturen sind weiterhin unterschiedliche, und die Ressentiments sind auch über 20 Jahre nach der Einheit noch sehr lebendig. Man hätte daraus lernen können – für die EU. Was halten Sie also von folgender Aussage, die man in Europa jüngst häufiger aus politisch unterschiedlich gefärbten Mündern hörte: «Wer den Euro in Frage stellt, stellt die europäische Einigung in Frage.» Das ist meines Erachtens offensichtlich falsch. Die europäische Einigung existiert nicht erst seit dem Euro, auch nicht seit der EU, ebenso wenig seit irgendeiner Vorgängerorganisation. Die europäische Einigung ist ein jahrhundertealter Prozess, der mal schneller und mal langsamer verlief. Lesen Sie den «Casanova», lesen Sie Kant, lesen Sie Hegel. Alle drei waren in den verschiedensten Ländern Europas in ihren Zeiten massgeblich, weil sie den Menschen auch jenseits ihres Entstehungslandes etwas sagten. Kant und Hegel haben sogar die Philosophen im Russland des 19. Jahrhunderts beeinflusst – wir haben also im weitesten Sinne alle einen gemeinsamen Kulturraum, der nicht mehr politisch hergestellt werden muss. Und nur, weil Schweden sich nicht für den Euro entschied – man stimmte während meines Aufenthalts dort im Jahr 2003 auch dagegen (lacht) –, heisst das doch nicht, dass die Schweden keine Europäer sind. Das wäre eine verkürzte politische Sicht. Europa ist viel mehr als der Euro – Europa ist Kultur, ist Vielfalt, ist eine geistige Tradition! Ebenso oft gehört, jüngst etwas lauter, die nächste Phrase: «Die EU ist ein Friedensprojekt.» Was sagen Sie dazu? Das ist ein komischer Satz. Ich weiss nicht genau, was damit gemeint ist.

Frieden herrscht da, wo man einen freundlichen Umgang miteinander pflegt. In Griechenland wird Angela Merkel neuerdings in SS-Uniform gezeigt, es werden deutsche Flaggen verbrannt – und in vielen EU-Ländern feiern radikale, auch ausländerfeindliche Parteien Wahlsieg um Wahlsieg. Nun ja, Vorurteile und Animositäten hat es zwischen den Ländern schon immer gegeben. Ob sie nun in der EU sind oder nicht: es gibt Ressentiments, die anlässlich einzelner politisch brisanter Gemengelagen auch leidenschaftlichere Formen annehmen können. Allein, Proteste, auch dumme Proteste, stellen noch nicht den Frieden in Frage, sondern artikulieren bloss diffuse Ängste. Ich weiss, dass es in der Schweiz zwischen Deutschen und Schweizern auch Animositäten gibt – und in der Schweiz auch zwischen den Bewohnern des einen Tals und denen des anderen. Dessen ungeachtet ist die Tatsache unbestritten, dass in Europa nun schon vergleichsweise lange Frieden herrscht. Das ist eigentlich ein kleines Wunder – eine historische Ausnahme. Ob nun die EU oder eine ihrer damaligen Vorgängerorganisationen für den Frieden in dieser Zeit die Verantwortung trägt oder nicht, kann niemand sagen. Klar ist aber immerhin, dass sie ihm nicht im Wege stand und steht, sondern Nationen, die sich lange nichts zu sagen hatten, an einen Tisch brachte. Auch in Krisenzeiten. Das ist eine Stärke der EU, das Prädikat «Friedensprojekt» ist also in dieser Hinsicht durchaus gerechtfertigt. Es ist aber natürlich nicht das einzige Friedensprojekt Europas – da gibt es noch manche andere. Die da wären? Als Philosoph weiss ich: die moderne französische Philosophie hat einige deutsche Wurzeln in Nietzsche und Heidegger, die russische wiederum einige französische in Derrida und Deleuze, Foucault. Es gibt also intellektuelle Eliten, die eine Art europäische Sprache sprechen und über ihre Ideen immer wieder dafür gesorgt haben, dass sie auch in anderen Ländern fruchtbar wurden. Das ist eine Art intellektuelles Friedensprojekt, das uralt

ist und von europäischen Schriftstellern, Künstlern und Philosophen vorangetrieben wurde. Sie stehen seit Jahrhunderten miteinander im Dialog und können für ihre intellektuelle Zusammenarbeit eine enorme Bedeutsamkeit in der Geschichte Europas reklamieren. Und dies, obwohl die Politik in vielen Fällen genau diesen intellektuellen Einfluss in Form von Zensur oder politischem Druck auf Reformer zu beschränken suchte. Es braucht also wirkmächtige intellektuelle Eliten, um die Einigung Europas voranzutreiben, nicht politische? Beide! Und noch viele weitere. Verstehen

Es gibt intellektuelle Eliten, die eine Art europäische Sprache sprechen.

Sie, Europa ist nicht nur eine vornehmlich religiös-christlich-abendländliche Einheit, sondern auch eine intellektuelle. Moderne Vorstellungen vom denkenden Subjekt kommen aus Europa und haben von hier aus die Welt erobert: Das Cartesianische Cogito feierte seine ersten Erfolge in Frankreich, dann in Italien und Deutschland. Kant hat sich auf Descartes bezogen, Husserl sich wiederum auf Kant. Heidegger wiederum bezog sich gern auf Husserl: Es gibt Denktraditionen und -schulen, die sich quer durch Europa ziehen und durch alle jüngeren Zeitalter – auch hier schuldete in gewissem Sinn jeder jedem etwas. Die vergemeinschaftende Wirkung «europäischer Ideen» ist enorm, auch wenn sie jeweils zweifellos abhängig von politischen Konjunkturen waren. Konjunktur hat gerade vor allem die Sicherheitspolitik. Sorgen die vielen gewonnenen persönlichen Freiheiten der Bürger und die damit zwingend einhergehenden Unsicherheiten dafür, dass sich der moderne Europäer immer häufiger unter den ver71


Vertiefen / Dossier  Schweizer Monat 1007  Juni 2013

meintlichen Schutzschirm der staatlichen Institutionen verkriecht? Das ist das Kernproblem. Freiheit geht immer auf Kosten der Sicherheit. Und dies verlangt nach Kompensation – darum sind freie Gesellschaften oft zugleich überwachte Gesellschaften. England, ein vergleichsweise freies Land, hat genau deshalb eine lange unrühmliche Tradition: Ihr CCTV überwacht seit Jahrzehnten öffentliche Räume. Die Engländer sind Weltmeister im Überwachen, sie sind – wenn ich das einmal so sagen darf – darin sogar besser als manch totalitärer Staat. Und die Bürger? Eine Mehrheit der Bürger befürwortet das! In Deutschland oder in der Schweiz ist derartiges bisher unvorstellbar… Aber warten Sie einmal, bis beispielsweise

in Berlin oder Zürich ein Terroranschlag verübt wird. Die Bostoner Attentäter wurden mit Hilfe von Videobändern gefunden, die Londoner U-Bahn-Terroristen 2007 ebenso – das sorgt für Befriedigung seitens der Bürger und paradoxerweise auch für mehr gefühlte Sicherheit, obwohl ja durch die Kameras nichts verhindert wurde. Das Sicherheitsbedürfnis des Menschen als Eintrittskarte des Staats ins Private? Und nicht nur das! Das wachsende Sicherheitsbedürfnis des Menschen kann in jedem Staat der Welt ganz rasch dafür sorgen, dass die Stimmung in Richtung akzeptierter Überwachung kippt. Was das für Folgen haben kann, sieht man in den USA: hier führte 2001 ein kollektives Unsicherheitsgefühl zuerst zum kollektiv be-

fürworteten Krieg auf der anderen Seite der Welt, dann zu akzeptierter Folter wider die Genfer Konvention und letztlich bis zu einem massiven Ausbau eines regelrechten Überwachungsstaats im vermeintlich freisten Land der Welt. Es gibt nur einen Weg, diese Dynamik zu brechen: Wer sie nicht will, muss seine Meinung laut und deutlich sagen, solange es möglich ist. Glücklicherweise gibt es in den USA wie in Europa und sogar in Russland Strömungen, die sich für mehr Privatsphäre einsetzen. In Amerika und Europa darf von diesem Recht ungestraft Gebrauch gemacht werden – mit Blick auf Russland kann ich sagen: dort ist der Zug wohl erst mal abgefahren. Nun ist es an russischen Bürgern, diesen Zug zum Wenden zu zwingen. Das braucht Mut. Und Zeit. Die Russen haben beides. �

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Schweizer Monat 1007  Juni 2013  Vertiefen / Dossier

Europa ist viel « mehr als der Euro – Europa ist Kultur, ist Vielfalt, ist eine geistige Tradition!» Michail Ryklin

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er Kunstbetrieb erschafft sich gerne seine ei-

Der Exklusivitätsanspruch der schönen Künste ist ver-

gene Realität. Das darf er auch und ist sein gros-

ständlich, aber ist er auch berechtigt? Brauchen wir die

ses Privileg. Trotzdem: auch der Kunstbetrieb

Unterscheidung von U- und E-Kultur, wie sie gewisse Ho-

unterliegt den Gesetzen der Schwerkraft. Das ewige

hepriester der Feuilletons gerne beschwören? Ein kurzer

Mantra, den wahren Wert der Kunst an ihrer relativen

Blick auf den Stand des Elitismus generell genügt und es

Randständigkeit zu messen, gleicht dem Versuch, die

kann nur eine Schlussfolgerung geben. Die Welt ist, zu-

Gravitation aufzuheben. Es soll deshalb hier explizit ge-

mindest in dieser Hinsicht, flach. Der globale Markt der

sagt sein: Nur weil viele etwas konsumieren, ist es nicht

Ideen und der freie Informationsfluss haben das Konzept

schlecht; nur weil wenige etwas schätzen, ist es nicht

von Inhalten völlig neu definiert. Natürlich gibt es Opi-

gut. Kulturschaffende, v.a. aber auch die Kunstkritik,

nion Leaders, Vordenker und Gurus mit Einfluss. Aber

sind die einzigen, die dies ernsthaft in Frage stellen. In

jede schöpferische Leistung hat heute das Potential, eine

keiner anderen Branche wird diese kontraintuitive Mar-

«Global Audience» zu erreichen, und steht damit im di-

ginalisierungsmentalität propagiert.

rekten Wettbewerb mit beliebig vielen anderen Leistun-

Bezogen auf die Literatur verweist Ingold im letzten

gen. Es ist das Korrektiv, gegen das sich jede etablierte

«Monat» auf die zunehmende Vermischung von Unter-

Meinung und Idee behaupten muss. Aus diesem Wettbe-

haltung und «schöner» Literatur. Er schlägt eine klare

werb geht kein einzelner Gewinner hervor, aber tenden-

Abgrenzung anhand analoger und digitaler Vermitt-

ziell setzen sich die besten Ideen durch. Wenn Ideen oder

lungsformen vor. Die Spezies der Leser wird damit zur

Konzepte an mangelnder Aufmerksamkeit scheitern,

Zweiklassengesellschaft: Kindle-Besitzer bekommen

dann meist aus gutem Grund.

in Zukunft nur noch Trash vorgesetzt, während Con-

Ich bin überzeugt, dass keine wirklich brillante Idee je

naisseure in schweren Wälzern mit Goldschnitt blät-

unentdeckt geblieben ist. Es kann frustrierend lange dau-

tern. Oder so ähnlich. Kundensegmentierung ist ein

ern, aber irgendwann ist die Zeit reif. Apple stellte 1992

bewährtes Marketingkonzept, aber eine Premium-

mit dem «Newton» den ersten PDA vor, eine ambitio-

Strategie im Literaturmarkt ist zum Scheitern verur-

nierte Innovation, die ihrer Zeit voraus war. Das Gerät

teilt. Die Unterscheidung von elitär und nichtelitär be-

war revolutionär, aber unausgereift und entpuppte sich

stimmt sich über den Inhalt, nicht über das Medium.

als Ladenhüter. 1997 beerdigte Apple den «Newton». Wie

Die Qualität der schönen Literatur wird nicht verbes-

sich neun Jahre später zeigen sollte, war es nur ein künst-

sert, wenn ihr die analoge Buchform vorbehalten ist.

licher Tiefschlaf. Reinkarniert als iPhone wurde der

Und Preisdiskriminierung ist bei Büchern aufgrund der

«Newton» zum Erfolgsprodukt schlechthin.

weitgehend homogenen Zahlungsbereitschaft der Le-

Egal ob in der Technologie oder in der Kunst: elitärer Se-

ser wenig effektiv. Bücherwürmer sind üblicherweise

paratismus widerspricht nicht nur dem Zeitgeist, son-

nicht so gut betucht wie z.B. Autonarren. Während es

dern schadet auch der Sache. Das Elitäre muss Teil der

durchaus Sinn macht, wenn Lamborghini sein neustes

Gesellschaft sein und sich eine hörbare Stimme ver-

Modell in einer Kleinstauflage von drei Stück für je-

schaffen. Nicht durch Anpassung, aber durch Einmi-

weils 3,9 Millionen Dollar verkauft, eignen sich Bücher

schung, und zwar auf allen Kanälen. David Foster Wal-

nicht als Prestigeobjekt. Im Gegenteil: elitäre Inhalte

lace hat es vorgemacht: seine Artikel über Sport waren

schwer zugänglich bzw. unerschwinglich zu machen

genauso stark wie seine Romane. Wenn auch nur ein

ist kontraproduktiv, weil sie dann überhaupt nicht

Sportbegeisterter dadurch mit seinem (elitären) Werk in

mehr rezipiert werden.

Berührung kommt, ist das etwas durchweg Gutes. 75


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Das Meer in der Stadt Eine photographische Reise an einen Ort unserer Sehnsucht von Giorgio von Arb

Jeder Gedanke ans Meer zieht uns an wie die tiefste Stelle der Badewanne das Wasser, öffnet neue Räume, spült verschüttete frei. Durch kleine Meerzeichen erst wird uns dieses Land grösser, in dem uns oft so kalt ist und so grau. Zwischen Kulissen leben wir eine bittere und peinliche Sehnsucht nach dem unendlichen Meer in oft so bleichen, kleinen Bildchen, die uns menschlicher erscheinen lassen, betrügbarer aber auch. Dieses Meer hier in der Stadt entblösst so viele von uns als kleine Triebtäter, Nichteingezogene in unseren neuen Quartieren, Nichtangefreundete mit unseren neuen Maschinen, Nichtzufriedengestellte von unseren neuen Helden. Das gebändigte Wasser um uns herum taugt gar als Ersatz für das abgerückte Meer, die brackigen Pfützen, die lahmen Wasserarme, die fragwürdigen Untiefen, die eckigen Chlorbäder. Wir küssen entzückt die Glassärge der Konservierungskünstler, reiben uns die Hände warm an der rauhen Haut der ausgestopften Tiefseemythen. Gerätefrei verleiben wir uns das Feinste vom Meer ein, den grossen Rest werfen wir vor die Hunde. Noch mehr als in den nachgebauten Städten am Meer bleibt das Meer in den Städten von unseren Sinnen ausgesperrt, ein in unsere Köpfe gezwängtes hellblaues Vexierbild. Dabei verbarrikadieren wir uns selbst am Meer hinter Schutzfaktoren und Sonnenbrillen, stülpen uns Stadtmusik über die unerhörten Wellen, schaffen an den lauteren Rändern des Meeres Bedingungen, dank denen wir von ihm möglichst nicht an seine Bedingungslosigkeit erinnert werden und an unsere Angst davor. Wie alles Unermessliche bewältigen wir scheinbar auch das Meer mit unserer Grossmut, stellen überheblich immer etwas dazwischen: Die Gedanken an die Zukunft oder das Surfbrett, Gummisandalen, die veraltete Zeitung aus der Heimat, unsere posterotischen Phantastereien, einen geheizten Süsswasserpool. Mit starker Hand beherrschen wir den Druckausgleich, doch tauchen wir nie allein. Alles Wissenswerte über das Meer haben wir festgehalten, es in Zahlen und Werte aufgesplittert und in unsere Bibliotheken gepresst. Dulden wir den Wassermann noch in den Sternen, hängt die Meerjungfrau aus rohem Holz geschnitzt über dem Tresen. So füllen wir das Meer mit unseren Schuldscheinen, auf seinem Grund suchen wir uns schon vertrautes Land. Dann packen wir das Meer in unseren Koffer auf die lange Rückkehr in die Stadt und nageln es uns an die Bretter vor dem Kopf. Unsere Beziehung zum Meer ist allerorts Ausdruck unseres Unvermögens, an dem Ort zu sein, an dem wir sind. Wir nennen es Meer, so wie wir anderes Freiheit nennen oder Liebe.

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Sinnlicher, engagierter und besser Nicht nur die Schweizer Wirtschaft profitiert von hochqualifizierten Einwanderern, sondern auch die Literatur. Margrit Zinggeler erklärt, wie man dank ihnen Chur riechen, die Kindheit schmecken, die Liebe ertasten – und mit der Sprache eine völlig neue Heimat erobern kann. von Margrit Zinggeler

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ianistin Rahel Senn und Model Xenia Tchoumitcheva sind Kolumnistinnen dieses Magazins. Erstere hat einen Schweizer Vater und eine Mutter aus Singapur und sie berichtet über ihre transkulturellen Erfahrungen als Schweizerin auf der ganzen Welt. Xenia Tchoumitcheva macht es ganz ähnlich und beweist gemäss nomen est omen, wie sie als «Fremde» eine Schweizer Staatsbürgerin und erfolgreiche Kosmopolitin mit verschiedenen Sprachen und «Heimaten» wurde. Die beiden sind keine Einzelfälle: Viele Autoren dieses Magazins, darunter auch viele regelmässige, stammen ursprünglich nicht aus der Schweiz, sondern aus der ganzen Welt. Einige von ihnen leben heute zwischen Schaffhausen Es ist heute unbestritten, und Chiasso, und nicht wenige von ihnen sind – dass die Zuwanderung zur wie Xenia Tchoumitcheva Qualitätssteigerung unserer – sogenannte «Secondas/ Literatur beigetragen hat. Secondos»: sie gehören der zweiten Generation von Einwanderern an. Der «Monat» bietet für meine Arbeit als Literaturwissenschafterin mit dem Fokus auf sogenannte «Migrationsliteratur» folglich hervorragendes Anschauungsmaterial. Während noch im letzten Jahrhundert Begriffe wie Arbeiter-, Ausländer- und Fremdenliteratur gebraucht wurden, um Einwanderergeschichten zu klassifizieren (und der Begriff «Secondos» mehrheitlich abwertend die italienischen und spanischen Gastarbeiter bezeichnete), spricht man heute neutraler von Autoren und Autorinnen mit Migrationshintergrund. Im Jahre 2009 hatte Ilma Rakusa (geboren in Rimavská Sobota, Slowakei) den ersten Schweizer Buchpreis für den Band «Mehr Meer: Erinnerungspassagen» erhalten; ein Jahr später wurde Melinda Nadj Abonji (geboren in Bečej, Serbien) für ihren Roman «Tauben fliegen auf» mit dem Deutschen und gleich noch mit dem Schweizer Buchpreis geehrt. Im Herbst 2011 wurde dieser an Catalin Dorian Florescu (geboren in Timișoara, Rumänien) für «Jacob beschliesst zu lieben» überreicht. Diese drei buchstäblich ausgezeichneten Schriftsteller kamen als Kinder in die Schweiz, wie viele weitere aus der Literaturlandschaft des Landes kaum 82

Margrit Zinggeler ist Professorin für Deutsch an der Eastern Michigan University (USA), wo sie deutsche Sprache, Kultur und Literatur unterrichtet. Sie ist in der Schweiz aufgewachsen und studierte an der Universität Zürich, bevor sie 1993 an der University of Minnesota, Minneapolis, über das Werk von Gertrud Leutenegger promovierte. Sie ist zusammen mit Charlotte Schallié Herausgeberin der neuen Schweizer Anthologie «Globale Heimat.ch» (2012).

mehr wegzudenkende Autoren. Bekannt wurden auch Zsuzsanna Gahse, Dragica Rajĉeć, Irena Brežná, Erica Pedretti und Amor Ben Hamida. Letzterer wurde 1958 in Tunesien geboren und kam als 5jähriger in die Schweiz, genauer: ins PestalozziKinderdorf. Heute schreibt er ganz spezifisch über die Integration von Menschen aus muslimischen Gesellschaften. Eine beträchtliche Anzahl von literarisch versierten Secondas und Secondos (z.B. Franco Supino, Francesco Micieli, Perikles Monioudis, Vinzenzo Todisco, Giuseppe Garcia, Sunil Mann) und solche mit einem Schweizer und einem ausländischen Elternteil (z.B. Martin R. Dean, Silvano Cerutti, Dante Andrea Franzetti, Sabine Wen-Ching Wang, Yangzom Brauen) tun es ihm gleich – und verändern die Literatur in der deutschsprachigen Schweiz mit ihren transkulturellen Erzählungen und Romanen. Ihre Literatur überschreitet Grenzen innerhalb der Grenzen und begeht dabei Wege, die unser multikulturelles und multilinguales Land zu einer globalen Literatur führen.1 Die Texte dieser transkulturellen Autorinnen und Autoren erweitern nämlich nicht nur den Horizont, sie fügen unserer journalistischen und literarischen Kultur inhaltliche wie stilistische Nuancen hinzu, die zwar mit herkömmlichen Mitteln schwer messbar, aber ebenso unschätzbar wertvoll sind. Es ist heute unbestritten, dass die Zuwanderung in den letzten Jahrzehnten zur Qualitätssteigerung unserer Literatur beigetragen hat – wie das aber genau geschieht, wird weiterhin untersucht. Schauen wir also einmal genauer hin. Wir können, wie oben bereits getan, die These aufstellen, dass Migrationserfahrungen die Erzählkunst und SprachkreativiCharlotte Schallié und Margrit Zinggeler (Hg.): Globale Heimat.ch: Grenzüberschreitende Begegnungen in der zeitgenössischen Literatur. Zürich: edition8, 2012. 2 Margrit Zinggeler: How Second Generation Immigrant Writers Have Transformed Swiss and German Language Literature. A Study of Sensorial Narratives by Authors Writing from the Swiss «Secondo-Space». Leviston: Edwin Mellen Press, 2011. 1


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tät positiv beeinflussen oder sogar auslösen. Erwiesen ist: ein Migrationshintergrund und das Aufwachsen zwischen zwei oder gar mehreren Kulturen beeinflussen die Identitätsbildung auf mehrschichtigen Ebenen oder innerhalb ständig oszillierender Kreise: der Kreis der elterlichen Kultur, der Kreis der Schule und Arbeit sowie der Kreis der Freunde und des sozialen Netzwerks. Martin Ebel sprach diesbezüglich von einem «Secondo-Faktor» in seiner Rezension von «Tauben fliegen auf» («Tages-Anzeiger», 6. Oktober 2010). Meine Untersuchungen von Schweizer Autorinnen und Autoren der zweiten Generation2 (in der amerikanischen Soziologie nach Ellis und Goodwin-White sowie Alejandro Portes «G2» bzw. «G1.5» bei Einwanderung im Kindesalter genannt) und von solchen mit einer hybriden Sozialisation (ein Elternteil ist Ausländer) zeigen, wie sie im sogenannten «SecondoSpace» ständig Wahrnehmungen der elterlichen und der multikulturellen, schweizerischen Kulturräume und Sprachen ausgesetzt sind. Dieser «Secondo-Space», eine Art innerkulturelles Habitat, wird oft als eine Konfliktzone wahrgenommen, die sich auf der Suche nach Identität in ergreifenden sprachlichen und ästhetischen Narrativen äussern kann. Wenn Secondos die Geschichte ihrer Eltern oder ihre eigene erzählen – besonders wenn sie diskriminierend und schmerzlich war –, werden sie nicht mehr von dieser ihrer Geschichte – negativ – beherrscht. Durch ihre kreative Auseinandersetzung mit der eigenen Identitätsbildung kann sich das Verhältnis sogar umkehren. Als Paradebeispiel können wir Melinda Nadj Abonjis «Tauben fliegen auf» oder die Werke von Franco Supino und Francesco Micieli aufführen, die ganz bewusst die elterlichen und eigenen Migrationsgeschichten fiktiv (wieder)erzählen und verarbeiten. Eine ungeheure Bereicherung im «Humankapital» dieser Schriftstellerinnen und Schriftsteller ist dabei die Mehrsprachigkeit, und zwar nicht wegen des multilingualen Nebeneinanders von vier Nationalsprachen und der lingua franca Englisch in der Schweiz, sondern weil die Mutter- und Vatersprache der Secondas und Secondos im Spannungsfeld mit der Umgebungsund Schulsprache, die ja wiederum im Deutschschweizer Raum zweigeteilt ist, zum erweiterten Experimentieren mit Sprache direkt veranlasst. Richtig: Mit der Diglossie von Dialekt und Schriftsprache setzt sich wohl jeder Deutschschweizer auseinander. Aber das sprachliche Kulturerbe der Einwanderer ist ein riesiges, verinnerlichtes, geschenktes Kapital im «SecondoRaum», das sich zu einer fast magischen Sprach- und Erzählkraft entwickeln kann. Diese Sprachbereicherung kann als eine Art kognitives Kapital verstanden werden, das sich unwillkürlich in Flexibilität und Kreativität umsetzt. Die Schriftsteller unter den Secondas und Secondos erleben intensiv, dass Sprache Kultur ist, und sie nehmen Kultur als Sprache wahr, was ihr ganz besonderes Humankapital darstellt. Bewusst oder unbewusst machen sich auch viele schweizerische Autorinnen und Autoren die Erfahrung des Fremden zunutze, indem sie sich für einige Zeit (u.a. Adolf Muschg, Milena Moser, Rolf Lappert, Hansjörg Schertenleib, Martin Suter) oder gar dauerhaft im

Ausland ansiedeln (so etwa Paul Nizon, Gabrielle Alioth, Verena Stefan, Christian Kracht) oder regelmässig intensive Reisen unternehmen, um damit ihre Narrationsfähigkeiten anzukurbeln. Das Phänomen ist kein neues, kennzeichnet aber die allermeisten «Grossen» der Schweizer Literatur. Schon Gottfried Keller, dann Max Frisch, vor allem aber Hugo Loetscher, Alex Capus und auch die beiden Peter (Bichsel und Weber) profitierten vom Reisen. Dante Andrea Franzetti erklärt diese Muse in «Mit den Frauen» folgendermassen: «Der Ort, an dem ich mich befinde, beeinflusst meine Gedanken und mein Gefühl für das Geschriebene.» Dies gilt im besonderen für diejenigen, die eine neue Heimat erfassen müssen: ihre Sinne sind scharf, ihr Interesse gilt anderen Phänomenen als das Interesse der Einheimischen, die ihre Welt ohnehin «gewohnt» sind. Die Wahrnehmungen der Sinne sind im «Secondo-Space» doppelt intensiviert, da sich die verschiedenen sozialen Beziehungssysteme der elterlichen Einwandererkultur und -sprache im Sozialisierungsnetz des Individuums verfangen. Schreibende mit Migrationshintergrund erfassen dieses Phänomen in ihren Erzählungen – und ein genaues Lesen ihrer Texte bestätigt, dass die Sinne, die im transkulturellen Raum (ähnlich dem «Third Space» in «The Location of Culture» von Homi K. Bhabha) sensibilisiert wurden, die entstehenden Narrative thematisch ausfüllen und auch strukturell anregen: Menschen, die zuziehen, fühlen Orte und sehen in Bildern, sie hören die Stimmen der Vorfahren aus dem andeMenschen, die zuziehen, ren Land, sie riechen die Liebe und die Abneigunfühlen Orte und sehen in gen, sie schmecken die elBildern, sie riechen die Liebe terliche und doch fremde und die Abneigungen. Ess- und Trinkkultur, und Hände und Füsse tasten sogar anders. Wir können neben den fünf Sinnen gemäss Aristoteles einen sechsten hinzufügen, nämlich das Sichbewegen oder die Bewegungen im «Secondo-Space»: das ständige Hin und Her zwischen den Kulturen beeinflusst die Identitätsentwicklung dynamisch. Das Experimentieren mit den Sprachen, Bewegungen im Raum und in der Zeit, die körperlichen und geistigen Erinnerungen, die gehörte Migrationsgeschichte der Eltern und der Vorfahren im Spiel mit den eigenen komplexen Sinneswahrnehmungen im schweizerischen Alltag – all das sind integrale Bestandteile in Texten dieser Schriftstellerinnen und Schriftsteller. Kultur in der Nase Der Geruchssinn nimmt eine besondere Stellung in den Narrativen der Migrationsliteratur ein. Gerüche sind soziokulturell verankert und wirken als die stärksten Erinnerungskatalysatoren. «Das Vergessen», sagt Ilma Rakusa, «macht um den Geruch einen Bogen» («Mehr Meer»). Francesco Micieli «riecht» deshalb «seinen Vater», und er beschreibt minutiös die Küchengerüche im italienischen Arbeitermilieu. Auch Sunil Mann beschreibt die 83


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Currygerüche in der Küche seiner indischen Mutter, und immer wenn sein Detektiv in «Fangschuss» in ein Haus tritt, kommt er nicht umhin, zu beschreiben, was dort erschnuppert werden kann. Distinktive, kulturelle Gerüche aus Südosteuropa beschreibt auch Catalin Dorian Florescu in seinen Werken, zwischenzeitlich erinnern die sinnlichen Passagen gar an den wohl synästhetisch stärksten Romanbeginn der Literaturgeschichte, an Patrick Süskinds «Das Parfum». Auch Pablo, der Protagonist in Vincenzo Todiscos «Der Bandoneonspieler», riecht die Bewegungen der Tangotänzer und er «liebte sofort den Geruch des Mittelalters» in Chur, der Stadt, die seine Heimat wird und ihn immer wieder zurückholt. Haben Sie in Chur schon einmal das Mittelalter gerochen? Nein? Beim nächsten Mal sollten sie genauer «hinriechen». Die Erzählerin in Melinda Nadj Abonjis «Tauben fliegen auf» beschreibt den Geruch ihrer ersten Liebe, Dalibor aus Serbien. Aber auch das schrecklichste Diskriminierungserlebnis, das sie in der Cafeteria ihrer aus Bečej stammenden Eltern erlebt, ist – hier die Kehrseite – verbunden mit Geruch, genauer: mit dem Gestank an die Spiegel geschmierter Fäkalien. Laut der Autorin war es dieses autobiographische Schlüsselerlebnis, das sie zum Schreiben des preisgekrönten Romans veranlasste. Sie ist kein Einzelfall: Dante Andrea Franzetti erinnert ebenfalls schmerzliche Begebenheiten seiner Kindheit durch den Geruch – den seiner verhassten Schule in Kloten. Kontrastiert werden sie von den angenehmen Düften bei seinen Grosseltern in Italien – und später von denen der Frauen. Giuseppe Garcias Roman «Kippzustand» ist durchtränkt vom Gestank in der fiktiven Schweizer Stadt Furtnau (wohl verwandt mit Güllen in «Besuch der alten Dame» von Friedrich Dürrenmatt), verursacht durch Betrug und den Zerfall aller einheimischen wie auch Gastarbeiter-Werte, die den Secondo-Protagonisten zu Mordabsichten veranlassen. Bewusst oder unbewusst schreiben Secondas und Secondos von transkulturellen Erlebnissen via Geruchssinn, der Bilder wachruft oder erzeugt. Riechen ist die scharfsinnigste Empfindung des Erinnerns gemäss dem kanadischen Anthropologen David Howes, der soziokulturelle Theorien der Sinne aufgrund von empirischen Studien entwarf: «If one has grown up in a society in which the sense of smell is valued or trained, one cannot hope to suddenly be able to perceive all the complex olfactory nuances of another societal environment.»3 Deswegen sind Gerüche oft ambivalent und besonders intensiv in den Integrationsgeschichten beschrieben. Kultur über den Magen Der Geschmackssinn ist der mit dem Geruchssinn am innigsten verbundene. Die Ess- und Trinkkultur verschiedener geographischer Regionen und dort ansässiger ethnischer Gruppen spielt deshalb die zweite Hauptrolle in den Sinnbeschreibungen der Migrationsliteraten. David Howes: Sensual Relations: Engaging the Senses in Culture and Social Theory. Ann Arbor: University of Michigan Press, 2003.

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Jedes Land, jede Region hat eigene Nahrungsmittel und Gewürze sowie Kochtraditionen, worüber es unzählige (Koch-)Bücher gibt. Aber die Wahrnehmungen des Geschmackssinns eindrücklich zu beschreiben, das ist eine besondere Kunst. Wohl weil Sprache im Mundraum artikuliert wird, wo auch der Geschmackssinn angesiedelt ist, «schmeckt» die italienische Muttersprache für Francesco Micieli «anders». Mit dieser Beschreibung sagt er mehr, als ihm vielleicht bewusst ist: Im Deutschen gibt es vier grundlegende Kategorien, den Geschmackssinn zu beschreiben (süss, salzig, bitter, sauer), aber im Japanischen sind es derer schon fünf, und andere Kulturen haben sieben oder auch nur deren drei. Ich möchte behaupten, dass die Schweizer Autoren mit Migrationskultur mindestens derer acht besitzen! Vier von der elterlichen Esskultur und weitere vier Geschmackskategorien, die durch die Schweizer Sozialisation internalisiert werden. So wird in vielen Texten nicht nur die elterliche und grosselterliche, sondern auch die schweizerische Esskultur intensiv beschrieben und ebenso, wie diese im übertragenen Sinn «schmeckt», d.h. sich soziokulturell als Wertsystem entwickelt. Die italienischen Gastarbeiter in Micielis Lützelflüh machen deshalb auch die ersten Annäherungsversuche zu den Schweizer Nachbarn mit pasta, polpettine, calamari, lesso di manzo. Lange geschieht Riechen ist nichts, doch dann bringen die Nachbarn «Bärner die scharfsinnigste Platte, Suure Mocke, Empfindung Härdöpfustock und Öpdes Erinnerns. fuchüechli», und an Weihnachten sogar einen Braten; Fleisch, das nach ihrer italienischen Sitte am Heiligen Abend verboten war! An solch denkwürdigem Abend war aber die Gastfreundschaft heiliger. «Das Gastmahl als Wunder des Fleisches und des Geistes, eine Brüderlichkeit der Gäste. In diesem Augenblick werden die Unterschiede vergessen. Die Unterschiede zwischen dem Fremden und dem Gastgeber.» Kultur im Ohr «Leute, die Stimmen hören, landen früher oder später im Irrenhaus», so der erste Satz in Vincenzo Todiscos Roman «Der Bandoneonspieler». Oder sie beginnen zu schreiben und geben den Stimmen der Vorfahren aus dem fremden Land eine Geschichte, die sich mit der eigenen verbindet. «Da sind die Stimmen, ständig sehne ich mich nach meiner eigenen Geschichte, nach etwas, das mir gehört», fährt sein Protagonist Pablo fort. Sein Grossvater war ein Tangospieler in Argentinien, und als Pablo zum ersten Mal den Tango hört, ergreift der hinreissende Rhythmus der Klänge seinen Körper: «Die Stimmen drangen in mich ein und zogen mich in einen Strudel, der alles vernichtete, was ich bisher gewesen bin.» Diese Sätze können stellvertretend für viele Erzähler mit Migrationshintergrund stehen, die ihre 85


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Bis heute ziehen die Festspiele in Bayreuth das Publikum an mit Aufführungen, die einem allein gelten – dem Komponisten Richard Wagner. Als er vor 200 Jahren auf die Welt kam, war die «Neue Zürcher Zeitung» schon gut 30 Jahre alt, und sie nahm von der ersten Stunde an teil am künstlerischen Werdegang des Komponisten. Sie verfolgte den Aufenthalt in Zürich, beobachtete später das Unternehmen Bayreuth, berichtete über die Inszenierungen seiner Opern und Musikdramen. «NZZ Fokus» setzt sich in einem Rückblick mit Wagners Leben, seinem Schaffen und seinem Denken auseinander. Diese Ausgabe ist auch als E-Magazine zum Einführungspreis von Fr. 5.– im App Store von Apple erhältlich. Umfang 116 Seiten. Am Kiosk, im Buchhandel oder im NZZ-Shop an der Falkenstrasse 11 erhältlich für Fr. 18.–, € 16.–. Bestellungen und weitere Infos: Telefon +41 44 258 15 30, Fax +41 44 258 18 39, www.nzzfokus.ch


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akustischen Sinneserlebnisse in Bilder umwandeln. Sie sehen die Personen und Orte ihrer kulturellen Herkunft, und so bilden sich die Geschichten in einer geistigen Visualisation, die dann ihrerseits in Worte gefasst und beschrieben werden muss. Gewohnte Stimmen, Musik, Geräusche evozieren die Imagination und damit einhergehend lässt sich auch die schweizerische Umgebung mit schärferen Augen «hören». Dieser «fremde Blick» mit den Ohren, ein Faszinosum, das auch Touristen an fremden Orten kennen und schätzen, findet sich in bezug auf die Schweiz synästhetisch aufbereitet in beinahe allen Literaturen der Zugezogenen. Kultur in der Hand Der physische und emotionelle Tastsinn ist kulturell im menschlichen Körperkontakt verankert, sei er liebend oder gewalttätig. Das Berühren und Berührtwerden berührt die Seele so tief, dass die Tangotänzerin Maria ihren Körper dem Aids-kranken Teenager Max vor seinem Tod zum Ertasten geben kann, dass der Migrantenjunge Luca in Giuseppe Garcias «Kippzustand» sich umAuthentische interkulturelle bringt, dass der Erzähler aber an dem metaphoriSinneserfahrungen im schen Täter nicht Hand anSecondo-Raum kann man legen kann, dass Edith in nicht wirklich nachahmen. Perikles Monioudis «Fäulers Rückkehr» den Vater ins Gesicht schlägt und dass das Streicheln in Liebesszenen der Secondo-Literatur sich in ein synästhetisches, transkulturelles Pandämonium erweitert. Das Fühlen durch körperliche Berührung ist ebenso kulturell beeinflusst wie das Berührtsein als seelische Erregung. Sich fremd fühlen in den Augen der Eltern sowie sich fremd fühlen in der schweizerischen Umgebung wird oft in der Secondo-Literatur thematisiert. Auch in Irene Brežnas «Die undankbare Fremde» erfahren wir diese doppelt schizophrene Tastwahrnehmung, die sich schlussendlich in eine neue, selbstsichere Secondo-Identität verwandelt. Gemäss Aristoteles, der die Klassifizierung der fünf Sinne in «De Anima» beschreibt, ist der Tastsinn auch eng verbunden mit der Geschmackswahrnehmung: Das Essen berührt ja die Zunge. Und die Zunge wird gebraucht zum Sprechen. Und «Sprache ist eine langsam eroberte Heimat», meint Francesco Micieli in «Meine italienische Reise». Zusammenfassend stimuliert der transkulturelle «SecondoSpace» mit seiner verinnerlichten Sprachenvielfalt und den erhöhten Sinnesempfindungen die Kreativität und Virtuosität in der Erzählkunst, die in dieser Form den einheimischen Schriftstellern fehlt, weil die doppelt verfremdete Sozialisation nicht am eigenen Leib erlebt wurde und der eigenen Seele widerfuhr. Die Synästhesie der Gefühle und Sinneswahrnehmung im SecondoRaum ist oft der Anlass zum Schreiben überhaupt. «Jetzt gibt es keinen Halt mehr. Schauen, riechen, betasten, vor und zurück, von früh bis spät, alles einsaugen» (Ilma Rakusa, «Mehr Meer»).

Und man möchte hinzufügen: «…alles in neue Worte fassen und aufschreiben.» Nur so kann auch die schmerzliche Empfindung der Angst vor dem gegenseitigen Fremden sich kritisch und ausgleichend in ein menschliches Verstehen entwickeln. Denn vergessen wir nicht: die so evozierten Gefühle der Leser und Leserinnen wiederum beeinflussen ihre eigenen sozialen und kulturellen Beziehungen mit den Migranten. Sie bestimmen, wie sie dem «Fremden», begegnen, sprich: ihn sehen, hören, riechen, schmecken oder ertasten. Nicht nur die Schweiz verändert sich durch die Migration, auch die Schweizer Literatur. Einheimische Autoren erzählen neuerdings ebenfalls sensorische Migrantengeschichten: Martin Suter in «Der Koch», Klaus Merz in «Der Argentinier» und Rolf Dobelli in «Massimo Marini». Warum aber haben sie nicht den Schweizer Buchpreis erhalten, wie Ilma Rakusa, Melinda Nadj Abonji und Catalin Dorian Florescu? Die Antwort ist einfach: Schriftsteller schreiben über ihre Erfahrungen, über das, was sie wissen und ihre Sinne wahrnehmen, und über das, was sie imaginieren können, obwohl sie diese Einflüsse oft und kategorisch verneinen. Fiktion und Dichtung ist also stets biographisch motiviert – und jede Biographie hat Narrative, die sich ständig verändern. Authentische interkulturelle Sinneserfahrungen im Secondo-Raum kann man also nicht wirklich nachahmen. Autoren und Autorinnen mit persönlichen Migrationserfahrungen schreiben – über ebendiese – auch deshalb sinnlicher, engagierter und: besser. �

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Der Gast Einige Gedanken zur besonderen Qualität des Fremdseins von Francesco Micieli

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ch nenne mich nicht Schriftsteller. Ich fühle mich auch nicht so. Wie fühlt sich ein Schriftsteller? Ja, sicher, ich habe als Präsident des Verbands Autorinnen und Autoren der Schweiz für die Rechte von Schreibenden gekämpft, habe Lobbying betrieben, aber das gesuchte Gefühl hat sich nicht eingestellt. Mein Schriftstellerkollege Kurt Marti schreibt bei Postsendungen die Berufsbezeichnung «Schriftsteller» immer in grossen Lettern über meine Adresse. Das schmeichelt, hilft aber nicht weiter. Ich fühle mich nicht als Schriftsteller. Vielleicht, weil ich wenig schreibe und das wenige auch noch kurz ist. Vielleicht, weil ich viel Zeit ohne Schreiben verbringe, die meiste Zeit. Ein Kritiker hat mich mit der Aussage trösten wollen, dass man dann am meisten Schriftsteller sei, wenn man nicht schreibe. Beim Schreiben, so viel weiss ich, ahne ich mein «ich selbst» – mir gefällt Ich plädiere für das Recht, die französische Absicherung «moi-même» – aber «fremd zu sein». Das Fremderst in der Entfernung sein ist eine fundamentale vom einmal GeschriebeDimension des Seins. nen spüre ich die intensivste Nähe zu mir selbst, möchte ich für immer so bleiben, mich sehnen, die Begierde erhalten. Schriftsteller sein, das bedeutet vielleicht sich selbst beim Schreiben näherkommen. Und sich dadurch des eigenen Fremdseins stets neu zu versichern. Heute trete ich als eine Art Anwalt vor Sie. Ich plädiere für das Recht, «fremd zu sein». Das Fremdsein ist eine fundamentale Dimension des Seins – von uns allen. Das Recht, fremd zu sein, ist aber nicht nur Recht, sondern auch Pflicht: wer es einfordert, muss auch von sich verlangen, jeden einzelnen Fremden – und das eigene Fremdsein – zunächst zu respektieren. Im Nachdenken über das Fremdsein ist mir der Dichter Edmond Jabès ein Vorbild. Er wurde 1912 in Kairo geboren, 1957 emigrierte er nach Frankreich und lebte dort bis zu seinem Tod 1991. Die Fremdheit war eines seiner grossen Themen. Für ihn ist die unendliche Grosszügigkeit dem Fremden gegenüber die Grundbedingung fürs Zusammenleben; die Conditio sine qua non der Gastfreundschaft, wenn man so will. Er stellte sich zur Illustration dieser Idee ein utopi88

Francesco Micieli ist Schweizer Schriftsteller albanisch-italienischer Abstammung. Er war von 2007 bis 2010 Präsident des Verbandes Autorinnen und Autoren der Schweiz und ist seit 2011 Kolumnist des «Literarischen Monats». Francesco Micieli lebt in Bern. Zuletzt von ihm erschienen: «Schwazzenbach» (2012).

sches Haus vor, in welchem Pilger und Fremde sich gegenseitig aufnehmen und sammeln. Dass die Sprache des Gastes nicht die des Gastgebers ist, dass letzterer diese nicht wird sprechen können, ist, so Jabès, was ihn daran hindert, den Gast unterwerfen, ihm Gesetze auferlegen zu wollen. Sein Haus ist ein Ort, in welchem wir alle einsehen, «dass jedes Vaterland nie etwas anderes ist als ein winziger Teil eines gemeinsamen Traums».1 Von einem Bewohnen dieses «gemeinsamen Hauses» sind wir noch weit entfernt. Die Angst vor dem Fremden ist verbreitet. Sie ist die Angst vor dem Leben und dem Tod: Der Fremde erinnert uns daran, dass wir hier nur zu Gast sind. Wie angenehm billig sind demgegenüber nationale Ideologien. Sie setzen uns eine Maske auf, und wir sagen: «Das bin ich.» Sie leihen uns vielleicht ein «ich», aber sicher kein «selbst». Auf Ideologien verfällt, wer seine ständige Fremdheit nicht zulässt, wer sich ihr nicht stellen kann oder will. Da und weg In einem neuen Land geht es nicht darum, sich in ein Rudel von ebenfalls Fremden zu integrieren, eine Art eigene Zone, ein Ghetto, zu gründen – denn das würde ja doch nur die Umkehrung der Einheimischennation bedeuten. Es geht um etwas anderes: um das Sich-selbst-treu-Bleiben und also Anderssein und Trotzdem-mittendrin-Sein und Mitmachen und Heutigsein. Da. Da. Da. Ich denke, viele Minderheiten in den verschiedensten Ländern Europas leben heute erfolgreich so. Die Albanoitaliener zum Beispiel sind in Italien über 500 Jahre lang stets Fremde geblieben, mit ihrer Sprache, ihren Liedern, ihren Sitten. Und dennoch haben sie sich in den italienischen Staat einbezogen gefühlt. Viele von ihnen haben sogar mit Garibaldi für die Einheit Italiens gekämpft. Im Grunde geht es also um das ALL-EIN-Sein. Alle sein und einer sein. 1 Edmond Jabès: Ein Fremder mit einem kleinen Buch unter dem Arm. München: Hanser, 2009.


Francesco Micieli, photographiert von Michael Wiederstein.

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Chef de police und Frauenschwarm Bruno Courrèges zwischen drei Frauen

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Schweizer Monat 1007  Juni 2013  erzählen

Ich erinnere mich gut, wie die Italiener von Burgdorf – ich besuchte in dieser kleinen Schweizer Stadt das Gymnasium – mir vorwarfen, ich sei nicht mehr Italiener, ich hätte sie verraten. Und ich erinnere mich, wie die Schweizer mir sagten, ich sei zu italienisch, ich gehöre nicht in ihr Gymnasium. Die Vorwürfe zielten unter die Gürtellinie. Es galt, sie auszuhalten, zu argumentieren und nicht zu schlagen, obwohl die Italiener von damals schlugen, Messer hatten und «ganz gefährlich» waren. Der Fremde war damals rasch auch gleichbedeutend mit: der Schuldige. Ist das heute nicht auch oft noch so – oder wird zumindest nicht negiert? Wie geht man damit um? Als Fremder. Der Fremde muss sich immer wieder selbst befragen, denn er neigt nicht selten dazu, fremde Andichtungen zu übernehmen. Ja, sagt er dann, man ist laut, ja, man ist gefährlich, ja, man stinkt nach Knoblauch! Obwohl er gar keinen mag. Endlos fremd Das ist doch banal, mögen Sie sagen. Vielleicht. Banal und redundant, denn die Geschichte wiederholt sich, auch die Geschichte der Fremden. Immer wieder kommen neue. Fremdere Fremde, Europa ist voll davon. Mich bewegt das Fremdsein jedes anderen. Ich glaube, jeden bewegt es, wenn er wach ist. Mein Schreiben ist ein kleiner Teil einer unendlich langen Fremdendiskussion, die jeder mit sich und anderen führt, in seiner Zeit, bloss ein Fragment, Fragment in einer Endlosschleife, die immer länger wird. Denn ein jeder gibt sein Fragment dazu. Schreibt diese Geschichten weiter. Bei meinen Lesereisen erzählen andere Fremde mir ihr Fremdsein: da ist die Rede von Gefängnissen im Meer, von Schleppern, von korrupten Polizisten, von Demütigungen. Welch eine billige Lust, einen Fremden zu demütigen! Ich bin Schriftsteller, weil ich mir fremd bin und mich dennoch nah bei mir wissen will. Nur so kann ich mir erklären, dass ein besonderer Geruch, der 1985 aus einem Luftschacht des Bahnhofs Bern in meine Nase stieg, beim unschuldig vorbeigehenden No-Future-Studenten eine Erinnerung auslöste, die ihn zum Schreiben zwang. Schwer zu sagen, was aus mir geworden wäre in S. Sofia d’Epiro, was aus mir in Argentinien geworden wäre – da wollten meine Eltern nämlich zuerst hin. Auswandern, Fremdwerden. Hätte das Spanische zu mir gesprochen? Mich angesprochen? Hätte es mich verführen können wie das Deutsche? Hätte ich die Wörter in Argentinien auch anschauen können wie Schaufenster, die einen Blick in viele andere Räume zulassen? Das deutsche Wort ist, Sie lesen richtig, ein Schaufenster. Darin sind Stoffe, die immer wieder neu gewoben werden – in so vielen wunderlichen Kombinationen. Vielleicht wäre ich auf der anderen Seite des Erdballs ein Bandoneonspieler geworden, Pugliese, Piazzolla, und Sie würden jetzt meinen Tango tanzen. Aber nein: meine Mutter wünschte sich schon damals einen Arzt, keinen Musikus oder Schriftsteller. Das deshalb, weil sie häufig krank war. Ich wusste nicht, dass es den Beruf des Schriftstellers überhaupt gibt. Wir besassen keine Bücher. Der Duft vom Bahnhof aber roch nach einem geschriebenen Satz. Einem auf vormals so fremdem Deutsch gesprochenen Satz: «Setz dich hin und schreib!»

Nun sagen Sie vielleicht: Schön, was der Micieli sich so überlegt. Und nun? Wie wird man fremd und trotzdem akzeptiert? Schauen Sie Fussball, sage ich! Zum ersten Mal in der Fussballgeschichte des Landes wird die Schweiz 2009 Weltmeister mit einer U17-Mannschaft, die verschiedenste Ursprünge hat. Fremde, Gäste und Gastgeber. Jeder einzelne kann er selbst bleiben – und gehört doch zur Mannschaft. Was sie verbindet, ist der Wille zum Erfolg. Ich bin Schriftsteller, Gemeinsam hatten die jungen Menschen ein Ziel. weil ich mir fremd bin Um es zu erreichen, mussund mich dennoch nah ten sie untereinander und bei mir wissen will. miteinander sprechen, in verschiedenen Sprachen, versteht sich. Ja, genau: versteht sich! Sie verstanden sich. Sie waren flexibel und pragmatisch, aber sie verstanden. Menschen von verschiedenen Kontinenten, aus verschiedenen Nationen und Regionen können Grosses gemeinsam leisten, wenn ihnen der magische Ort gegeben wird, in welchem es nicht darauf ankommt, wer Gast und wer Gastgeber ist, oder besser: wo der Gast weiss, immer auch Gastgeber zu sein, und der Gastgeber, immer auch Gast zu sein. Etran-je Als «Schriftsteller» sollte ich vielleicht weniger vom Sport sprechen. Ich sollte Geschichten erzählen, nicht? Gute Geschichten, bestenfalls Ihnen fremde, um Sie nicht zu langweilen. Ich erzähle Ihnen eine: Ein Albaner, so glücklich, endlich in Italien zu sein, kauft eine riesige italienische Fahne. Es ist das Jahr 1991, das Jahr der mit Menschen überfüllten Schiffe im Hafen von Bari. Stolz braucht der Albaner diese Fahne als Decke. Er will damit zeigen, wie verbunden er seinem Gastland ist. Schliesslich hatte er lange davon geträumt und geglaubt, Italien sei eine Dauer-Show wie in den Sendungen, die er schon in Albanien empfangen konnte. Sein Glück war von kurzer Dauer: Er wurde wegen Beleidigung der Nationalfahne denunziert und festgenommen. Diese Geschichte hat mir mein Vater erzählt. Ich fahre jeden Sonntag zu ihm. Von seinen achtzig Jahren hat er sechzig in der Schweiz verbracht. Und in der Wohnung unter ihm in Lützelflüh lebt nun eine italienische Familie, die eine Fahne kreiert hat, die halb schweizerisch und halb italienisch ist. Sie hängt an den jeweiligen Nationalfeiertagen vor ihrer Wohnungstüre. Wir fragten uns jüngst: was sehen wir hier? Ist das Integration? Oder Beleidigung? Oder etwas Drittes, etwas Neues? Edmond Jabès hat für dieses Neue das Wort «étran-je» geprägt. Wunderbar! Fremd und ich in einem Wort. Etran-je. Mit einem Zitat von ihm will ich schliessen, ganz leise, aber treffend, wie ich finde: «Die Distanz, die uns von den Fremden trennt, ist die gleiche, die uns von uns selbst trennt.»2 � 2

Edmond Jabès: Ein Fremder. München: Hanser, 1993.

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Larionows Aufzeichnungen Russland in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts: der junge Offizier Larionow möchte dem Vaterland dienen – und sieht sich nun mit der Frage konfrontiert, wie in der Armee die Menschenwürde zu bewahren sei. Doch der Alltag verändert die Ideale des Humanisten schon bald grundlegend. von Michail Schischkin

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ogomolow, man hält Sie für den besten Offizier im Regiment. Aber Sie schlagen die Soldaten ja. Das ist doch eine Schweinerei. Es verletzt die Menschenwürde, die Ihre, die meine.» Erstaunt blickte er mich an. «Sie sind ein vornehmer, kein dummer Mensch», fuhr ich fort. «Das können Sie doch vor Ihrem Gewissen nicht vertreten, einen Menschen zu schlagen.» «Mein lieber Larionow», erhielt ich zur Antwort, «Sie haben recht. Auch teile ich Ihre Ansicht, dass es das Anständigste wäre, wenn man einem Soldaten seine Schuldigkeit sachte einflösste und nicht mittels Bestrafung verständlich machte. Aber dazu gehörte auch, dass die Soldaten mit Ihnen einer Meinung wären. Bei uns in Russland nun aber gilt: Wenn nicht Sie Ihren Diener schlagen, so schlägt er Sie.» «Aber hängt denn die Würde eines Menschen etwa von seinem Standpunkt auf der Landkarte ab?» Wieder lachte er. «Beweisen Sie mir doch das Gegenteil. Man wird Ihnen «Aber hängt denn die Würde Soldaten geben, Larionow, so fangen Sie doch an, diese eines Menschen etwa zu siezen, verzichten Sie von seinem Standpunkt auf Schläge, organisieren auf der Landkarte ab?» Sie eine Schule, und nachher werden wir ja sehen, was daraus wird.» Aufgebracht versuchte ich ihm weiszumachen, dass es eben gerade in der Armee sein sollte, wo ich mich ans Werk machen und selbst mit gutem Beispiel vorangehen würde, um zu zeigen, dass man, wenn man dem Menschen Achtung entgegenbringt, doch Ergebnisse erzielen könne, die den Rutenstreichern nicht einmal im Traume einfallen. «Ach wie wunderbar!», entgegnete Bogomolow. «Ich wette, noch bevor drei Monate vergangen sind, lassen Sie bereits den ersten verdreschen, auch wenn Sie ihn dabei siezen.» Ich kehrte als ein Besessener ins Regiment zurück. Man gab mir Soldaten, und mit jugendlicher Leidenschaftlichkeit ging ich an mein Werk. Als erstes schuf ich die Körperstrafe ab und begann, jeden Soldaten mit «Sie» anzusprechen. Diese nun, alle 92

Michail Schischkin ist russischer Schriftsteller und Journalist. Er lebt in Zürich und arbeitet als Russischlehrer, Lehrer und Dolmetscher für das Migrationsamt. Im Jahr 2000 wurde ihm der Russische Booker-Preis verliehen, im Jahr 2011 erhielt er den Internationalen Literaturpreis – Haus der Kulturen der Welt. Der vorliegende Text ist ein Fragment aus seinem bisher unveröffentlichten Roman «Omnes una manet nox».

mürrisch, wortkarg, nach den Dienstvorschriften des früheren Kommandeurs bis zur tierischen Blödheit getrieben, blickten mich düster an, voll Argwohn, und meinten, eine Falle zu wittern. Mit Feuereifer machte ich mich an ihre Ausbildung. So begann der Lese- und Schreibunterricht. Ebenso nahm ich es auf mich, ihnen Vorträge über die römische Geschichte zu halten. Die Soldaten nahmen alle meine Neuerungen schweigend entgegen, mit der üblichen Gehorsamkeit, wie alles, was man ihnen zu tun befahl. Geschichte ging ja noch an – den Erzählungen über Scipio, die Gracchusbrüder und Brutus hörten sie zu wie einem Märchen von Bowa Koroljewitsch. Das Schreiben und die Arithmetik bereiteten mehr Schwierigkeiten. Meinen Unterricht empfanden sie nach den vielen Stunden purer Dressiererei lediglich als zusätzliche Plackerei, und sie zeichneten all die Häkchen und Schnörkel ohne den geringsten Lerneifer. Abends setzte ich mich zu ihnen ans Feuer, führte lange Gespräche über den Sinn und Nutzen von Ausbildung, erzählte ihnen von den freiheitsliebenden Helden der Antike, von den Wundern der westlichen Kultur, die auf der Grundlage von Menschenachtung vollbracht worden waren, davon, wie die nordamerikanische Republik aufgebaut ist, und von vielem, vielem mehr, was, wie mir schien, in diesen eingeschüchterten Menschen zumindest einen Schimmer von Selbstwertgefühl hätte wachrufen sollen. Die Soldaten hörten mich schweigend an und schüttelten bloss ihre Hemden über dem Feuer aus, aus denen die Flöhe mit einem leisen Prasseln in die Flammen rieselten. Genau genommen fand ich nur einen einzigen geneigten Schüler. Das war Ustinkin, einer der neuen Rekruten, ein schmächtiger Bursche ohne Argwohn, der in seiner Kindheit mit kochendheissem Wasser übergossen worden war, so dass eine seiner Wangen und der Hals voll runzliger Flecken und bleicher, blutloser Muster waren. Eine Niete beim Marschieren, von Natur


Michail Schischkin, photographiert von Yvonne Bรถhler.

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erzählen  Schweizer Monat 1007  Juni 2013

aus nachdenklich, ein Wirrkopf, war er mehr als die anderen der Plagerei auf dem Exerzierplatz ausgesetzt. Ja, auch die Soldaten, vor den Kommandeuren so machtlos, liessen an diesem Wesen, das alles ohne zu murren über sich ergehen liess, ihren Zorn aus. Wem es gerade passte, der servierte ihm eine Backpfeife oder einen Fusstritt. Er war der einzige, der für meinen Unterricht reges Interesse zeigte, hatte eine gute Auffassungsgabe, das Lernen war für ihn ein Kinderspiel, seinen krummen, verbrühten Mund leicht aufgesperrt, hörte er zu, und beim Malen der Buchstaben senkte er in seinem Eifer den Kopf so tief aufs Papier, dass man meinen konnte, er schriebe mit der Nase und nicht mit der Feder. Ustinkin verband eine unzertrennbare Freundschaft mit einem zugelaufenen Hündchen, genauso siech und abgezehrt wie er selbst. Das Hündchen war der allgemeine Liebling und wurde von den einen Soldaten «Schrapnell» und von den anderen wegen seines geringelten Schwanzes «Widderlein» genannt. Alle fütterten es und wollten es an sich drücken wie ein kleines Kind, es folgte aber allein Ustinkin und diesem auf Schritt und Tritt. Es begleitete uns zu allen Übungen und warf sich, sogar wenn wir bloss mit dem Bajonett in «Hören Sie, Larionow, Strohsäcke stachen, gemeinsam mit dem Zug jeSie denken doch nicht etwa des Mal mit lautem Gebell wirklich, dass Sie fähig auf den Feind. Mich ersind, etwas zu ändern?» staunte, wie diese Leute bereit waren, mit dem Hündchen ihren letzten Zwieback zu teilen, und sich gleichzeitig grausamst über ihren Leidensgefährten lustig machen konnten. Einmal kam Bogomolow nach der morgendlichen Wachablösung zu mir, klopfte mir freundschaftlich auf die Schulter und sagte: «Ihre Bemühungen sind lobenswert. Aber hören Sie, Larionow, Sie denken doch nicht etwa wirklich, dass Sie fähig sind, etwas zu ändern? Glauben Sie mir, das ist eine Wand, an der man sich seine Stirn nur allzu gut zerschlagen kann. Tut es Ihnen tatsächlich letztendlich nicht leid um Ihre Kräfte, Ihre Anstrengungen, Ihre Zeit?» Ich schwieg und wartete nur darauf, dass dieses inhaltslose Gespräch zu Ende ging. «Eine Divisionsbesichtigung steht vor der Tür, ich rate Ihnen deshalb, sich nicht mit Lappalien abzugeben, es wäre besser, wenn Sie brav Ihre Soldaten drillten.» Diese seine Worte feuerten mich nur noch mehr an, mein Unterfangen voranzutreiben. Da ich meine Neuerungen in der Absicht eingeführt hatte, das viehische Leben meiner Soldaten zu vermenschlichen, erwartete ich von ihnen wenn auch nicht gerade Begeisterung, so doch zumindest Anerkennung. Aber ach, alles, was sich in meiner Phantasie so reibungslos hatte zusammenfügen lassen, kam in Tat und Wahrheit schief heraus. Ich hatte alles versucht, damit die Soldaten mich verstünden und mochten, sie blieben aber nach wie vor argwöhnisch, mieden mich, begegneten 94

meinen Bemühungen, in vertraulichem Ton mit ihnen zu sprechen, nur ausweichend. Sie hielten ihren neuen Offizier für irgendeinen Narren und lachten hinter meinem Rücken über mich. Da sie sahen, dass sie keine Strafen zu befürchten hatten, taten sie mit der Zeit während unseres Unterrichts rein gar nichts mehr, verloren die Hefte, Bleistifte und kamen schliesslich ungeachtet meines Zuredens überhaupt nicht mehr in meine Schule. Am Ende blieb mir nur ein einziger Schüler, Ustinkin, dem sie nun noch heftiger zusetzten, da er sich bei mir Bücher auslieh. Meine Soldaten meinten jetzt, sich alles erlauben zu können, und wollten sogar im Wehrdienst nichts mehr machen, ganz zu schweigen von der Stehlerei, über die sich die lokale Bevölkerung beinahe täglich beschwerte. Was auch immer ich ihnen über die Amoralität solchen Verhaltens sagte, wirkte nicht stärker als der Hauch eines Lüftchens auf sie. Dass auf allen Ebenen, von den Divisionsvorräten bis hin zur Feldküche, die Verpflegung für die Soldaten gestohlen wurde, gehörte so sehr zum Alltag, dass man sich gar nicht mehr darüber wunderte. Das Resultat war eine über die Massen freie Einstellung des Soldaten zu fremdem Eigentum. Es war unmöglich, ihn von der Niederträchtigkeit des Stehlens zu überzeugen, wo er sich doch mit eben diesen Diebstählen seine Existenz sicherte. Selbstverständlich gaben wir bei der Divisionsbesichtigung ein abscheuliches Bild ab. Ich wurde vor den Kommandeur des Regiments zitiert, den Generalmajor Russajew. Als ich zu ihm kam, fiel Russajew über mich her und brüllte mich etwa eine Viertelstunde lang an. Schliesslich hielt er inne, um Atem zu schöpfen, und ich sagte: «Sie können mir befehligen, was Ihnen beliebt, und ich füge mich der Disziplin. Aber ich bin so dreist, darauf bestehen zu wollen, dass ich meine eigenen Überzeugungen habe, und kein Befehl vermag mich zu zwingen, diese zu ändern.» Auf dem Gesicht Russajews traten weisse und rote Flecken hervor. Er war mit einer Schreibarbeit beschäftigt gewesen, nun knirschte die Feder in seiner Faust. «Du Milchbart!», zischte er. «Aus meiner ersten Wunde floss mehr Blut, als du in dir hast! Lern du erst mal das Leben kennen, bevor du von Überzeugungen faselst!» «Unter den Offizieren ist es üblich, sich zu siezen», unterbrach ich Russajew. Er war drauf und dran, mich nochmals anzuschreien, hielt sich aber unter grossem Willensaufwand zurück und befahl mir zähneknirschend, auf die Hauptwache in Arrest zu gehen. «Sie, Herr Fähnrich, haben jetzt fünf Tage Zeit, über allerhand nachzudenken!» Das Fensterchen meiner mit unterhaltsamen Sprüchen vollgekritzelten Zelle ging auf den Garten hinaus. Das Geissblattgestrüpp wucherte so wild, dass es sich ganz dicht an die Gitter schmiegte und durchaus einen Ersatz für die nicht vorhandenen Gardinen abgab. Ich schlief viel, pfiff gelangweilt vor mich hin, sang, blätterte in den von Bogomolow mir zugeschickten Büchern. Mit einem


Weltreise

Wort: im Gefängnis war mir wonnig und friedlich zumute, war ich doch überzeugt, dass man in Einklang mit dem eigenen Gewissen und nicht mit den Vorgesetzten leben sollte. Sowohl den Arrest als auch die Verweise ertrug ich mit Stolz und weigerte mich weiterhin, einen Soldaten zu schlagen, was sich allerdings schon bald ändern sollte. Einmal wurde ich vor dem Wecksignal wachgerüttelt, und man teilte mir mit, Ustinkin habe sich umgebracht. In jener Nacht hatte er Wache gestanden, und am Morgen fand man ihn, in der Hand einen Stutzsäbel. Er hatte sich die Gurgel durchgeschnitten. Am Abend zuvor hatten sich die Soldaten volllaufen lassen und ihn wieder einmal geschlagen. Ustinkin lag auf dem Rücken, die verbrühte Seite des Kopfes ungeschickt nach oben gekehrt, und Widderlein leckte das Blut von der Wunde. Man wollte den Hund wegjagen, aber er rannte stets wieder herbei. Damals erhielten nur drei eine Strafe, ich war jedoch an einem Punkt, wo ich am liebsten jedem einzelnen Spiessrutenlaufen aufgebrummt hätte. Ich erinnere mich sehr genau an jenen nebligen, bereits leicht frostigen Morgen, an die mit dünnem Eis bedeckten Pfützen, an die wegen der Frostluft besonders klangvolle Trommel, die Mark und Bein durchdringende Flöte. Ich erinnere mich an die wutverzerrten, hasserfüllten Augen der Angeklagten. Ich erinnere mich, wie sie die Hemden auszogen, wie man ihre Hände an die Gewehrkolben fesselte, wie die ersten Hiebe auf ihre Rücken niedersausten, ich erinnere mich an ihre bestialischen Schreie. Und zum ersten Mal empfand ich bei einer solch grässlichen Exekution Genugtuung. � Aus dem Russischen übersetzt von Franziska Stöcklin.

Die Brücke

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ier ist nicht Asien, nicht Europa. Nein: hier ist die Brücke dazwischen. Buchstäblich. Gerade stehe ich – unfreiwillig, denn mein Mietwagen ist stehengeblie-

ben – zwischen zwei Kontinenten, auf der Bosporus-Brücke: der Wind in meinen Haaren weht aus Asien herüber, der Teer unter meinen Füssen, klebend an einer monströsen Stahlkonstruktion, stammt aus Europa. Mehr als 64 Meter unter mir, im Blaugrün des Wassers, verläuft eine uralte Grenze, mein linker Schuh steht in Asien, der rechte in Europa. Jeder, dem ich erzählte, dass ich nach Istanbul reisen würde, und der selbst schon einmal dort gewesen war, sagte, dass ich mich in die türkische Brückenstadt verlieben würde. «Gerade du!» Gerade ich? Nun: jeder vielreisende Mensch beschäftigt sich irgendwann mit der Frage: «Wo werde ich eines Tages landen? An welchem Ort, auf welchem Kontinent werde ich meine Wurzeln schlagen?» Istanbul gehörte bisher nicht zu diesen potentiellen Wurzelorten. Die Stadt zählt zu den grössten der Welt. Mehr wusste ich nicht über Istanbul. Ich gehöre nicht zu den Leuten, die sich vor einer Reise mit Reiseführern auf klugen Informationsaustausch treffen. Aber tatsächlich: Ich habe mich in die Gerüche, in die Farben, in die Geräusche und in die dicken Möwen an den Quais des Bosporus im ersten Augenblick verliebt. Gerade mir, die ich wegen meines orientalischen Aussehens in der Schweiz auf Hochdeutsch und wegen des westlichen Einschlags in China auf Englisch angesprochen werde, wird die Ware auf dem Basar auf Türkisch angeboten. Erst beim zweiten Anlauf wechseln die Verkäufer ins Englische. Gerade ich? Gerade ich. Während ich auf den Abschleppdienst warte (von welchem Kontinent mag er kommen?), geniesse ich nicht nur einen sehr exklusiven, atemberaubenden Ausblick über die Stadt mit ihren Moscheen und Minaretten, sondern auch über eine aberwitzige Menge aus Schiffen und Kähnen, die sich zu fast jeder Tages- und Nachtzeit wie Könige auf dem Bosporus aufführen. Ich finde: Ja, hier, genau hier, würde ich, gerade ich, meine Wurzeln schlagen wollen. Leider hat noch nie ein Baum auf einer Brücke seine Wurzeln geschlagen. Es bleibt für den Moment also bei einem sehnsüchtigen Blick. Und bei der Frage, welcher Fuss wohl gerade besseren Halt gibt: der linke, asiatische, oder der rechte, europäische? Rahel Senn ist Pianistin und wurde 2011 als erste Schweizerin zum interna­tionalen «Young Steinway Artist» ernannt. Die Tochter eines Schweizers und einer Singapurerin befindet sich auf Welttournee und berichtet an dieser Stelle monatlich von ihren Erfahrungen.

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erzählen  Schweizer Monat 1007  Juni 2013  Erzählen  2013

Nacht des Monats Serena Jung trifft île flottante

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enn ich meine Eltern besuche, kann es passieren, dass beide in der Küche stehen und jeder sein eigenes Süppchen kocht. Wortwörtlich: bei meiner Mutter ist es eine «Habersuppe», bei Vater eine koreanische Brühe mit Algen und Tofu. Sie seien nun mal in dem Alter, in dem der Hunger nach dem Geschmack der Kindheit verlange, und deshalb brauche es zwei Suppen. Das Nostalgieargument schlägt jeden Einwand, also verlasse ich das elterliche Heim stets mehr als gut genährt. Als ich der Medienkünstlerin Andrea Gsell an einem Frühlingsabend davon erzähle, verzieht sie keine Miene, sondern schliesst nahtlos daran an. Für das Projekt «Schnitz und drunder» habe sie Mitglieder aus drei Familien – alle zwischen 18 und 101 Jahre alt – zu ihren Ess- und Tischgewohnheiten befragt, wobei immer wieder besondere Geschmackserinnerungen aufgetaucht seien. Ältere Leute etwa erinnerten sich besonders häufig an den Gaumenschmaus von Erbsen, die sie nach dem Krieg direkt von der Staude assen. «île flottante», die «treibende Insel», nennen sich Andrea Gsell und Nica Giuliani, ebenfalls Medienkünstlerin, seit zehn Jahren. Ich treffe die beiden und Stephan Brunner, Musiker und Elektroniker, mit dem sie für das Kunstprojekt «Schnitz und drunder. Ein Tisch erzählt» zusammengearbeitet haben, im Zürcher «Kafi für dich». Den Star des Abends, einen interaktiven Tisch, übersehe ich natürlich viel zu lange. Ist er das? Ein Nicken. Und als ich die Frage nachschiebe, was denn «Schnitz und drunder» eigentlich für ein Menu sei, da prasseln die Antworten von allen drei Seiten gleichzeitig auf mich ein. Einigen können sie sich dann auf ein Nordwestschweizer Gericht mit drei Komponenten: Frucht (Äpfel oder Birnen), Kohlenhydraten (Kartoffeln) und Fett (Rahm, Speck). Um Essbräuche gehe es ihnen und damit auch um ein Stück Schweizer Kulturgeschichte. An diesem Abend findet die sechste Vernissage des Tisches statt, mit dem sie zu einer kleinen Schweizerreise angetreten sind – aber nicht nur deshalb sieht er ein wenig mitgenommen aus. An den Gebrauchsspuren wie Hicken, Kratzern oder dem Flecken eines Weinglases sind «kapazitive Sensoren» angebracht. Was diese genau sind, verstehe ich auch nach der dritten Erklärung noch nicht. Aber was sie auslösen, das kann ich über Kopfhörer erfahren: Ich streiche mit der Hand über die Tischplatte, 96

und bei jeder der sieben Spuren, die es erst zu ertasten gilt, setzt eine andere Stimme ein, die davon erzählt, wie es früher bei ihr am Esstisch zu und her ging. «Schlöörfed denn ned so!» Das durfte man bei Tisch nicht, sonst durfte man aber «allerlei». Zum Weinfleck gehört eine Dame mit Trudi Gersterschem Erzähltalent, die bald zu meiner Lieblingsstimme avanciert. Also bleibe ich lange sitzen, und während sich vor meinem inneren Auge ein Sonntagsfrühstück unter Bäumen, einsame Mittagessen im Familienbetrieb und «Cafés complets» – Kaffee, Konfitüre und Butter – auftun, werden der Tisch und ich mit ihm von immer mehr Menschen umzingelt. Über mein Haupt hinweg wandern Bébés vom einen Paar Arme in das nächste, noch nicht Geborene winden sich unter Bauchfellen und die Den Star des Abends, einen Angehörigen der restliinteraktiven Tisch, übersehe chen Generationen wechseln sich auf den drei ich natürlich viel zu lange. nicht von mir belegten Ist er das? Ein Nicken. Stühlen ab. Irgendwann gebe ich meine Kopfhörer dann doch frei und setze mich an den Nebentisch, an dem immer mal wieder eine der «Inseln» vorbeikommt – ganz flottant/e. Zürich sei eigentlich als letzte Station der Tischtour vorgesehen gewesen, doch hätten sich bereits weitere Interessenten gemeldet, die das Wunderding zeigen möchten. Dabei sei ihr klar: Verkaufen könnte sie den Tisch nie und nimmer, sagt Andrea, zu sinnlich sei die Beziehung zu ihm geworden. Zusammen mit den Grossvätern, Patentanten und Freunden von Cousinen verabschiede ich mich vom zurückbleibenden Tisch. Beim Vorbeigehen streiche ich unbemerkt noch einmal über den Weinfleck, bevor ich dieselbe Bewegung auf meinem Mobiltelefon wiederhole. Darauf Nachricht von Mutter aus dem Urlaub: Spaghetti mit Artischockensauce und Fisch, danach vielleicht noch Crostata ai frutti di bosco. Was der Vater isst, erwähnt sie nicht. �


Schweizer Monat 1007  Juni 2013  erzählen

île flottante und Stephan Brunner, photographiert von Serena Jung.

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Ausblick  Schweizer Monat 1007  Juni 2013

In den nächsten Monaten

Impressum «Schweizer Monat», Nr. 1007, 93. Jahr, Ausgabe Juni 2013 ISSN 0036-7400 Die Zeitschrift wurde 1921 als «Schweizerische Monatshefte» gegründet und erschien ab 1931 als «Schweizer Monatshefte». Seit 2011 heisst sie «Schweizer Monat». VERLAG SMH Verlag AG HERAUSGEBER & CHEFREDAKTOR René Scheu (RS) rene.scheu@schweizermonat.ch RESSORT POLITIK & WIRTSCHAFT Florian Rittmeyer (FR) florian.rittmeyer@schweizermonat.ch RESSORT KULTUR Michael Wiederstein (MW) michael.wiederstein@schweizermonat.ch REDAKTIONELLE MITARBEIT Claudia Mäder (CM) claudia.maeder@schweizermonat.ch Volontariat Serena Jung (SJ) serena.jung@schweizermonat.ch

Robustheit statt Effizienz! Nassim Nicholas Taleb, Tomáš Sedlàček und John Gray über Denkfehler

Freiheit und Familie Carolina Müller-Möhl über bürgerliches Engagement

«Noch ein Leben für John Potocki» Felix Philipp Ingolds neuer Roman jongliert mit Welten

Schlimmstmögliche Wendung Benno Luthiger über das bedingungslose Grundeinkommen

Literarischer Monat #12 Graphic Novel – Mehr als (nur) Lesen Mit Beiträgen von Hannes Binder, Frédéric Pajak u.a.

Fritz Zorn: Mars Christof Moser über die Wiederentdeckung des Schweizers Zorn

Die «Chroniken» Aude Seignes Erfolgsroman zum ersten Mal auf Deutsch

DOSSIER Jede Ausgabe enthält einen eigenen Themenschwerpunkt, den wir zusammen mit einem Partner lancieren. Wir leisten die unabhängige redaktionelle Aufbereitung des Themas. Der Dossierpartner ermöglicht uns durch seine Unterstützung dessen Realisierung. KORREKTORAT Roger Gaston Sutter Der «Schweizer Monat» folgt den Vorschlägen zur Rechtschreibung der Schweizer Orthographischen Konferenz (SOK), www.sok.ch. GESTALTUNG & PRODUKTION Pascal Zgraggen pascal.zgraggen@aformat.ch MARKETING & VERKAUF Urs Arnold urs.arnold@schweizermonat.ch ADMINISTRATION/LESERSERVICE Anneliese Klingler (Leitung) anneliese.klingler@schweizermonat.ch Rita Winiger rita.winiger@schweizermonat.ch Monika Baltensperger monika.baltensperger@schweizermonat.ch FREUNDESKREIS Franz Albers, Georges Bindschedler, Ulrich Bremi, Elisabeth Buhofer, Peter Forstmoser, Titus Gebel, Annelies Haecki-Buhofer, Manfred Halter, Thomas Hauser, Creed Künzle, Fredy Lienhard, Heinz Müller-Merz, Daniel Model, Ulrich Pfister, Ullin Streiff, Stiftung für Abendländische Ethik und Kultur ADRESSE «Schweizer Monat» SMH Verlag AG Vogelsangstrasse 52 8006 Zürich +41 (0)44 361 26 06 www.schweizermonat.ch ANZEIGEN anzeigen@schweizermonat.ch PREISE Jahresabo Fr. 185.– / Euro 135.– 2-Jahres-Abo Fr. 330.– / Euro 245.– Abo auf Lebenszeit / auf Anfrage Einzelheft Fr. 20.– / Euro 17.– Studenten und Auszubildende erhalten 50% Ermässigung auf das Jahresabonnement. DRUCK pmc Print Media Corporation, Oetwil am See www.pmcoetwil.ch BESTELLUNGEN www.schweizermonat.ch

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