Schweizer Monat, 1023, Februar 2015

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B o r i s G r oy s ü b e r K u n s ta r b e i t n a c h d e r d i g i ta l e n R e v o l u t i o n

Ausgabe 1023 Februar 2015 CHF 22.– / Euro 18,–

D i e Au t o r e n z e i t s c h r i f t f ü r P o l i t i k , W i r t s c h a f t u n d K u lt u r

«Ein echter 68er» Elisabeth Alder-Michel, Christoph Blocher, Georg Kohler, Remo Largo und Robert Nef über ihre wilde Zeit

Charlies falsche Freunde Philippe Nemo und Jonathan Turley zum Zustand der Meinungsfreiheit in sogenannt offenen Gesellschaften

Lebe gesund, korrekt und ethisch! Norbert Bolz u.a. über Staatsbevormundung auf Samtpfoten


Individuelle Dienstleistungen für anspruchsvolle Privatkunden und institutionelle Investoren.

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schweizer Monat 1023  Februar 2015  INHALT

Charlies falsche Freunde

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Die grosse Tragödie im Nachgang der Pariser Massaker ist der Umstand, dass in der westlichen Welt wenige wirklich ­hinter «Charlie» stehen.

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Elisabeth Michel-Alder

Jonathan Turley Yves Rossier

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Maximale Souveränität meint unter realen Bedingungen nie reine Selbstbestimmung, sondern Minimierung der Fremdbestimmung.

Vieles war ein Versuch, sich für einen neuen gesellschaftlichen Entwicklungsschub zu rüsten.

Brendan O’Neill

48

Wir müssen heute das Recht auf Unglück einfordern.

Boris Groys

70

Das Internet verrät die Suche nach dem wahren Ich auf radikale Weise.

Diese Seite oben rechts: Elisabeth Michel-Alder, photographiert von Caspar Urban Weber, unten rechts: Boris Groys, photographiert von Valerij Ledenev.

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Inhalt  Schweizer Monat 1023  Februar 2015

Erzählen

Vertiefen

Weiterdenken

Anstossen

Inhalt 7 Charlie Hebdo: stille Fragen in einer lauten Welt René Scheu 8 «Finale» Cora Stephan 8 Handschrift und andere Zumutungen Gottlieb F. Höpli 9 Beim Analytiker Niko Stoifberg und Christina Baeriswyl 11 Eidgenossenschaftsflüchtlinge Christian P. Hoffmann 11 Cry Freedom Mirjam B. Teitler 12 Charlies falsche Freunde Jonathan Turley 13 The New Yorker – Direktimport 16 Vom Einheitsdenken im Land der Freiheit Philippe Nemo 18 «Ein Stilmittel.» – «Genau das ist 68!» – «Da hast du jetzt recht.» Thomas Zaugg diskutiert mit Christoph Blocher, Georg Kohler, Remo Largo, Elisabeth Michel-Alder und Robert Nef 30 Diplomatie und Souveränität Yves Rossier 36 Weltuntergang: schon wieder verschoben Matt Ridley 39 Zur Lage der Perfektion im Schweizer Infrastrukturbau Markus Fäh und Andreas Oertli 40 Der Markt als Menschenbändiger Urs Schoettli 43 Das ist des Putins Kern Nicola Forster 43 Wie viel Sinn machen Leadership-Kurse? Ulrich Zwygart 44 Verführung zur sanften Lenkung Gerhard Schwarz 45 Lebe gesund, korrekt und ethisch! Wie wohlwollende Expertokraten uns erziehen wollen 48 1_Schauen Sie in den Spiegel! Brendan O’Neill 50 2_An der langen Leine Norbert Bolz 55 3_Wir Alkoholiker Markus Schär 60 4_Der Brave-Bürger-Bastelbogen Johannes Richardt 63 5_Sind «Nudges» manipulativ? Cass Sunstein 68 Freihändig Bera Hofer 69 Wechselfreiheit Wolfgang Sofsky 70 Kunstarbeiter: zwischen Utopie und Archiv Boris Groys

78 Essenzen aus dem Magazin 80 82

Nacht des Monats im «Pfuusbus» Nora Schmid Vorschau & Impressum

«B

evormundung» ist ein hartes Wort. Vor dem inneren Auge erscheint ein finster dreinblickender Mensch, der entscheidet, was für mich am besten ist. Niemand will

solche Vormünder – und solche staatlicher Art noch weniger. Aber will darum niemand staatliche Bevormundung? – Die Antwort ist Nein. Längst bestimmen staatliche Autoritäten, wie wir uns zu ernähren, wie wir uns ethisch zu verhalten, wie wir Sex und Beziehungen zu leben haben. Mehr über die neue Kunst der sanften und totalen (einige unserer Autoren meinen: latent totalitären) Anleitung zu einem besseren Leben in unserem Dossier ab S. 45. 1315, 1515, 1815, 2015: Der Kampf um die Deutungs­ hoheit in der Confoederatio Helvetica ist lanciert. Wer die Bedeutung von Daten und Begriffen prägt, prägt auch das Denken und somit das Handeln der Leute. Wir publizieren darum ein besonderes Gespräch über ein ganz anderes Jahr, eines, das zwar nicht jubiläumsträchtig ist, die Gegenwart aber dennoch nachhallend bestimmt: 1968. Christoph Blocher, Georg Kohler, Remo Largo, Elisabeth Michel-Alder, Robert Nef haben sich getroffen – und den einzigen, echten 1968er unter sich erkoren. Mehr ab S. 18. Wer die Schlagzeilen, Bekundungen und Bekenntnisse in den Tagen seit dem perfiden Anschlag von Islamo-Terroristen auf das linke französische Satiremagazin «Charlie Hebdo» mitverfolgt hat, könnte geneigt sein zu glauben, er lebe in Mitteleuropa in einer Oase der Meinungsfreiheit. Das ist leider nicht der Fall. Nicht nur Franzosen beschneiden das Recht auf freie Rede seit Jahr und Tag – die Ahndung von «Meinungsdelikten» gilt längst als zivilisatorische Errungenschaft. Mehr dazu ab S. 12 und ab S. 16. Wir arbeiten, Sie wissen es, ständig an unserem Magazin. Mehr dazu ab März. Ich kündige schon einmal an, dass unsere Kolumnisten Andreas Oertli & Markus Fäh, Gottlieb F. Höpli, Tomáš Sedláček, Wolfgang Sofsky, Cora Stephan und Ulrich Zwygart künftig in anderen Gefässen bitterböse bzw. wohlüberlegte Texte für uns verfassen. Herzlichen Dank für die geleistete Denkarbeit. Auf ein weiteres spannendes (Denk-)Jahr! René Scheu Herausgeber & Chefredaktor PS. Mit dem SNB-Entscheid befassen wir uns in aller Ruhe – also später.

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Schweizer Monat 1023  Februar 2015  Inhalt

Die freie Rede im Visier Wir heissen Florian und Nora, Michael und René, seit dem 7. Januar 2015 aber sind wir alle auch ein bisschen Charlie – oder lieber doch nicht? Unzählige Fragen beschäftigen uns, als Bürger wie als Publizisten, als Europäer wie als Freiheitsfreunde; Antworten haben wir kaum gefunden, nur immer mehr und noch mehr Fragen (s. S. 7). Umso stärker irritiert uns deshalb die Fraglosigkeit, mit der der mediale Mainstream die Dinge zu kanalisieren weiss. Innert Stunden war die Vulgata gefestigt: Der Hass versuchte den Westen im Herzen zu treffen, doch dessen Werte sind stärker als jede Waffe. Tatsächlich? Wenn es um die Stärke der Redefreiheit geht, haben wir unsere Zweifel und deshalb mit Jonathan Turley und Philippe Nemo zwei internationale Kenner gebeten,

Ein Schubser von Cass Sunstein

weiterbeschäftigen.

Es brauchte kein «Nudging», um Cass Sunstein als Autor zu gewinnen. Als wir dem Harvard-Juristen schrieben, dass wir in unserem Februar-Dossier kritische Fragen zu «Nudges» aufwerfen, bot er uns sogleich seine Mitwirkung an. Mehr ab S. 63.

Jetzt spricht der Chefdiplomat

Augenöffner Boris Groys

Im Januar 2014 trat Botschafter Benedikt Wechsler an die Redaktion heran und fragte, ob der «Monat» an einem Essay über Schweizer Aussenpolitik interessiert sei. Seither ist viel geschehen, und das Schweizer Stimmvolk setzt seit dem Ja zur Masseneinwanderungsinitiative grosse Hoffnungen in seine Diplomaten. Im Zuge der neu lancierten Europa-Frage regten wir an, dass Staatssekretär Yves Rossier – möglichst undiplomatisch – sein Verständnis von Souveränität darlegen solle. Dazu war der Chefdiplomat gerne bereit. Am Ende ging’s natürlich dennoch nicht ohne diplomatische Finessen und Satzkonstruktionen. Seine Gedanken lesen Sie ab S. 30.

Ihr nächster Besuch in einem Kunstmuseum wird sich anders anfühlen als alle vorigen. Jedenfalls, wenn Sie Boris Groys’ Essay ab S. 70 gelesen haben…

Es ist angerichtet! Ein Besuch im «Pfuusbus»

Pessi-Mist

die Lage einzuschätzen. Was Sie ab S. 12 lesen, kann freilich nur ein Anfang sein. Bis dieses Magazin erscheint, mag Charlie aus den Schlagzeilen verschwunden sein. Die grundlegenden Fragen aber bleiben – und werden uns in den kommenden «Monaten»

Jeden Abend wandern Obdachlose zu Pfarrer Siebers «Pfuusbus». Die Aussicht auf ein warmes Essen und die Gesellschaft anderer locken Menschen mit unterschiedlichsten Geschichten an. Unsere Praktikantin Nora Schmid beobachtete erstaunt, wie die Befriedigung elementarster menschlicher Bedürfnisse zum ­Höhepunkt des Tages werden kann. Den Report des Besuchs lesen Sie auf S. 80.

Matt Ridley schreibt unermüdlich gegen jegliche Art von Vorurteilen an. Dagegen, dass die Welt im Zuge von IS, dem zu starken Franken oder Justin Bieber schlechter werde. Wer sich vom Gegenteil überzeugen lassen will, schlage S. 36 auf. Aber Vorsicht: Optimisten werden nicht ernst genommen.

Titelbild: Norbert Bolz, photographiert von Andreas Teichmann_laif

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Schweizer Monat 1023  Februar 2015  anstossen

Ohne Scheuklappen René Scheu, Herausgeber und Chefredaktor

Charlie Hebdo: stille Fragen in einer lauten Welt Glauben mitteleuropäische Satiriker und Publizisten angesichts

«Was auf der Langzeitagenda steht, ist die Europäisierung

von Gewehren und Granaten wirklich noch an die Macht

des Islams, nicht die Islamisierung Europas.» (Sloterdijk, 2006)

des Wortes? – Ist die Publikation anstössiger Cartoons heute ein

Wie weit ist das Projekt gediehen (Stand 2015)? – Ist die

mutiger Akt in einer angespannten Lage? Oder ist es Effekt­

Integration von Menschen aus anderen Kulturkreisen auf der

hascherei in einer empörungsbereiten Gesellschaft? – Fehlt es

Basis eines abstrakten Weltethos vorstellbar? Oder braucht

Terroristen und Satirikern gleichermassen an Phantasie?

es hierfür die Definition einer konkreten heimischer Leitkultur? –

Während die einen jede Schmähung Mohammeds auf sich

Besteht Aussicht, dass sich die Bewohner europäischer

beziehen, glauben die anderen, dass selbst die grösste Provokation

Länder auf eine Leitkultur zu einigen vermögen? – Wer von jenen,

bloss noch eine Schlagzeile mit geringer Halbwertszeit bewirke. –

die sich auf die «christliche Kultur» berufen, hat die Bibel

«Charlie Hebdo» kommt aus der linken Ecke. Hätten sich die

gelesen? – Wer von jenen, die sich auf «unsere Werte» berufen,

mitteleuropäischen Medienschaffenden ebenso solidarisch

hat sich jemals für Werte interessiert? – Ist «Verfassungs­

erwiesen, wenn ein rechtes Magazin aufgrund islamkritischer

patriotismus» bloss ein weiteres Nebelwort? Oder ist es die

Publikationen attackiert worden wäre? – Dieselben, die nun

vage Ahnung einer Lösung?

die Meinungsfreiheit wortgewaltig verteidigen, tolerieren gemein­ hin nur ungern Meinungen, die ihre gesellschaftlichen Glaubens­

***

sätze attackieren. Bemerken sie die eigene Scheinheiligkeit? –

Sind Islamisten die Feinde des Islams? Oder ist der Islam

Ist es ein zivilisatorischer Fortschritt, die Bekundung von

der Feind der Muslime? – Wer hat den Koran wirklich von

(dummen und falschen) Worten unter Strafe zu stellen, oder ist

A bis Z gelesen: die praktizierenden Muslime oder die praktizie­

es ein barbarisches Relikt? – Kann die Verteidigung des Rechts

renden Gewalttäter? – Wird die in europäischen Medien ­

auf freie Rede etwas anderes meinen als dies: die Freiheit zu

kanonisch gewordene Unterscheidung zwischen Islam (gut)

verteidigen, dass Mitmenschen Meinungen äussern, die ich selbst

und Islamismus (nicht gut) von Muslimen geteilt? – Die Mörder

nicht teile bzw. ablehne bzw. mit aller Vehemenz zurückweise? –

von Paris gaben vor, die Diffamierung Mohammeds zu sühnen.

Wo genau verläuft die Grenze zwischen Wort und Tat, zwischen

Warum begnügen sie sich nicht damit, auf die in ihren Augen

Meinungsäusserung und Anstiftung zu Hass? – Satire darf alles,

Ungläubigen herabzublicken? – Das eigene Leben ist in westlichen

muss aber nicht alles. Ist das korrekt? – Wer hat das Recht zu

Gesellschaften das höchste Gut. Und der eigene Tod ist das, was

entscheiden, wo der Spass aufhört? Der Sichbetroffenfühlende?

sich nicht tauschen lässt. Gilt diese Prämisse nicht mehr,

Die Mehrheit? Die Richter? Oder mangels Alternativen eben:

müssen alle Sicherheitssysteme neu gedacht und gebaut werden?

niemand?

***

Die grosse Frage ist: Wie lassen sich Leute stoppen, denen ihr eigenes (irdisches) Leben nichts bedeutet, die also jederzeit bereit sind, es für ein höheres Gut zu tauschen? – Neigt, wer das eigene

Wie hoch ist der Anteil der Atheisten unter Muslimen,

Leben als das höchste Gut betrachtet, zur Feigheit oder

in europäischen und muslimischen Ländern? Liegt er höher

zum Wagemut? – Macht Freiheit müde? Macht die Bedrohung

als unter Christen und Juden? Oder tiefer? – Wie hoch ist

der Freiheit wach?

die Geburtenrate unter Muslimen, in europäischen und in den muslimischen Ländern? – Wie hoch ist die Quote junger

***

muslimischer Männer, die Statusphantasien entwickeln, ohne

Wird in den heutigen Mediengesellschaften nur noch gehört,

sich zuzutrauen, sich Status durch Leistung zu verdienen?

wer schreit? – Wie viel Lärm braucht es, bis das stille,

Und wie hoch ist die Quote jener, die wollen, aber nicht können? –

das überlegte Wort wieder gehört wird?

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Anstossen  Schweizer Monat 1023  Februar 2015

Nebelwerfer

«Finale»

A

Handschrift und andere Zumutungen

Cora Stephan

Gottlieb F. Höpli

ist Publizistin und Schriftstellerin. Von ihr zuletzt erschienen: «Angela Merkel: ein Irrtum» (Knaus, 2011) und der Roman «Erleuchtung» (List, 2012, unter dem Pseudonym Anne Chaplet).

war bis ins Jahr 2009 Chefredaktor des «St. Galler Tagblatts» und ist Präsident des Vereins Medienkritik Schweiz.

h! Der Höhepunkt! Das rauschende Finale! Hören Sie den Tusch? Die schmetternden Hörner, das klagende Fagott, die schmeichelnden Streicher? Ein Abgang mit Pauken und Trompeten, das ist doch, was sich jeder wünscht, wenn es dem Ende zugeht. Finale furioso! Und kein finales Siechtum. Nein, Ende ist nicht gleich Ende. Finis! – das ist Triumph, das ist der schmissige letzte Strich mit Pinsel oder Feder unter das vollendete Werk: es ist vollbracht. Ich hab’s geschafft. Seht her: die finale Kolumne im geschätzten «Monat», eine Kunstgattung übrigens, die zärtlich geschliffen und poliert werden muss, bevor sie mit dem Finish versehen wird, das sie zum Glänzen bringt. Doch leider ist die schöne Finalität auch dem Finassieren verwandt, womit ein Trick bezeichnet wird, ein Kunstgriff, ein bisschen Pferdetäuscherei, nicht immer mit Finesse. Wie oft schon, etwa, hat jemand das Ende vorhergesagt, damit das Geld im Ablasskasten klimpert, Heerscharen von Gläubigen haben daran geglaubt, und was geschah? Kein Donnerschlag, kein Knall und noch nicht mal ein wenig Gewimmer. Das Ende ist uns so lange schon nah, dass es uns wie ein guter Freund vorkommt. Wehe aber, wenn einer das grosse Finale banal auf «die Finals» zusammenschrumpeln lässt, ein irreführender Plural, denn es gibt nur ein Ende, das wert ist, so genannt zu werden. Wer es deutsch haben muss, weil er sich auf so etwas Britisches wie «the finals» nicht verständigen kann, versteht nichts von Tuten und Blasen, sondern pfeift aus dem letzten Loch. Das Endspiel nämlich erreicht seinen Höhepunkt nicht mit Pauken und Trompeten, sondern mit dem Abpfiff. Und das, mit Verlaub, ist ein Absturz. Und deshalb, liebe Leser: ich pfeif Ihnen keins. Ich wünsche Ihnen bloss weiterhin Zeit zum Denken und zum Lesen und zum Hören – vielleicht, warum nicht, Beethovens 9., IV. Satz: Finale. Die Ode an die Freude. Fini. �

8

Controcorrente

D

as war wohl das schlimmste Fettnäpfchen, in das ich letztes Jahr getreten bin: Ich schrieb einer jungen Dame einen Brief. Von Hand! Mit dem Wunsch, sie doch bald wieder einmal zu sehen. Reaktion: Schockstarre, Schweigen. Enthielt der Brief vielleicht Unziemliches, Ausdrücke, die eine junge Dame erröten liessen? Keineswegs. Es muss das Handschriftliche gewesen sein, das ihr so fremd, so ungewohnt intim vorkam – anscheinend hätte ein Nackt-Selfie sie nicht stärker schockieren können als mein handgeschriebener Brief. Junge Damen können aufatmen, denn das wird ihnen – und künftigen Generationen – wohl nicht mehr passieren. Die Handschrift, heisse sie nun Grund-, Basisoder Schulausgangsschrift, wird nicht mehr das Kommunikationsmedium für persönliche und intime Mitteilungen sein. Weil es nämlich kaum mehr Handschriften geben wird, die diesen Namen verdienen. In unseren Schulen wird die Schnürlischrift, aus der sich eine persönliche Handschrift entwickeln könnte, bekanntlich demnächst abgeschafft. Dann wird schriftlich bestenfalls noch per Einzelbuchstaben gestottert. Arme Graphologen! Unsere Schriftbildungsreformer stehen damit noch nicht einmal an der Spitze des Fortschritts. In Finnlands Schulen wird ab 2016 auf das handschriftliche Schreiben ganz verzichtet. «Flüssig tippen ist eine nationale Kompetenz», sagt das finnische Bildungsministerium. Und in Holland existieren bereits über 20 private «Steve-Jobs-Schulen», an denen Papier und Bleistift nur noch als historisches Anschauungsmaterial dienen. Dabei belegen Experimente, dass eigenhändiges Aufzeichnen die gedankliche Aneignung des Stoffes viel besser fördert als blosses Tippen – weil dadurch mehr Hirnregionen aktiviert werden. Wer schreibt, der lernt. Und wenn Buchstaben, Silben, Wörter, Zahlen keine individuelle Gestalt mehr haben, dann kann dies auch auf den Inhalt abfärben. Das Wort von der Schrift als Spiegel der Seele bekäme folglich eine neue, eine fatale Bedeutung… �


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Stoifberg/Baeriswyl

Beim Analytiker

Niko Stoifberg ist Autor und Journalist in Luzern, Christina Baeriswyl arbeitet in Zürich als Artdirectrice und Illustratorin. Ihre Cartoons erscheinen erstmals und exklusiv im Schweizer Monat.

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Freie Sicht

Lex & the City

Eidgenossenschafts- Cry flüchtlinge Freedom

U

Christian P. Hoffmann

Mirjam B. Teitler

ist Assistenzprofessor für Kommunikationsmanagement an der Universität St. Gallen und Forschungsleiter am Liberalen Institut. Er ist Beirat des Geschäftsberichte-Symposiums und Autor der Zeitschrift «The Reporting Times».

ist Rechtsanwältin und Partnerin bei Teitler Legal and Media Consulting. Folgen Sie ihr bei Twitter: @MirjamTeitler.

nternehmen zu besteuern ist kompliziert. Jedenfalls scheint es so – warum sonst müsste die Unternehmensbesteuerung laufend reformiert werden? Aktuell wird in Bundesbern die Unternehmenssteuerreform III diskutiert. Schon der Name ist ein Ungetüm, das eine Abkürzung verdient hätte. «UnSteRe» – oder etwas in der Art. Andererseits, ältere Zeitgenossen erinnern derartige Abkürzungen doch zu sehr an den verstümmelten Neusprech der DDR. Vielleicht gerade darum sollte man der Reform aber die klumpige Abkürzung verpassen! Denn auch inhaltlich erinnert die UnSteRe III ein bisschen an die DDR. Neben der einen oder anderen antikapitalistischen Spitze – Bundesrätin Widmer-Schlumpf bringt die Sozialisten mit der Forderung nach einer Kapitalgewinnsteuer einmal mehr zum Schwärmen – findet sich im offiziellen Reformvorschlag etwas, das sich «Wegzugssteuer» nennt. Was ist das genau, eine Wegzugssteuer? Na, wie der Name schon sagt: eine Steuer auf den Wegzug eines Steuersubjekts. Wenn Sie also den Fehler begangen haben, eine Unternehmung in der Schweiz zu gründen, und dann obendrein noch die Dummheit begehen sollten, den Sitz dieses Unternehmens ins Ausland zu verlagern, dann wird eine Strafzahlung fällig. Das ist nur logisch, denn sonst könnten sich die Schweizer Unternehmer ja der geplanten Kapitalgewinnsteuer einfach entziehen, nämlich indem sie das Land verlassen. Das kommt dem ZK, Verzeihung, dem Bundesrat nicht in die Tüte! In der DDR nannte man Bürger, die sich den sozialistischen Beglückungen ihrer Regierung durch Ausreise entziehen wollten, «Republikflüchtlinge». Und auch in der DDR konnten sich politische Gefangene freikaufen. Die Wegzugssteuer ist also historisch bewährt. Das heisst – zumindest wenn man den Kapitalismus überwinden möchte, wie die Schweizer SP. Wie gut für die SP, dass sie über drei Bundesräte verfügt und so auch subversive Elemente in die Regierungsvorlagen einschmuggeln kann. Fragt sich nur: Für was steht eigentlich nochmal BeDePe? �

E

in Samstagmorgen im Winter. Es ist früh und ich bin auf dem Weg nach Brasilien. Die elf Stunden vergehen leider nicht im Flug. Nach dem Studium diverser Zeitungen und dem Genuss des neuen Woody-Allen-Streifens bleibe ich beim Scrollen durch das Bordprogramm bei «Cry Freedom» hängen. Der Film war einer meiner ersten Kinobesuche vor 27 Jahren! Ich erinnere mich noch gut, wie mir meine Mutter damals erklärte, dass in Südafrika nicht alle Menschen gleich seien und dort viele Ungerechtigkeiten geschähen. Was verfassungsmässige Rechte sind, wusste ich damals nicht. Aber für Unrecht und Willkür hatte ich schon immer ein Gespür. «Cry Freedom» erzählt die Geschichte des schwarzen südafrikanischen Bürgerrechtlers Steve Biko und des Journalisten Donald Woods. Der Film zeigt, was es heisst, Freiheit und Demokratie mit Füssen zu treten: Biko stirbt an Folterfolgen und über Woods, der die Ereignisse dokumentieren will, wird ein Bann verhängt. Er darf während fünf Jahren nicht mit mehr als einer Person in einem Raum sein, seine Bewegungsfreiheit wird eingeschränkt und sein Leben detailliert überwacht. Um dem Ganzen den Schein von Rechtsstaatlichkeit zu verleihen, werden derartige Ungeheuerlichkeiten von nationalen, pseudogerichtlichen Kommissionen durchgewinkt. Woods und seine Familie können sich trotzdem ins Exil retten, und dort kann er über die Not und das Unrecht berichten. Auch das Schicksal von Südafrika hat sich zum Positiven gewendet: Die Apartheid gehört der Geschichte an. Der Film rüttelt mich ein zweites Mal auf, und die Luxusdebatten, in denen der Begriff Freiheit bloss im Zusammenhang mit ein bisschen mehr oder weniger Staat, ein bisschen mehr oder weniger Sozialhilfe und ein bisschen mehr oder weniger Rente fällt, erschienen mir plötzlich nichtig. Denn Freiheit bedeutet zuallererst: jedweder Willkür und grobem Unrecht kann man nur mit einer guten Verfassung, strikter Gewaltentrennung nach internationalen, rechtsstaatlichen Standards und Zivilcourage entgegenwirken. �

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Weiterdenken  Schweizer Monat 1023  Februar 2015

Charlies falsche Freunde Wer Charlie ist, ist noch lange kein Anwalt der Redefreiheit. Im Gegenteil: Die Politiker, die sich in Paris am sichtbarsten für sie stark machten, setzen ihr im Westen am meisten zu – allenthalben werden unliebsame Meinungen gesetzlich beschnitten. Eine Bestandsaufnahme. von Jonathan Turley

E

s war einer der grössten und bewegendsten Aufmärsche in der Geschichte von Paris. Vor Millionen von Leuten, die das Massaker an den Journalisten von «Charlie Hebdo» betrauerten, standen die westlichen Politführer und bekundeten, Arm in Arm mit François Hollande, ihre Solidarität und ihre Unterstützung für die Redefreiheit. Alle verkündeten «Je suis Charlie» – man wird es einigen der überlebenden Zeichner aber nachsehen, dass sie darob etwas verwirrt waren. Schliesslich waren die Opfer der Zeitschrift zuvor jahrelang von Klagen bedroht gewesen. So sagte denn einer der überlebenden Redaktoren auch, dass ihm die jetzigen Solidaritätsbekundungen Brechreiz verursachten. Für Anhänger einer liberalen Staatsordnung ist klar, dass die obrigkeitliche Beteuerung «Wir stehen hinter Charlie» nicht mit einem wirklichen Bekenntnis zur Redefreiheit zu verwechseln ist. Tatsächlich stellen die westlichen Regierungen heute nämlich die grösste Bedrohung für die Redefreiheit dar, indem sie geäusserte Meinungen – vor allem solche antireligiöser Natur – immer stärker kriminalisieren und strafrechtlich verfolgen. War sie einst das entscheidende Recht der westlichen Zivilisation, ist die Meinungsäusserungsfreiheit heute im Westen am Aussterben, und nur wenige führende Politiker bedauern ihren Hinschied ehrlich. Rund um die Welt ist das Reden unter Beschuss und eine stattliche Reihe von Antidiskriminierungsgesetzen geraten. Es ist die Ironie eines neuen Liberalismus, dass der Westen alles tolerieren will – ausser der Intoleranz. Im Namen von Pluralismus und Toleranz werden folglich Äusserungen beschnitten, die eine Person auf religiöser, rassischer, ethnischer, geschlechtlicher oder anderer Ebene beleidigen oder erniedrigen. Daraus resultiert ein wachsender, wenn nicht unstillbarer Appetit auf Regulierung der freien Rede – ein Appetit, der nach gewalttätigen Reaktionen auf kontroverse Publikationen nur immer weiter zunimmt. Die jüngste Tragödie in Frankreich folgt einem allzu vertrauten Muster, das bei der «Publikation» beginnt und in der «Anklage» endet. Man braucht sich nur in Erinnerung zu rufen, was 2005 geschah, als die dänischen Karikaturen veröffentlicht wurden und die weltweiten Aufstände zum Mord an Nichtmuslimen und zu Brandanschlägen auf Kirchen und Häuser führten. Der Westen stellte sich hinter das Recht auf freie Meinungsäusse-

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Jonathan Turley ist Rechtsprofessor an der George Washington University, Kolumnist u.a. bei der «Washington Post» und der «New York Times» sowie Betreiber eines Blogs zur Verteidigung der Redefreiheit (www.jonathanturley.org).

rung – um dann still und leise die strafrechtliche Verfolgung der Rede hochzufahren. Dasselbe geschah 2012, als der Billigtrailer eines niederklassigen Films auf YouTube gestellt wurde. Der Trailer zum Film «Innocence of Muslims» wurde als Islambeleidigung erachtet und hatte wiederum Mord- und Brandanschläge zur Folge. Wieder beteuerten westliche Politiker, dass sie hinter der Redefreiheit stünden – während sie gleichzeitig immer härter gegen antireligiöse Äusserungen vorgingen. In den USA bestand Präsident Obama zwar darauf, dass der Filmemacher Na­ koula Basseley Nakoula jedes Recht habe, den Film zu produzieren. Im Anschluss an diese Erklärung sah die Welt dann aber, wie der Filmemacher in Handschellen in ein Polizeiauto bugsiert und wegen technischer Verstösse gegen die Bewährungsauflagen in zusammenhanglosen Fällen verhaftet wurde. Das war die perfekte Lösung: Verteidigung und Verhinderung der freien Rede in einem. Dieses Muster setzt sich nun in Frankreich fort. Nachdem Präsident Hollande die Kundgebung für die Meinungsäusserungsfreiheit angeführt hatte, begann die französische Staatsanwaltschaft, scharf gegen unliebsame Redner vorzugehen. Über 50 Personen sind seit den Pariser Terrorattacken verhaftet worden, darunter auch Dieudonné, der früher schon wegen antisemitischen Witzen angeklagt gewesen war. Diesmal geriet er in Konfrontation mit dem Gesetz, weil er auf Facebook gepostet hatte, dass er sich wie «Charlie Coulibaly» fühle – und also den Namen von «Charlie Hebdo» mit jenem des Attentäters Amédy Coulibaly vermischt hatte. Dass Karikaturisten und Komiker vom strengen Redekodex besonders betroffen sind, ist nichts Neues. Sabina Guzzanti zum Beispiel musste sich 2008 vor der römischen Staatsanwaltschaft verantworten, weil sie bei einer Demonstration gewitzelt hatte, dass «der Papst in 20 Jahren sein wird, wo er hingehört – in der Hölle, gequält von Teufeln und Schwuchteln».


schweizer Monat 1023  Februar 2015  Weiterdenken

Zunehmend verweisen die westlichen Führungsriegen auf die Gefahren der Redefreiheit; für Politiker ist die Redefreiheit eine Abstraktion, und folglich neigen sie dazu, sich stärker den fassbareren Folgen, den Aufständen und Morden, zuzuwenden. Dennoch bemisst sich gerade am Schutz unpopulärer und unliebsamer Äusserungen der Freiheitsgrad einer Nation – gäbe es nur wohlgelittene Äusserungen auf der Welt, bräuchte die Redefreiheit nicht verteidigt zu werden. Die unpopuläre Rede mag in vielem verabscheuenswert sein, doch vermag sie es zuweilen auch, neues Licht auf gehegte Orthodoxien oder auch den Staat selbst zu werfen. Dass die grosse Mehrheit von gewalttätigen Vorfällen im Zusammenhang mit der Redefreiheit in Reaktion auf Religionskritik erfolgt, ist kein Zufall. Bringt man aber die kritischen Stimmen zum Schweigen, so trägt man damit nichts zur Überwindung der offenbar vorhandenen Spaltungen bei. Man schafft dadurch lediglich den falschen Anschein von Einigkeit – während die Divisionen unter der Oberfläche erhalten bleiben und weiterschwären. Nichtsdestotrotz erfreut sich die erzwungene Ruhe bei vielen Regierungsmitgliedern grosser Beliebtheit. Nach den Tötungen von 2012 sagte UNO-Generalsekretär Ban Ki-moon: «Wenn Leute die Meinungsäusserungsfreiheit benutzen, um zu provozieren oder die Werte und den Glauben von anderen zu demütigen, dann kann das nicht geschützt werden.» Gleichermassen erklärte die damalige australische Premierministerin Julia Gillard vor den Vereinten Nationen: «Unsere Toleranz darf nie so weit gehen, Hass auf Religiöses zu tolerieren.» Und Präsident Obama verkündete der Versammlung, dass «die Zukunft nicht jenen gehören darf, die den Propheten des Islams verunglimpfen». Diese Zukunft sieht für Verteidiger der Meinungsfreiheit ziemlich düster aus. Sogar gegen Kommentare, die selber Ausdruck religiösen Glaubens sind, gehen westliche Regierungen inzwischen schon vor. In Polen zum Beispiel wurde das katholische Magazin «Gosc Niedzielny» mit 11 000 Dollar gebüsst, weil es zu «Verachtung, Feindschaft und Bosheit» angestiftet habe, indem es den Schwangerschaftsabbruch einer Frau mit den medizinischen Experimenten von Auschwitz verglichen hat. Ebenso sind ein österreichischer Gesetzgeber, ein indischer Verleger und ein finnischer Stadtrat angeklagt worden, weil sie Mohammed aufgrund seiner Heirat mit der sechsjährigen Aisha (vollzogen, als sie neun war) einen «Pädophilen» nannten. Wenn es darum geht, das Reden zu regulieren, um die Leute von der Veröffentlichung beleidigender oder herabsetzender Kommentare abzuhalten, tun sich einige westliche Länder besonders hervor. Die folgenden Fälle mögen das beispielhaft illustrieren. Frankreich Das französische Gericht verurteilte den Modedesigner John Galliano wegen diskriminierender Kommentare; er war in einer Pariser Bar an ein Pärchen geraten und hatte es mit Flüchen, sexistischen und antisemitischen Ausdrücken eingedeckt.

Frankreich machte die Leugnung des türkischen Genozids an den Armeniern zu einem Verbrechen. Zwar hob ein französisches Gericht das Gesetz 2012 auf. Indes bleibt es ein Verbrechen, den Holocaust zu leugnen. Brigitte Bardot wurde verurteilt, weil sie 2006 in einem Brief an den damaligen Innenminister und späteren Präsidenten Nicolas Sarkozy schrieb, dass die Muslime Frankreich zerstörten. 2008 musste sich der französische Autor Pierre Péan wegen Rassenhass vor Gericht verantworten, nachdem er sich in einem Buch zum Genozid in Ruanda abschätzig über Tutsis geäussert und ihnen auf vier Seiten eine Lügen- und Betrugskultur unterstellt hatte. 2013 wurde eine Mutter wegen «Verbrechensverherrlichung» verurteilt, weil sie ihren Sohn «Jihad» getauft und den Dreijährigen in einen Pulli gesteckt hatte, der die Aufschrift «Je suis une bombe» trug. Auf der Rückseite standen sein Name und der Vermerk «Né le 11 septembre» – denn der Knabe war am 11. September 2009 zur Welt gekommen. England Vor zwei Jahren wurde ein fünfzehnjähriges Mädchen verhaftet, weil es einen Koran verbrannt hatte. Ein Fünfzehnjähriger wurde festgenommen, weil er vor einem Scientology-Gebäude ein Schild hochhielt, auf dem stand: «Scientology ist keine Religion, sondern ein gefährlicher Kult.» Ein Berater des früheren Aussenministers David Miliband wurde wegen «Anstiftung zu religiösem Hass» verurteilt, nachdem er in seinem Fitnessstudio beim Verfolgen einer News-Sendung zu den israelischen Gaza-Bombardierungen Unanständigkeiten über Juden von sich gegeben hatte. Ein baptistischer Strassenprediger wurde wegen Verursachung von «Belästigung, Gefahr oder Leid» belangt, nachdem ein homosexueller Polizeibeamter zufällig mitgehört hatte, wie er Homosexualität als Sünde bezeichnete. Der 39jährige Barry Thew wurde verurteilt, weil er ein selbstgemachtes T-Shirt mit anstössiger, gegen die Polizei gerichteter Aufschrift («KILL A COP 4 FUN.co.uk HA, haaa?») getragen hatte. 2013 wurde der 44jährige Sandwichladenbetreiber Neil Phi­ lipps verhaftet und stundenlang verhört, weil er einen Witz über Nelson Mandelas langsames Sterben gemacht hatte. In einem Online-Medium hatte Philipps seine PC-Probleme mit verfänglichen Worten beschrieben: «Das Herunterfahren meines PCs dauert so lange, dass ich entschieden habe, ihn Nelson Mandela zu taufen.» Kanada Der Komiker Guy Earle wurde wegen Verletzung der Menschenrechte eines lesbischen Pärchens verurteilt, nachdem er sich im Rahmen einer von einem Nachtclub organisierten Open-MikeVeranstaltung in ein blödes Geschwätz mit einer Frauengruppe verstrickt hatte. Marc Lemire, der Webmaster einer rechtsextremen Website, wurde bestraft, weil er auf seiner Seite Kommentare von Drittper-

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28. internationales Europa Forum Luzern

27. April 2015 europa-forum-luzern.ch

Direkte Demokratie auf dem Prüfstand Folgerungen für Wirtschaft und Politik

Unter anderen mit:

Simonetta Sommaruga

Michael Ambühl

Pascal Couchepin

Silja Häusermann

Urs Schwaller

Pierin Vincenz

Bundespräsidentin, Vorsteherin EJPD

Professor für Verhandlungsführung und Konfliktmanagement, ETH Zürich

ehem. Bundesrat

Professorin für Schweizer Politik und Vergleichende politische Ökonomie, Universität Zürich

Ständerat, CVP

CEO, Raiffeisen

Tagungspartner

Medienpartner

Netzwerkpartner

Die Volkswirtschaft Moneycab Neue Zürcher Zeitung people2power persönlich Schweizer Monat swissinfo

foraus nebs scienceindustries Swissmem VSUD zda


schweizer Monat 1023  Februar 2015  Weiterdenken

«Zunehmend verweisen die westlichen Führungsriegen auf die Gefahren der Redefreiheit; für Politiker ist die Redefreiheit eine Abstraktion, und folglich neigen sie dazu, sich stärker den fassbareren Folgen, den Aufständen und Morden, zuzuwenden.» Jonathan Turley

sonen zugelassen hatte, die Homosexuelle und Schwarze beleidigten. Das Bundesgericht befand, dass der minimale Schaden, den die Meinungsäusserungsfreiheit durch das Urteil nehme, vom daraus resultierenden Schutz für schwache Gruppen und die Beförderung der Gleichheit bei weitem aufgewogen werde. 2008 hat die Menschenrechtskommission von Alberta den Pfarrer Stephen Boissoin und die Concerned Christian Coaliation wegen schwulenfeindlicher Äusserungen in einem Leserbrief bestraft und dabei nicht nur Schadenersatz gesprochen, sondern auch gleich allfällige künftige als unangebracht erachtete Äusserungen zensuriert. Zwar ist die Menschenrechtskommission zum Schluss gekommen, dass «sich kein direktes Opfer gemeldet hat». Dennoch ordnete sie an, dass einem Collegeprofessor für das Vorbringen der Klage Schadenersatz zu zahlen sei und die Angeklagten künftig auf «verunglimpfende Bemerkungen» zu verzichten hätten. 2008 wurde aufgrund der Veröffentlichung der dänischen Mohammed-Karikaturen gegen den rechten Publizisten Ezra Levant ermittelt – wegen «aufhetzender Karikaturen in Medien» und der Anschuldigung eines Muslims, wonach Levant «mich und meine Familie diffamiert hat, denn wir folgen dem Propheten Mohammed und sind ihm anverwandt». Die USA schneiden zwar hinsichtlich Rechtsprechung im Zusammenhang mit dem Ersten Verfassungszusatz besser ab. Stimmen, die nach Regulierung der freien Rede rufen, sind aber auch hier zu hören. Als jüngst etwa ein Rodeo Clown mit einer ObamaMaske auftrat, wurden Forderungen nach einer Untersuchung wegen Hass-Verbrechens laut. Auch gab es – von den Gerichten

abgelehnte – Anstrengungen, israelkritische U-Bahn-Werbungen zu verbieten. Am besorgniserregendsten aber war, dass die Oba­ ma-Regierung eine UNO-Resolution unterstützte, die den Ländern das Recht auf die Kriminalisierung von antireligiösen Meinungen zugestand, um Anstiftungen zu Verbrechen zu verhindern. Die Vorlage wurde weitum als neues «Blasphemiegesetz» angeprangert, das von mit den USA alliierten muslimischen Staaten konzipiert worden sei. Lange haben sich muslimische Länder bemüht, den Westen davon zu überzeugen, dass eine Äusserung ein Akt der Anstiftung sei. Diese Prämisse läuft der Idee der Meinungsäusserungsfreiheit im innersten Kern zuwider. Doch die besagte Resolution 16/18 hat es geschafft, die USA und andere westliche Länder hinter der Auffassung zu versammeln, dass Rede eine Form von Gewalt sei. Letztlich endet man damit aber bei nichts anderem als bei einer neuen Bezeichnung dessen, was früher Verfolgung von Blasphemie hiess. In all den aufgezählten Fällen zeigt sich weit mehr als nur fehlende Unterstützung für die Meinungsfreiheit. Was sich hier zeigt, sind Verletzungen der Meinungsfreiheit. Die grosse Tragödie im Nachgang der Pariser Massaker ist deshalb der Umstand, dass in der westlichen Welt wenige wirklich hinter «Charlie» stehen. So bewegend es war, dass sich Millionen rund um die Statue versammelten, die Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit verkörpert. Die traurige Wahrheit bleibt, dass Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit in einem verlorengehen, wenn die Freiheit im Namen der Gleichheit und der Brüderlichkeit geopfert wird. � Aus dem Amerikanischen übersetzt von Claudia Mäder.

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Vom Einheitsdenken im Land der Freiheit Wie ist der Terrorismus zu bekämpfen, wie gegen seine Basis anzugehen, wie die Perspektivlosigkeit junger Immigranten zu beheben? Niemand kennt die Antworten auf diese Fragen. Klar ist nur: Um nach Lösungen zu suchen, braucht es eine offene Diskussionskultur. In Frankreich sucht man aber selbst danach vergebens. von Philippe Nemo

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m Gefolge der islamistischen Attentate auf «Charlie Hebdo» hat Frankreich die Oberhäupter der ganzen Welt nach Paris kommen und die Massen aufmarschieren lassen, um die «Meinungsfreiheit» zu verteidigen. Paradoxerweise sind die Organisatoren dieser Kundgebung aber seit 30 Jahren für den Erlass von Gesetzen verantwortlich, die dieser Freiheit direkt zuwiderlaufen. Sie haben in Frankreich ein Einheitsdenken durchzusetzen versucht – und Widerspruch unter Androhung von Geld- und Gefängnisstrafen verboten. Auf einzigartige Weise haben sie die Meinungsfreiheit, wie sie im Pressegesetz von 1881 definiert und in der Dritten, Vierten und zu Beginn der Fünften Republik angewandt worden war, beschnitten. Mit Zwang wollten sie den Franzosen angebliche «Werte der Republik» aufoktroyieren. Dieses Vorgehen ist wohl einzigartig in der westlichen Welt: Auch die Vereinigten Staaten, Deutschland oder die Schweiz sind Republiken, auch dort werden demokratische Werte und die Menschenrechte geachtet, mir wäre aber nicht bekannt, dass es in diesen Ländern Bemühungen staatlicher Ideologiekontrolle und Repressionen gegenüber nichtkonformen Intellektuellen gegeben hätte, die sich mit den heute in Frankreich zu beobachtenden vergleichen liessen. So stehen wir also vor dem paradoxen Ergebnis, dass man die Franzosen dazu aufruft, den terroristischen Attacken vereint die Stirn zu bieten – und gleichzeitig jene belangt und verklagt, die offen über die Ursachen dieser Ereignisse zu sprechen versuchen. Das ist ein krasser Widerspruch. Die freiheitsbedrohenden Gesetze, von denen ich spreche, verbieten es, den geringsten – und noch nicht einmal beleidigenden, sondern nur schon reservierten oder kritischen – Kommentar zum Islam zu machen: ansonsten droht sogleich eine Anklage wegen «Rassismus». Ohne von der Annahme ausgehen zu wollen, dass der Islam an und für sich der Grund für die Attentate sei, muss man bereit sein zu erkennen, dass die massive und unkon­ trollierte Immigration von Dutzenden Millionen Muslimen in Europa eine Rolle spielt. Es sind so viele dieser Menschen in die europäischen Länder gekommen, dass die normalen Funktionsweisen der Assimilierung nicht mehr greifen konnten. Und in ebendiesen Milieus von jungen Immigranten, die nicht integriert sind, keine Aussicht auf eine Stelle haben und sich zurückgewiesen

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Philippe Nemo ist Professor für politische und soziale Philosophie an der École Supérieure de Commerce de Paris und hat sich u.a. in seinem Buch «La régression intellectuelle de la France» (Texquis, 2011) mit den französischen Zensurgesetzen befasst.

fühlen, rekrutieren sich die Mörder. Niemand kann heute wissen, welches die richtigen Lösungen für dieses Problem sind. Muss man abrupt die Immigration stoppen, Teile der Immigranten ausweisen, in Syrien oder Afrika Krieg führen, die Integrationsanstrengungen in der Schule verstärken, oder ist es der Islam selbst, der sich reformieren muss? Um Antworten zu finden, sollte man zuallererst und sofort damit beginnen, die genannten Zensurgesetze abzuschaffen, damit man die Fragen offen und vernünftig diskutieren kann. Solange man die freien Geister, die das wagen, mit Berufsverboten belegt und vor Gericht stellt, wird man sie nicht lösen. Einige Tage vor dem Attentat beispielsweise hat der Fernsehsender «iTélé» den talentierten Leitartikler Éric Zemmour entlassen – aufgrund einer im «Corriere della Sera» abgedruckten Äusserung im Zusammenhang mit Immigrationsfragen. Selbst wenn man davon ausgeht, dass die Verwendung des fraglichen Begriffs – «Deportation» – strafbar sei: Inzwischen hat die Zeitung ausdrücklich klargestellt, dass Zemmour ihn im Interview gar nicht verwendet habe. Darum geht es den linken Gruppierungen, welche in Medien und Politik den Ton angeben, aber nicht. Ihre Regeln sind die Regeln der Inquisition: Um einen Menschen zu bestrafen, muss man nicht beweisen, dass er ein Verbrechen begangen hat. Notwendig und hinreichend ist, dass einem Menschen der Ruch der Häresie anhaftet. In diesem Sinne wurde auch, kaum dass es erschienen war, das neue Buch von Michel Houellebecq gebrandmarkt; es nimmt in literarisierter Form die Islamisierung von Frankreich auf. Und gerade eben ist auch Klage gegen Philippe Tesson erhoben worden, weil er in einer Fernsehsendung geäussert hatte, dass die Muslime die Laizität in Frage stellten und Frankreich Probleme eintrügen. Es handelt sich bei Tesson um einen der grössten französischen Journalisten, der während den gesamten 60 Jahren seiner beruflichen Karriere ein glühender


schweizer Monat 1023  Februar 2015  Weiterdenken

Paul Noth / The New Yorker Collection / www.cartoonbank.com

The New Yorker – Direktimport

Verfechter der Freiheit gewesen war. Die intelligentesten und anständigsten Leute des Landes auf diese Weise systematisch zu diskreditieren, ist ein selbstmörderisches Verfahren. Tatsache ist, dass das politisch-mediale Establishment Frankreichs mit «Charlie Hebdo» keine kritische, sondern im Gegenteil die konformistischste Zeitung der französischen Presse verteidigt hat; für die neue herrschende Religion ist sie das Pendant dessen, was der «Osservatore romano» für den Katholizismus ist. Es ist die Zeitung der 68er – sie sind unter Mitterrand an die Macht gekommen und besetzen seither die wichtigsten Schaltstellen der Kommunikation. Die Massen, die meinten, für die Meinungsfreiheit aufzumarschieren, haben also, ohne es zu wissen (aber die Massen wissen nie, was sie tun), das herrschende Dogma gefestigt.

Es ist zu befürchten, dass solch irrationales Verhalten in den kommenden Monaten weiter zunimmt. Denn während man den Terrorismus als kriminellen Akt zu behandeln versucht, unterliegt er in Wahrheit einer Kriegslogik. Wie der Krieg löst der Terror in der Bevölkerung Besorgnis und Panik aus. Angst aber hilft dabei, Affekte zur Raserei zu steigern. Man muss deshalb damit rechnen, dass im Namen der notwendigen nationalen Einheit bald alle Arten von Hexenverfolgungen veranstaltet und zahlreiche absolut unschuldige Sündenböcke an den Pranger gestellt werden. Der Freiheit stehen düstere Zeiten bevor. �

Aus dem Französischen übersetzt von Claudia Mäder.

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Weiterdenken  Schweizer Monat 1023  Februar 2015

«Ein Stilmittel.»

«Genau das

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ist 68!»

«Da hast du jetzt recht.» Die Schweiz verstehen, das wollten an diesem Abend im Neumarkttheater die fünf ehemaligen Studenten der Universität Zürich. Thomas Zaugg, Autor von «Blochers Schweiz», hat mit ihnen über die wilden Tage gesprochen – die gewesenen und die kommenden. Wir publizieren die Dokumentation des denkwürdigen Gesprächs. Special Guest: Adolf Muschg. Thomas Zaugg diskutiert mit Christoph Blocher, Georg Kohler, Remo Largo, Elisabeth Michel-Alder und Robert Nef

Robert Nef, Georg Kohler, Remo Largo, Thomas Zaugg, Christoph Blocher und Elisabeth Michel-Alder, photographiert von Caspar Urban Weber.

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Weiterdenken  Schweizer Monat 1023  Februar 2015

T

homas Zaugg: Sehr geehrtes Publikum, der Titel dieser Veranstaltung wäre korrekterweise «1968 von Mitte-links bis ganz rechts». Es war schwierig, wirklich linke Exponenten der damaligen Studentenpolitik und Revolten zu gewinnen, viele sagten ab. Die 68er Generation ist vielleicht die erste Generation im 20. Jahrhundert, für die genug Wohlstand vorhanden war, so dass sie sich die Luxusfrage stellen konnte: Wie wollen wir eigentlich wirklich leben? Im Anschluss an diese Frage hat sich ein Streit ergeben zwischen den Persönlichkeiten, die heute auf dem Podium anwesend sind. Sie alle haben damals, 1968, an der Universität Zürich studiert und sich in der Studentenpolitik engagiert. Ich habe sie alle gebeten, eine kurze Anekdote zum Einstieg vorzubereiten. Woran erinnern Sie sich, wenn Sie an 1968 denken, Frau Michel-Alder?

Elisabeth Michel-Alder: Ich habe die Hausaufgabe nicht mitgekriegt, aber ich versuche es dennoch. Ich war vorletzte Woche wieder einmal in Prag. Meine Erinnerung ist die an Jan Palach, der sich im Januar 1969 aus Protest gegen die Niederschlagung des Prager Frühlings verbrannt hat. Da sass ich im Zug mit Moritz Leuenberger, um in Brünn und Prag für einen Studentenaustausch mit der Uni Zürich Verträge zu unterzeichnen. Die Polizei hat uns aus dem Zug gezogen, wieder zurück nach Wien spediert. Nach einer Woche sind wir dann doch noch eingereist und haben die Verträge unterzeichnet, die jedoch nicht mehr realisierbar waren. Christoph Blocher: Wenn Sie das Jahr 1968 spezifisch nehmen, da habe ich mein Lizentiat abgeschlossen und die Universität verlassen, ja verlassen können. Das war für mich sehr glücklich. Ich habe eine Halbtagsstelle angenommen, um dann noch die Dissertation zu schreiben. Die 68er Bewegung habe ich vorher etwas erlebt, aber ich habe sie, das sage ich gleich, nie als eine bedeutungsvolle Bewegung betrachtet. Remo Largo: Als Sie mich angefragt haben, da hatte ich wirklich Mühe, mich zu erinnern. Mitte 68 ging ich für ein halbes Jahr nach Amerika, nach Madison, Wisconsin, an die Medical School. Ich habe so eigentlich vieles verpasst, zum Beispiel den Globus-Krawall. Dafür machte ich intensive Erfahrungen in Amerika. Beispielsweise hatten wir an der Universität ein Büro, das dazu diente, für Vietnam rekrutierte Studenten über Nacht nach Kanada zu spedieren – also Dienstverweigerer. Das war hautnah, dieser reale Konflikt, nicht so weit weg wie in der Schweiz. Das andere Erlebnis war die Democratic Convention in Chicago, Ende August 1968. In einer sehr aufgebrachten Stimmung kamen sehr viele Protestierende zusammen, es kam zu Unruhen mit 23 000 Polizisten und sehr viel Tränengas. Das waren Dimensionen, die ich nicht gekannt habe. Das prägte für mich 68. Drei, vier Monate nachdem Martin Luther King umgebracht worden war, war das ganze Land aufgebracht. Es war das einzige Mal, dass ich Tränengas in meinem Leben roch. Aus Versehen kam ich mitten unter die

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Elisabeth Michel-Alder war nach Studien in England und Zürich Redaktorin beim «Tages-Anzeiger-Magazin». Sie ist selbständige Unternehmensberaterin.

Christoph Blocher ist alt Bundesrat, Industrieller und einer der fünf Vizepräsidenten der Schweizerischen Volkspartei (SVP).

Georg Kohler ist emeritierter Professor für Philosophie an der Universität Zürich.

Remo Largo ist Kinderarzt und Autor zahlreicher Sachbücher zur Kindererziehung.

Robert Nef ist Jurist, früherer Herausgeber der «Schweizer Monatshefte» und Stiftungsrat des Liberalen Instituts.

Thomas Zaugg ist Historiker, redaktioneller Mitarbeiter beim «Magazin» des «Tages-Anzeigers» und Autor von «Blochers Schweiz» (Verlag NZZ, 2014).

Protestierenden im Grand Park, die Polizei trieb die nahezu 100 000 Protestierenden aus dem Park in die Seitenstrassen – ein unglaublicher Sog, eine unglaubliche Gewalttätigkeit, wohl nicht vergleichbar mit den Globus-Krawallen. Georg Kohler: 68 beginnt für mich im Grunde viel früher als mit den Globus-Krawallen, eigentlich schon 1966 und ganz bestimmt 1967, als Benno Ohnesorg erschossen wurde, die Demonstrationen rund um den Schah-Besuch und die Universitätsreform in Deutschland stattfanden. 68 beginnt für mich beinahe in dem Moment, da ich in die Uni komme, 1965. Es war für mich eine Zeit der grossen Öffnung. Plötzlich gab es überall Themen, die mit neuen Lebensstilen und Befreiung zu tun hatten. Das lud sich bald in der Auseinandersetzung mit dem Vietnamkrieg politisch auf. Natürlich war auch ich zuerst ein braver Angehöriger des Westens, und die Schweiz mit ihrer Neutralität war selbstverständlich – eingebunden in die Nato-Ideologie. Ich kam ursprünglich aus dem Emmental, bis etwa dreizehn wuchs ich dort auf, das hat mich geprägt: im Sinne eines Grundvertrauens ins Herkömmliche. Die Pubertät erlebte ich dann in Zürich. Dabei geriet alles in Bewegung, bei den ideologischen Basisannahmen, den kulturellen Kriterien. Die Musik der 1960er Jahre lieferte die Choreographie für ein neuartiges Existenzverständnis. Und anders als bisher eingeübt kam mir jetzt auch – wenngleich zögernd – das Verhältnis zwischen den Geschlechtern vor. Nicht zuletzt «die Pille» war ein wichtiges Ereignis dieser Zeit, leider meist eher theoretisch. Als 1968 dann aber in Paris lauthals von der Revolution geträumt wurde, Daniel Cohn-Bendit seine «situationistischen» Auftritte feierte und eigentlich von niemandem richtig ernst genommen wurde, war das für mich fast schon das Ende von «1968».


schweizer Monat 1023  Februar 2015  Weiterdenken

Robert Nef: Ich dachte zuerst, ich sei originell, wenn ich etwas Privates sage. Es ist aber interessant, dass diese doch sehr politischen Leute fast alle ein privates Erlebnis erwähnen. Für mich war das entscheidende Erlebnis wirklich ein privates, das aber sehr politisch ist. Im September oder Anfang Oktober 68 stand vor der Türe meiner Studentenbude mein Freund aus Prag mit dem Koffer in der Hand. Er sagte: «Ich bin geflohen, und ich komm jetzt zu dir, und ich bleibe hier.» Ich hiess ihn willkommen und ging ins Brockenhaus, um eine Matratze zu kaufen. Etwa ein Jahr lang teilte ich mit ihm meine Mansarde. Seither weiss ich, was Asyl bedeutet, was Probleme der Adaptation sind. Seither weiss ich auch, dass jemand, der aus einer totalitären Umgebung flieht, die Angst, überwacht zu werden, nie mehr loswird. Letztlich bringt so jemand die Opferrolle nie mehr weg. Mein Freund war Jazzjournalist, ich hatte ihn 1964 in Prag kennengelernt. Ich versorgte ihn und seine Freunde mit Jazzplatten, obwohl ich kein Spezialist bin. Sie wollten keine Bücher, sie wollten Jazzplatten und Bluejeans. Mehrere Pakete von beidem habe ich nach Prag geschickt. In Zürich mussten wir uns aneinander gewöhnen, er war sehr anders als ich, er war Esoteriker, er hatte völlig andere Dinge als ich gelesen. Thomas Zaugg: Der Philosoph Peter Sloterdijk bezeichnete den Begriff «68er» einmal als Schimpfwort. Man redet von «Kuschelpädagogik», von «Wohlfühlpädagogik», von den ersten «Wohlstandsverwahrlosten» des 20. Jahrhunderts und damals schon von den «Kryptokommunisten». Herr Blocher, warum redet man so? Sie sind doch auch ein 68er?

Christoph Blocher: Ich brauche diese Begriffe nicht, weil ich diese Bewegung nie – schon an der Universität nicht – sehr ernst genommen habe. Ich kam ja auf dem zweiten Bildungsweg, hatte einen abgeschlossenen Beruf als Landwirt: den einzigen Beruf, den ich abgeschlossen habe im Leben. Weil ich keinen Bauernhof hatte, musste ich etwas anderes lernen. Ich kam also an die Universität, nach kurzer Maturvorbereitung, um das Studium zu machen. Es gab damals noch nicht diese Stipendienordnung, ich war Werkstudent, habe am Abend in der Sihlpost gearbeitet und ging am Morgen wieder in die Universität. Da kamen sie dann, Söhne und Töchter aus sehr guten Häusern, alles gut Gesegnete. Für mich und nicht nur für mich war das eine pubertäre Bewegung, welche sich vom Elternhaus lösen wollte und natürlich auch von der politischen Umgebung. Sie hatten keine richtige Philosophie. Ich habe immer gefragt: Was wollt ihr denn eigentlich? Sie kamen mir vor wie pubertäre Kinder, die einfach aufbegehren gegen Eltern und Väter und Mütter. Pubertäre Kinder sagen ja nicht nur Falsches. Sie sehen auch Schwächen, diese haben die pubertierenden Studenten auch angesprochen. Aber sie haben keine Linie gehabt. Sie sind dann relativ rasch in den Kommunismus abgewandert und haben sich selbst diskreditiert. Thomas Zaugg: Aber nicht alle.

Christoph Blocher: Es war eine sehr führende Schicht – ich könnte Namen nennen. Mao war natürlich ihre Bibel der Zukunft. Und auch Fidel Castro haben sie verehrt – das waren alles Vorbilder.

Für die meisten aus unserer juristischen Fakultät war der Sozialismus keine verfolgbare Lehre. Und dass es pubertär war, sehen sie auch daran: Allen führenden Gestalten von damals – und darum haben sie zu dieser Diskussion keinen hierherbringen können – ist die politisch bewegte 68er Vergangenheit heute peinlich. Sie haben alle Karriere gemacht, und zwar bis zuoberst, und sie sind im Mainstream drin. Thomas Held zum Beispiel hat mir im Grossen Studentenrat über die Reihen zugerufen: «In zehn Jahren gibt es keine freie Marktwirtschaft mehr, da könnt ihr machen, was ihr wollt.» Und wo ist er gelandet, wo? Held ist heute mehr Marktwirtschaftler als ich. Thomas Zaugg: Ihr Bruder Andreas Blocher schreibt 1967 unmittelbar nach der Erschiessung von Benno Ohnesorg im «Zürcher Studenten»: «Die Unterdrückung, die viele der rebellierenden Studenten empfinden, ist viel eher eine geistige und psychologische, indem über ihnen unveränderbar ein Establishment thront, das durch ein bürgerliches Denkklischee von Politik, Religion und Moral, von einem Presse­ cäsaren» – gemeint ist wohl Springer – «zärtlich gepflegt, aufrechtgehalten wird. Dazu kommt das seelische Unbehagen an der Wohlstandsgesellschaft, der Zweifel an ihrer Wahrhaftigkeit.» Sehen Sie es nicht auch so wie Ihr Bruder damals?

Christoph Blocher: Doch, doch, diese Zweifel hatte ich auch. Thomas Zaugg: Haben Sie nicht auch unter Ihren Professoren gelitten?

Christoph Blocher: Ja, natürlich. Aber… Thomas Zaugg: Die waren doch auch elitär. Als Student durften Sie damals nicht einmal den Lift benützen, der war für die Professoren reserviert.

Christoph Blocher: Stimmt. Aber wenn die Professoren Lift fahren wollen, dann sollen sie. Ich kann die Treppe hochsteigen. An solchen Dingen reibt sich jeder, der an einer Universität ist, auch heute. Mein Bruder ging damals nach Berlin, zu Dutschke. Er ist am Anfang in die Bewegung reingekommen, es war bei ihm auch eine Loslösungsfrage vom Elternhaus. Das ist für mich eindeutig, das kann ich gut nachvollziehen. Andreas hat aber relativ schnell Abschied genommen. Die Pubertät hörte früh auf. Thomas Zaugg: Auch Herr Largo benutzt interessanterweise das Wort «pubertär» im Zusammenhang mit 68. Sie haben einmal geschrieben: «Aus der Rückschau war die 68er Bewegung eine spätpubertäre Reaktion auf unglaubwürdig gewordene Autoritäten in Familie und Gesellschaft. Was es damals reichlich gab und ich heute sehr vermisse: Visionen und Träume.»

Remo Largo: Ja, ich stehe dazu, diese Art von Reaktion war pubertär. Dennoch war der Aufstand notwendig. Er sollte eigentlich in jeder Generation geschehen, ist ein Jungbrunnen für die Gesellschaft. Ohne diese Ausbrüche vergreist sie. Heute vermisse ich den pubertären Ausbruch und die Visionen. Viele reden darüber, dass man in der Schule den Staatsbürger mehr betonen müsse. Doch das glaube ich nicht. Indem man die Institutionen eines Staates erklärt, weckt man doch kein Verständnis fürs Zusammenleben. Was fehlt, ist eine Diskussion, an der sich die ganze Gesellschaft beteiligt: Wie wollen wir leben? Dies empfinde ich als ein Manko.

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Weiterdenken  Schweizer Monat 1023  Februar 2015

Elisabeth Michel-Alder: Dass ich nicht in «Blochers Schweiz» lebe, sondern in einer anderen, das weiss ich. Aber dass 1968 jetzt auch von Ihnen, Herr Largo, zu einem entwicklungspsychologischen Episödchen stilisiert wird, das versteh ich gar nicht. An der Universität habe ich etwas mit Geschichte zu tun gehabt, und wenn ich dieses Jahrzehnt zwischen 60 und 70 oder auch von 62 bis 72 anschaue, dann sind da sehr grosse gesellschaftliche Verwerfungen geschehen. Das war nicht einfach nur ein bisschen Spätpubertät.

angeregt, ein bisschen nachzudenken über das so wahnsinnig senkrechte Demokratieverständnis einer Männerschweiz, die findet, Demokratie sei nur etwas für die Hälfte der Menschheit. Aber einen pubertären Schub ausgelöst? Nein.

Thomas Zaugg: Woran denken Sie konkret?

Remo Largo: Der Dissens besteht nicht eigentlich. Die 1968er Bewegung war für mich ein Epiphänomen. Was mich weit mehr in­ teressiert, ist, was darunter liegt. Sie gehen sicher mit mir einig, Frau Michel-Alder, dass es im Untergrund Strömungen gab, welche die Gesellschaft in den folgenden Jahren grundlegend verändert haben und die wir in ihren Auswirkungen überhaupt nicht erfasst und verstanden haben. Die Emanzipation der Frau und die Pille waren der Beginn einer solchen tiefgreifenden Veränderung. Man erhoffte sich von der Pille entweder eine Befreiung oder befürchtete eine Verwilderung der Sexualität. Passiert ist etwas ganz anderes. Nach der Einführung der Pille hat die Geburtenrate in der Schweiz massiv abgenommen. Jedes Jahr wurden 25 000 bis 30 000 Kinder zu wenig geboren, um die Bevölkerung stabil zu halten. In den vergangenen vierzig Jahren kamen 1,2 Millionen Kinder nicht auf die Welt – was ziemlich genau der Anzahl Menschen entspricht, die in dieser Zeitperiode eingewandert sind! Was ist schiefgelaufen? Wir haben die Emanzipation der Frau nicht – wie in den skandinavischen Ländern – mit einer familienfreundlichen Politik unterstützt.

Elisabeth Michel-Alder: Zum Beispiel an die ganze Dekolonialisierung, schauen Sie sich die Geschichte der afrikanischen Staaten in den 1960er Jahren an. In derselben Zeit ist auch zum dritten Mal eine Abstimmung über das Frauenstimmrecht vorbereitet worden, die dann 1971 sogar angenommen wurde. Das Verständnis von Wissenschaft und der gesellschaftlichen Bedeutung von Wissenschaft wurde heftig und intensiv diskutiert. Dass Christoph [Blocher] das nicht mitbekommen hat, das sei ihm verziehen. Die Fragen, die wir uns gestellt haben darüber, was eigentlich Verantwortung im Forschungsprozess wäre, würde ich heute vielleicht auch anders stellen. Aber ich war bitter enttäuscht über Anspruch und Theorieverständnis vieler unserer damaligen Professoren. In Energiefragen beispielsweise. Die Schweiz hatte noch einen Atomdelegierten, bis irgendwann in diesem Jahrzehnt klar wurde, dass Atomenergie nicht die Lösung, sondern Teil des Problems ist. Oder die Stadtentwicklung – zum Beispiel in Zürich. Man sprach von der autogerechten Stadt, im Lauf jener Jahre hat man dann aber kapiert, dass stadtgerechter Verkehr das Thema ist. Oder um noch ein Thema aufzugreifen: Der Verband Pro Familia, stramm katholisch, hat sich während der 1960er Jahre sehr irritiert zu fragen begonnen, was überhaupt eine Familie sei. Man hat festgestellt, dass das, was man als Modell unterstützte, längst keine Realität mehr war. Wir haben noch erlebt, dass alle, die im Konkubinat zusammenlebten, nach Killwangen-Spreitenbach zogen, um in Ruhe zu leben. Das ist im Aargau die nächstgelegene Gemeinde, und der Aargau hatte anders als Zürich das Konkubinatsverbot schon aufgehoben. Das alles sind gesellschaftliche Umbrüche, die jedem Historiker bedeutsam erscheinen. Dass junge (und ältere!) Leute auf solch fundamentalen Wandel heftig reagierten, halte ich nicht für pubertär, sondern für den Hinweis auf massivste Orientierungsprobleme. Es fragt sich, ob Marx dabei nützliche Orientierungshilfe bot, klar. Ich denke, vieles war ein Versuch, sich für einen neuen gesellschaftlichen Entwicklungsschub zu rüsten. Wahrscheinlich ist man im ersten Anlauf nicht wahnsinnig weit gekommen, aber immerhin. Thomas Zaugg: Sie sind als junge Frau um 1968 als Studentenpolitikerin aktiv gewesen, ohne als Staatsbürgerin das Wahl- und Stimmrecht zu besitzen. Der Nachgeborene fragt sich unweigerlich: Wie fühlt man sich da?

Elisabeth Michel-Alder: Ich muss Sie enttäuschen, es war für mich persönlich undramatisch. Ich hab’s unbeschadet überlebt. Es war klar, in welcher Umgebung ich lebte. Aber die Situation hat mich

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Thomas Zaugg: Remo Largo beleuchtet in seinen Büchern die Folgen von 68, zum Beispiel die Einführung der Pille. Der Dissens zwischen Ihnen scheint mir gar nicht so stark, obwohl Sie in der Frage der «Pubertät» so uneins sind.

Thomas Zaugg: Das ist eigentlich eine Frage an Christoph Blocher oder an viele konservative Familienpolitiker und Vertreter einer restriktiven Einwanderungspolitik. Wie hielten Sie es damals mit der Pille?

Christoph Blocher: Als Protestant habe ich über die Pille auch mit strengen Katholiken Diskussionen geführt. Ich war anderer Meinung, ich fand, man sollte sie nehmen dürfen. Aber mit den sogenannten 68ern haben wir kaum Diskussionen führen können; da bekamen Sie Joghurt an den Kopf geschossen. Die haben gar keine andere Meinung zugelassen. Die 68er haben eher verhindert, dass über diese längerfristigen Auswirkungen im Untergrund diskutiert werden konnte. Wir haben C. G. Jung gelesen, haben uns mit Freud auseinandergesetzt, aber auf einer anderen Ebene, die an der Universität in den damaligen geistigen Strömungen nicht gefragt war. Wer in der Bewegung nicht mitmachte, wurde kurzerhand als reaktionär abgetan. Robert Nef: Wir kommen nicht weiter, wenn wir die 68er Bewegung ins Links-rechts-Schema pressen. Ich habe es einmal versucht mit einer anderen Vereinfachung, die auch falsch ist, aber immerhin auf die Situation Bezug nimmt. Es gibt zwei Rechte und zwei Linke. Es gibt die nationale Rechte und die marktwirtschaftliche Freihandelsrechte. Das sind zwei völlig verschiedene Ansätze... Christoph Blocher: …aber die schliessen sich nicht aus! Robert Nef: Nicht immer, aber oft. Die antiautoritäre Linke – das waren die 68er – und die etatistische Linke – das waren nicht die


Die 1960er Jahre – von links nach rechts. Oben: Christoph Blocher, Remo Largo, Robert Nef. Unten: Elisabeth Michel-Alder und Georg Kohler (mit Alice Villon). Alle Bilder zur Verfßgung gestellt.

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68er, aber die meisten 68er sind alsbald in dieses etatistische Lager abgeschwirrt. Die antiautoritäre Linke gibt es gar nicht mehr oder vielleicht bildet sie sich neu bei den Libertären, die überhaupt jeden Staat ablehnen und sich sehr gut identifizieren können mit einem Slogan wie «Macht aus dem Staat Gurkensalat». Aber gerade die 68er, die später in die Politik gegangen sind, haben aus dem Staat nicht Gurkensalat gemacht. Sie haben diesen Staat für ihre fragwürdigen Ziele eingesetzt. Das Establishment, das sie bekämpft haben, haben sie nachher selbst verkörpert. Die 68er Bewegung ist aus meiner Sicht zum Teil an ihren eigenen Leuten, zum Teil am eigenen Anspruch des Antiautoritären, der permanenten Kritik gescheitert. Diese Wurzel hat zu meinem Bedauern keine Fortsetzung gefunden. Georg Kohler: Mir scheint wichtig zu unterscheiden zwischen den 68ern als einer bestimmten Gruppe, die den langen Marsch durch die Institutionen mehr oder weniger erfolgreich angetreten und dabei auch ihre Ideale verraten hat – das ist das eine. Eine andere

Sache ist die damalige Zeit: Mitte der 1960er Jahre, als die von Elisabeth [Michel-Alder] angesprochenen Umbrüche stattfinden. Das ist für mich eigentlich «68»: Eine historische Schwelle, die das 20. Jahrhundert in seiner zweiten Hälfte in ein Davor und in ein Danach einteilt. In vielerlei Hinsichten sind wir alle darum noch immer von dem bestimmt, was damals entstanden ist. Insofern müsste man vertiefen, was Elisabeth Michel-Alder und Remo Largo angesprochen haben. «68» ist jedenfalls die geschichtsmächtige Kulturrevolution, die den Westen tief verändert hat. Natürlich geschah das nicht aus dem Blauen heraus. Aber nun, da die unmittelbare Nachkriegszeit zu Ende war, setzten eben die Wirkungen neuer Technologien ein (wofür die Pille ein Beispiel ist). Und vor allem wurde eine Generation erwachsen, für die Sicherheit und ein gewisser Wohlstand nichts Aussergewöhnliches mehr waren. Viele der Restriktionen, die die fünfziger Jahre dominiert hatten, verloren ihre Geltung. Intellektuell, institutionell und alltagspraktisch. Das war unerhört spannend – und frucht-

«Gerade die 68er, die später in die Politik gegangen sind, haben aus dem Staat nicht Gurkensalat gemacht.» Robert Nef

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bar. Als damaliger Redaktor der Zürcher Studentenzeitung entdeckte ich sozusagen täglich neue Themen. Und dass das nicht bloss auf die Normalität eines jungen Menschen zurückzuführen war, der die Welt gerade kennenlernte, liess sich daran ablesen, dass unsere Zeitung Aktualität weit über das Unimilieu hinaus gewann. Auch Max Frisch schrieb für den «Zürcher Studenten». Die bekannten Namen konnte man alle haben. Wenn Frisch in der Nähe war, sagte man: «Bitte schreiben Sie uns doch noch einen Artikel, wir sollten ihn in einer Woche haben.» Da hat er ihn brav geschickt und war zufrieden mit einer Flasche Whisky. Im übrigen hat auch Christoph [Blocher] für den «Zürcher Studenten» geschrieben, in derselben Ausgabe wie der linke Philosoph Arnold Künzli. Nicht ohne Grund habe ich Christoph mal gesagt, dass auch er ein 68er sei. Seine Politik ist in vielen Fällen sehr genau kalkuliert antiautoritär. Er macht freche, den gesellschaftlichen Benimmkonsens irritierende Dinge. In aller Öffentlichkeit – und mit Lust. Ich kann mich gut erinnern, als er in den 1990er Jahren mit seinem Luftschutzregiment plötzlich auf dem Sechseläutenplatz aufmarschierte. Alle dachten: Was soll das? Ich sagte: Er ist einfach ein echter – rechter – 68er. Thomas Zaugg: Ich möchte etwas gegen diese Sicht des 68ers von rechts einwenden. Christoph Blocher hat nicht nur antiautoritäre Seiten, sondern schätzt die Autorität durchaus hoch. Ich spreche insbesondere von Herrn Blochers Kolumnen aus der protestantischen Monatsschrift «Reformatio», die in den 1980er Jahren erschienen sind. Sie kämpften damals gegen das neue Eherecht und schrieben: «Sehe ich falsch, wenn ich diese Über- und Unterordnungsverhältnisse zwischen Mann und Frau in engster Beziehung sehe zu demselben Verhältnis zwischen Christus und der Gemeinde, zwischen Gott und der Welt, ja zwischen Gott Vater und Gott Sohn selbst? Ich sah es bisher so: die Bibel sieht die Liebe allein in Gott – und dort hat die Liebe die Struktur der Autorität.» Meinen Sie hier die männliche Autorität, die biblische Führungsrolle des Mannes?

Christoph Blocher: Ich habe diese Kolumnen in der «Reformatio» geschrieben, das war eine neugegründete, theologische Zeitschrift. Ich hatte nichts damit zu tun, Pfarrer Vogelsanger vom Grossmünster… Elisabeth Michel-Alder: Fraumünster! Christoph Blocher: …war die treibende Kraft. Die Autoren wollten eigentlich ein Gegengewicht bilden zur offiziellen Kirche. Da haben geschrieben Kurt Marti, Georg Thürer und so weiter. Einer meiner Professoren an der Universität, Werner Kägi, kam auf mich zu, ein Völkerrechtler, nicht auf meiner Seite, weil er Naturrechtler war. Kägi fragte, ob ich nicht Kolumnen schreiben könnte, die eine Diskussion entfachen. Ich habe daraufhin sehr provokativ geschrieben – das war das erklärte Ziel. Es gab aber nie ein Echo. Meine Kolumnen zeigten den Niedergang der Kirche: Alle diese Herren und Damen, die sich in diesen Themen theologisch zu Hause zu fühlen glaubten, konnten gar nicht entgegnen. Nicht einmal auf diese sehr provokativen Sätze, die Sie zitieren. Ich habe dann aufgehört zu schreiben, weil es langweilig wurde. Aber

René Scheu

1968 und die Gegenwart

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ie grosse politische Revolution ist damals zweifellos missglückt. Doch haben viele 1968er Karriere gemacht, höchstwahrscheinlich ohne Krawatte und mit Jeans statt Buntfaltenhosen – aber sie taten es. Erfolgreich. Die Voraussetzungen hierfür waren ideal: Sie waren zumeist gut ausgebildet, wurden früh politisiert, erwiesen sich als geistig flexibel, verfügten über intakte Seilschaften. Die Revoluzzer von einst gehören heute zu den angegrauten Vertretern des Establishments. Wer als Nachgeborener wie ich die Schriften der Vordenker von 1968 liest, ist erstaunt über den dogmatischen Furor – aber auch über das Bemühen um echte intellektuelle Dissidenz. In seinem «Versuch über die Befreiung» (1968) wettert Herbert Marcuse über den «korporativen Kapitalismus», also über das Zusammenspannen von Big Business und Big Government, über den «bürokratischen Wohlfahrtsstaat», über die «Pseudo-Demokratie in einer freien Orwellschen Welt». Die Linken von heute, auch die radikaleren unter ihnen, wirken in ihrer Verteidigung des Status quo von umverteilendem Wohlfahrtsstaat, semisozialistischer Wirtschaft und Demokratie wie stockkonservative Konformisten. Während die Studenten in den 1960er Jahren die «Emanzipation» aus allen ökonomischen und gesellschaftspolitischen Zwängen exerzierten, scheint heute bloss noch eine Forderung zu zählen: sich nach allen Seiten abzusichern. Der Mut zum utopischen Aufbruch ist der Abstiegsangst gewichen, an die Stelle der grossen Weigerung gegenüber dem bourgeoisen Staat ist die Verklärung desselben als universaler Problemlöser getreten. Der antiautoritäre Impetus, die Grundskepsis gegenüber Macht und Monopolen – das Erbe von 1968 ist unter linken Karrieristen besonders schlecht aufgehoben. Gehalten hat sich bis heute die Einbildung eines Teils politisch bewegter Zeitgenossen, «sie gehörten zum besseren Teil der Menschheit», wie Götz Aly einmal schrieb. Die Moralisierung des öffentlichen Diskurses gehört bis hinein in bürgerliche Kreise zum guten Ton. Und noch folgenreicher: die politischen Begriffe sind heute stark marxistisch geprägt, dank des Engagements der 1968er in Bildung, Verwaltung und Politik. «Gerechtigkeit» meint nichts anderes als «Gleichheit», und «Gleichheit» meint stets «materielle Gleichheit». Die mitteleuropäischen Gesellschaften der Gegenwart haben keinen positiven Begriff von Ungleichheit mehr, der unerlässlichen Voraussetzung für Vielfalt. Und folgerichtig kann «Freiheit» nur «Befreiung» von Ungleichheiten bedeuten, die stets auf Diskriminierungen zurückzuführen sind. Das ist die Sprache, die wir heute (fast) alle sprechen. Praktisch haben die 1968er versagt. Aber auf der Ebene der Deutung haben sie viel erreicht. Für mich viel zu viel. Denn sind es nicht die Deutungen, die unser Handeln bestimmen?

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ich muss Ihnen sagen, diese Fragezeichen, die ich gesetzt habe, sind natürlich nicht aus der Luft gegriffen. Der Mann sei – biblisch betrachtet – das Haupt der Familie, so wie Jesus Christus das Haupt der Gemeinde war. Und was ist passiert mit dem Haupt der Gemeinde? Er wurde gekreuzigt. Ich habe gesagt: Das wird unheimlich, wenn der Mann das Haupt der Familie ist. Thomas Zaugg: Dann wollen wir’s nicht mehr sein.

Christoph Blocher: Ja, dann wollen wir’s nicht mehr sein. Das war natürlich meine Reaktion. Also ich möchte das nicht! Aber ich habe es zur Diskussion gestellt. Beim Eherecht war ich immer der Meinung, dass der Satz im Zivilrecht – «Der Mann ist das Haupt der Familie» – gestrichen werden muss. Aber im Eherecht hat man gesagt, es seien beide verantwortlich in Notsituationen. Dabei ist klar: eine Doppelverantwortung wird nie funktionieren. Man hat gesagt, es werde weniger Scheidungen geben. Sie können aber selber schauen, ob es bis heute mehr oder weniger gegeben hat. Mein zweiter Kritikpunkt betraf die eherechtliche Teilung. Bei Scheidungen führt das zu Katastrophen für alle, die Unternehmen besitzen. Meine Kinder müssen beispielsweise bereits bei der Heirat an die Scheidung denken und einen Vertrag aufsetzen. Wir sollten ein Eherecht, ein Güterstandsrecht haben, das hier fortschrittlicher ist. Das hat nichts zu tun mit Rückständigkeit. Das war auch die Schwierigkeit damals, das Eherecht zu bekämpfen und zu sagen: Wir müssen es ändern, aber nicht so. Thomas Zaugg: Warum drücken Sie sich eigentlich nicht immer so differenziert aus wie jetzt? Warum schreiben Sie solche Dinge wie in der «Reformatio»?

Christoph Blocher: Das ist eine Frage der Taktik. Sie müssen manchmal provozieren – provozieren heisst ja «hervorrufen» im Lateinischen. Es ist ein Stilmittel, um etwas in Bewegung zu setzen. Georg Kohler: Eben, genau das ist «68»! Christoph Blocher: Ja, da hat er jetzt recht. Ich habe an den 68ern nie bemängelt, dass sie provokativ waren, Diskussion wollten und Fragen gestellt haben. Ich habe nur gesagt: Die haben nichts bis in die Tiefe behandelt. Es war nur revolutionär, und Revolutionen bringen ja nie etwas, die reissen alles herunter. Elisabeth Michel-Alder: Die Form deiner Stellungnahmen, Christoph [Blocher], mag gewollt provokativ sein, mich stören die kümmerlichen Inhalte. Was du da an Kirchenverständnis, an Familien­ verständnis vertreten hast und anderes bis heute vertrittst, da muss ich sagen: Ich bin heilfroh, dass ich nicht in der Blocherschen Schweiz lebe. Ich erinnere mich: Du hast in diesen 1960er und frühen 1970er Jahren ein Kirchenverständnis zum besten gegeben, das für sehr viele Theologen im Kanton Zürich eine bare Katastrophe war. Es gäbe nur Verkündigung, um Himmels willen im Christentum keine sozialen Dimensionen, hast du gesagt. Befreiungstheologie war ein Thema in dieser Zeit, und auch dagegen hast du dich wacker gesträubt. Christoph Blocher: Jaja, auch heute noch! Elisabeth Michel-Alder: Die Befreiungstheologie in Lateinamerika war hochbedeutsam für die gesellschaftliche und demokratische

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Entwicklung. Und die Einflussnahme aufs Eherecht ist ein Misserfolg für dich gewesen. Die Schweiz hat damals versucht, die familiären und ehelichen Verhältnisse neu zu regeln. Du hast dich quergestellt, und das war nicht nur Provokation. Auch wenn du dich nicht provokativ geäussert hättest, müsste man sagen: Die Geschichte ist ganz schön über dich hinweggerollt. Christoph Blocher: Ich habe in meiner politischen Tätigkeit mehr verloren als gewonnen. Deshalb tue ich auch nicht so wichtig, wenn ich einmal gewinne. Thomas Zaugg: Eine ganz grosse Niederlage betrifft die 68er Generation, also Sie alle. Viele Ihrer studentenpolitischen Vorstellungen gingen spätestens mit der Bologna-Reform unter. Studentische Mitbestimmung gibt es heute kaum mehr.

Robert Nef: Ich bedaure, dass die Hochschulfragen von damals heute überhaupt kein Thema mehr sind. Damals ging es um die Frage der Mitbestimmung, die Studenten forderten Drittelsparität. Heute hat die Universität ihre Autonomie völlig preisgegeben. Die Studierenden interessieren sich nicht mehr dafür. Der Mittelbau ist so fixiert darauf, in den Oberbau zu kommen, dass er gar keinen eigenen Stand mehr bildet. Wir können mit einer gewissen Romantik auf die früheren Bestrebungen zurückschauen, müssen uns aber bewusst sein, dass inzwischen alles abgeschafft worden ist – jedoch nicht von Leuten meines Geistes. Es ist beseitigt worden von Leuten, die alles zentral und bürokratisch organisiert haben wollen und die mit einer Autonomie einer Gemeinschaft von Lehrenden und Lernenden überhaupt nichts anfangen können. Das ist nur noch ein Service public, der letztlich von Brüssel aus organisiert wird. Ich erinnere mich an die Sit-ins, als man «HoHo-Hochschulreform, Ho-Ho-Hochschulreform!» skandiert hat. Diese Reform war damals wichtig und richtig. Und wenn es jetzt einen Grund gäbe, dann müsste man gegenüber der Hochschule, wie sie jetzt ist, genau so skandieren! Ich bin ja nicht Professor, aber ich habe sehr viele Freunde, die klagen und mir sagen: Weisst du, das ist überhaupt nicht mehr dasselbe, das ist furchtbar. Wir leben in einer Institution, die wir gar nicht mehr mitgestalten und mitverantworten können. Wenn es irgendeinmal wichtig war, dieses Ho-Ho-Hochschulreform, dann wäre es heute und in Zukunft. Publikumsdiskussion: Muschg und Blocher Adolf Muschg: Ich möchte mich eigentlich an Herrn Nef anschliessen. Und auch an den Befund, dass die jüngere Generation gewissermassen den nächsten Sauerstoffstoss verpassen müsste für das Aufwirbeln der sozialen Probleme, für die Wahrnehmung dieser Probleme. Ich bin damals genau wie Sie, Herr Largo, in Amerika gewesen und habe genau dieselben Eindrücke mitgebracht. Ich habe nichts verpasst in Europa, ich hatte das Gefühl, ich sei dort an der Quelle realer Probleme, es waren keine Erfindungen. Was ich jetzt als bald 80jähriger vermisse, ist, dass diese Bewegung, die wir mit «68» bezeichnen, vollkommen verschwunden ist, genau so wie die Autonomie der Universität. Und daran würde ich nun nicht nur den durchmarschierten 68ern Schuld geben,


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«Natürlich sind die Popanzen und die Autoritäten von damals weg, ich möchte fast sagen: Sie sind zu sehr weg. Es gibt keine Widerstände mehr.» Adolf Muschg

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sondern einer verallgemeinerten Betriebswirtschaft, die gewissermassen die neue Scholastik, die neue Leitwissenschaft der Periode geworden ist und die jeden Studenten, Patienten, was auch immer, zum Faktor in einer Statistik macht, ihn auch nicht dazu ermutigt, die Werte, von denen die Rede war und die wir suchen, in Frage zu stellen – jedenfalls wenn er weiterkommen will. Kein Student kann es sich heute leisten, unbequem zu sein. Er kann es sich nicht leisten, ein Modul abzuwählen, das gefragt ist. Schuld sind aber nicht nur die staatlichen Bürokraten, die ehemaligen, die arrivierten 68er, sondern es ist eine globalisierte Rechnungswirtschaft, die dazu geführt hat, dass wir nach der Statistik leben und sterben und dass man dort, wo von Werten die Rede sein muss, mit Qualitäten zu rechnen hätte und nicht nur mit Quantitäten – und heute haben wir eine absolut durchquantifizierte Gesellschaft. Um es historisch zu betrachten: Natürlich sind die Popanzen und die Autoritäten von damals weg, ich möchte fast sagen: Sie sind zu sehr weg. Es gibt keine Widerstände mehr. Die grosse Rolle, die Herr Blocher in unserer Demokratie spielt, hat auch damit zu tun, dass er Widerstand herausfordert und dass er Widerstände mag und an Widerständen wächst. Das BlocherBuch von Helmut Hubacher ist ein einziges Sich-an-die-BrustSchlagen, warum man dem Blocher immer nur Nein gesagt hat und nicht sehen wollte, was dieser Krypto-68er alles Gutes für diese Gesellschaft getan hat. So hätte man ihm den Wind aus den Segeln nehmen können, statt dass sich die Hälfte der Bevölkerung sich nach diesem Wind richtet. So, jetzt habe ich genug geredet. Christoph Blocher: Herr Muschg, ich muss Ihnen sagen, Sie reden mir aus dem Herzen. Nur, hätten Sie damals – nicht nur Sie – bei der Einführung von Bologna so geredet! Ich war derjenige, der diese Reform verhindern wollte. Ich habe schon an der Universität damals gesagt: Hört auf mit der Einführung von Zwischenprüfungen! Das engt den Studenten ein zum Schüler, zum folgsamen Schüler. Die Studenten haben das aber selbst vorangetrieben, weil sie gesagt haben: Sonst studieren wir acht bis zehn Semester und fliegen dann raus. Die Bologna-Reform haben wir deshalb bekämpft, weil wenn man alle Universitäten in ganz Europa gleichstellt, dann gibt es keine Besonderheit mehr. Dann können Sie auch die Werte nicht mehr pflegen, das ist ein Register, das können Sie abhaken. Gegen diesen Widerstand von meiner Seite ist aber natürlich gesagt worden: Ja, der ist nur dagegen, weil es jetzt europäisch wird und Bologna heisst und so weiter und so fort. � Das Gespräch, das wir hier exklusiv dokumentieren, fand unter dem Titel «Schweiz verstehen I: 1968 von links bis rechts» im Theater Neumarkt statt. Es wurde in der vorliegenden Version von den Podiumsteilnehmern autorisiert.

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Michael Wiederstein

Grosse Klappe – was dahinter?

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ie Welt von 1968 war wohl keine heile. Ob es um von der Realität überholte, aber staatlich forcierte Familien- und Lebensmodelle und damit verbundene Repression ging, um einen explodierenden Generationenkonflikt oder – wie in den USA – um die Rassen- und Bürgerrechtsfrage: die sogenannten 68er prangerten diese Zustände erstmals seit dem Krieg öffentlich und öffentlichkeitswirksam an. Die Bedrohung durch staatliche Bespitzelung in der Schweiz, die Gängelung von sogenannt «arbeitsscheuen» oder «lasterhaften» Menschen mit «liederlichem Lebenswandel» war dabei für viele Protestler real. Sie taten das, was heute bloss noch als Werbeslogan durchgeht: Sie nahmen sich die Freiheit, die ihnen der Staat nicht gewährte – die Freiheit, die Zustände durch öffentliches Zurschaustellen ihres eigenen, alternativen Lebensstils anzuprangern. Das ermutigte viele dazu, es ihnen nachzutun. WG-Leben, lange Haare und die Rolling Stones gelten heute nicht mehr als besonders revolutionär, auch die «administrative Versorgung» ist Geschichte – und der gegenwärtige amerikanische Präsident kann dieselben öffentlichen Toiletten benutzen wie alle anderen US-Bürger. Diese Entwicklungen haben wir initial wohl einigen Babyboomern bzw. ihrer grossen Klappe zu verdanken. Auch wenn die allermeisten von ihnen keine direkte politische Durchschlagskraft hatten: sie erfüllten die Funktion als Initialzünder vieler Freiheitsgewinne. Der gesellschaftliche Freiheitssaldo der 68er und ihrer Nachfahren ist – trotz jüngerer Gängelungen wie Antidiskriminierungs- und Hochsteuerpolitik usw. – bis heute positiv. Babyboomer und Beatles waren auch erfolgreicher im Einfordern elementarer Freiheiten als die damaligen Vertreter der bürgerlichen Peer-Group. Der Schlüssel ihres Erfolgs: sie generierten eine ganze Kultur, die mit den herrschenden Konventionen brach. Ihr Habitus existiert links bis heute, wird zwar zunehmend hohler, ist aber anschlussfähig für alle, die gesellschaftliche Freiheiten gewinnen und verteidigen wollen. Ich hoffe, ganz in diesem Sinne, dass meine Kinder über Worte wie «Konkubinat» oder «Gleichstellungsbeauftragter» irgendwann nur noch den Kopf schütteln können.


Fotograf: Jonathan Heyer

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Diplomatie und Souveränität Als unabhängiges Land hat die Schweiz die Wahl: über wie viel Selbstbestimmung oder Fremdbestimmung wollen wir in welchen Bereichen verfügen? Der Schweizer Chefdiplomat Yves Rossier über mögliche Ansätze für einen neuen innenpolitischen Konsens. von Yves Rossier

«Schon der Bundesbrief von 1291 hatte eine Strahlkraft über die Grenzen der drei Talschaften hinaus. Es muss uns ein Anliegen sein, auch heute in einer Welt, die geographisch viel grösser, aber durch die Leichtigkeit der Verbindungen viel kleiner geworden ist als die damalige und in welcher sich die gegenseitigen Abhängigkeiten sehr viel stärker fühlbar machen, einer weltweiten Verantwortung gewahr zu bleiben.» Bundesrat Friedrich T. Wahlen, 1968 1

A

ls der krisenerprobte Bundesrat Friedrich T. Wahlen zu diesen pathetisch anmutenden Worten griff, herrschte in der Schweiz ein grenzenloser Wachstumsglaube, und es ging ein einzigartiger Wohlstandsschub durch fast alle Bevölkerungsschichten und Regionen unseres Landes. Die wirtschaftliche Entwicklung der 50er und 60er Jahre ging mit einem hohen Verbrauch an Kulturland und starker Immigration einher. Dies führte nicht nur physisch, sondern auch sozial zu einer Wahrnehmung von Entfremdung und Verlust vertrauter Umgebungen. Die Gotthelf-Verfilmungen «Ueli der Knecht» oder «Ueli der Pächter» lockten die Massen in die Kinos und wurden später mit der Ausstrahlung am Fernsehen zu einem nationalen Identifikationsobjekt. Die Sehnsucht nach einer Schweiz, die es nicht mehr gab (und vielleicht nie gegeben hatte), war gross. Politische Antworten darauf liessen nicht lange auf sich warten. Dem «Ausverkauf der Heimat» wollte das Parlament mit der Lex von Moos begegnen, und der Zürcher Unternehmer und Nationalrat James Schwarzenbach bereitete das Terrain für die Abstimmung über seine Initiative von 1971 vor, welche das Schweizer Stimmvolk mit gut 54 Prozent ablehnte. Ähnlich wie heute entstand parallel eine grosse europapolitische Unsicherheit. Die Schweiz sah sich bald vor die Wahl gestellt, entweder auf den Beitrittszug verschiedener Efta-Staaten aufzuspringen oder eine Assoziation mit Brüssel einzugehen. Die innenpolitische Debatte war lebendig: Begriffe wie «Satellisierung der Schweiz», «Beitritt mit Vorbehalt», «Abkommen sui generis», «Mitspracherechte» etc. beherrschten den europapolitischen Diskurs Ende der 1960er Jahre. Es gelang der Politik aber, wieder ei-

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Yves Rossier ist Staatssekretär im Eidgenössischen Departement für auswärtige Angelegenheiten.

nen innenpolitischen Konsens zu finden und die Ränge zu schliessen. Nach gezielten Informationsanstrengungen des Bundesrats hiess das Stimmvolk im Dezember 1972 das Freihandelsabkommen zwischen der Schweiz und der EWG mit 72,5 Prozent gut. Interessantes Detail: auch die Einwanderung war Gegenstand der Verhandlungen und fand ihren Niederschlag in einer gemeinsamen Erklärung über Arbeitskräfte 2. Wie sich ein Ja zur Schwarzenbach-Initiative ein Jahr zuvor auf die Verhandlungsposition der Schweiz ausgewirkt hätte, bleibt Spekulation. Ob sie sich verbessert hätte, ist zu bezweifeln. Warum der Vergleich? Damals wie heute ist die gefühlte Intensität des Wandels hoch, den Menschen kommt die vertraute Umwelt abhanden, das Gefühl der Geborgenheit geht verloren. Der Blick zurück nährt den Eindruck, dass Wachstum, Wohlstand, Mi­ gration, Souveränität und die Europa-Frage Teile eines interdependenten Systems waren – und sind. Wachstum bringt Wohlstand und zieht Arbeitskräfte an. Gleichzeitig wächst die Abhängigkeit von ausländischen Märkten, weil das Wachstum des Schweizer Binnenmarktes alleine nicht für die Sicherung des Wohlstandsniveaus ausreicht. Deshalb gewinnt die Position der Schweiz in Europa an Bedeutung, weil es mit Abstand der grösste ausländische Absatzmarkt ist. Mit dem Ja zur Masseneinwanderungsinitiative am 9. Februar 2014 wurde das Gleichgewicht des Systems tangiert. Nun müssen die einzelnen Systemkomponenten wie 1972 wieder zu einem innenpolitischen Konsens geformt werden. «Eine Regierung hat nicht die Segel zu bedienen, sondern das Steuer», hat der Zürcher Professor und Schriftsteller Karl Schmid einmal gesagt.3 Wer das Steuer bedienen will, muss wissen, ob die Richtung stimmt. Diese wird durch die Ziele und Werte unserer Verfassung, des Fundaments der politischen Ordnung, vorgegeben. Dies ist immer ein Prozess der Annäherungen, Verbesserungen und Anpassungen an neue reale Entwicklungen. Als Land ohne Meeranstoss kann man es mit den Grundlagen für eine anspruchsvolle Bergwanderung vergleichen:


ÂŤWichtig und fundamental ist die Exit-Option.Âť Yves Rossier

Yves Rossier, photographiert von Raffael Waldner.

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− Wir brauchen ein allseits anerkanntes Koordinatensystem: das ist die Bundesverfassung. − Wir brauchen solides Kartenmaterial für die mittelfristige Sicht: die aussenpolitische Strategie 2012–2015.4 − Wir brauchen regelmässige «Updates» des Kartenmaterials für plötzliche Veränderungen der Landschaft, welche einen Umweg aufzwingen oder neue Routen eröffnen: dies ist der jährliche aussenpolitische Bericht des Bundesrates. Oberstes Gebot der Aussenpolitik ist die Wahrung der Interessen unseres Landes und die Verteidigung der Werte, die unserer Verfassung zugrunde liegen. Es ist dies die Wahrung der Unabhängigkeit, der Sicherheit und der Wohlfahrt des Landes. Zu den Werten, die bei der Wahrung dieser Interessen zu fördern sind, gehören die Linderung von Not und Armut in der Welt, die Achtung der Menschenrechte und die Förderung der Demokratie, das friedliche Zusammenleben der Völker sowie die Erhaltung der natürlichen Lebensgrundlagen. Das Wort «Interesse» hat zwei sich ergänzende Bedeutungen: Interesse als «geistige Teilnahme, Aufmerksamkeit» also eher altruistischer Art und als «Nutzen» in utilitaristischer Form. Diese beiden Bedeutungen zeigen, dass die Verteidigung von nationalen Interessen auch eng mit dem Aufbau einer effizienten und gerechten internationalen Ordnung verbunden ist. In diesem Kontext gilt es auch das Konzept der Souveränität im Spannungsfeld zwischen Autonomie (Selbstbestimmung) und Heteronomie (Fremdbestimmung) zu hinterfragen. Souveränität zwischen Autonomie und Heteronomie – politische Wahl Souveränität ist ein hohes Gut, denn es bedeutet, sein Schicksal in eigenen Händen zu halten, seiner Umwelt und externen Einflüssen nicht hilflos gegenüberzustehen.5 Dies wünschen sich jeder Mensch, jedes politische Gemeinwesen und alle Staaten. Es bedeutet auch Macht, seinen eigenen Willen durchzusetzen. Diese Macht muss aber per definitionem gegen aussen begrenzt sein, denn ohne Begrenzung entstünde eine Form der totalen

Herrschaft über andere oder ein koloniales Verhältnis, womit alle anderen nicht mehr souverän wären. Souveränität beinhaltet darüber hinaus eine Wahlmöglichkeit – sonst kann nicht sinnvollerweise davon gesprochen werden. Gemeint ist die bewusste Wahl zwischen der Einflussnahme auf die Erarbeitung von Regeln und Normen, denen man in der Realität sowieso ausgesetzt ist, oder dem bewussten Willen, solchen Prozessen fernzubleiben. Ist diese Wahl nicht aufgezwungen, ist man nach wie vor souverän, aber allfällige Regeln sind dann nicht mitgestaltete, sondern fremde. Der Neuenburger Psychologe und Pädagoge Jean Piaget beschreibt den Prozess von einer Heteronomie (Fremdbestimmung) zu einer Autonomie (Selbstbestimmung), d.h. von der Fremdgesetzlichkeit zur Eigengesetzlichkeit. Der Grad der Selbstoder der Fremdbestimmung ist dabei fliessend und nie 100 Prozent oder 0 Prozent. Maximale Souveränität meint unter realen Bedingungen nie reine Selbstbestimmung, sondern die Minimierung der Fremdbestimmung: einerseits durch freiwillige Akzeptanz fremder Regeln, anderseits durch Mitbestimmung derselben. Dies gilt natürlich nur unter der Bedingung, dass es nicht zu einem irreversiblen Transfer von Souveränität kommt. Es gibt bei internationalen oder supranationalen Organisationen kein «Austrittsverbot». Wichtig und fundamental ist mithin die Exit-Option, die Kündbarkeit von Verträgen und Vereinbarungen. Wären beispielsweise die wechselseitigen Abhängigkeiten unserer WTOMitgliedschaft in einem krassen und andauernden Ungleichgewicht, könnte die Schweiz den Austritt in der Ausübung ihrer Souveränität beschliessen. Analog steht diese Möglichkeit den EU-Mitgliedern offen, wie es die derzeitige Debatte in Grossbritannien zeigt. Als unabhängiges Staatswesen haben wir die Wahl, über wie viel Autonomie oder Heteronomie wir in welchen Bereichen verfügen wollen. Ein paar Beispiele illustrieren dies: In der Welthandelsorganisation WTO entscheidet die Schweiz über die Regeln des Welthandels mit, und diese sind somit für unser Land nicht fremdgesetzlich. Gleichzeitig werden wichtige Re-

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geln der Internetnutzung durch eine private Organisation (ICANN) in den USA bestimmt, die kalifornischem Recht unterworfen ist. Darauf hat die Schweiz als Land keine direkten Einflussmöglichkeiten. Diese Ohnmacht oder Fremdgesetzlichkeit wurde aber bisher stillschweigend akzeptiert. Nur wenige lesen das «Kleingedruckte» der Allgemeinen Geschäftsbedingungen im Internet, zudem fehlt die Wahlmöglichkeit einer eigentlichen Alternative. Fazit: wir sind in der Nutzung des Internets weder souverän noch eigengesetzlich bestimmt. Interessant ist aber, dass selbst Grossmächte unter gewissen Bedingungen bereit sind, Autonomie abzutreten. So wollen die USA einen Teil der globalen Internetaufsicht multilateralisieren und damit auf eine vollständige Kontrolle verzichten. Die Staaten Ost- und Mitteleuropas waren unter dem Einflussbereich der damaligen Sowjetunion zwar formell unabhängig, aber de facto stark fremdbestimmt. Nach dem Zusammenbruch der UdSSR mussten diese Staaten wieder­um zwischen Autonomie und Heteronomie abwägen. Offensichtlich wog der Gewinn an Mitsprache und finanziellen Transferleis­ tungen ein erneutes Mass an Fremdbestimmung auf. Für die Schweizer Aussenpolitik folgt daraus, dass zwecks Wahrung der Unabhängigkeit ein «bestmögliches Gleichgewicht wechselseitiger Abhängigkeiten» erreicht werden muss.6 Die maximale Souveränität ist eine differenzierte Souveränität. Zur Rolle der Schweizer Diplomatie Wie kann die Schweiz in diesem Umfeld mit den Mitteln ihrer Aussenpolitik die Interessen am besten wahren? Früher hörte man allenthalben, dass «keine» Aussenpolitik die beste Aussenpolitik für die neutrale Schweiz sei. «Still hinter der warmen Ofenbank» zu sitzen – diese Option ist angesichts des rauheren Windes, der heute in Europa und in der Welt weht, keine verantwortungsvolle Handlungsanleitung für eine Regierung, die das Steuer bedienen soll. Freihandel und ein fairer grenzüberschreitender Wettbewerb der Wirtschaft hat unserem Land Wohlstand und Entwicklung gebracht. Trends zu mehr Protektionismus und vermehrt geopolitischen Überlegungen von Staaten gefährden diese günstigen Rahmenbedingungen für die Schweiz. Um unsere Souveränität zu stärken, müssen wir global und regional Einfluss nehmen auf die Gestaltung eines normativen Umfeldes, das unseren Werten und Interessen nahekommt. Um ihre Position nach aussen wirkungsvoll vertreten zu können, braucht die Schweiz eine innenpolitisch breit abgestützte Aussenpolitik und eine leistungsstarke Diplomatie, welche die Interessen des Landes schützt und fördert. Dafür braucht es parteipolitische Koalitionen der Vernunft von links bis rechts und keine unheiligen Allianzen. Welches Instrumentarium steht der Diplomatie zur Verfügung? Sie verfügt über keine offensiv einsetzbaren Machtinstrumente wie «the power of the purse or the sword», welche heute oft als Elemente der «Hard Power» bezeichnet werden. Hingegen verfügt die Schweiz über Einflussmöglichkeiten mit sanfter, aber hartnäckiger Überzeugungsarbeit und beispielhaftem Verhalten. Dies wird als

Florian Rittmeyer

Zu Yves Rossier Essay

Y

ves Rossier kennt die Mechanik der Schweizer Konsensmaschine und weiss, dass sich Wahljahre nicht dazu eignen, grundsätzliche Diskussionen zu führen. Warum tut er es trotzdem – und warum in dieser Zeitschrift? «Die Aussenpolitik birgt immer die Gefahr, dass sie das Land teilt», sagte Rossier, bevor er sein Amt als Staatssekretär antrat. Diese Gefahr hat sich in den letzten Monaten zweifellos akzentuiert. «Konsens» ist ein Wort, das Politiker und Publizisten im Jahr 2015 besonders häufig herbeiziehen werden. Seit der EWR-Abstimmung von 1992 herrscht eine innenpolitische Verkrampfung, die es schwierig macht, offen und ehrlich über reale Optionen für die Schweizer Aussenpolitik zu sprechen. Dabei wäre es wichtig, maximal nüchtern mögliche Auswirkungen der Szenarien für das Verhältnis mit der EU abzuwägen. Einen solchen Bericht hat jüngst Londons Bürgermeister Boris Johnson lanciert. Die Bausteine für die Schweiz liegen auf dem Tisch: Freihandelsabkommen mit der EU, Bilateralismus, EWR, Vollbeitritt (all dies vor dem Hintergrund der Austrittsdrohungen Englands, der damit verbundenen Reformen innerhalb der EU und Eurozone sowie des TTIP-Abkommens zwischen EU und USA). In der Lektüre des Texts erfährt der Leser nicht, wo der Chefdiplomat persönlich steht. Er outet sich weder als europhiler Chefdiplomat noch als Gralshüter absoluter politischer Unabhängigkeit. Ein Denkanstoss dürfte nachhallen: «Maximale Souveränität meint unter realen Bedingungen nie reine Selbstbestimmung, sondern die Minimierung der Fremdbestimmung: einerseits durch freiwillige Akzeptanz fremder Regeln, anderseits durch Mitbestimmung derselben.» Rossier hat den Essay in ein einer Zeitschrift publiziert, die einen kosmopolitischen und gleichzeitig dezidiert EU-skeptischen Kurs verfolgt. Eine redaktionelle Haltung ­ermöglicht offene Diskussionen. Auch deshalb haben Botschafter und Diplomaten wie Carl J. Burckhardt, William Rappard, Rudolf Bindschedler oder Tim Guldimann diese Zeitschrift immer wieder als Bühne genutzt, um sich mit aussenpolitischen Grundproblemen auseinanderzusetzen. In diesem Sinne verstehen wir den Text als Beitrag für ein Update der aussenpolitischen Strategie der Schweiz. Mitschwingen wird dabei eine Frage, die jeder Bürger alle paar Jahre für sich selbst entscheiden muss, spätestens dann, wenn er zur Urne schreitet: In welchen Bereichen sind wir bereit, Handlungsfreiheit einzubüssen, um dafür Freiheiten auf anderer Ebene zu gewinnen?

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Weiterdenken  Schweizer Monat 1023  Februar 2015

«Soft Power» bezeichnet. Ein leitender Mitarbeiter eines amerikanischen Think Tanks sagte einmal, dass der US-Politologe Joseph Nye eigentlich die Schweiz vor Augen gehabt habe, als er diesen Begriff prägte. Es gehört zu den Vorzügen der Schweizer Aussenpolitik, dass sie sich auf ein solides Wertesystem und ein erfolgreiches Staats- und Wirtschaftsmodell stützen kann. Erfolg ruft zwar Neider auf den Plan, verleiht aber auch eine Position der Stärke. Dar­ über hinaus hat sich die Schweizer Diplomatie den Ruf eines «ehrlichen Maklers» ohne «versteckte Absichten» erworben. Viele Lösungen für globale Probleme wie Klimawandel, Terrorismus oder irreguläre Migration, welche direkte Auswirkungen auf die Schweiz haben, können nur in Kooperation mit Partnern umgesetzt werden. Als Nichtmitglied der EU oder der Nato gehört die Schweiz keinem weltpolitischen Machtpol an, auch wenn sie fest in der westlichen Wertegemeinschaft und in Europa verankert ist. Diese Positionierung erfordert ein besonderes Engagement, eröffnet aber auch gleichzeitig Handlungsspielräume und die Chance, geeignete Kooperationspartner für die Anliegen der Schweiz zu gewinnen. Der OSZE-Vorsitz der Schweiz und die Rolle der Organisation in der Ukraine-Krise haben dies erneut gezeigt. Je konsequenter die Rolle des neutralen Vermittlers ausgeübt wird, desto mehr Einfluss kann die Schweiz gewinnen. Es ist eine neue «kooperative Neutralität», die in Zusammenarbeit mit allen relevanten Akteuren eine starke friedenspolitische Rolle spielen kann. Auch das internationale Genf ist prädestiniert als eine der Hauptplattformen der Schweizer Diplomatie. Dies bedarf Investitionen nicht nur in die Infrastruktur, sondern auch in Software, sprich Wissen und Expertise. Der Wettbewerb der Standorte für die multilaterale Diplomatie ist hart und gute Hotels oder Konferenzräumlichkeiten sind austauschbar. Hingegen lassen sich die Glaubwürdigkeit und die Reputation eines Landes oder einer Stadt nicht so leicht aufbauen sowie das konzentrierte Wissen in einer Vielzahl von Organisationen und institutionellen Fähigkeiten von Menschen nicht so schnell verpflanzen. Die Schweiz kann sich indes nicht alleine auf «Soft Power» beschränken. Die sachliche Überzeugungskraft und die Attraktivität der Ideen, gepaart mit Expertise, die konkrete Resultate liefert, oder der Erfahrung bei der Vermittlung in Konflikten, kombiniert mit Elementen der «Hard Power» wie bewaffnete Formen der multilateralen Friedenssicherung in UNO-Operationen, ergeben eine «Smart Power». Das Engagement der Schweiz in Mali ist ein gutes Beispiel für diese Kombination einer multifunktionalen Schweizer Diplomatie. Sie umfasste Vermittlungsdienste, Entwicklungszusammenarbeit, aber auch den Einsatz von Schweizer Armeeangehörigen. Die Schweiz darf und soll sich beim Einsatz von international legitimierten Operationen auch mit militärischen Mitteln engagieren. Dies stärkt die kooperative Neutralität. Die Schweiz ist in verschiedenster Hinsicht eines der innovativsten Länder der Welt. Was in Wirtschaft, Technologie und Wissenschaft gilt, sollte auch in der Aussenpolitik noch verstärkt Ein-

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gang finden. Als Land mit im internationalen Vergleich eher bescheidenen finanziellen und personellen Mitteln für die Aussenpolitik bietet sich an, aus der Not eine Tugend zu machen. Dazu gehört die Zusammenarbeit mit nationalen und internationalen Think Tanks, Nichtregierungsorganisationen und der Wissenschaft. Unter Wahrung der Unabhängigkeit der Forschung und Lehre kann die Diplomatie bei der Vernetzung von Forschungsin­ stitutionen behilflich sein. Dies ist kein Selbstzweck; denn der Forschungsplatz Schweiz kann wichtige Beiträge zur Beherrschung von globalen Risiken wie Klimaerwärmung oder Wasser- und Ernährungssicherheit leisten. Damit werden nicht nur die globalen Problemlösungskapazitäten gestärkt, sondern auch der Einfluss der Schweiz auf das internationale Agenda-Setting erhöht. Ziele und Mittel für die Aussenpolitik müssen in einem angemessenen Verhältnis zueinander stehen. Mit den finanziellen und personellen Mitteln für die Aussenpolitik ist die Schweiz immer sehr haushälterisch umgegangen. In den letzten 10 Jahren war beim diplomatischen Personal, das die Interessen der Schweiz im In- und Ausland verteidigt, ein Nullwachstum zu beobachten. Mit Effizienzsteigerungen und Rationalisierungsmassnahmen konnte trotz stagnierender Budgets ein Ausbau des Angebots erzielt werden. Die Nachfrage nach konsularischen Dienstleistungen hat in den letzten Jahren stark zugenommen. Jährlich unternehmen Schweizerinnen und Schweizer rund 10 Millionen Reisen ins Ausland. In den letzten fünf Jahren hat sich die jährliche, neue Anzahl der Fälle von Menschen in Not, welche um konsularischen Schutz nachgefragt haben, von über 450 auf knapp 1000 verdoppelt. Vor zwei Jahren wurde erstmals die Marke von 700 000 Auslandschweizerinnen und Auslandschweizern überschritten. Aufgrund der eingangs analysierten Lage in Europa und in der Welt steigt aber nicht nur die Nachfrage nach konsularischen Dienstleistungen. Auch im Kernbereich der bilateralen Interessenwahrung, der Entwicklungszusammenarbeit und in der Aussenpolitik insgesamt dürfte der Bedarf an personellen und finanziellen Ressourcen eher zu- als abnehmen. Als Antwort auf die Unsicherheiten in Europa und der Welt forderte Thomas Held, der ehemalige Direktor von Avenir Suisse, eine strategische Aufstockung der diplomatischen Kräfte: «Dabei geht es nicht nur um Spezialisten für vorausschauende Lageanalysen, die Entwicklung von Szenarien und das Erarbeiten von Optionen. Für die Verhandlungsfähigkeit der Schweiz wichtig wäre vielmehr eine Ausweitung – zum Beispiel eine Verdoppelung – des diplomatischen Korps.»7 Die friedenspolitischen «guten Dienste», das Engagement im multilateralen Rahmen der UNO oder im Bereich der Entwicklungszusammenarbeit bedingen bilaterale Basisarbeit in der Inter­ essenwahrung in den Hauptstädten. Damit können Früchte einer kooperativen Neutralität auch vermehrt zum Wohle der bilateralen Beziehungen mit Grossmächten wie der USA oder Russland und der Europäischen Union genutzt werden. Die Geschicke der Welt, welche die Schweiz betreffen, werden nicht mehr nur in einer oder zwei Hauptstädten entschieden. Gerade in einer multipolaren


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Welt ist ein ausgedehntes, gut ausgestattetes Vertretungsnetz zum Beispiel in den BRICS-Staaten von grosser Bedeutung. Auch in Europa erfordert der bilaterale Weg eine gezielte und verstärkte Interessenwahrung. Um das Verständnis und das Vertrauen in den bilateralen Weg zu sichern und zu stärken, ist eine kontinuierliche Beziehungspflege nicht nur bei den EU-Institutionen in Brüssel, sondern in allen Hauptstädten der EU-Mitgliedstaaten nötig. Ausblick Wohlstand, Wachstum, Migration, Souveränität und unsere Position in Europa sind Bestandteile eines fein abgestimmten Uhrwerks. Dieses funktioniert dann, wenn sich die Schweiz der Fragilität dieses Werks bewusst ist und die Unsicherheit als Anlass sieht, nach einem innenpolitischen Konsens zu suchen. Dass dies möglich ist, zeigt die Abstimmung über das Freihandelsabkommen mit der Vorläuferin der heutigen EU von 1972. Die Rückbesinnung auf die Werte, welche die moderne Schweiz und das Erfolgsmodell ausmachen, und kein verklärender Blick zurück auf Gotthelfs Zeiten ist dafür nötig. �

1 Friedrich T. Wahlen: Vom Geist des Bundesbriefs 1291. Deutsche Fassung von «Le pacte de 1291, âme de tout essor». In: Choisir, Numéro spécial 1968. 2 In dieser Erklärung wurde das «Ziel der schrittweisen Verwirklichung eines möglichst einheitlichen Arbeitsmarktes» festgehalten, siehe Botschaft des Bundesrats vom 16. August 1972, S. 963. 3 Karl Schmid: Über die Stimmung der Nation und die Zukunft des Staates. Rede vor Botschafterkonferenz, 1972. 4 In der aussenpolitischen Strategie 2012–2015 sind vier strategische Schwerpunkte definiert: 1. Beziehungen zu den Nachbarstaaten und Grenzregionen, 2. Beziehungen zur Europäischen Union, 3. Engagement zugunsten der Stabilität in Europa, der europäischen Nachbarschaft und der übrigen Welt, 4. Strategische Partnerschaften und globale Themen. 5 Der neuzeitliche Nationalstaat ist stark von der Souveränitätslehre des französischen Humanisten, Universalgelehrten, Diplomaten und Staatsdieners Jean Bodin (1529–1596) beeinflusst und prägt noch heute indirekt Diskussionen über die staatliche Souveränität. Zwei Anmerkungen sind für die heutige Perzeption seiner Lehre wichtig. Erstens prägten die Religionskriege des 16. Jahrhunderts sein Denken und Handeln. Zur Überwindung der Anarchie brauchte es eine souveräne Gewalt, welche eine Regierung und einen Staat für das Gemeinwohl hervorbringen konnte. Zweitens gilt gemäss Bodin zwar das Prinzip der Unteilbarkeit der Souveränität, sie ist aber nicht unbegrenzt und nicht absolutistisch. Er sieht Mischformen mit monarchischen, demokratischen und aristokratischen Elementen und ein Widerstandsrecht unter bestimmten Bedingungen vor. Als weiterführende Lektüre siehe Prof. Dr. Alois Riklin: Ambivalenz der Souveränität. In: Kleinstaaten in Europa, Symposium des Liechtenstein-Instituts. Hrsg. von Dieter Langewiesche. Schaan: Verlag der Liechtensteinischen Akademischen Gesellschaft, 2007, S. 177–190. 6 Prof. Dr. Alois Riklin: Schweizerische Unabhängigkeit heute, St. Galler Antrittsvorlesung 1971. In: Schweizer Rundschau 6, 1973, S. 362–371. 7 Thomas Held: Mehr Diplomaten braucht das Land! In: Das Magazin, 28.04.12, S. 40.

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Weltuntergang: schon wieder verschoben Oder: Warum Sie als Optimist kein Idiot sind. von Matt Ridley

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ann es sein, dass 2014 das grässlichste Jahr aller Zeiten war, das bloss durch das noch schlechter gestartete 2015 übertroffen werden könnte? Wer Angst schüren wollte (und will), wusste (und weiss) gar nicht, wo er beginnen sollte (und soll). Von Gaza bis Liberia, von Donezk bis Sindschar, von Damaskus bis Paris, die vier Apokalyptischen Reiter – Eroberung, Krieg, Hungersnot und Tod – rasen überall über den Planeten und lassen nichts als Schutt und Asche übrig. Und ihnen folgen Schulden, Verzweiflung und Hass auf dem Fuss. Gibt es noch Hoffnung für die Menschheit? Man bedenke, mit wie viel Leid die Welt konfrontiert ist. Ein Glaubenskrieg zwischen dem militanten Islam und seinen Feinden lodert in ganz Eurasien, von Pakistan über den Irak, Syrien, Palästina, Libyen, Somalia, den Südsudan bis nach Nigeria. In der Ukraine hat ein Amateurautokrat vorsätzlich einen Krieg angezettelt. Und in Westafrika hat sich eine bösartige Seuche immer schneller verbreitet. Wie oft sind einem dieses Jahr Fotos toter Kinder begegnet: über ein ukrainisches Kornfeld verstreut, auf einer irakischen Strasse enthauptet, an einem Strand in Gaza in Stücke gerissen, schwerverletzt in einem syrischen Krankenhaus oder lebendig begraben in Liberia. Auch das Schicksal der Mädchen, die in Nigeria von Boko Haram entführt wurden, ist kaum weniger beklagenswert. Homo homini lupus. Auch in der Welt des Geldes gibt es jede Menge Anlass zum Heulen: Argentinien kann seine Schulden nicht mehr bezahlen. Die Verschuldung Grossbritanniens hat sich innerhalb von nur vier Jahren verdoppelt. Die Eurozone hängt in einer permanenten Rezession fest und befindet sich bereits wieder am Rand der nächsten Krise. Die Börsenkurse sind volatil. If it bleeds, it leads Alles wahr. Alles furchtbar. Doch die Welt steckte schon immer voll Greueltaten, Gewalt, Tod und Armut. Ist jüngst wirklich alles schlimmer geworden oder berichten wir Journalisten einfach nur über die Gewitterwolken, die den Silberstreifen am Horizont verdecken? Man darf nicht vergessen, dass die Medien keine faire Zusammenfassung dessen liefern, was in der Welt gerade geschieht. Sie berichten hauptsächlich über die Sachen, die furcht-

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Matt Ridley ist promovierter Zoologe und Autor des internationalen Bestsellers «Wenn Ideen Sex haben. Wie Fortschritt entsteht und Wohlstand vermehrt wird» (DVA, 2010). Von 2004 bis 2007 sass er im Vorstand der Bank Northern Rock.

bar schiefgehen. «If it bleeds, it leads», wie es unter angelsächsischen Journalisten so schön heisst. Nach guten Nachrichten kräht kein müder Hahn. Darum ist es eine gute Idee, stattdessen einmal zusammenzuzählen, was alles richtig läuft – und was richtig laufen könnte. Diese Liste ist nämlich ziemlich lang. Aber sie ist wohl für die «Tagesschau» nicht aufregend genug. Verglichen mit jedem Zeitpunkt des vergangenen halben Jahrhunderts ist die Welt heute im Ganzen wohlhabender, gesünder, glücklicher, klüger, sauberer, freundlicher, freier, sicherer, friedlicher und egalitärer. Der durchschnittliche Erdenbewohner verdient heute ungefähr dreimal mehr als vor 50 Jahren – inflationsbereinigt. Und diese Zahl wird der gigantischen Verbesserung unseres Lebensstandards noch nicht einmal gerecht, denn sie bezieht nicht mit ein, wie viel besser die Qualität der Dinge geworden ist, die wir für all das zusätzliche Geld kaufen können. Egal, wie reich Sie im Jahr 1964 waren: Sie konnten weder einen Computer, ein Handy, Prozac oder glutenfreies Essen kaufen noch einen Flug mit einer Billigairline buchen oder eine Suchmaschine nutzen. Die Weltwirtschaft wächst weiterhin rasant – schneller, als Grossbritannien während der Industriellen Revolution gewachsen ist. Der Durchschnittsmensch lebt etwa einen Drittel länger als vor 50 Jahren. Die Chance, dass jemand seine eigenen Kinder begraben muss, ist um zwei Drittel gesunken. (Und die eigenen Kinder sterben zu sehen gehört zu den schrecklichsten Dingen, die ich mir vorstellen kann.) Die Nahrungsmenge, die zur Verfügung steht, ist auf allen Kontinenten stetig gestiegen – und das, obwohl sich die Weltbevölkerung verdoppelt hat! Hungersnöte sind rar geworden. Die Malaria-Sterberate ist seit Beginn dieses Jahrhunderts um gute 30 Prozent gesunken. Es gibt immer weniger HIVTote. Egal ob Kinderlähmung, Masern, Gelbfieber, Diphtherie, Cholera oder Typhus: Die Erkrankungen, denen unsere Vorfah-


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ren massenhaft zum Opfer fielen, sind mittlerweile sehr selten geworden. Wir reden uns gerne ein, wir seien arme, unglückliche Würstchen. Aber das ist nicht wahr. In den Siebzigern behauptete eine Studie, dass Leute mit zunehmendem Wohlstand unglücklicher würden. Doch die Forscher stützten sich auf falsche Daten. Inzwischen wissen wir, dass Menschen insgesamt zufriedener mit ­ihrem Leben werden, wenn ihr Wohlstand zunimmt. Diese Korrelation hält Vergleichen zwischen Ländern, innerhalb von Ländern und innerhalb von Lebenszyklen stand. Sowieso sollte jedem klar sein, dass es immer noch besser ist, wohlgenährt, gesund und unglücklich zu sein, als hungrig, krank und unglücklich. Zugegeben: Die Bildungssysteme gleichen Scherbenhaufen. Alle Welt regt sich darüber auf, anstatt kurz innezuhalten und zu realisieren, dass heute viel mehr Kinder viel länger zur Schule gehen als vor 50 Jahren. Dazu kommt, dass durch ein mysteriöses Phänomen, den Flynn-Effekt, die IQs überall steigen und steigen, v.a. in den Gebieten, die nichts mit Bildung zu tun haben. Schon mal daran gedacht, dass es daran liegen könnte, dass heutigen Kindern qualitativ hochwertigeres Essen zur Verfügung steht und sie in grösserem Wohlstand aufwachsen als früher? Die Luft ist viel sauberer als in meiner Jugend. Den Smog haben wir weitgehend aus unseren Städten verbannt. Die Flüsse sind sauberer und strotzen vor Fischottern und Eisvögeln. Zwar wird weltweit weiter am ohnehin verschmutzten Ozean herumgepfuscht. Aber immerhin schwimmen darin mehr Wale als noch vor einem halben Jahrhundert. In vielen Ländern nimmt die Be-

waldung stark zu. Der Druck, Boden als Ackerland zu nutzen, hat zu schwinden begonnen. Schwindende Gewalt Wir glauben, dass die Menschheit heute egoistischer sei als früher. Das ist ausgemachter Blödsinn. Wir spenden einen ungleich grösseren Anteil unseres Einkommens für wohltätige Zwecke als unsere Grosseltern. Alle Arten von Gewaltverbrechen sind im Schwinden begriffen – und ja, das schliesst Mord, Terror, Vergewaltigung, Diebstahl und häusliche Gewalt mit ein. Ähnliches lässt sich von Todes- und Körperstrafen und von Tierquälerei sagen. Immer weniger Menschen haben Vorurteile gegenüber Homosexuellen oder Menschen mit anderer Hautfarbe oder dem ­anderen Geschlecht. Selbst die Pädophiliefälle haben nicht zugenommen – sie werden bloss weniger totgeschwiegen als in der «guten alten Zeit». In meiner Jugend gab es nur ein paar ernsthaft demokratische Länder; der Rest wurde von kommunistischen oder faschistischen Despoten geführt. Heute sind nur noch ein paar von diesen Schiessbudenfiguren übrig geblieben – sie könnten sich alle in einer Bar treffen: der fette Kim, Castros Bruder, Mugabe, eine Handvoll Zentralasiaten, die Burschen aus Venezuela und Bolivien und der alte weissrussische Sack. Putin bemüht sich gerade um eine Aufnahme in den Club. Dafür verirrt sich kein Chinese mehr in die Bar. Auch das Wetter wird nicht schlimmer. Selbst wenn Sie anderes gelesen haben mögen: Es gibt keine Hinweise darauf, dass Flu-

Weltweite Todesfälle und Todesraten wegen extremer Wetterlagen, 1900–2010 Die Graphik zeigt für jedes Jahrzehnt von 1900 bis 2010 die durchschnittlichen Todesfälle und Todesraten pro Jahr wegen extremer Ereignisse, die mit dem Wetter und Klima zusammenhängen. Die Daten zeigen, dass Todesfälle und Todesraten seit den 1990er Jahren abgenommen haben. Im Vergleich zu den 1920er Jahren haben im letzten Jahrzehnt (2000–2010) die jährlichen Todesfälle von 484 900 auf 35 700 abgenommen, was einer Abnahme von 92,6% entspricht. Die Todesrate pro Million Menschen fiel derweil sogar von 241,5 auf 5,4.

600

500

Average Annual Number of Events

400 Todesfälle pro Jahr (in 1000) Todesraten pro Jahr (pro Million Menschen)

300

Bemerkung: Für das letzte Jahrzehnt, 2000–2010,

200

beziehen sich die jährlichen Todesfälle und Todesraten auf einen Durchschnitt von 11 Jahren. Quelle: I. M. Goklany: Deaths and Death Rates from

100

Extreme Weather Events: 1900–2008. In: Journal of American Physicians and Surgeons,

0

14 (4). 2009. S. 102–109. Verfügbar auf

1900/09

1910/19

1920/29

1930/39

1940/49

1950/59

1960/69

1970/79

1980/89

1990/99

2000/10

http://www.jpands.org/vol14no4/goklany.pdf.

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A Lan usbez cie a run hlte g: ü Spe b e r nd e CH n se F1 .3 it Mio .

Gutes tun. Für sich und für andere. Cancer Charity Support Fund

Indem Sie in den Cancer Charity Support Fund investieren, engagieren Sie sich im Kampf gegen Krebs. Die Hälfte der Rendite und der Gebühren der involvierten Finanzdienstleister fliessen als Spende der Krebsliga Schweiz / Krebsforschung Schweiz zu. Der Schweizer Anleger kann den gespendeten Betrag von der Einkommenssteuer abziehen. Der Aktienanteil des Fonds wird schwerpunktmässig in Unternehmen investiert, die in der Krebsforschung und Krebsbekämpfung aktiv sind. Unsere Anlagepolitik schenkt nachhaltigen Werten eine besondere Beachtung. Engagieren Sie sich: www.cancercharitysupportfund.ch

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ten, Zyklone, Tornados, Blizzards und Buschfeuer weltweit zugenommen haben. Dürren sind heute sogar weniger verheerend als früher. Sie glauben das Gegenteil? Das liegt daran, dass die Berichterstattung immer hysterischer geworden ist. Übrigens starben in den letzten Jahren dank der besseren Infrastruktur, Kommunikation und Technologie immer weniger Menschen wegen extremer Wetterlagen (siehe Graphik von Indur M. Goklany). Global gesehen ist Ihre Chance, wegen einer Dürre, einer Flut oder in einem Sturm zu sterben, stolze 98 Prozent niedriger als in den 1920er Jahren. Wie Steven Pinker zeigt1, ist auch die Zahl der Kriegsopfer gefallen, wenn auch viel unregelmässiger. Die zehn Jahre von 2000 bis 2010 waren von allen Dekaden seit Messbeginn in den Vierzigern jene mit den wenigsten Kriegsopfern. Das wird womöglich nicht so bleiben – in der Tat scheint diese Dekade blutrünstiger als die letzte. Aber auch das kann sich wieder verbessern. Die Ungleichheit schrumpft Und wie steht es um die berühmt-berüchtigte Ungleichheit? Die Einkommen nähern sich weltweit immer mehr an. Der Grund: die Bürger armer Staaten werden schneller reicher als jene von Industrieländern. Nicht nur können wir diese Entwicklung seit gut zwei Jahrzehnten beobachten. Sie hat sich seit der globalen Rezession sogar noch beschleunigt. Das BIP von Mosambik ist seit 2008 um sechzig Prozent gestiegen; das von Italien ist um sechs Prozent gesunken. Die Zeitungen berichten aus gutem Grund nicht über Mosambik. Dort steht nämlich alles zum Besten. Natürlich kann auch ich den Weltuntergang herbeireden. Militanter Islam könnte Gemeinschaften auseinanderreissen. Und die europäischen Bürokraten könnten Innovationen noch mehr im Keim ersticken, als sie das heute bereits tun. Wenn ich gefragt werde, worüber ich mich am meisten sorge, antworte ich immer: «Bürokratie und Aberglauben.» Denn die haben frühere Zivilisationen wie die Ming- oder die Abbasiden-Dynastie zu Fall gebracht. Eine Warnung zum Schluss: Optimisten werden nicht ernst genommen. Wie der Philosoph John Stuart Mill beobachtete: «Nicht derjenige, der hofft, wenn andere verzweifeln, wird von einer grossen Anzahl Menschen als Weiser angesehen werden, sondern der, der verzweifelt, wenn andere hoffen.» � Aus dem Englischen übersetzt von Florian Oegerli.

1

Steven Pinker: Mythos: Gewalt. In: Schweizer Monat 1014. März 2014. S. 54–58.

Markus Fäh und Andreas Oertli

Zur Lage…

… der Perfektion im Schweizer Infrastrukturbau

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as darf eine Tramhaltestelle kosten? Wir meinen natürlich eine mit einem Unterstand für Regentage, von Orthopäden entwickelten Bordsteinen und einem bärensicheren Abfalleimer. Wir hätten geschätzt, dass die zu Luxus neigende Little Big City grosszügig einige zehntausend Franken dafür springen liesse... immerhin World Class – Swiss Made. Dass aber gleich CHF 170 000 verbaut werden, hat uns dann doch dazu bewogen, die Sache unter die Lupe zu nehmen. Apropos Lupe: Mit welcher Akribie werden Rinnsteine gelegt, Bordsteinkanten angeschrägt und Bitumenabschlüsse sorgsam aufgetragen! Gebaut für die nächsten hundert Jahre. Wie weiland Ernst Göhners Schutzräume, in denen mittlerweile nur noch Grossmutters saure Gurken vor Angriffen sicher sind. Wir fragen uns: Wann beginnen wir, Abstriche zu machen? Wann fangen wir damit an, auf unnötigen Luxus zu verzichten, der weder Mehrwert noch Genuss schafft? Wohl erst, wenn wir einsehen, dass Perfektionismus ein Symptom ist. Die nanometergenauen Bordsteine repräsentieren unseren Zwang, auch als Menschen perfekt sein zu müssen, in engen Bahnen zu denken und uns freiwillig unter die Fuchtel der Perfektion zu stellen. Die Bordsteine stehen auch für die Illusion einer heilen Welt, die jedem Wandel widersteht und trotz gegenläufiger Anzeichen Sicherheit und Kontrollierbarkeit vorgaukelt. Sicher, auch wir sind überzeugt, dass eine solide Infrastruktur für eine funktionierende Wirtschaft und Gesellschaft notwendig und für die Schweiz ein entscheidender Standortvorteil ist. Der an die plastische Chirurgie erinnernde sterile Ästhetikwahn hat jedoch nichts mehr mit zweckmässigem Infrastrukturbau zu tun, sondern mit mangelnder Toleranz für das Unperfekte, Vorläufige und Unabgeschlossene des Menschseins. Vieles ist schlicht nicht notwendig, wie der Blick in jedes unserer Nachbarländer und andere Erdteile zeigt. Wir meinen, auch in diesem Bereich tut eine gute Portion Gelassenheit gut. Wir sind gespannt, wann das Umdenken einsetzt und wann auch die Schweizer von ihrem depressionsfördernden Fassadenpolierungswahn ablassen.

Markus Fäh, Psychoanalytiker und Coach Andreas Oertli, Unternehmensberater und Coach

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Der Markt als Menschenbändiger Von der Religion über den Staat bis zur Kunst: Mit allen Mitteln soll der Mensch gezähmt werden. Was, wenn es der Markt wäre, der dazu am besten geeignet ist? Wo gefeilscht wird, wird nicht getötet – und wo sich nichts erzwingen lässt, ist für alle alles möglich. von Urs Schoettli

V

on der Befriedigung der Bedürfnisse unserer körperlichen Existenz ohne Unterlass absorbiert, verbringen wir Menschen fast den ganzen Wachzustand in einem existenzialistischen Schlummer und reiben uns auf in den Quisquilien des Alltags. Aber ab und zu katapultiert uns ein Grossereignis, ob wir es wollen oder nicht, aus dem Alltagstrott heraus. Die Geschichte ist bekannt: Liberale Marktwirtschaft und liberale Demokratie sind siegreich aus dem Kräftemessen mit dem sozialistischen Totalitarismus hervorgegangen. Nach dem Triumph über Feudalismus, Absolutismus, Nationalismus und Nationalsozialismus hatte man nun auch den Kommunismus zu Grabe tragen können. Das war es – was blieb noch übrig an menschlichem Wahnsinn, um sich dem Streben nach dem «grössten Glück der grössten Zahl», das im Zentrum des Liberalismus steht, in den Weg zu stellen? Einiges, wie uns die vergangenen zwei Jahrzehnte gelehrt haben. Einmal mehr müssen die Kräfte des Guten, des Vernünftigen, der Lebensfreude gegen eine tödliche Gefahr mobilisiert werden. Vor unseren Augen entwickelt sich das 21. Jahrhundert zu einem dunklen Zeitalter des blutigen religiösen Fundamentalismus. Wir sollten uns keine Illusionen machen: die Welt hat noch nie so nahe am Abgrund des Nuklearkriegs gestanden wie heute. Es trennt uns nur ein Putsch islamistischer Offiziere in Pakistan vom Einsatz der «islamischen Bombe» gegen Israel und Europa! Geben wir uns nicht der Hoffnung hin, dass in solch einem Fall die MADStrategie (Mutual Assured Destruction), die im Kalten Krieg den nuklearen Austausch verhindert hatte, noch wirksam sein kann. Nicht nur diese apokalyptischen Perspektiven sind es aber, die der freien Marktwirtschaft zu Leibe rücken. Vielmehr wird sie heutzutage auch in vermeintlich liberalen Ländern scheel angesehen. Bei der politischen Korrektheit, welche in unseren Breitengraden die öffentliche Meinung beherrscht, gerät man auch in scheinbar bürgerlichen Kreisen in die Bredouille, wenn man den Markt hochhält und auf seine Menschlichkeit verweist. Es gehört sich nicht, ein Wirtschaftssystem mit Menschlichkeit in Verbindung zu bringen. Ich bin mir sicher, dass für viele Zeitgenossen die Betreiber von Hedge Fonds verwerflichere Menschen sind als beispielsweise die Verbrecher von Hamas, Hizbollah und wie sie alle heissen.

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Urs Schoettli hat Philosophie studiert, ist Kolumnist für die NZZ und Autor von «Die neuen Asiaten: Ein Generationenwechsel und seine Folgen» (NZZ, 2013). Er lebt in Tokio und Mumbai.

Wir leben in äusserst gefährlichen, sehr prekären Zeiten, und da sollte man sich nicht scheuen, Klartext zu sprechen. Dass der Mensch in seiner komplexen Natur auch stets den Trieb zu Gewalt und Selbstzerstörung in sich trägt, wird niemand bestreiten wollen. Seit Geschichte aufgeschrieben wird, sind wir permanent Zeugen dieses Sachverhalts. Wir wissen auch, dass Kultur und Zivilisation nur ein dünner Firnis sind, der dazu beitragen kann, die Kräfte der Zerstörung unter Kontrolle zu halten. Von der Religion über den Staat und die Wirtschaft bis hin zur Kunst reicht die Bandbreite der Anstrengungen, die menschliche Gewaltneigung einzudämmen. Mal gelingt es, allzu häufig bleibt aber der Erfolg auch aus, und einige Instrumente, die eigentlich zur Befriedung gedacht sind, heizen die Gewaltbereitschaft noch zusätzlich an. Man denke beispielsweise an Religionskriege, wie wir sie gerade jetzt wieder bis zum Überdruss vorgeführt bekommen. Kaum je ist aber die Rede davon, dass auch und gerade der Markt ein Mittel ist, die Zerstörungstriebe zu zähmen. Die Menschlichkeit des Markts: unter allen Institutionen des Menschen, sich in friedfertigem Verhalten zu üben, hat sich der Marktplatz als erfolgreichste erwiesen. Natürlich wird auf einem echten Markt gefeilscht und betrogen, was das Zeug hält, doch Mord und Totschlag gehören nicht zum Alltag. Wer Handel betreiben will, der muss ein Gegenüber haben, jemanden, dem er das Zeug, das er an die Frau oder an den Mann bringen will, andrehen kann. Eine Leiche hilft da nicht weiter. Mit ihr lässt sich kein Geschäft mehr aushandeln. Natürlich eliminiert auch der Markt als zivilisatorische Meisterleistung Missbrauch und Verbrechen nicht. Auf dem Markt findet man nicht das Paradies, aber auf dem Markt kann jeder seines Glückes Schmied sein. Auf dem Markt versammelt man sich freiwillig, im steten Streben, mit einem schönen Gewinn heimzukehren. Es ist die Freiheit des Markts, die sich darin manifestiert, dass niemand zum Erwerb eines Produkts, einer Dienstleistung ge-


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zwungen, höchstenfalls verführt werden kann, die auch dafür sorgt, dass es keinen von vornherein feststehenden Profit gibt. Manche ziehen am Abend denn auch mit leeren Taschen oder gar Verlusten ab. Es ist indessen gerade die Möglichkeit des Erfolgs, die einen Tag um Tag wieder dazu motiviert, erneut auf dem Markt sein Glück zu suchen. Der Markt ist im wahrsten Sinne des Wortes die Bühne, auf welcher tagtäglich die Tragikomödie der menschlichen Existenz aufgeführt wird. Weil der Markt so urmenschlich ist, weil sich auf ihm nichts erzwingen lässt und weil er keine Sicherheitsnetze kennt, passt er den professionellen Miesmachern, den notorischen Besserwissern und den Freiheitsfeinden nicht in den Kram. Traditionell befindet sich der Markt im Zentrum einer Siedlung. Dies ist nicht bloss von geographischer, städtebaulicher Relevanz. Die zentrale Lage des Markts reflektiert auch die Tatsache, dass er ein Schlüsselbestandteil der bürgerlichen Errungenschaft ist. Die Stadt gruppiert sich um den Markt und auf diesem findet der freie Austausch statt. Nicht feudales Vorrecht, sondern allein das Spiel von Angebot und Nachfrage bestimmt über den Erfolg und Misserfolg der Marktteilnehmer. Die Protagonisten der Wirtschaftsregulierung, welcher parteipolitischen Couleur sie auch sind, mögen allerlei schöngeistige, noble Vorwände für ihren Interventionismus anführen. Man bekämpft den Tabakkonsum, weil man sich um die Gesundheit sorgt; man befürwortet Importverbote von Produkten, weil sie unter unmenschlichen Bedingungen hergestellt wurden, weil Kinderarbeit im Spiel war oder weil Umweltzerstörung betrieben wurde. Alles scheinbar stichhaltige Gründe für Verbote und Regle­ mentierungen. In Tat und Wahrheit geht es aber gegen die Freiheit. Diejenigen, die bei jeder Gelegenheit beschwören, sie seien für den mündigen Bürger, hassen den mündigen Konsumenten, den mündigen Marktteilnehmer, der aus eigenem Ermessen dar­ über befindet, was er anbieten und was er kaufen will. Natürlich müssen wir uns dem Einwand stellen, dass der Markt für diejenigen jeglicher Menschlichkeit entbehre, die man-

gels ausreichender Mittel weder als Produzenten noch als Konsumenten Zugang zu ihm finden können. Daraus wird nicht nur von linken Ideologen, sondern auch von bürgerlichen Gutmenschen geschlossen, dass der Markt nichts für unterentwickelte Länder sei. Was in den wohligen Studierstuben in Frankfurt, Oxford oder Zürich als der Weisheit letzter Schluss gesehen wird, erweist sich in der Drittweltrealität indessen als gefährliches Missverständnis. Ich habe den Nexus zwischen Stadt, Freiheit und Marktplatz im europäischen Mittelalter erwähnt. Dieselben Möglichkeiten bieten die Märkte der Städte heute den Milliarden von Menschen, die in entwürdigenden Verhältnissen dahinvegetieren müssen. Für einen kastenlosen Landarbeiter ist die Migration in den Slum einer indischen Grossstadt in der Tat ein erster Schritt zur Freiheit. Voller Tatendrang trifft er dort ein und beginnt, sich mit minimalsten Mitteln eine Existenz aufzubauen. Als Strassenverkäufer oder Schuhputzer versteht er rasch viel mehr von den Regeln der Marktwirtschaft als ein Manager in einer Schweizer Grossbank. Kein Platz ist da für goldene Fallschirme, der Mann kämpft Tag für Tag stets am Rande der Existenz ums Überleben. Er muss haarscharf kalkulieren, und wenn er sich verrechnet, kümmert sich niemand um ihn. Noch und noch sind wir beeindruckt, wie sich Menschen in so prekären Verhältnissen schrittweise emporarbeiten, noch und noch müssen wir uns empören, wenn wir sehen, dass ein unter dem Banner des Sozialismus agierender Staat mit Korruption, Polizeiwillkür und Bürokratie alle Mühen wieder zunichte macht. Die wahre Befreiung erwächst nicht aus verqueren staatlichen Armutsprogrammen, sondern aus dem Zugang zum Markt. Hat der Marginalunternehmer es erst einmal geschafft, sich auf dem Markt zu etablieren, so verbessern sich seine Lebensumstände und er beginnt ein klein wenig an der Menschenwürde teilzuhaben, die ihm jenseits des Markts, in den Fängen des Staats und der feudalistischen Politikerkaste, mit Brachialgewalt vorenthalten wird. �

«Als Strassenverkäufer oder Schuhputzer versteht der ehemalige Landarbeiter rasch viel mehr von den Regeln der Marktwirtschaft als ein Manager in einer Schweizer Grossbank.» Urs Schoettli

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Eine Ausstellung im Zeughaus Lenzburg www.stapferhaus.ch


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Machtspiele Das ist des Putins Kern

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ennen Sie die Geschichte von Putin, Merkel und dem Hund? Angela Merkel hat panische Angst vor Hunden, eine Schwäche, die Vladimir Putin natürlich nicht verborgen geblieben ist. Bei einer Diskussion vor Journalisten ruft er deshalb absichtlich seinen schwarzen Labrador Koni in den Raum, der sogleich intensiv an ihr zu schnüffeln beginnt – die wichtigste Politikerin der Welt ist mit ihrer Angst öffentlich blossgestellt. Im kürzlich erschienenen, brillanten Merkel-Porträt des «New Yorker» kommentiert sie süffisant: «I understand why he had to do this – to prove he’s a man. He’s afraid of his own weakness.» Der Machismo von Putin ist aber nur die halbe Wahrheit: Hier hat der russische Herrscher ein Machtspiel mit ziemlich archaischen Mitteln gespielt. Es folgte eine diplomatische Eiszeit zwischen Deutschland und Russland, und Merkel misstraut Putin bis heute. Auch die Schweiz leistete sich einen ähnlichen Eklat, allerdings ohne machtpolitische Ambitionen. Als der damalige chinesische Präsident Jiang Zemin im März 1999 zu Besuch war, demonstrierte eine Handvoll Tibeter lautstark auf den Dächern und hinter Absperrgittern rund um das Bundeshaus und unterbrach den geplanten Empfang des hohen Gasts. Dessen wütende Reaktion an die Adresse des Bundesrates: «Sind Sie nicht in der Lage, dieses Land zu regieren? Die Schweiz hat einen guten Freund verloren.» Der diplomatische Scherbenhaufen war angerichtet. In der Schweiz und in Europa sind wir nicht besonders sensibel, wenn es um Symbole der Macht geht – ganz im Gegensatz zu lange vernachlässigten Akteuren wie Russland oder China. Diese möchten sich ihren rechtmässigen Platz auf dem internationalen Parkett erobern und fahren dafür auch gerne mal die Ellbogen aus. So beklagte sich der chinesische Premier bei einem Besuch in Grossbritannien kürzlich, dass der rote Teppich für ihn exakt drei Meter zu wenig lang sei. Auch hier kein ärgerliches Detail eines mangelhaften Protokolls, sondern eine klare politische Message: Wir sind jetzt eine Weltmacht und wollen dementsprechend behandelt werden. Wenn jemand Machtspiele treiben darf, dann wir! Eine originelle Waffe, auch wenn man dabei manchmal buchstäblich auf den Hund kommt.

Manager und Leistung Wie viel Sinn machen Leadership-Kurse?

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ene und Umwelt bestimmen den Charakter, welcher einen massgeblichen Anteil an den Führungseigenschaften eines Menschen hat. Die Experten sind sich nicht einig: Entweder steht die Persönlichkeitsstruktur einer Person zu 50 Prozent oder zu 75 Prozent nach Erreichen des Erwachsenenalters fest. Immerhin können wir davon ausgehen, dass der Charakter eines Menschen nach dem 20., spätestens dem 25. Altersjahr zur Hälfte gegeben ist und sich im weiteren Verlauf des Lebens nicht mehr stark ändern wird. Wie schwer es ist, sich zu ändern, stellen wir fest, wenn wir uns Neujahrsvorsätze vornehmen, die bereits nach einigen Wochen Worthülsen geworden sind. Bedeutet das auch, dass es sinnlos ist, Mitarbeiter zu Führungskräften auszubilden oder Chefs in LeadershipSeminaren weiterzuentwickeln? Die Antwort muss differenziert ausfallen: Einerseits ist es aussichtslos, eine Person an eine renommierte Universität zu schicken, mit dem Ziel, sie zu einer Führungspersönlichkeit zu entwickeln. Kein Kurs der Welt vermag Persönlichkeiten zu ändern oder nach einem bestimmten Vorbild zu formen. Andererseits ist der Mensch ein Leben lang lern- und entwicklungsfähig: Als 50jährige sind wir nicht mehr ganz dieselben wie mit 25 Jahren; täglich sind wir Einflüssen ausgesetzt, die oft unbewusst in unseren Erfahrungsschatz einfliessen; zudem handeln wir, sind erfolgreich, machen Fehler und können daraus lernen – sofern wir es zulassen. Einiges im Management ist Handwerk, das heisst es gibt Prozesse, Werkzeuge und Verhalten, die lernbar sind, wie beispielsweise der Prozess der Entscheidungsfindung, die Leitung eines Meetings, eine Rede halten oder ein Mitarbeitergespräch führen. Die Entwicklung von Führungskräften ist also grundsätzlich möglich, aber an Voraussetzungen geknüpft: Der Lernwille ist vorhanden, die Lernziele sind realistisch und werden von der Unternehmung begleitet, unterstützt und am Erfolg bzw. Misserfolg im Berufsalltag gemessen.

Ulrich Zwygart ist Honorarprofessor für Unternehmensführung an der Universität St. Gallen.

Nicola Forster ist Innovationsberater und Gründer und Präsident des Think Tanks foraus – Forum Aussenpolitik.

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KONZEPTE, DIE SIE KENNEN SOLLTEN

Verführung zur sanften Lenkung

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onfuzius wird der Gedankengang zugeschrieben, dass, wenn die Worte nicht stimmen, auch die Begriffe nicht stimmen und schliesslich die Gesellschaft in Unordnung und der Staat in Gefahr gerät. Mit Worten wird Politik gemacht. Manche Worte schmeicheln sich ein und lassen die Absicht, die dahintersteckt, nur schwer erkennen. Ein Beispiel für solch einschmeichelnde Verführung – nämlich zur, wenn auch sanften, Lenkung – ist die Bezeichnung «libertärer Paternalismus». So überschrieben Richard Thaler und Cass Sunstein ihren wegweisenden Artikel von 2003 in der «American Economic Review», und dank dem Bestseller «Nudge» der gleichen Autoren aus dem Jahr 2008 hat der Begriff inzwischen weltweit Verbreitung gefunden. Gemessen am rücksichtslosen Eingreifen des Staates in das (Privat-)Leben der Menschen in Diktaturen, wie sie noch vor 30 Jahren in weiten Teilen Europas herrschten, wirkt das Versprechen, die Menschen nicht zu einem bestimmten Verhalten zu zwingen, sondern nur zu schubsen, tatsächlich irgendwie liberal. Aber letztlich handelt es sich um einen Widerspruch in sich. Paternalismus und eine liberale Vorstellung von Gesellschaft und Staat schliessen sich aus. Es gibt zwar Situationen, in denen dieses Schubsen unproblematisch ist, etwa bei Informationsasymmetrien oder wenn der Staat ohnehin eine Regel vorgeben muss. Beispielsweise kann man aus Experimenten des Verhaltensökonomen Dan Ariely schliessen, dass die Steuerehrlichkeit steigt, wenn man die Steuererklärung am Anfang statt am Ende unterzeichnen muss. Da wirkt es irgendwie logisch, wenn man den Platz für die Unterschrift auch dort vorsieht. Aber so unverfängliche Beispiele, mit denen «libertäre Paternalisten» für ihre Ideen werben, gibt es in der Realität nur wenige – und wenn, sind sie meist von geringer ökonomischer Relevanz. Bei fast allem, was sonst unter diesem Motto verkauft wird – von Lenkungssteuern bis zu Verboten und Geboten für richtiges Handeln –, geht es letztlich um Paternalismus tout court. Die Grenzen zwischen blossem Informieren, subtilem Beeinflussen, sanftem Schubsen, eindeutigem Manipulieren und schliesslich klarem Intervenieren sind jedenfalls fliessend, und nur wenn man auch bei den mildesten Formen auf der Hut ist, wird man das Schlittern in den umfassenden Betreuungs- und Erziehungsstaat verhindern können.

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Gerhard Schwarz ist Ökonom und Direktor von Avenir Suisse.

Zwei Denkmuster liegen der Begeisterung für das Schubsen zugrunde. Zum einen ist da die Beobachtung, dass die Menschen zu systematischen Fehlentscheiden neigen, in ihrem Verhalten Widersprüche zwischen kurz- und langfristigen Plänen zeigen, also oft wenig Selbstdisziplin haben (man möchte abnehmen und sagt dann doch zu einem guten, aber opulenten Essen nicht Nein). Daraus schliessen die Paternalisten, dass es ein «besseres» Verhalten gebe, zu dem man die Menschen schubsen müsse. Aber wäre das eine freiheitliche und menschliche Gesellschaft, in der die Menschen nichts mehr bereuen müssten, weil sie vom Kindermädchen «Staat» – und sei es noch so subtil – ständig gelenkt werden? Gehören nicht Inkonsistenzen und, ja, auch das im Rückblick bedauerte «Recht auf Unvernunft» zur Freiheit und zum Menschsein? Zum anderen glauben die libertären Paternalisten, dass Aussenstehende und somit auch der Staat erkennen können, wie dieses «bessere» Handeln aussieht, was die Menschen wirklich wollen, für welches sanfte Schubsen sie am Ende ihres Lebens im Rückblick dankbar sein werden. Das ist natürlich unmöglich. Die einen werden, um ein simples Beispiel zu nehmen, eine Alkoholsteuer nur als Ärgernis empfinden, weil sie den Genuss verteuert und gedrosselt hat, während andere sagen werden, sie wären froh gewesen, wenn die Steuer viel höher gewesen wäre, weil sie das vom zu grossen Alkoholkonsum abgehalten hätte. Dazwischen wird es viele Kombinationen und Schattierungen geben. Der «libertäre Paternalismus» mag sich durch Sanftheit, Subtilität, Freundlichkeit und beste Absichten auszeichnen – er bleibt ein bevormundender, alles andere als freiheitlicher Paternalismus. �


Lebe gesund, korrekt und ethisch! Wie wohlwollende Expertokraten uns erziehen wollen Schauen Sie in den Spiegel! Brendan O’Neill 2 An der langen Leine Norbert Bolz 3 Wir Alkoholiker Markus Schär 4 Der Brave-Bürger-Bastelbogen Johannes Richardt 5 Sind «Nudges» manipulativ? Cass Sunstein 1

Für die Unterstützung bei der Lancierung des Dossiers danken wir Georges Bindschedler, Bern. 45


«Bevormundung ist bequem, totale Bevormundung total bequem. Und potentiell totalitär. Der totalitäre Staat entsteht aus der gutgemeinten staatlichen Umsorgung des Bürgers. Freiheit bedeutet dagegen, sein Leben in Eigenverantwortung selbst zu bestimmen.» Georges Bindschedler, Unternehmer, Bern

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Lebe gesund, korrekt und ethisch!

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ie eine Hälfte der Menschheit kennt das Arrangement aus eigener Anschauung, die andere dürfte davon gehört haben: Fliegenbildchen in Urinalen. Sie sollen den Bedürftigen anleiten, kontrolliert Wasser zu lassen, indem er auf die Fliege zielt. Der erwünschte Effekt: weniger Reinigungsaufwand für den Restaurantbesitzer, sauberere Toiletten für die Gäste. Ist das nicht wunderbar?

Nichts spricht dagegen, den Jagd- und Spieltrieb im Manne zu wecken. Die Wahlfreiheit bleibt gewahrt, denn theoretisch könnte er sich aus freien Stücken dagegen entscheiden, sein Geschäft gezielt zu erledigen. Dies wäre allerdings ziemlich pubertär. Wahrscheinlich ist der Mann sogar froh um die sanfte Anleitung und den damit einhergehenden Unterhaltungseffekt. Die Verhaltensökonomie, eine jüngere Disziplin der Ökonomie, befasst sich seit einigen Jahrzehnten erfolgreich mit dem Menschen als Entscheidungswesen. Der Mensch ist viele Menschen: in seinem Innern ringen «animal spirits» mit klarem Denken, Emotionen mit Vernünftigkeit. Was spricht schon dagegen, das multiple Ich durch intelligentes Framing zu besseren Entscheidungen anzuleiten? Denn «besser» meint hier ja: besser gemäss eigenen Vorstellungen. Wir treffen ständig Entscheidungen, die wir später bereuen, weil wir den realen Verlust höher gewichten als den möglichen Gewinn, weil wir unsere eigenen Kapazitäten ständig überschätzen, weil wir die Gegenwart über die Zukunft stellen. Doch was sind die Folgen, wenn sich staatliche Instanzen diese menschlichen Schwächen zunutze machen, indem sie das Individuum sanft und liebevoll zu einem besseren, zu einem ethischeren, zu einem gesünderen Leben anleiten? Die neue Problemstellung ist bekannt geworden unter dem Titel «Nudging» (schubsen). Die sanfte Anleitung ist, obwohl sie ohne Zwang auskommt, das genaue Gegenteil von Aufklärung. Der Mensch wird nicht als lernfähiges Wesen adressiert, das aus eigenem Verhalten lernt, sondern als armes Schwein, das reflexartig reagiert. Er darf zwar die Politiker wählen (und im Moment der Wahl wird ihm auch gütigerweise Kompetenz unterstellt), aber danach soll er sich einer aufgeklärten Elite überantworten, die für sein Wohl sorgt. Wissenschaft + Politik = wohlwollende Expertokratie. Ist ein solches Menschenbild mit den Werten der Aufklärung verein- und demokratiepolitisch vertretbar? Wie wirkt sich das Zusammenspannen von Verhaltensökonomie und Politik in der Praxis aus? An welchen Erziehungsprogrammen arbeiten Merkel, Cameron und Obama? Wie genau will das Bundesamt für Gesundheit uns zu besseren Menschen formen? Und was sagt Cass Sunstein, einer der Begründer des «Nudging», zum Vorwurf, die neue Disziplin sei bloss die neueste Form von staatlicher Manipulation und Bevormundung? Erfahren Sie es auf den folgenden Seiten. Die Redaktion

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Schauen Sie in den Spiegel!

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Wie Sie Ihre Kinder erziehen, ist nicht Ihre Privatsache. Sex haben will gelernt sein. Und worin Ihr persönliches Glück besteht, sagen Ihnen freundlicherweise angebliche Experten. Das finden Sie okay? Dann sollten Sie John Locke lesen. Dringend.

von Brendan O’Neill

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unächst möchte ich sagen, dass ich «Nanny-Staat», diesen modischen Begriff für den überfürsorglichen Staat, eigentlich verabscheue. Zum einen finde ich ihn daneben, weil ich meine eigene Nanny, so nannten wir meine Grossmutter, ziemlich gern hatte. Ich mochte sie nicht zuletzt deshalb so sehr, weil sie das absolute Gegenteil des Nanny-Staats war. Ihr tägliches Frühstück bestand aus einer Flasche Starkbier. Sie ass immer nur altes Brot, weil es ihr besser schmeckte. Sie rauchte die ganze Zeit, und wenn jemand sich mal über ihren Zigarettenrauch beschwerte, bot sie an, man könne ja jederzeit nach draussen gehen, bis sie zu Ende geraucht habe. Da, wo meine Familie herkommt, in den Hochmoorgegenden im Westen Irlands, waren Nannys und Omas ziemlich hart im Nehmen. Sie lebten zwar unfassbar ungesund, schafften es aber dennoch irgendwie, hundert Jahre alt zu werden. Der zweite Grund, warum ich den Ausdruck «Nanny-Staat» verabscheue, liegt darin, dass er nach meiner Auffassung das autoritäre Grundproblem, dem wir uns als Bürger im 21. Jahrhundert gegenüberstehen, massiv unterschätzt. Der Begriff klingt so drollig, dass man glauben könnte, wir seien von rechthaberischen Mary-Poppins-Gestalten umgeben, die uns mit dem erhobenen Zeigefinger drohen, wenn wir unartig sind. Dem Begriff zufolge liegt das Problem mit dem heutigen Staat darin, dass er etwas bevormundend und weinerlich ist. Als würde er uns unsere Zigaretten wegnehmen wollen oder uns davon abhalten, Partys zu feiern. Zwar werden wir in der Tat von Spielverderbern regiert, denen es missfällt, wenn wir die Sau rauslassen, aber das macht nur einen kleinen Teil einer weitaus grösseren Problematik aus. Wir leben unter Regierungen, die erbarmungslos ins Familien­ leben, ins häusliche Leben und ins Privatleben eingreifen. Regierungen, die wie selbstverständlich den Eltern sagen, wie sie ihre Kinder zu erziehen haben, oder Erwachsenen vorschreiben, wie sie Sex haben sollen. Sie ahnden nicht nur Verstösse gegen das Gesetz, sondern machen sich daran, das Verhalten, die Körper und sogar unseren Geist umzuformen. Die westlichen Staaten ­haben keine Wertschätzung gegenüber dem moralischen Innen­ leben der Individuen mehr. Und das ist weder drollig noch exzen­ trisch noch lustig.

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Brendan O’Neill ist Buchautor und Chefredaktor des britischen Online-Magazins «Spiked», das aus «Living Marxism» hervorging, der Zeitschrift der einstigen revolutionären marxistischen Partei Englands.

Freiheitlich denkende Menschen konzentrieren sich für gewöhnlich auf die Einmischungen des Nanny-Staats in ihren Lebensstil. Sie verwenden viel Energie darauf, Rauchverbote in Frage zu stellen und sich über staatlich verordnete Kneipenöffnungszeiten aufzuregen. Nun stimme ich durchaus zu, dass all dies lästige und unnötige Eingriffe seitens des Staates sind, vorangetrieben durch arrogante Eliten, die glauben, dass geselliges Beisammensein immer in Gewalt und Chaos ende. Völlig klar: Individuen und private Unternehmen sollten selber entscheiden können, wie verraucht sie ihre Buden und wie betrunken sie ihre Gäste haben wollen. Und ja, es ist extrem lästig, dass man sich beispielsweise in manchen Teilen Australiens nach vier Uhr nachts nicht weiter besaufen kann oder in Grossbritannien noch nicht mal an einer verdammten Bushaltestelle rauchen darf. Aber das sind nur die äusseren Merkmale einer tiefgreifenden Eingriffslogik, die wir erst mal begreifen müssen. Wir sehen uns heute im Westen mit Regierungen konfrontiert, die ihr Augenmerk von Infrastruktur- und Wirtschaftsfragen hin zu Verhalten, Gedanken und Beziehungen der einzelnen verlagert haben. Seit Anbruch der Moderne hatten Regierungen einen relativ eng gefassten Aufgabenbereich – ihre Aufgabe bestand darin, die Sicherheit des Landes zu gewährleisten, Wohlstand zu ermöglichen sowie Eigentum und Individuen vor Schaden zu schützen. Heutzutage wollen die Regierungen stattdessen das Innenleben ihrer Bürger überwachen. Die Aufklärung basierte auf der fundamentalen Annahme, dass Regierungen sich nur mit den «nach aussen gerichteten» Dingen beschäftigen sollten, niemals aber mit den «inneren» Angelegenheiten. In seinem Brief über die Toleranz, veröffentlicht 1689, wollte John Locke, ein Vordenker der Aufklärung, die Grenzen zwischen Regierungs- und Moralfragen darlegen. Locke erklärte, die Regierung solle sich nur um die Sicherheit des Gemeinwesens, jedes Bürgers sowie von dessen Besitz bemühen. Mit den inneren


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Überzeugungen der Bürger hingegen sollte die Regierung nichts zu tun haben. Oder, wie er es treffend formulierte, «dass der weltlichen Obrigkeit kein […] Heil der Seelen obliege. […] Stehet demnach die Sorge um die Seele in eines jeden eigner Macht und ist ihm zu überlassen.» John Locke warf die Frage auf, was sei, wenn ein Mensch seine Gesundheit vernachlässige. Soll dann der Magistrat eine Sonderverfügung erlassen, dass der Mensch nicht krank werden dürfe? Und er antwortete: Nein, die Regierung habe den Leuten nicht zu sagen, wie krank oder gesund sie sein sollten. Wir sollten sogar die Freiheit haben, krank zu werden. «Die Gesetze gehen vornehmlich dahin, dass der Untertanen zeitliche Güter, Gesundheit, Leben vor fremder Gewalt möchten sichergestellt, nicht aber vor des Besitzers eigner Unachtsamkeit und Verschwendung bewahrt werden.» Mit anderen Worten: Individuen können über ihren Körper und ihr Bewusstsein so frei verfügen, dass ihnen sogar erlaubt sein soll, sie dem Verfall preiszugeben. Es widerspricht den Werten der Aufklärung, dass die Machthaber ihren Herrschaftsanspruch auf unsere Mägen, Herzen, Lungen ausweiten wollen, auf unseren körperlichen und moralischen Gesundheitszustand. Das greift tief in unsere individuelle Souveränität und moralische Autonomie ein, in unser Recht, das eigene Schicksal selbst zu bestimmen, frei von jeglichem Beamtendiktat. Ich weiss nicht, ob Sie sich noch erinnern, worum es bei der Demokratie ursprünglich einmal ging. Es scheint schon so lange her zu sein, dass man sie ernst genommen hat. Aber im Grunde ging es darum, dass eine gewählte Regierung die Gedanken und Überzeugungen des Volkes repräsentieren sollte. Heute nehmen Regierungen es selbst in die Hand, die Gedanken und Überzeugungen des Volkes zu verändern. Anstatt zu verkörpern, was wir denken, streben sie danach, uns verkörpern zu lassen, was sie denken. Die Kolonialisierung des Geistes können wir am neuen Phänomen der «Glückspolitik» geradezu ideal beobachten. Quer durch die westliche Welt gibt es nun ganze Regierungssektionen und internationale Gremien, die sich damit beschäftigen, unsere Glückswerte zu messen und herauszufinden, wie diese erhöht werden können. Sie wollen unsere allerprivatesten Emotionen ganz genau kontrollieren. Dies ist ein ganz anderer Glücksbegriff als derjenige der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung, dessen grosser Fan ich bin. Demnach steht jedem das Recht auf «Leben, Freiheit und das Streben nach Glück» zu. Kurz gesagt wird hier anerkannt, dass Glück nicht von oben verordnet werden kann, sondern von jedem Individuum selbständig erstrebt werden soll, durch die Gestaltung eines eigenen Lebensplans und moralische Autonomie. Heute haben wir in den Vereinten Nationen und den nationalen Regierungen Funktionäre, die ernsthaft annehmen, sie könnten uns glücklich machen, indem sie sich der Verstärkung dieser intimen Emotion widmen. Ich bin versucht zu sagen, dass wir heute das Recht auf Unglück einfordern müssen – ausserdem das Recht, dick zu sein, be-

trunken, ungesund, umweltunfreundlich und beleidigend –, und zwar gegen unsere Machthaber, die glauben, sie könnten unsere Körper kontrollieren, unser Bewusstsein in Beschlag nehmen und unsere Emotionen transformieren. Neben der Kolonialisierung des Körpers und des Bewusstseins werden auch unsere zwischenmenschlichen Beziehungen Opfer unerbittlicher staatlicher Einmischung. Die Einmischung nimmt viele verschiedene Formen an. Es gibt die Stigmatisierung ganzer Bevölkerungsgruppen, besonders einkommensschwacher Menschen, als «Problemfamilien» oder «Chaosfamilien», die offenbar permanente Unterweisungen von Sozialarbeitern und Experten benötigen. Es gibt das Phänomen von Elternschulen. In manchen Ländern können Eltern gezwungen werden, solche zu besuchen, wenn geurteilt wird, dass ihnen bei der Kinderpflege ein Fehltritt unterlaufen ist. Es gibt den zunehmend einflussreichen Nonsens über die Bedeutung der «frühkindlichen Entwicklung», wonach der gesamte Charakter und Lebensweg eines Individuums davon abhängig sei, was ihm in seinen ersten fünf Lebensjahren widerfährt. Daher gibt es nun überall auf der Welt, in Amerika, Europa und Australien, immer mehr «frühkindliche Interventionen», um Eltern zu instruieren, wie sie ihr Kind so erziehen, dass sie nicht gleich ihr ganzes Leben verkorksen. Die Idee des Schicksals wird wieder salonfähig, die Idee, das Los jedes Menschen werde von Kräften gesteuert, die ausserhalb unserer Kontrolle liegen. Die neue Dogmatik schwächt die individuelle moralische Autonomie, indem sie die Menschen einlädt, sich in Fragen der Gesundheit, der Moral und des Gewissens auf den Staat zu verlassen statt auf ihr eigenes Urteilsvermögen. Sie beschädigt die Souveränität der Familie, indem Kindern vermittelt wird, Experten da draussen könnten sie besser aufziehen als ihre eigenen Eltern, und indem Eltern angehalten werden, ihre Intuitionen und Handlungsweisen in Frage zu stellen. Ausserdem schwächt sie das Gemeinschaftsleben, indem immer mehr kleinkarierte Gesetze regeln, wie wir uns in unseren heimischen Sphären verhalten. Wir sind aufgefordert, den Raucher oder den Trinker als grosse Bedrohung unserer Lebensart anzusehen statt als spassige oder exzentrische Charaktere aus der Nachbarschaft. All dieses Aufoktroyieren von Regeln macht es für die Gemeinschaften selbst immer schwieriger, Verantwortung für antisoziales Verhalten zu übernehmen – die Gemeinschaften werden geschwächt und das gesichtslose Bürokratentum gestärkt. Wollen wir das wirklich? Ich finde: es ist Zeit, aus dem dogmatischen Schlummer aufzuwachen – und Eigenverantwortung und moralische Autonomie zu stärken. Die Arbeit beginnt im Kleinen. Beginnen Sie morgen, indem Sie jemandem helfen. Oder noch besser: beginnen Sie jetzt. Schauen Sie in den Spiegel. Now! �

Dies ist eine gekürzte und redigierte Fassung eines Essays, den Brian OʼNeill unter dem Titel «Nannies, nudgers and naggers: the new enemies of freedom» publiziert hat. Wir danken dem deutschen Magazin «NovoArgumente» für die Vermittlung und die Übersetzungsarbeit.

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An der langen Leine

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Sie wollen nur das Beste für die anderen. Sie üben sich in Sanftmut. Sie zwingen nicht, sondern leiten an. Dabei vollenden sie bloss eine moderne Technik der Macht. Die neuen Paternalisten nennen sich Verhaltensökonomen und Sozialarbeiter – und wissen ganz genau, was sie tun.

von Norbert Bolz

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anchmal kann man ein Problem einfach dadurch lösen, dass man ein Buch liest. Wer unser Problem des allumfassenden Wohlfahrtsstaats lösen will, sollte «Public Opinion» lesen – ein Buch, das der US-amerikanische Publizist Walter Lippmann schon vor fast hundert Jahren geschrieben hat. Lippmann geht davon aus, dass die Welt zu komplex geworden sei, um sie den ganz normalen Bürgern zu überlassen. Das demokratische Dogma, wonach die Menschen sich ein Bild von der Welt machen, über ihre Meinungen streiten und dann durch Abstimmung zu politischen Entscheidungen kommen, funktioniere nicht mehr. Deshalb brauche die moderne Massendemokratie Experten, die die Welt verstehen und mit Hilfe der Massenmedien dann die Meinungen der Bürger «kristallisieren». Im Klartext heisst das: Eine moderne Massendemokratie braucht die Propaganda der Wissenden und Wohlmeinenden. Lippmanns wichtigster Leser war Edward Bernays, ein Werbefachmann und Neffe von Sigmund Freud. Bernays erkannte sofort, dass es keinen wesentlichen Unterschied zwischen Werbung und Propaganda gibt und dass man Politik genau so verkaufen kann wie Seife oder Zigaretten. Man kann seine Überlegungen auf einen Satz reduzieren: Das grosse Geheimnis der modernen Gesellschaft ist die unsichtbare Lenkung der Massen durch Massenmedien und Massenpsychologie. Deshalb hatte Bernays genau wie Lippmann einen ganz positiven Begriff von Propaganda. Erst als Goebbels, ein aufmerksamer Leser von Bernays, daraus die bekannten Konsequenzen zog, drängte die amerikanische Regierung darauf, den Begriff Propaganda zu ersetzen. Seither spricht man von Public Relations. Die Menschen wissen nicht, was gut für sie ist. Aber, Gott sei Dank, gibt es Experten und Intellektuelle, die das Gute wissen und ihre Mitmenschen durch die überkomplexe Welt führen – von der Wiege bis zum Grab. Das ist das Credo des neuen Paternalismus. Was sich seit den Tagen von Lippmann und Bernays geändert hat, ist nur dies: Nicht nur der Staat, sondern auch gut artikulierte Minderheiten der Gesellschaft betreiben heute die Propaganda des richtigen Lebens. Mit immer grösserer Aggressivität formiert sich die Lustfeindlichkeit der Gesundheitsapostel, Feministinnen und Umweltschützer. Unter dem Vorwand der Suchtprävention

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Norbert Bolz ist Professor für Medienwissenschaften an der Technischen Universität Berlin und Autor zahlreicher Bücher. Zuletzt von ihm erschienen: «Das richtige Leben» (Wilhelm Fink, 2014) und «Die ungeliebte Freiheit» (Wilhelm Fink, 2010).

und Gesundheitsvorsorge wird eine puritanische Politik der Lüste betrieben. Unaufhörlich tobt der Kampf gegen das Rauchen, den Alkohol, Fast Food und Pornographie. Wir sollen langsamer Auto fahren – oder am besten gar nicht! Wir sollen weniger Fleisch essen, und die grüne Idee eines Veggie-Day hat gezeigt, dass die Regulierungswut der Politik prinzipiell keine Grenzen mehr kennt. Selbst das Essen ist zum Politikum geworden. Immerhin ist es ein Hoffnungszeichen, dass dieses vegetarische Glückszwangsangebot dann doch noch auf Widerstand gestossen ist. Ganz allgemein gilt aber schon heute: Ein Netz präziser, kleiner Vorschriften liegt über der Existenz jedes einzelnen und macht ihn auch in den einfachsten Angelegenheiten des Lebens abhängig vom umsorgenden Sozialstaat. Der alte und der neue Paternalismus Doch wie konnte es dazu kommen? Der patriarchale Wohlfahrtsstaat des aufgeklärten Absolutismus im 18. Jahrhundert wollte für seine Untertanen soziale Gerechtigkeit und ging in deren Namen über das Recht hinweg. Schon damals war die Fürsorge für die Untertanen dem Staat wichtiger als die persönliche Freiheit der Menschen. Die Bürger des frühen 19. Jahrhunderts haben sich dann gegen diese Bevormundung durch Wohlfahrtspolitik doch noch gewehrt. Ihre Argumente hat Wilhelm von Humboldt 1792 in seinem grossartigen Werk «Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen» entwickelt. Sein Fazit lautet: «Der Staat enthalte sich aller Sorgfalt für den positiven Wohlstand der Bürger und gehe keinen Schritt weiter, als zu ihrer Sicherstellung gegen sich selbst und gegen auswärtige Feinde notwendig ist.» Das ist Klartext. Von diesem Geist der Freiheit ist heute allerdings nichts mehr zu spüren. Das paternalistische Staatshandeln im frei unterstellten Interesse der Bürger ignoriert ganz einfach das Interesse der


ÂŤJeder Paternalismus behandelt Menschen als Material.Âť Norbert Bolz

Bild: fotolia.

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Bürger. Das hat Max Stirner, einer der grossen Freidenker des 19. Jahrhunderts, schon sehr deutlich gesehen: «Die verteilende Billigkeitsbehörde lässt mir nur zukommen, was ihr der Billigkeitssinn, ihre liebevolle Sorge für alle, vorschreibt.» Dieser Satz trifft auch heute noch den Kern des Problems. Jeder Paternalismus behandelt Menschen als Material. Das gilt gerade auch für die wohlmeinenden Reformer. Sie organisieren die Belohnungen und Strafen zu einer Sozialtechnik der subtilen Anleitung zu einem besseren ­Leben. Das Erfolgsprodukt dieser Sozialtechnik ist der Gutmensch. Wie sieht nun die offizielle Rechtfertigung dieser Sozialtechnik aus? Der vorsorgende Sozialstaat entzieht seinen Bürgern Freiheiten, um sie zu besseren Menschen zu machen und vor sich selbst zu schützen. Der neue Paternalismus erscheint also denen gerechtfertigt, die glauben, dass man die Leute vor der eigenen Willensschwäche schützen müsse. Die Neopaternalisten glauben, dass individuelle Freiheit für die Gesellschaft und für den einzelnen selbst unzuträglich sei und durch eine beschränkte Wahlfreiheit für Inkompetente ersetzt werden müsse. Dieser Gedanke hat neuerdings einen netten Namen bekommen: «Nudge». Das ist der Titel eines Buches von Richard H. Thaler und Cass R. Sunstein. Die deutsche Übersetzung hat diesen Titel unübersetzt beibehalten, aber gemeint ist eben: der Schubser in die richtige Richtung des aufgeklärten Verhaltens. Im Klartext geht es um eine Art Sozialvormundschaft im Namen der Mündigkeit. Thaler und Sunstein lehrten zusammen an der University of Chicago und propagieren in ihrem Werk einen «libertären Paternalismus». Die Paradoxie dieser Formel muss man sich auf der Zunge zergehen lassen! Das Adjektiv libertär soll das Erschrecken über einen selbstbewusst auftrumpfenden Paternalismus mildern. Angeblich bleibt immer gewährleistet, dass die Menschen ihren eigenen Weg gehen können – auch gegen den Rat der vorsorgenden und fürsorglichen Väter. Doch die Ausgangsüberlegung des «Neopaternalismus» ist eben die Überzeugung, dass die meisten Menschen nicht wissen, was gut für sie ist. Und Leute, die nicht wissen, was gut für sie ist, brauchen kompetente Menschen, die ihre Entscheidungen wohltätig beeinflussen. Das Argument Das paternalistische Patentrezept des «Nudge» ist rasch erklärt. Das Argument hat folgende Struktur: Bei den Grundfragen von Gesundheit, Bildung und Altersvorsorge brauchen die Bürger nicht eine Fülle von Wahlmöglichkeiten, sondern ein benutzerfreundliches Design, das ihnen Orientierung bietet und Wege vorgibt. Je komplexer die gesellschaftliche Lage ist, desto wichtiger wird ein Sozialdesign, das die Bürger und Kunden in die richtige Richtung schubst. Der Paternalismus schützt mich vor meiner eigenen Willensschwäche und Irrationalität. Andere tun für mich, was ich selbst tun würde, wenn ich bei klarem Verstand wäre. Die modernen Paternalisten gehen also davon aus, dass einige den legitimen Anspruch haben, das Verhalten anderer Leute so zu

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beeinflussen, dass diese länger, gesünder und besser leben. Konkret sieht das so aus, dass ein allgemeiner Konsens mit dem politisch korrekten Verhalten unterstellt wird und jedes abweichende Verhalten ausdrücklich deklariert werden muss: Ich will nicht teilnehmen am vernünftigen Leben der Guten. Das Problem des «Nudge» haben amerikanische Organisationssoziologen bisher unter so kalten Begriffen wie «Propaganda» oder so unübersetzbaren Begriffen wie «Social Engineering» diskutiert. Dabei geht es um die Frage, wie man die Lebensführung von Menschen «zum Guten» verändern kann. Wie kann man Männer dazu bringen, «fürsorglich» zu werden? Wie kann man gebildete Frauen dazu bringen, Kinder zu bekommen? Wie kann man Menschen dazu bringen, im Falle ihres Todes ihre Organe zu spenden? Die Antwort auf diese Fragen ist – scheinbar – ganz einfach. Die Politik der Lüste funktioniert über Veränderungen der Standardeinstellungen. Um bei dem letzten Beispiel zu bleiben: Bisher musstest du deklarieren, dass du bereit bist, im Falle deines Todes Organe zu spenden. In Zukunft musst du ausdrücklich erklären, dass du gegen eine Organspende bist. Der alles sehende und alles besorgende Staat entfaltet so eine sanfte Tyrannei des Wohlmeinens. Totale Wohlfahrt schliesst heute nämlich eine Überwachung des Verhaltens der Bürger ein. Der Staat greift auf den ganzen Menschen zu, auf Leib und Seele. So wird die staatliche Daseinsfürsorge präventiv. Geholfen wird auch denen, die gar nicht hilfsbedürftig sind. Geholfen wird allen. Politik pervertiert zum Glückanleitungsangebot. Leider tun sich hier vor allem die Deutschen hervor – andere Mitteleuropäer, Schweiz inklusive, tun es ihnen gleich. Sie alle sind nicht nur die Weltmeister im Guten, sondern auch die Avantgarde der Angst. Wie die spektakuläre «Energiewende» gezeigt hat, sind sie auf dem Rückweg vom Risiko zum Tabu, das heisst von einem rationalen zu einem magischen Verhalten. Das zeigt sich sehr deutlich am Vorsorgeprinzip, dem sogenannten Precautionary Principle. Es geht hier um die Gefahr der noch unerkannten Gefahr. Das Vorsorgeprinzip will sicherstellen, dass nur dann etwas Neues in die Welt kommt, wenn bewiesen werden kann, dass es keine «Risiken und Nebenwirkungen» hat. Damit rechtfertigt eine Politik der Angst den neuen Paternalismus. Unterstützt wird sie dabei von einer medialen Angstindustrie, die in Fernsehen und Nachrichtenmagazinen die Apokalypse als Ware verkauft. Fassen wir noch einmal zusammen: Der Paternalismus des vorsorgenden Sozialstaates hält «Nudge», die Politik der Lüste, für gerechtfertigt, weil die Menschen vor der eigenen Willensschwäche geschützt werden müssen. Bestimmte Menschen sind dann autorisiert, in unserem Namen zu handeln und zu tun, was wir selbst tun würden, wenn wir rational denken und entscheiden könnten. Der paternalistische Staat, der ja nichts von uns als Personen wissen kann, versorgt uns dann mit den Dingen, die wir «vermutlich» wünschen – ganz unabhängig davon, was wir uns wirklich wünschen. Der neue Paternalismus behandelt die Bürger als Kinder, Patienten oder Heiminsassen und verwandelt sie all-


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mählich in fröhliche Roboter und glückliche Sklaven. An die Stelle von Freiheit und Verantwortung treten Gleichheit und Fürsorge. Dieser demokratische Despotismus ist die Herrschaft der Betreuer, eine gewaltige, bevormundende Macht, die das Leben der vielen überwacht, sichert und komfortabel gestaltet. Alle sind gleich hilflos Wir können deshalb den vorsorgenden Sozialstaat als Hoheitsverwaltung der Hilflosen definieren. Die Welt der Wohlfahrt zerfällt in Betreute und Betreuer. Dabei entwickelt sich auf beiden Seiten eine unheilvolle Eigendynamik. Die Betreuer, Verhaltensökonomen und Sozialarbeiter haben ein Interesse an der Hilflosigkeit ihrer Klientel. Und auf der anderen Seite sind diejenigen, die es gelernt haben, sich hilflos zu fühlen, nur noch mit «Gesellschaftskritik» beschäftigt. Diese dürfen sie dann in Talkshows vortragen. Die Entmündigungspolitik, die ihre Wähler durch So­ zial­transfers ködert, kann nämlich nur durch die sentimentale Begleitmusik der Massenmedien die nötige Gefühlsstütze bekommen. Goethe hat einmal über die «Lazarettpoesie» gespottet – heute wird sie vom Fernsehen verbreitet. Leistungsfähig ist die Politik nur dann, wenn sie sich nicht als Steuerungszentrum der Gesellschaft missversteht. Der starke Staat ist gerade nicht der universale Problemlöser. Er darf gerade nicht die Gesamtverantwortung für die Gesellschaft übernehmen wollen, denn damit würde er sich übernehmen. Das bedeutet umgekehrt aber auch, dass die Erwartungen, die die Menschen an die Politik richten, nur erfüllt werden können, wenn sie nicht erwarten, dass die Politik die führende Rolle in der Gesellschaft übernimmt. Ein starker Staat setzt also die Reduktion von Politik auf ihre eigentliche Funktion voraus. Im Gegensatz zum Betreuungsund Versorgungssozialismus des Wohlfahrtsstaates, der sich nicht mehr mit dem Gemeinwohl begnügt, sondern vorsorgend

das Glück seiner Bürger garantieren möchte, weiss der starke Staat, dass er zum guten Leben des einzelnen nichts Wesentliches beitragen kann. Man kann den Sozialstaat also nur stärken, indem man ihn begrenzt. Sobald der Sozialstaat aber den Rechtsstaat überformt, verwandelt er sich in einen allumfassenden Wohlfahrtsstaat. Er schwächt den einzelnen, indem er ihn durch wohlmeinende Betreuung entmündigt und seine Lebensführung übernimmt. Meine Kritik des totalen Wohlfahrtsstaats zielt also auf die Betreutenmentalität, die erlernte Hilflosigkeit. Dass einige zu wissen meinen, was das Beste für die anderen wäre, ist die aktuellste Bedrohung der Freiheit – die als Wohltat getarnte Tyrannei. Um das zu sehen, muss man kein Philosoph sein; gesunder Menschenverstand und eine liberale Gesinnung genügen. Und sie sagen uns: Wenn jeder seines Glückes Schmied sein darf, muss er auch seines Unglücks Schmied sein können. Man darf niemanden zu einem bestimmten Verhalten zwingen, nur weil es angeblich besser für ihn wäre – zum Beispiel nicht rauchen oder Diät halten. Letztlich profitieren wir nämlich alle mehr davon, dass wir es ertragen, dass die anderen leben, wie es ihnen gefällt, statt dass wir sie zwingen, so zu leben, wie wir es für richtig halten. Allerdings ist es heute nicht mehr selbstverständlich, dass es Menschen gibt, die leben, wie sie es für richtig halten. Das ist keine Frage der Intelligenz oder des Geldes, sondern des Muts. Denn die Propaganda des neuen Paternalismus stempelt jeden zum Aussenseiter, der die wohlfahrtsstaatlichen Glückszwangsangebote ablehnt. Diesen sozialen Druck ertragen die wenigsten. Vor allem die Linksintellektuellen erweisen sich hier als besonders konformistisch – und beweisen damit, dass der Sozialismus immer schon der Götzendienst des Staates war. Menschen aber, die nicht zu Haustieren des totalen Wohlfahrtsstaates werden wollen, brauchen den Mut zur Bürgerlichkeit. �

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Wir Alkoholiker

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Für die Krankenpflege sorgt der Staat, also fordert er auch die Gesundheitsvorsorge. Der Bund will gegen alle Widerstände durchsetzen, dass die Menschen weniger essen, rauchen, Alkohol trinken oder Salz zu sich nehmen. Ein Blick auf das amtliche Treiben, das ohne gesetzliche Grundlage auskommt.

von Markus Schär

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wei Deziliter Alkohol, nicht mehr, empfiehlt der Experte. Nationalrat Sebastian Frehner stutzt, schaut die anderen Sitzungsteilnehmer an und macht für sich eine Überschlagsrechnung: Er halte sich noch knapp im unproblematischen Bereich, findet er. Dann merkt er, dass der Vertreter des Bundesamtes für Gesundheit, der in der Nationalratskommission vor übermässigem Alkoholkonsum warnt, nicht die Ration eines Tages, sondern eines Monats meint. Und er stellt fest: «Wir sind alle Alkoholiker.» Einen «missionarischen Geist» sieht der Basler SVP-Mann bei den Gesundheitsförderern des Bundes wehen: Sie spielten sich als «den Bürger erziehende Moralapostel» auf. «Nach Tabak und Alkohol wird unter dem Deckmantel der Gesundheitsförderung noch so mancher Bereich unter staatliche Kontrolle und Obhut kommen», glaubt der Parlamentarier aufgrund der Visionen des Bundesamtes. «Geplant sind Regelungen betreffend Schall, Laser und UV-Strahlung, folgen werden solche zu Fleisch, Zucker und Fett.» Wie der Bund die Bürger zum gesunden Leben erziehen will, lässt sich nachlesen. So im Bericht «Gesundheit 2020» zu den gesundheitspolitischen Prioritäten des Bundesrates, den die Landesregierung auf Betreiben des sozialdemokratischen Innenministers Alain Berset im Januar 2013 abgesegnet hat. Er hält fest, neben den demographischen Veränderungen und dem medizinisch-technischen Fortschritt führe auch das «sich ändernde Gesundheitsverhalten» dazu, dass es immer mehr Krankheiten gebe. Und eine Fussnote stellt klar, was darunter zu verstehen ist: «Ungesundes Verhalten besteht vor allem darin, dass man sich zu wenig bewegt, zu viel isst, raucht und zu viel Alkohol trinkt.» Wer stoppt das BAG? Mit weniger chronischen Krankheiten würden weniger hohe Kosten für das Gesundheitswesen, für die Wirtschaft und für die anderen Sozialversicherungen anfallen, lehrt der Bericht: «Deshalb müssen wirksame und effiziente Massnahmen zur Prävention, zur Früherkennung und zur Gesundheitsförderung eingeführt werden.» Darauf drängt der Bund in hohem Tempo. Mit seinen Zielen für 2015 strebt der Bundesrat an, dass die Botschaft zum Tabakproduktegesetz, die Botschaft zum Bundesgesetz betreffend Schutz vor nichtionisierender Strahlung (Laser, Solarien)

Markus Schär ist promovierter Historiker und Bundeshausredaktor der «Weltwoche».

und Schall, der Bericht über beabsichtigte Massnahmen zur psychischen Gesundheit in der Schweiz sowie die nationale Strategie Sucht zur Vorbeugung, Früherkennung und Bekämpfung von Suchterkrankungen (bis hin zur Spiel- und zur Internetsucht) in diesem Jahr zu verabschieden sind. Nationalrat Sebastian Frehner sieht also keine etatistischen Gespenster, wenn er fordert, dem Treiben des «Bundesamtes für Provokation» Einhalt zu gebieten, und fragt, wer aus der Wirtschaft, den Verbänden und den anderen Parteien dabei helfe: «Wer stoppt mit uns das BAG?» Aber hat er recht? Muss der Staat die Eigenverantwortung der Bürger in diesen Bereichen überhaupt achten? Soll er nicht eher auf die Erziehung der Menschen setzen? Und wenn er eingreift: wie? Mit Geboten und Verboten? Mit Hinweisen, Empfehlungen und Vorschriften? Oder mit «Nudges», also sanften Stupsern, mit denen die selbsternannten «libertären Paternalisten» die eigenverantwortlichen Individuen auf den richtigen Weg stossen wollen? Auf kaum einem anderen Politikfeld lassen sich diese Debatten über die Prinzipien der Regulierung so konkret beobachten und die Mechanismen der Politik im Sozialstaat so plastisch veranschaulichen wie im Falle der Gesundheitsförderung. Die Verfassung Die Debatte beginnt beim Verfassungsrecht, also bei der Grundsatzfrage, was der Staat tun muss, soll und darf. Die erst fünfzehn Jahre alte, angeblich nur «nachgeführte» Bundesverfassung von 1999 schreibt im ersten Absatz von Artikel 118 fest: «Der Bund trifft im Rahmen seiner Zuständigkeiten Massnahmen zum Schutz der Gesundheit.» Dabei wiegt die Einschränkung bisher schwerer als die Ermächtigung. Seit je pochen im Gesundheitswesen, also im Führen von Spitälern und im Beaufsichtigen der Ärzte, die Kantone auf ihre Zuständigkeit; «diese wird allerdings durch die gesundheitsrelevante Krankenversicherungsgesetzgebung faktisch immer mehr ausgehöhlt», wie die eben erschienene

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neue Ausgabe des St. Galler Kommentars zur Bundesverfassung einräumt. Das heisst: seit 1996 das Krankenversicherungsgesetz in Kraft trat, schlittern die Kompetenzen von den Kantonen zum Bund – und der machtbewusste Gesundheitsminister Alain Berset rafft alles an sich, was sich nicht subsidiär-föderalistisch, zivilgesellschaftlich und privatrechtlich regeln lässt. Was der Bund tun soll, legt der zweite Absatz von Artikel 118 fest, nämlich das Erlassen von Vorschriften über den Schutz vor ionisierenden Strahlen (Radioaktivität), über die Bekämpfung «übertragbarer, stark verbreiteter oder bösartiger Krankheiten» und über den Umgang mit Lebensmitteln sowie Organismen, Chemikalien oder Gegenständen, «welche die Gesundheit gefährden können». Auf diesem weiten Feld übernimmt die Schweiz im autonomen Nachvollzug den Ausstoss des Regulierungsapparats der EU oder des global geltenden Codex Alimentarius – vom Händewaschen in Küchen über die Färbung von Schnullern bis hin zum Betruf beim Metzgen von Halal-Fleisch. Während der Bund immer mehr Kompetenzen im Behandeln von Krankheiten an sich reisst, gibt ihm die Verfassung bisher keine zum Bewahren der Gesundheit. Bei der Totalrevision sprach die Kommission zwar über eine Bestimmung, dass der Bund die Selbsthilfe und die Prävention fördere, nahm sie aber aufgrund des Widerstands vor allem der Kantone nicht in die Verfassung auf. Das hinderte den freisinnigen Innenminister Pascal Couchepin nicht daran, schon sechs Jahre nach der Annahme der Bundesverfassung ein Präventionsgesetz zu verlangen und eine Fachkommission mit einem Bericht zu beauftragen. Die Kommission Der Vordenker des Bundesrates drängte sich für den Vorsitz auf: der Jurist und Pathologe Thomas Zeltner, Professor an der Uni Bern und damals Direktor des Bundesamtes für Gesundheit. «Er hat eine lange Geschichte als innovativer Leader in Public Health», preist der Wikipedia-Eintrag, nur auf Englisch verfügbar, den heutigen Verwaltungsratspräsidenten der Krankenkasse KPT, Sonderbeauftragten der Weltgesundheitsorganisation WHO und Berater des Bundes für die Strategie «Gesundheit 2020». «Er ist mehrfach unter die zwölf einflussreichsten politischen Akteure der Schweiz gewählt worden.» Der Ruhm ist nicht übertrieben, das zeigt auch der Bericht «Zukunft von Prävention und Gesundheitsförderung in der Schweiz», den die Kommission 2006 vorlegte. Er lohnt die Lektüre immer noch, denn die Experten mit Thomas Zeltner als Motor planten nicht weniger als eine «Neuorientierung des schweizerischen Gesundheitssystems» – und sie ziehen ihre Pläne zur Volkserziehung gegen alle Widerstände durch. Soll ein liberaler Staat die Gesundheit des Volkes fördern? Die Kommission, der mehrheitlich Präventivmediziner und Gesundheitsökonomen angehörten, hielt sich nicht mit verfassungsrechtlichen und staatspolitischen Fragen auf. Sie erwähnt in ihrem Bericht nur beiläufig, dass ein eidgenössisches Präventiv-

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gesetz 1982 scheiterte, und unterschlägt völlig, dass das Parlament noch in der Bundesverfassung von 1999 keine Bestimmung dazu wünschte. Denn sie erkennt «seit einigen Jahren auf gesamtschweizerischer wie auf kantonaler Ebene Bestrebungen, die Prävention und die Gesundheitsförderung zu stärken», ob mit Verfassungsgrundlage oder nicht. Dieser Trend lasse sich damit erklären, dass zwei wichtige Prämissen der Gesundheitspolitik immer mehr in Frage gestellt würden. Einerseits: «Während in den letzten Jahrzehnten mit einem Anstieg der (gesunden) Lebenserwartung der Bevölkerung gerechnet werden konnte, muss heute angesichts der starken Zunahme der chronischen Erkrankungen, wie z.B. Übergewicht, Diabetes oder stressbedingter Störungen, eine Trendwende befürchtet werden.» Anderseits: «Aufgrund der demografischen wie auch der medizintechnologischen Entwicklung dürften verstärkte Effizienzbestrebungen allein nicht mehr ausreichen, um das Steigen der Kosten in der Gesundheitsversorgung zu dämpfen.» Das heisst: seit der Einführung der obligatorischen Krankenversicherung und der Ausbreitung der Prämiensubventionen auf einen Drittel der Bevölkerung, also der faktischen Verstaatlichung der Krankenpflege, müssen sich die Menschen nicht mehr eigenverantwortlich um ihre Gesundheit kümmern – deshalb soll sie der fürsorgliche Staat dazu zwingen. Prävention und Gesundheitsförderung, hält die «Vision» der Experten denn auch fest, seien von Politik und Bevölkerung als «politikbereichübergreifende Aufgabe» zu verstehen: «Sie tragen verstärkt zur Sicherung und Verbesserung der Gesundheit, der Lebensqualität, aber auch der Leistungsund Arbeitsfähigkeit der in der Schweiz lebenden Bevölkerung bei.» Das Präventionsgesetz Um in diesem Sinn den Volkskörper pflegen zu können, legte der Bundesrat 2009 ein Präventionsgesetz vor. Er stützte sich dabei, mangels einer expliziten Verfassungsgrundlage, auf den halben Satz in Artikel 118, der den Bund zum Bekämpfen von übertragbaren, stark verbreiteten oder bösartigen Krankheiten auffordert: Was die Bundesverfassung von 1874 bloss für den Kampf gegen Seuchen vorsah, liess sich flugs auf Herz-Kreislauf-, Tumor- oder Atemwegserkrankungen als häufigste Todesursachen ausweiten. Denn, wie der St. Galler Kommentar festhält: «Ob eine Krankheit ’bösartig’ ist, beurteilt sich nicht nur nach der individuellen Auswirkung, sondern danach, ob die Krankheit soziale und wirtschaftliche Schäden für die Gesellschaft nach sich zieht.» Ausserdem konnte sich das Bundesamt für Gesundheit dank enger Beziehungen zu den internationalen Organisationen seinen Auftrag geben lassen: Der Bundesrat folgte nicht nur seiner Fachkommission, sondern auch «einem zentralen Vorschlag der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) und der Weltgesundheitsorganisation (WHO) zur Weiterentwicklung des schweizerischen Gesundheitssystems». Das Parlament beriet das Gesetz 2009 bis 2012. Nach zähen Verhandlungen sprachen sich im Nationalrat wie im Ständerat


«Soll ein liberaler Staat die Gesundheit des Volkes fördern?» Markus Schär

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knappe Mehrheiten dafür aus, aber am Schluss fehlten im Ständerat zwei Stimmen zum absoluten Mehr, die nötig gewesen wären, um wegen der zusätzlichen Ausgaben für die Gesundheitsförderung die Schuldenbremse zu lösen. Damit war das Gesetz gescheitert. «Über die tatsächlichen Inhalte der Vorlage wurde kaum gesprochen», schimpft der aufschlussreiche Bericht «Das gescheiterte Präventionsgesetz: ein Lehrstück», den «Gesundheitsförderung Schweiz» herausgab, eine 1989 nach dem Scheitern des ersten Präventionsgesetzes von den Kantonen und den Versicherern gegründete Stiftung mit einem Budget von 18 Millionen Franken, die sich aus Zwangsbeiträgen der Versicherten speist. Und weiter: «Im Mittelpunkt stand vielmehr eine ideologisch gefärbte Grundsatzdiskussion zum Gegensatz von staatlicher und individueller Verantwortung.» Aha. Wer recht hatte, steht für die Autoren des Berichts fest: Die Gegner zogen mit «unzulässigen Vereinfachungen» die Diskussion über konkrete Massnahmen auf eine ideologische Ebene, die Befürworter setzten sich mit ihren «fachlich fundierten Stellungnahmen» nicht durch. «Es hat keine faktenbasierte Argumentation mehr stattgefunden», gab der freisinnige Ständerat und Präventivmediziner Felix Gutzwiller zu Protokoll. Auch die Gewinner, die das Gesetz knapp bodigten, freuten sich allerdings nicht. Der Bericht zitiert den christdemokratischen Ständerat Ivo Bischofberger, der warnte: «Wir haben zwar eine Schlacht, aber noch nicht den Krieg gewonnen.» Er hatte, wie sich heute zeigt, allen Grund für die Warnung: Die Volkserzieher machen einfach weiter, auch ohne Gesetz. Präventionsmassnahmen Was sie alles treiben, lässt sich in der aktuellen Ausgabe von «Spectra» nachlesen, dem Newsletter zur Gesundheitsförderung, den das Bundesamt für Gesundheit herausgibt. Noch bis 2016 laufen die 2008 – also vor der Beratung des Präventionsgesetzes im Parlament! – beschlossenen und 2012 verlängerten nationalen Programme zu Alkohol, Tabak, Drogen sowie Ernährung und Bewegung. Sie sollen abgelöst werden durch die Strategie zur Prävention nichtübertragbarer Krankheiten und die Strategie Sucht, die im Sommer in die Anhörung geht. «Daran arbeiten heute die Akteure des Gesundheitswesens mit voller Kraft», schreibt Pascal Strupler, der freisinnige Direktor des Bundesamtes für Gesundheit. «Die Menschen sollen in die Lage versetzt werden, für ihre Gesundheit die möglichst besten Entscheide zu treffen. Nicht mittels Verboten oder Zwang. Gesundheitsförderung und Krankheitsvorbeugung soll vermehrt über Wissensvermittlung, Beratung und Sensibilisierung erfolgen. Nicht als Ersatz für die Eigenverantwortung des einzelnen, sondern – im Gegenteil – zu ihrer Stärkung.» Der Direktor kennt also die Sprachregelung der «libertären Paternalisten» Thaler und Sunstein. Sein Bundesamt setzt allerdings beim angeblichen Stärken der Eigenverantwortung weiterhin nicht auf «Nudges», sondern lieber auf Intervention. Das lässt

sich beispielhaft an der Salzstrategie zeigen, die seit 2008 läuft. Zu viel Salz – gemäss WHO alles über fünf Gramm pro Tag – führt angeblich zu Bluthochdruck; Schweizer Männer nehmen aber gemäss einer Studie mehr als zehn Gramm ein. Deshalb drängt das Bundesamt die Nahrungsmittelfirmen, aber auch Bäcker, Metzger und Wirte dazu, ihre Rezepte zu ändern – der Grund, weshalb das Brot oder die Pommes frites oft nicht mehr schmecken. Und nachsalzen lässt sich nicht, denn in Kantinen müssen die Ménagen von den Tischen verschwinden. Dabei bleibt umstritten, ob Salz, egal in welchen Mengen, bei Gesunden überhaupt schadet. Das heisst: Nationalrat Sebastian Frehner hat recht mit seiner Kritik. Das Bundesamt reisst Aufgaben an sich, ohne dass es dafür einen Auftrag im Gesetz oder gar in der Verfassung gibt. Es bläht sich deswegen stetig auf: Sein Personalbestand wuchs von 2007 bis 2013 um 70 Stellen auf 476 Angestellte an, also um ein Fünftel. Es masst sich an, das Volk zum richtigen Verhalten zu erziehen. Und es stützt sich dabei auf fragwürdige Wissenschaft. Reale Situation Schon die Prämisse für den Eifer der Gesundheitsförderer ist falsch. Wegen der starken Zunahme der chronischen Krankheiten sei eine Trendwende hin zu einer Abnahme der (gesunden) Lebenserwartung zu befürchten, behaupteten die Experten um Thomas Zeltner vor acht Jahren. Und der Bericht «Gesundheit 2020» des Bundesrates geht immer noch von diesem Szenario aus. Die Lebenserwartung stieg aber seither stetig weiter, mit 82,8 Jahren halten die Schweizer jetzt den Weltrekord vor den lange führenden Japanern. Weil die Menschen immer älter werden, müsste eine Zunahme der chronischen Krankheiten niemanden besorgen; die Todesfälle wegen Herz-Kreislauf- und wegen Atemwegserkrankungen haben aber seit 1990 sogar um ein Viertel abgenommen, jene wegen Tumoren blieben gleich. Der Alkoholkonsum hat sich im 20. Jahrhundert von 15 auf 8 Liter reinen Spiritus fast halbiert; der Anteil der Raucher ist in den letzten zehn Jahren von 33 auf 26 Prozent zurückgegangen, bei den Jungen gar von 36 auf 24 Prozent. Und beim Better-Life-Index der OECD zeigen sich die Schweizer mit ihrem Leben immer am zufriedensten – ohne dass ihnen der Bund sagt, wie sie leben sollen. �

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Der Brave-Bürger-Bastelbogen

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Lustige Müllpappschilder in der Fussgängerpassage, wohlweislich platzierte Fliegen in Männerpissoirs, strategisch drapiertes Obst in der Uni-Mensa: Klein und fein sind die Schubser, die uns in Richtung eines Normalverhaltens drängen. Die subtilen Psychotricks degradieren den mündigen Bürger zum verführbaren Konsumtrottel.

von Johannes Richardt

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ährend der letzten Weihnachtsverkäufe bevölkerte eine Schar lebensgrosser Kunststofffiguren in der Dienstkleidung der hiesigen Strassenreinigung die Thuner Fussgängerzone. Mit erhobenem Zeigefinger oder freundlich lächelnd forderten die sogenannten «stillen Mitarbeiter» die Passanten dazu auf, ihren Müll ordnungsgemäss zu entsorgen. «Blib suber!», «Läck, dä Dräck!» oder «Ab i ds Chörbli!», liest man in den weissen Sprechblasen.1 Das Thuner Tiefbauamt möchte mit dieser Aktion die Bevölkerung für seine Anti-Littering-Botschaft sensibilisieren. Dass es sich bei den sympathischen Pappkameraden auch um die Vorhut eines neuen paternalistischen Politikansatzes handelt, dürfte hingegen nur den wenigsten der vorweihnachtlichen Shoppinginteressierten klar gewesen sein. Es geht um einen Paternalismus, der von seinen Befürwortern mit den irreführenden Adjektiven «libertär» oder «liberal» versehen wurde. Sein Mittel der Wahl: verhaltensökonomisch fundierte Methoden zur Beeinflussung der Psyche. Wie die Beeinflussung mit Hilfe der «stillen Mitarbeiter» des Thuner Tiefbauamts funktioniert, kann man in der Studie «Littering in der Schweiz»2 der auf «Behavioral Economics» spezialisierten Zürcher Wirtschaftsberatung FehrAdvice nachlesen. Dort werden die Anti-Littering-Pappkameraden als Beispiel für einen «visuellen Nudge» aufgeführt, der «im Moment der Entsorgungsentscheidung die Aufmerksamkeit auf das sozial erwünschte Verhalten lenken soll». Die Formulierung ist symptomatisch und verdient eine genaue Lektüre. Es wird gerade nicht bezweckt, die Adressaten sachlich über eine wie auch immer geartete Müllproblematik zu informieren und so zu einer bewussten Reflexion ihres Verhaltens anzuregen. Vielmehr sollen mittels visueller Symbole, subtiler Botschaften oder geschickter Darstellungsweisen die «psychologischen Kosten» für das sozial nicht erwünschte Verhalten erhöht werden. Im Klartext: es geht nicht darum, erwachsene Menschen mit Vernunftargumenten zu überzeugen, wie man es von staatlichen Institutionen in einem modernen Gemeinwesen doch eigentlich erwarten könnte. Die gewünschte Verhaltensweise soll erzielt werden, indem man den Leuten unterschwellig ein

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Johannes Richardt ist Redaktionsleiter des Politikmagazins «NovoArgumente» (www.novo-argumente.com) und Mitgründer des Think Tanks Freiblickinstitut (www.freiblickinstitut.de).

schlechtes Gewissen einzureden versucht. Anstatt auf Aufklärung wird auf Manipulation gesetzt. Solche und andere schon lange aus Werbung und Marketing bekannte Psychotricks werden heute von Regierungen rund um den Globus mit der Hoffnung eingesetzt, die störrischen Bürger zu besseren Menschen zu formen. Was über Einsicht und rationalen Diskurs bei Umwelt-, Gesundheits- oder Verbraucherschutzfragen nicht erreicht werden kann, sollen Verhaltensforscher richten. Zur Ikone dieses sanften Paternalismus avancierte ausgerechnet eine Fliege im Männerpissoir, die 1999 plötzlich in den Toiletten des Amsterdamer Flughafens Schiphol klebte. Ein Manager vermutete, dass es die Trefferquote der Männer erhöht, wenn man ihnen ein Ziel gibt. Und heureka: die Verschmutzung auf dem Boden sei angeblich daraufhin stark gesunken – die Reinigungskosten auch. So zeigen heute Urinale überall auf der Welt alle möglichen Zielobjekte von Bildern über bewegliche Bälle bis zu Fussballtoren. Man mag zu solcherlei freundlichen Hilfestellungen im Alltag stehen, wie man will. Der eine findet sie vielleicht ganz bequem, ein anderer amüsant und ein dritter vielleicht einfach nur überflüssig. Zweifelsohne gehören sie zum Leben in einer modernen Konsumgesellschaft ebenso wie viele andere Formen interessengeleiteter Beeinflussung auch – sei es die Warenpräsentation im Supermarkt, emotionalisierte PR von NGOs (Robbenbabies, traurige Kinderaugen) oder die zunehmend auf Marketingpsychologie statt Inhalte setzende Wahlwerbung der Parteien. Alltagskompetente Bürger wissen um solcherlei Fallstricke und können in der Regel ganz gut damit umgehen. Aber sollte aus dieser Tatsache folgen, dass sich auch der demokratische Staat solcher Mittel bedienen darf? Wollen wir es seinen Institutionen wirklich gestatten, angeblich zu unserem Besten Psychotricks – und mögen sie auch noch so harmlos daherkommen – gegen die eigenen Bürger einzusetzen? Die Antwort


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muss Nein lauten, ohne Wenn und Aber. Denn hier geht es um grundlegende Erwägungen, auf welchem Menschenbild wir die Gesellschaft konstituieren wollen. Und zumindest über die Sicht der Nudger auf den Menschen kann getrost gesagt werden, dass diese zynisch daherkommt – für die Freiheit autonom handelnder Individuen ist dort wenig Platz. Mängelwesen Mensch Mit Bergen von Evidenz aus zahllosen Studien und Experimenten will die Verhaltensökonomie zeigen, was ohnehin jeder weiss: Menschen sind fehlbar und handeln nicht immer rational. Gerade seit Ausbruch der Wirtschafts- und Finanzkrise treffen sie mit dieser ebenso einseitigen wie trivialen Einsicht in die Conditio humana einen offenen Nerv in westlichen Gesellschaften. Die ohnehin verbreitete Skepsis gegenüber der Fähigkeit des Menschen, sein Leben und seine Umwelt konstruktiv zu gestalten, hat durch die Krise einen neuen Schub bekommen. Viele Entscheidungsträger in Politik, Wissenschaft und Medien betonen nimmermüde: Nicht falsche politische Rahmensetzungen sind für den wirtschaftlichen Niedergang verantwortlich, vielmehr gehört der Mensch per se – seine individuellen Schwächen, seine Destruktivität und Gier – auf die Anklagebank. Und praktischerweise liefert die Verhaltensökonomie die theoretische Fundierung für diesen Befund plus den Methodenbaukasten für eine daraus abgeleitete, kosteneffektive Regulierungspolitik. Die meisten Leute seien schlichtweg unfähig, ihre langfristigen Interessen zu erkennen oder rationale Lebensentscheidungen zu treffen, weil ihnen dabei unzählige Verhaltensanomalien im Weg stünden. Wir neigen zu Willensschwäche, setzen im Alltag auf unzulängliche Daumenregeln, überschätzen uns, halten an dem fest, was wir kennen – und so weiter und so fort. Da mag ja tatsächlich hie und da was dran sein, nobody is perfect. Doch während in klassisch-humanistischer Denktradition gerade aus dieser Tatsache die Einsicht erwächst, dass der Mensch ständig an seiner Verbesserung arbeiten muss, wird genau dieses Streben durch die Nudger konterkariert. Deren wenig erbauliche Botschaft lautet: Weil es um das Mängelwesen Mensch in Sachen Rationalität und Selbstkontrolle nun mal so schlecht bestellt ist, bedarf es der Unterstützung durch angeblich aufgeklärte Experten, die erst einmal unser Interesse wissenschaftlich exakt definieren, um uns dann den Weg zu einem besseren Leben zu weisen. Entscheidungssituationen sollen demnach im Vorfeld von diesen wohlwollenden Eliten so gestaltet werden, dass Individuen mit grösserer Wahrscheinlichkeit «richtige» Entscheidungen treffen – indem etwa in einer Uni-Mensa Obst besser sichtbar präsentiert wird als Süssigkeiten, damit die Studenten zum erstrebenswerten Ziel einer «gesunden Ernährung» angeleitet werden, oder wenn die «stillen Mitarbeiter» des Tiefbauamtes in der Thuner Fussgängerzone über das «Entsorgungsverhalten» der Bürger wachen. Die Autonomie werde gewahrt, weil die Menschen ja nach wie vor die Wahl hätten, sich bewusst gegen die präferierten

Handlungsoptionen zu entscheiden, lautet die Beschwichtigung gegenüber freiheitlichen Skeptikern. Aber man sollte sich von solcher Rhetorik nicht täuschen lassen: Hinter der harmlosen Fassade vieler Nudges verbirgt sich ein autoritärer Anspruch, den Politiker in aller Welt für verschiedene Zwecke geltend machen. Nudge Unit in Grossbritannien Als Vorreiter der Umsetzung der Nudge-Ideologeme in konkrete Politik gilt Grossbritannien. 2010 rief der konservative britische Premierminister David Cameron das «Behavioural Insight Team» (Spitzname: Nudge Unit) ins Leben, das seitdem diverse Projekte umgesetzt hat, in denen die Bürger dazu angeschubst werden sollen, ihre Häuser zu dämmen, Organe zu spenden oder (mehr) Steuern zu zahlen. Beispielsweise verschickten Behörden Mahnbriefe mit der Bemerkung «Zahl Deine Steuer oder verliere Dein Auto» (einigen Briefen wurde gar ein Foto des Autos beigelegt) an säumige KFZ-Steuerzahler, um durch diesen Schockeffekt die Zahlungsbereitschaft der Steuersünder zu erhöhen. In den USA war der Nudging-Vordenker Cass Sunstein von 2009 bis 2012 Leiter einer Regulierungsbehörde der Obama-Regierung. Dort verantwortete er mitunter eine Steuerreform, brachte grössere Warnhinweise auf Zigarettenschachteln auf den Weg und sorgte dafür, dass Werbung auf Autos untersagt wurde, um Unfälle zu verhindern. Wirksam regieren in Deutschland In deutschen Regierungskreisen ist Nudging aktuell ein heisses Thema. Im christdemokratisch geführten Kanzleramt wird eine Projektgruppe unter dem Namen «wirksam regieren» aufgebaut, die auf Grundlage «verhaltenswissenschaftlicher Evidenz» «neue politische Lösungsansätze» entwickeln soll.3 Auch Bundeskanzlerin Angela Merkels sozialdemokratischer Koalitionspartner zeigt sich offen für das Weltbild der Nudger. So hat sich die SPD-Bundestagsfraktion in ihren aktuellen VerbraucherpolitikLeitlinien von der Idee des mündigen Konsumenten verabschiedet. Stattdessen müsse Verbraucherschutzpolitik vom «realen Verbraucher» ausgehen. Dieser wird in 14 Stichworten im bekannten Jargon der Verhaltensökonomie (von «Verbraucher/innen irren häufig» bis «Verbraucher/innen handeln eher kurz- als langfristig») zum Konsumtrottel abgestempelt, bei dem Nudges in die «richtige Richtung hilfreich sein können».4 Und die Schweiz? Das Beispiel aus der Thuner Fussgängerzone zeigt, dass Nudging auch in der Schweiz längst zum Alltag gehört. Die Expertendebatte über das Thema läuft hier seit Jahren, wobei die meisten Stimmen dem sanften Paternalismus eher wohlwollend gegenüberstehen. Befürworter sind der bereits erwähnte, in Zürich lehrende Ökonom Ernst Fehr oder Gebhard Kirchgässner von der Uni St. Gallen, beide bewährte Autoren bzw. Interviewpartner dieser Zeitschrift. Auf ­politischer Ebene hat sich der Zürcher Nationalrat für die Grünen Bastien Girod vor einiger Zeit in einem Gastbeitrag für die NZZ 5 für

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den Einsatz von Nudges stark gemacht. Um die Energiewende voranzubringen, empfiehlt er, schweizweit einen Nudge einzusetzen, den die Zürcher Elektrizitätswerke (EWZ) seit 2006 anwenden. Statt sich bewusst für Ökostrom zu entscheiden (Opt-in-Option), müssen sich EWZ-Kunden beim individuellen Verbrauch bewusst gegen Ökostrom aussprechen (Opt-out-Option). Evidenzbasierte Politik Von Obama und den britischen Tories über die deutsche Sozialdemokratie bis hin zu einem Zürcher Grünen: Nudging ist in. Dabei scheint die Verortung im ohnehin kaum sinnstiftenden politischen Spektrum keine Rolle zu spielen. Politiker aller Couleur sind bereit, die Methoden der Verhaltensökonomen für ihre politischen Ziele einzusetzen. So zeigt sich am allmählichen Siegeszug des Nudging auch, wie Politik in den erstarrten Top-Down-Demokratien der westlichen Welt heute funktioniert. Immer mehr Beobachter beklagen in verschiedenen Ländern eine zunehmende Durchregulierung des Alltags. Paternalismus, nicht nur in seiner vordergründig sanften Variante, ist eines der grossen politischen Themen des jungen 21. Jahrhunderts. Staatliche, halbstaatliche oder staatsnahe Akteure, wie aus Steuermitteln finanzierte NGOs, oder poststaatliche Akteure, wie die Europäische Union, mischen sich mit immer mehr Regeln, Vorschriften, Richtlinien und Verboten in immer mehr Lebensbereiche ein. Dabei erscheinen Nudges lediglich als ein weiteres nützliches Instrument im Werkzeugkasten der Regulierungsfreunde. Politik bedient sich heute nicht zwangsläufig verhaltensökonomischer «Evidenz», aber es kommt selten vor, dass sie nicht auf die eine oder andere Weise den Anspruch erhebt, «evidenzbasiert» zu sein. Anstatt Entscheidungen mit Interessen, Parteiprogrammen oder Werten zu rechtfertigen, ersetzen die zunehmend von der Gesellschaft entkoppelten politischen Eliten öffentliche Debatten durch die «Alternativlosigkeit» wissenschaftlicher Expertenurteile – und sichern so nicht zuletzt einer wachsenden Beratungsindustrie gute Geschäfte und wachsenden Einfluss. Weil sich die Regierenden von den grossen politischen Fragen abgewandt haben, agieren sie nicht mehr als souveräne Verantwortungsträger, sondern mehr und mehr als technokratische Funktionsträger, die managerhaft «Sachzwänge» durchdeklinieren. Anstatt über Konzepte zu streiten, wie etwa der allgemeine Wohlstand vermehrt werden kann, und die Bürger von den eigenen Ideen überzeugen zu wollen, setzt heutige Politik auf das wissenschaftlich verbrämte «Mikromanagement» der Gesellschaft: Wie kriegen wir die Bürger dazu, weniger zu littern, Häuser zu dämmen oder mehr Obst zu essen? Aus dieser Perspektive erscheinen die Menschen den Regierenden nicht mehr als mündige Bürger, deren Alltagskompetenz und Freiheitsbefähigung es zu achten und deren Interessen zu repräsentieren gilt, sondern werden als Objekte administrativer Zwangsbeglückung adressiert, deren empirisch-exakt ermittel-

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ten «Nutzen» es im Rahmen eines enggefassten Status quo zu mehren gilt. Bedauerlicherweise haben sich viele Bürger mit diesem Umstand arrangiert oder sich gar das pessimistische Menschenbild der angeblichen Eliten zu eigen gemacht. Die Erwartungen an die Politik sind auf einem Tiefpunkt. Viele Menschen ziehen sich desillusioniert aus dem öffentlichen Leben zurück. Nicht wenige scheinen ganz zufrieden damit, sich von einem wohlmeinenden Staat in immer mehr Lebensbereichen erziehen, therapieren oder schubsen zu lassen. Freiheit und Autonomie, die Kernideen des Humanismus, klingen in paternalistischen Zeiten wie den unsrigen fast schon wie Begriffe aus einer vergangenen Epoche – dabei sind sie aktuell wie eh und je. Autonomie, Freiheit und Demokratie Der sanfte Paternalismus ist nicht das kleinere Übel oder gar das freiheitliche Gegengift zum Bevormundungsstaat, wie einige meinen. Es ist prinzipiell höchst problematisch, wenn staatliche Akteure Psychotricks gegen die Bürger einsetzen, um sie in Richtung eines gewünschten Verhaltens zu lenken. Ein trübes Verständnis von Politik kommt hier zum Vorschein und wohl auch ein gehörigeres Mass an Verunsicherung des politischen Führungspersonals darüber, dass sie mit ihren Vorstellungen über ein richtiges Leben bei den Menschen immer weniger Anklang finden. Zu Recht – denn demokratische Politik hat sich der öffentlichen Debatte zu stellen. Sie muss uns Bürger argumentativ überzeugen wollen, statt mit subtilen Beeinflussungsmethoden unsere Schwächen auszunützen. Gerade deshalb sollten wir gegenüber der Politik auf der Eigenverantwortung für unser Leben beharren. Wir sollten uns den Freiraum nehmen, Risiken einzugehen, Dummheiten zu begehen und Entscheidungen zu treffen, die wir später vielleicht bereuen. Menschen lernen aus Fehlern. Die ­Nudger verkaufen einen schalen Begriff von Freiheit, der letztere auf das Treffen einer wissenschaftlich ermittelbaren «richtigen» Entscheidung reduziert. Doch Freiheit ist nicht objektivierbar. Sie bedeutet zuvorderst Mündigkeit. Und die kann einem nicht von aussen mit Psychotricks eingetrichtert werden. Sie bedarf des subjektiven Wollens und der Anstrengung der Individuen, aber eben auch einer Gesellschaft, die für dieses Mündigkeitstraining genug Freiräume bereithält. � Stadtverwaltung Thun: Aktionen «Fertig gruusig»: Stille Mitarbeiter am Sonntagsverkauf, 14.12.2014 (http://www.thun.ch/stadtverwaltung/ abteilungenaemter/tiefbauamt/technische-betriebe/abfallentsorgung/littering/ aktionen-fertig-gruusig.html) 2 FehrAdvice & Partners: Littering in der Schweiz – Studie zur Wirksamkeit von Massnahmen unter Berücksichtigung verhaltensökonomischer Erkenntnisse, 31.3.2014 (http://littering-schweiz.ch/wp-content/uploads/2014/04/Studie_ Littering_in_der_Schweiz.pdf) 3 Alexander Neubacher: Alchemie im Kanzleramt. In: Der Spiegel Nr. 36 (2014). 4 SPD-Bundestagsfraktion: Für gute Verbraucherpolitik sorgen. Leitlinien für eine sozialdemokratische Verbraucherpolitik (http://www.spdfraktion.de/sites/default/files/web_a5_verbraucher_ leitlinien_201203.pdf) 5 Bastien Girod: «Nudge» – besser entscheiden. In: Neue Zürcher Zeitung, 12. August 2013. 1


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Sind «Nudges» manipulativ?

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Kritiker meinen, dass «Nudges» häufig subtilen Formen von Manipulation glichen. Müssen sich Autonomie liebende Menschen vor «Nudges» fürchten? Ein Begründer des Konzepts antwortet auf kritische Fragen.

von Cass Sunstein

I

n freien Gesellschaften manipulieren Beamte und Amtsträger ihre Bürger nicht. Sie behandeln sie mit Respekt. Sie verpflichten sich zum Erhalt der individuellen Würde jedes einzelnen. Verletzen sogenannte «Nudges» diese Prinzipien? Um das herauszufinden, müssen wir den Begriff zunächst definieren. «Nudges» sind Anstösse, die Menschen in eine bestimmte Richtung lenken, ihnen aber erlauben, ihren eigenen Weg zu gehen. Ein «sanfter Stupser», wenn man so will. Ein GPS-System etwa lenkt Menschen in eine Richtung, ebenso wie eine Erinnerung (beispielsweise an eine Rechnung, die bald fällig wird). Um als «Nudge» zu gelten, darf dieser Eingriff aber keine spezifisch materiellen Anreize setzen. Eine Subvention ist kein «Nudge», eine Steuer auch nicht und weder eine Geld- noch eine Gefängnisstrafe gehen als «Nudge» durch. Ein «Nudge» muss Wahlfreiheit gewährleisten, und zwar ohne Wenn und Aber. Wenn ein Eingriff der wählenden Person bedeutende Kosten auferlegt, ist er folglich kein «Nudge». Ein «Nudge» ist nie mit Zwang verbunden; «Nudging» lehnt Zwang ganz grundsätzlich ab. «Nudges» werden sogar eigens dazu entworfen, die Würde der Menschen zu respektieren; sie halten die ultimative Entscheidungsfreiheit des einzelnen hoch. Die augenfälligsten «Nudges» bestehen aus Standardvorgaben (sogenannten Defaults), die bestimmen, was passiert, wenn Menschen nicht etwas, sondern nichts tun – man denke an das automatische Einzahlen in Pensionskassen oder das automatisierte Bezahlen von Rechnungen. Andere «Nudges» sind: – Vereinfachungen von Bewerbungen (beispielsweise für Weiterbildungen oder für finanzielle Unterstützung); – Informationspflichten (beispielsweise für Kalorien in Lebensmitteln oder Labels für Energieeffizienz); – visuelle oder andere auffällige Warnhinweise (beispielsweise abschreckende Bilder auf Zigarettenpackungen); – erleichterter Zugang und Steigerung der Nutzerfreundlichkeit (beispielsweise durch das einfache und intuitive Design von Webseiten); – Anwendung sozialer Normen (beispielsweise der Hinweis, wie hoch der eigene Energieverbrauch im Vergleich zu jenem der Nachbarn ist);

Cass Sunstein ist Professor für Rechtswissenschaften an der Harvard University. Er schrieb zusammen mit dem Verhaltensökonomen Richard Thaler das Buch «Nudge. Wie man kluge Entscheidungen anstösst» (Ullstein, 2011). Von 2009 bis 2012 war Sunstein für die amerikanische Regierung tätig und leitete das Office of Information and Regulatory Affairs im Weissen Haus.

– nichtmonetäre Belohnungen wie öffentliche Anerkennung (beispielsweise Orden, Titel); – aktiver Hinweis auf Wahlmöglichkeiten (mit Fragen wie «Welchen Vorsorgeplan möchten Sie?» oder «Möchten Sie Organspender werden?»); – Strategien der Selbstbindung (Menschen werden gefragt, ob sie im voraus zustimmen, ein bestimmtes Verhalten zu übernehmen, beispielsweise an einem Programm zur Raucherentwöhnung teilzunehmen, was sie selbstverständlich ablehnen können). Ich kann nicht oft genug betonen, dass das zentrale Ziel des «Nudging» darin besteht, «Entscheidungen so zu beeinflussen, dass sie Menschen nach deren eigener Beurteilung besser stellen».1 In den meisten Fällen ist es nicht einfach, diesem Anspruch gerecht zu werden. Wenn ein GPS beispielsweise jemanden zu einem Ziel führt, das nicht jenem des Nutzers entspricht, verfehlt es seinen Zweck. Und wenn es eine längere und weniger angenehme Route vorschlägt, stellt es den Entscheider aus dessen eigener Sicht nicht besser. Wichtig ist auch, zu betonen, was oftmals gern unter den Tisch fällt: «Nudging» ist per se unvermeidlich. Selbst die Natur liefert «Nudges», die unser Verhalten verändern, ein kalter Wintertag genauso wie die «unsichtbare Hand» des freien Markts. Wo immer ein Staat mit Formularen, Büros, Webseiten und Programmen operiert, wird er Menschen «stupsen». Jede soziale Ordnung hat eine Entscheidungsarchitektur, eine Art von Design, und beeinflusst menschliche Entscheidungen. Es ist deshalb zwecklos, «Nudging» als solches abzulehnen, da es kein Design gibt, das nicht irgendwelche Optionen bevorzugt. Aber natürlich ist es möglich, bestimmte «Nudges» abzulehnen oder zu kritisieren. Stellen Sie sich beispielsweise vor, ein Staat «stupst» Bürger mit dem Ziel, die Interessen sowieso bevorzugter Interessengrup-

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«‹Nudging› ist per se unvermeidlich. Selbst die Natur liefert ‹Nudges›, die unser Verhalten verändern, ein kalter Wintertag genauso wie die ‹unsichtbare Hand› des freien Markts.» Cass Sunstein

pen zu fördern oder Bürgerrechte einzuschränken oder die Menschenwürde anzutasten. Das ist durchaus möglich, und in der Tat beruhen viele schlagkräftige Einwände gegen «Nudges» und gegen die Änderungen der Entscheidungsarchitektur darauf, dass die ihnen zugrunde liegenden Motivationen und Ziele der jeweiligen Entscheidungsträger undurchsichtig oder gar unrechtmässig seien. Daraus folgt, dass kaum ein Einwand auf das Konzept des «Nudging» per se zielt, viele aber auf die Grundlage und Ziele einzelner «Nudges». Wir wollen uns daher im folgenden nicht mit einzelnen «Nudges» beschäftigen, sondern mit dem Konzept selbst; dazu müssen wir uns vergegenwärtigen, wie «Nudges» prinzipiell funktionieren.

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Verhaltensökonomie In der Verhaltensökonomie ist es Standard geworden, zwischen zwei Typen kognitiver Systeme im menschlichen Denken zu unterscheiden: System 1 ist schnell, automatisch und intuitiv; System 2 ist langsam, berechnend und abwägend. System 2 kann sich irren und tut dies auch, aber es ist System 1, das vornehmlich mit psychologischen Fallstricken und kognitiven Verzerrungen in Verbindung gebracht wird. Als Beispiele mögen ungerechtfertigter Optimismus und übertriebener Fokus auf kurzfristige Ereignisse dienen. Einige «Nudges» versuchen nun, die Wirkung von System 2 zu verstärken, indem sie die Rolle des Überlegens und bedachten Ermessens stärker gewichten – beispielsweise durch


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Offenlegungsstrategien und Strategien der Selbstbindung. Andere «Nudges» sind dazu entworfen, das System 1 anzusprechen oder zu aktivieren – beispielsweise im Falle von anschaulichen und bildlichen Warnungen. Einige «Nudges» funktionieren gerade nur wegen der Art, wie System 1 funktioniert – beispielsweise wenn Menschen bei einmal vorgegebenen Standardoptionen (Defaults) bleiben, weil die Kraft der Trägheit wirkt. Ein «Nudge» mag mit der Begründung gerechtfertigt werden, dass er kognitiven Verzerrungen (Behaviorial Bias) entgegenwirkt, aber – und dies ist ein wichtiges Argument – eine kognitive Verzerrung ist keine erforderliche Begründung für einen «Nudge». Die Offenlegung von Information kann ja auch ohne kognitive Verzerrungen hilfreich sein. Eine Standardvorgabe vereinfacht das Leben und kann wünschenswert sein, ungeachtet dessen, ob eine kognitive Verzerrung im Spiel ist oder nicht. Ein GPS ist beispielsweise auch für Menschen nützlich, die nicht an Gegenwartspräferenz, Wahrscheinlichkeitsverzerrung oder Überoptimismus leiden. «Nudges» entspringen stets dem Verständnis, dass es einfach oder schwierig sein kann, im Leben zu navigieren. Wie das GPSBeispiel anklingen lässt, haben viele «Nudges» das Ziel, den Menschen die Orientierung zu vereinfachen und es ihnen zu ermöglichen, jenes Ziel zu erreichen, das sie selbst bevorzugen. Was ist Manipulation? Damit wären wir bei der komplexen Idee von «Manipulation» angelangt. Ein Anstoss gilt nicht schon als manipulativ, nur weil er darauf abzielt, das Verhalten von Menschen zu verändern. Wenn man den Fahrer eines Fahrzeuges darauf aufmerksam macht, dass eine Unfallgefahr besteht, betreibt man keine Manipulation. Das gleiche gilt, wenn ich jemanden darauf hinweise, dass eine Rechnung fällig ist. Es ist schwierig, notwendige und hinreichende Bedingungen zu identifizieren, um von einer Manipulation sprechen zu können. Umgekehrt ist es einfacher: Ein Musterbeispiel von Manipulation ist die Lüge. Wenn Sie Menschen sagen, dass sie gewisse Nahrungsmittel essen sollten, weil diese besonders gesund seien, dies aber nicht den Fakten entspricht, dann manipulieren Sie diese Leute. Auch irreführendes Verhalten gilt als manipulativ – selbst dann, wenn niemand eigentliche Falschaussagen macht. Wenn Sie etwa andeuten, dass es ungesund sei, gewisse Nahrungsmittel zu essen, obwohl dies nicht der Fall ist, manipulieren Sie das Verhalten anderer Menschen. Wir können an dieser Stelle festhalten: Eine Handlung kann als manipulativ angesehen werden, wenn es ihr an Transparenz mangelt – wenn also der Handelnde seine Rolle oder die wahre Motivation seines Handelns verheimlicht. Wenn Menschen ihre eigene Rolle verbergen, so scheint es gerechtfertigt, ihnen den Vorwurf der Manipulation zu machen. Wenn also Beamte Massnahmen ergreifen, um das Verhalten von Menschen zu verändern, ohne ihnen offenzulegen, was oder warum sie etwas tun, dann

haben wir es mit Manipulation zu tun. Daraus können wir schliessen, dass «Nudges» vollständig transparent sein und sich genauer öffentlicher Überprüfung unterziehen müssen – und zwar nicht weniger als Gesetze, Erlasse oder Verbote. Wenn der Staat irgendeine Art der Offenlegung verlangt (zum Beispiel die Energiekosten bestimmter Produkte), so darf er nicht verbergen, warum er dies macht. Und wenn der Staat irgendwelche Standardvorgaben anregt (beispielsweise automatische Teilnahme an Vorsorgeplänen), sollte er erklären, was er macht, und gleichzeitig die öffentliche Überprüfung seines Handelns anregen. Zur Manipulation zählt auch jegliches Handeln, das darauf abzielt, das Unterbewusstsein von Menschen in einer Art zu beeinflussen, die deren bewusste Entscheidungsfreiheit unterwandert. Wenn wir es damit zu tun haben, dann lautet der Einspruch gegen Manipulation, dass dadurch die Autonomie von Menschen eingeschränkt wird und sie nicht mit Respekt behandelt werden. Der Einspruch gilt für Lügen, die eingesetzt werden, um Verhalten mit falschen Aussagen statt mit wahren zu beeinflussen; dagegen würde die Wahrheit Menschen in die Lage versetzen, für sich selbst zu entscheiden. Aber der Einspruch beschränkt sich nicht auf Lügen. Beispielsweise kann unterschwellige Werbung als manipulativ oder abwertend erachtet werden, weil sie hinter dem Rücken der Menschen wirkt, ohne deren bewusste Wahrnehmung anzusprechen. Auf das Unterbewusstsein abzielende Werbung umgeht die Möglichkeit, Entscheidungen durch Abwägung zu treffen. Kaum jemand findet unterschwellige Werbung gut. Eine andere Frage ist aber, ob solche verpönten Praktiken Aufschluss über andere politische Instrumente geben können, die breitere Unterstützung erhalten. Nudges und Manipulation Nun dringen wir zum Kern der Sache vor: Einige Kritiker behaupten, dass «Nudges» häufig manipulativ seien. Die Philosophin Sarah Conly beispielsweise reklamiert, dass wir, wo «Nudges» am Werk seien, «Menschen nicht als allgemein fähig erachten, gute Entscheidungen zu treffen, sondern sie überlisten, indem wir ihre Irrationalität ansprechen – einfach in fruchtbarerer Art und Weise. Wir räumen ein, dass Menschen generell nicht in der Lage sind, gute Entscheidungen zu treffen, wenn sie ihren eigenen Instrumenten überlassen sind. Dies widerspricht der grundlegenden Prämisse des Liberalismus: Wir sind im Grunde rationale und kluge Kreaturen, die sich selber autonom steuern können, und dies auch tun sollten.»2 Nichts könnte von der Wahrheit weiter entfernt sein. Der Vorwurf ist nicht fair gegenüber den häufigsten Formen von «Nudges» – erinnern Sie sich an die Liste am Anfang dieses Essays. Denken wir an einige Testfälle, für die der Vorwurf offensichtlich deplatziert ist. 1. Ministerialbeamte können Vorschriften für visuelle Warnhinweise auf gefährlichen Produkten wie Zigaretten machen,

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wenn sie annehmen, dass emotionale und aufrüttelnde Darstellungen signifikante Wirkung auf das Konsumverhalten haben. 2. Sie können auf die Tendenz der Menschen zur «Verlustaversion» zurückgreifen und vorschlagen, dass Leute Geld verlieren, wenn sie auf eine bestimmte Handlung (etwa regelmässige gesundheitliche Vorsorge) verzichten, statt dass sie Geld gewinnen, wenn sie sich dafür entscheiden. 3. Sie können erkennen, dass die Aussage, ein Produkt sei «zu 90 Prozent fettfrei», eine andere Wirkung erzeugt als die Aussage, ein Produkt habe nur «10 Prozent Fett» – und sie können jenes sprachliche «Framing» wählen, das die erwünschte Wirkung hat. 4. Sie können entscheiden, welche sozialen Normen wie hervorgehoben werden – und zwar im Wissen, dass Hinweise auf das Verhalten anderer eine grosse Wirkung auf das Verhalten von Menschen haben können. 5. Sie können die Entscheidungsarchitektur so verändern – beispielsweise in einer Cafeteria oder auf einem Formular –, dass bestimmte Optionen bevorzugt gewählt werden, etwa weil sie am Anfang stehen, leicht erreichbar sind oder ins Auge stechen. Es ist keine Untertreibung zu sagen: keiner dieser Fälle hat mit ungeheuerlicher Manipulation zu tun. Es gibt keine Lüge und keine Irreführung. Aber haben wir es mit Versuchen zu tun, die die Entscheidungsfreiheit von Menschen untergraben oder ihre Würde angreifen? Ich habe betont, dass der Staat vollständig transparent sein soll bei allem, was er macht. Er soll sein Handeln und die Gründe für sein Handeln nicht verheimlichen. Beseitigt nun Transparenz die Vorwürfe der Manipulation? Die Antwort auf diese Frage ist keineswegs offensichtlich. Vielleicht können bildliche Gesundheitswarnungen als manipulativ gesehen werden, wenn sie mit dem Ziel entworfen sind, Emotionen von Menschen aufzuwühlen, statt mit Fakten zu informieren. Aber was ist, wenn die Warnung in der Öffentlichkeit genau mit diesem Ziel erklärt wird? Was, wenn die Warnung als effizient vorgestellt und begründet wird, weil sie Emotionen anspricht und Leben rettet? Was, wenn sie durch relevante Teile der Bevölkerung – sagen wir Raucher – aus genau diesem Grund begrüsst wird? Ähnliche Fragen können für die strategische Nutzung von «Framing»-Effekten (Präsentation von Informationen), sozialen Normen und Anordnungseffekten aufgeworfen werden. Wenn der Staat auf das eher affektaffine System 1 zielt – vielleicht durch «Framing», vielleicht durch emotional aufrüttelnde Aufrufe –, so könnte er auf die Tatsache reagieren, dass System 1 schon zuvor angesprochen wurde (etwa durch Werbung), und zwar zum Schaden vieler Menschen. Im Zusammenhang mit Zigaretten ist es plausibel zu sagen, dass eine Reihe von Manipulationen – einschliesslich Werbung und sozialer Normen – Menschen beeinflusst haben, mit dem Rauchen anzufangen. Wenn dies so

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ist, dann könnte man sagen, dass es Beamten erlaubt sei, Feuer mit Feuer zu bekämpfen. Aber die Analyse ist in diesem Fall nicht aufrichtig. Einige mögen einwenden, dass zweimal Unrecht kein Recht schaffe – und dass der Staat Menschen als Erwachsene behandeln und ihre Fähigkeit zur Abwägung ansprechen müsse, wenn er sie vom Rauchen abhalten wolle. Es ist auch plausibel zu sagen, dass selbst mit vollständiger Transparenz zumindest in gewissem Masse Manipulation im Spiel sei, wenn ein Staat auf die Emotionen von Menschen zielt und nach Formulierungen sucht, die wirken, eben weil sie das intuitive Denken der Menschen (System 1) ansprechen. Aber es gibt verschiedene Ausmasse von Manipulation, und es gibt wohl einen grossen Unterschied zwischen einer Lüge und dem Versuch, eine Alternative in einem reizvollen Licht darzustellen. Im normalen Leben würden wir unsere Freunde und Liebsten wohl kaum der Manipulation bezichtigen, wenn sie eine Lösung als jene darstellen, die von den meisten anderen Mitgliedern ihres Umfelds bevorzugt wird. Oder wenn sie den Verlust betonen, der mit einer schrecklichen Alternative verbunden sein könnte, oder wenn sie eine Option mit finsterem Blick beschreiben und die andere mit einem entzückenden Lächeln. Als manipulativ betrachtetes Handeln ist ein graduelles Phänomen. Und wenn ein Doktor oder eine Anwältin Körpersprache benutzt, um eine Alternative zu unterstützen oder abzuwenden, wäre es penibel, Einwände von «Untergrabung» oder «Irreführung» der erwägenden Prozesse von Patienten oder Klienten vorzubringen. Wir haben gesehen, dass die meisten «Nudges» nicht manipulativ sind. Allerdings könnte man sich für jene «Nudges», die es in einem gewissen Grade und unter bestimmten Umständen sein könnten, durchaus vernünftige und je nach Ausmass der Manipulation gewichtige Bedenken vorstellen. Es ist fraglos richtig und fair, sich für ein absolutes (oder beinahe absolutes) Tabu von Lügen und Täuschung seitens des Staates stark zu machen. Aber sicherlich sollten wir nachsichtiger sein gegenüber emotionalen Anreizen und «Framing». Wenn eine bildliche Gesundheitswarnung viele Leben rettet: ist sie wirklich unakzeptabel, nur weil sie als (milde) Form der Manipulation gelten kann? Es stimmt: Menschen, denen die Autonomie als hohes schützenswertes Gut gilt, hegen eine starke und vielleicht begründete Abneigung gegen jegliche Art von Manipulation – und zwar ganz besonders, wenn sie vom Staat ausgeht. Aber die meisten «Nudges» fallen einfach nicht unter das hier dargelegte Konzept der Manipulation, und andere ritzen höchstens an der Hülle dieses Konzepts. Es wäre mehr als seltsam, «Nudging» deshalb zu verbieten. � Aus dem Amerikanischen übersetzt von Florian Rittmeyer.

Richard Thaler und Cass Sunstein: Nudge. New Haven: Yale University Press, 2008. 2 Sarah Conly: Against Autonomy. Cambridge: Cambridge University Press, 2012. (eigene Übersetzung) 1


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«Die meisten ‹Nudges› sind nicht manipulativ.» Cass Sunstein

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Freihändig

Bera Hofer betreibt ein Zeichenbüro in Biel-Bienne.

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Sofskys Welt

Wechselfreiheit

zu Etikettierung und Freiheitsentzug. Man verunglimpft Abtrünnige und Überläufer, schmäht sie der Treulosigkeit und Fahnenflucht, ruft zu Einkehr, Pflicht und Verantwortung auf. Immer hält man die Verrechnung der Leistungen für ein Sakrileg an der heiligen Institution. Versagen Appelle, greift man zu härteren Mitteln. Um die Bürger im Lande zu halten, verwandeln sich Staaten in Gefängnisse und errichten Mauern mit Stacheldraht und Minenfallen. Demokratien beschränken die Abwanderung, indem sie Devisen bewirtschaften, den Kapitalexport limitieren und Auswanderer zum Abbruch aller

S

ituationen der Ernüchterung sind Testfälle für die Freiheit.

Heimatbindungen zwingen. Wer dem Steuerstaat den Rücken

Was tun Menschen, wenn sie unzufrieden sind mit dem Staat,

kehrt, darf nirgendwo im Lande noch ein Bettgestell stehen haben.

der Sozialkasse, ihrer Firma oder Ehe? Eine Weile warten

Wer unbedingt gehen will, der soll gefälligst andernorts bei

sie ab und hoffen auf bessere Zeiten. Dann regt sich Protest.

null anfangen.

Verärgert gehen sie auf die Strasse, beschweren sich, streiten

Auf privaten Märkten sind solche Zwangsmittel kaum

sich herum. Fruchtet dies nichts, ziehen sie sich entweder

durchzusetzen. Umso einfallsreicher ist die Erfindung von

in die Resignation zurück oder nutzen ihre Freiheiten. Sie bringen

Anreizen, welche die Wechselkosten in die Höhe treiben. Vermieter

sich und ihr Geld ins Ausland, wechseln Kasse, Arbeit oder

bevorzugen Verträge mit langer Mietzeit, Telefongesellschaften

Partner. Am Ende langer Leidens- und Bedenkzeit ist Treulosigkeit

verkaufen billige Handys mit langer Tarifzeit, Banken vergeben

oft der einzige Ausweg in die Freiheit.

Kredite mit langer Tilgungszeit und Eheleute versprechen

Wechsel halten die Menschen in Bewegung. In einer freien

einander Treue auf Lebenszeit. Oft sind Wechsel nur zu bestimm-

Gesellschaft kann kein soziales System mit der Konstanz seiner

ten Terminen gestattet oder kosten hohe Straf- und Scheidungs­

Mitglieder rechnen. Kunden wechseln die Marke, Firmen den

gebühren. Abonnements, Garantien, Rabattpunkte, Prämien –

Standort und Angestellte die Firma. Und manchmal verlassen

oft zahlt man für die Vergünstigung mit der Wahlfreiheit.

die Enttäuschten die offizielle Gesellschaft ganz. Sie pfeifen

Nicht ohne Kreativität installieren Wirtschaft, Politik

auf den Arbeitsmarkt und verschwinden in der Schattenwirt-

und Gesellschaft Dauerbindungen, um sich vor dem Wankelmut

schaft. Sie treten aus der Kirche aus und lassen sich von

freier Subjekte zu schützen.

obskuren Sekten trösten. Sie verabschieden sich von der Familie

Privatpersonen können potentielle Ausreisser nur mit sozialen

und frequentieren den Beziehungsmarkt.

Strafen in Ketten halten: mit Hausarrest, Liebesentzug oder übler

Wer Geld und Glück anderswo sucht, zwingt Institutionen

Nachrede. Ein besonders wirksames Mittel gegen Abwanderung

zum Wettbewerb. Freizügigkeit schürt Konkurrenz. Abspenstige

ist Abhängigkeit. Eltern halten ihre flüggen Kinder mit

Kunden mindern die Marktmacht des Anbieters, Austritte

Schuldappellen, Schenkungen und Erbschaften gefügig; Eheleute

den Monopolanspruch von Parteien, Verbänden, Vereinen.

beugen dem frühzeitigen Abschied mit gemeinsamen Schulden,

Nicht Tradition, Loyalität oder Gesinnung verbinden

Kinderliebe und endlosen Gesprächen vor. Der Staat sichert Treue

den Wechselwilligen mit der Organisation, sondern der Kalkül

durch äusseren Zwang, in intimen Beziehungen nutzt man

des Tauschs: Beitrag gegen Leistung, Steuern gegen

den moralischen Zwang der Dankbarkeit. So dauert es manchmal

Staatsdienst, Arbeit gegen Lohn. Wechsel sind Reaktionen

Jahrzehnte, bis die Menschen sich ihrer Freiheit erinnern,

auf Leistungsabfall, auf Ungerechtigkeit und Enttäuschung

indem sie aufstehen und gehen. �

in allen gesellschaftlichen Bereichen. Unter den Verlassenen indes grassieren Ärger, Wut und Ressentiments. Abwanderer werden als Verräter, Deserteure, unpatriotische Gesellen beschimpft. Auf Emigranten ist man in der Provinz selten gut zu sprechen. So greift man

Wolfgang Sofsky ist Soziologe und Autor. Er präsentiert hier Bruchstücke einer Anthropologie der Freiheit.

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Erzählen  Schweizer Monat 1023  Februar 2015

Kunstarbeiter: zwischen Utopie und Archiv Künstlerische Arbeit ist spezielle Arbeit. Aber sie stützt sich auf dieselben sozialen, ökonomischen, technischen und politischen Bedingungen der Produktion, der Distribution und der Präsentation wie andere Arbeiten auch. Und diese Bedingungen ändern sich rasant – welche Folgen hat das für die «Kunstarbeiter»? von Boris Groys

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as Museum war lange die Institution, die das herrschende Kunstsystem bestimmte. Heutzutage bietet das Internet eine alternative Möglichkeit der Produktion und Distribution von Kunst – eine Möglichkeit, die von einer stetig wachsenden Zahl von Künstlern genutzt wird. Welche Gründe gibt es, das Internet zu mögen – vor allem für Künstler, Schriftsteller usw.? Offensichtlich schätzt man das Internet in erster Linie dafür, dass es nicht selektiv ist – oder zumindest weniger selektiv als ein Museum oder ein traditioneller Buchverlag. Was die Künstler am Museum besonders störte, waren tatsächlich die Kriterien der Auswahl: Warum gelangen einige Kunstwerke ins Museum und andere nicht? Wir kennen die sozusagen katholischen Theorien der Selektion, denen zufolge Kunstwerke es verdienen müssen, vom Museum ausgewählt zu werden: Sie sollen gut sein, schön, inspirierend, originell, kreativ, stark, expressiv und historisch relevant – man kann Tausende solcher Kriterien anführen. Diese Theorien erfuhren allerdings eine historische Niederlage, da niemand erklären kann, warum ein Kunstwerk schöner oder origineller ist als ein anderes. So kamen andere Theorien auf, die eher protestantisch oder sogar calvinistisch waren. Diesen Theorien zufolge werden Kunstwerke ausgewählt, weil sie ausgewählt werden. Die Idee einer göttlichen Macht, die absolut souverän ist und keine Legitimation benötigt, wurde auf das Museum übertragen. Diese protestantische Theorie der Auswahl, welche die unbedingte Macht des Auswählenden betont, ist die Voraussetzung für die Kritik an den Institutionen. Die Museen wurden dafür kritisiert, wie sie ihre angebliche Macht gebrauchten oder missbrauchten. Diese Kritik der Institutionen macht im Fall des Internets nicht viel Sinn. Es gibt selbstverständlich Beispiele von Internetzensur, die von einigen Staaten praktiziert wird, aber es gibt keine ästhetische Zensur. Jeder kann irgendwelche Texte oder irgendein Bildmaterial ins Internet stellen und es global zugänglich machen. Freilich beklagen sich Künstler oftmals darüber, dass ihre Kunstproduktion in den Datenfluten versinke, die im Internet zirkulieren. Das Internet erscheint als eine riesige Mülltonne, in der alles verschwindet und niemals den erhofften Grad an Aufmerksamkeit bekommt. Doch Nostalgie nach den guten alten Zeiten der ästhetischen Zensur durch das Museums- und Galeriensys-

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Boris Groys ist Philosoph, Kunstkritiker und Medientheoretiker. Er gilt als wichtiger Theoretiker der Geistes- und Kunstgeschichte des 20. Jahrhunderts und unterrichtet an der Faculty of Arts and Science der New York University.

tem, das über die Qualität, die Innovation und die Kreativität der Kunst wachte, führt zu nichts. Letztlich sucht man im Internet nach Informationen über die eigenen Freunde – danach, was sie genau jetzt tun. Man folgt bestimmten Blogs, E-Magazines und Websites und ignoriert alles andere. Die Kunstwelt ist nur ein kleiner Teil dieses digitalen öffentlichen Raums – noch dazu ist sie äusserst fragmentiert. Auch wenn viele Klagen über die Unüberschaubarkeit des Internets erklingen, ist niemand ernsthaft an einer totalen Übersicht interessiert: Jeder sucht nach spezifischer Information – und ist bereit, alles andere zu ignorieren. Dennoch bestimmt der Eindruck, dass das Internet als Ganzes unüberschaubar ist, unsere Beziehung zu ihm – wir neigen dazu, es uns als unendlichen Datenfluss vorzustellen, der sich unserer Kontrolle entzieht. Tatsächlich aber ist das Internet keineswegs ein Ort des Datenflusses – es ist ganz im Gegenteil eine Maschine zum Anhalten und Umkehren des Datenflusses. Die Unüberschaubarkeit des Internets ist ein Mythos. Das Medium des Internets ist die Elektrizität. Und die Versorgung mit Elektrizität ist endlich. Daher kann das Internet keinen unendlichen Datenfluss unterstützen. Das Internet basiert auf einer endlichen Zahl an Kabeln, Terminals, Computern, Mobiltelefonen und anderen Geräten. Seine Effizienz bezieht es gerade aus seiner Endlichkeit und damit aus seiner Überschaubarkeit. Suchmaschinen wie Google zeigen das. Man hört heute vieles über den zunehmenden Grad an Überwachung, vor allem an Online-Überwachung. Doch die Überwachung ist nicht etwas dem Internet Äusserliches, sie ist auch kein spezifischer technischer Gebrauch seiner Möglichkeiten. Das Internet ist wesentlich eine Maschine der Überwachung. Es zerteilt den Datenfluss in kleine, verfolgbare und umkehrbare Operationen und setzt so jeden Nutzer der – wirklichen oder möglichen – Überwachung aus. Das Internet erzeugt ein Feld totaler Sichtbarkeit, Zugänglichkeit und Transparenz.


«Das Internet erzeugt ein Feld totaler Sichtbarkeit, Zugänglichkeit und Transparenz.» Boris Groys

Ai Weiwei, photographiert von Mads Nissen / laif.

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Erzählen  Schweizer Monat 1023  Februar 2015

Sicherlich versuchen Individuen und Organisationen, dieser totalen Sichtbarkeit zu entfliehen, indem sie komplizierte Passwörter und Datenschutzsysteme erfinden. Die Subjektivität ist heute zu einer technischen Konstruktion geworden: Das zeitgenössische Subjekt ist definiert als Besitzer eines Sets von Passwörtern, die es kennt – und die andere nicht kennen. Das zeitgenössische Subjekt ist vor allem ein Geheimnishüter. In gewisser Weise ist dies eine sehr traditionelle Definition des Subjekts: Das Subjekt wurde lange Zeit definiert als jemand, der etwas von sich wusste, was sonst nur Gott wusste, etwas, das die anderen nicht wissen konnten, weil sie ontologisch daran gehindert waren, «Gedanken zu lesen». Ein Subjekt zu sein hat heute allerdings weniger mit ontologischem Schutz zu tun als vielmehr mit technologisch geschützten Geheimnissen. Das Internet ist der Ort, an dem das Subjekt ursprünglich als ein transparentes, beobachtbares Subjekt konstituiert wird – und erst in einem zweiten Schritt technologisch geschützt wird mit dem Ziel, das ursprünglich entborgene Subjekt zu verbergen. Der Hermeneutiker von heute ist ein Hacker. Das zeitgenössische Internet ist ein Ort der Cyberkriege, bei denen der Gewinn das Geheimnis ist. Das Geheimnis zu kennen bedeutet, das Subjekt zu kontrollieren, das von diesem Geheimnis konstituiert wird – und die Cyberkriege sind Kriege der Subjektivierung und der Entsubjektivierung. Diese Kriege können aber nur stattfinden, weil das Internet ursprünglich ein Ort der Transparenz ist. Was bedeutet diese ursprüngliche Transparenz für Künstler? Das Internet als Arbeitsplatz stellt sie vor neue Herausforderungen, die mit der digitalen Distribution und Ausstellung von Kunst nur wenig zu tun haben: Unter der Herrschaft des Museums wurde Kunst an einem Ort produziert (im Atelier des Künstlers) und an einem anderen Ort gezeigt (im Museum). Das Aufkommen des Internets hebt diesen topologischen Unterschied zwischen der Produktion und der Ausstellung von Kunst auf. Der Prozess der Kunstproduktion, insofern diese den Gebrauch des Internets einschliesst, ist immer schon ausgestellt – vom Anfang bis zum Ende. Früher arbeiteten nur Industriearbeiter unter dem Blick der anderen – unter der permanenten Kontrolle, wie sie von Michel Foucault beschrieben wurde. Schriftsteller oder Künstler hingegen arbeiteten in Abgeschiedenheit, jenseits jeder panoptischen, öffentlichen Kontrolle. Wenn der sogenannte kreative Arbeiter jedoch das Internet benutzt, ist er demselben oder sogar einem noch höheren Grad von Überwachung unterworfen als der Foucaultsche Arbeiter. Der einzige Unterschied besteht darin, dass diese Überwachung eher hermeneutisch ist als disziplinarisch. Die Ergebnisse der Überwachung werden von den Unternehmen verkauft, die das Internet kontrollieren, weil sie die Produktionsmittel, die technisch-materielle Basis des Internets, besitzen. Man darf nicht vergessen, dass sich das Internet in privatem Besitz befindet. Und der Profit wird hauptsächlich mittels zielgerichteter Werbung generiert. Hier treffen wir auf ein interessantes Phänomen: die Monetarisierung der Hermeneutik. Die klassische Hermeneutik, die nach dem Autor hinter dem Werk suchte,

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wurde von den Theoretikern des Strukturalismus und des Close Reading kritisiert, die fanden, es sei sinnlos, ontologischen Geheimnissen nachzujagen, die per definitionem unzugänglich seien. Heute feiert diese alte, traditionelle Hermeneutik ihre Wiederauf­ erstehung als ein Mittel der kommerziellen Verwertung im Internet, wo alle Geheimnisse enthüllt werden. Hier ist das Subjekt nicht mehr hinter seinem Werk verborgen. Der Mehrwert, den ein solches Subjekt produziert und der von den Internetunternehmen angeeignet wird, ist dieser hermeneutische Wert: Das Subjekt ist nicht nur irgendwie im Internet aktiv, sondern verrät sich selbst als Mensch mit bestimmten Interessen, Wünschen und Bedürfnissen. Die Monetarisierung der klassischen Hermeneutik ist einer der interessantesten Prozesse, die in den letzten Dekaden in Erscheinung getreten sind. Der Künstler als Blogger? Auf den ersten Blick scheint diese permanente Exposition für Künstler mehr positive als negative Aspekte zu beinhalten. Die durch das Internet bedingte Resynchronisierung der Produktion von Kunst mit der Ausstellung von Kunst scheint die Dinge besser und nicht schlimmer zu machen. Diese Resynchronisierung bedeutet in der Tat, dass ein Künstler kein finales Produkt, kein Kunstwerk mehr produzieren muss. Die Dokumentation des Prozesses des Kunstmachens ist bereits das Kunstwerk. Produktion, Präsentation und Distribution von Kunst koinzidieren. Der Künstler wird zum Blogger. Beinahe jeder in der zeitgenössischen Kunstwelt agiert als Blogger – einzelne Künstler, aber auch Kunstinstitutionen, inklusive Museen. Ai Weiwei ist in dieser Hinsicht ein gutes Beispiel. Balzacs unbekannter Künstler, der niemals sein Meisterwerk vollenden konnte, hätte unter diesen Bedingungen keinerlei Problem – die Dokumentation seiner Bemühungen, ein Meisterwerk zu schaffen, wäre sein Meisterwerk. Das Internet funktioniert also mehr wie die Kirche und weniger wie das Museum. Nietzsche liess seiner berühmten Verkündigung «Gott ist tot» die Einsicht folgen: Wir haben den Betrachter verloren. Das Aufkommen des Internets bedeutet die Rückkehr des universellen Betrachters. So scheint es, dass wir ins Paradies zurückgekehrt sind und wie die Heiligen das immaterielle Werk unserer puren Existenz unter dem Blick Gottes verrichten. In der Tat kann das Leben eines Heiligen als eine Art Blog beschrieben werden, der von Gott gelesen wird und nicht einmal durch den Tod des Heiligen unterbrochen wird. Warum also brauchen wir noch Geheimnisse? Warum sind wir gegen die radikale Transparenz? Die Antwort auf diese Frage hängt von der Antwort auf eine grundlegendere Frage in bezug auf das Internet ab: Bewirkt das Internet die Rückkehr Gottes – oder die Rückkehr des malin génie mit dem bösen Blick? Ich würde sagen, dass das Internet nicht das Paradies ist, sondern die Hölle – oder, wenn man will, Paradies und Hölle zugleich. Jean-Paul Sartre sagte, die Hölle seien die anderen – das Leben unter dem Blick der anderen. (Und Jacques Lacan sagte später, dass der Blick des anderen immer ein böser Blick sei.) Sartre


Schweizer Monat 1023  februar 2015  Erzählen

meinte, dass der Blick der anderen uns «objektiviert» – und in diesem Sinne die Möglichkeit der Veränderung, die unsere Subjektivität definiert, negiert. Mit anderen Worten, Sartre verstand das menschliche Subjekt als eines, das gegen die Identität ankämpft, die ihm von der Gesellschaft verliehen wird. Das erklärt, warum er den Blick der anderen als Hölle interpretierte: Im Blick der anderen erkennen wir, dass wir den Kampf verloren haben und Gefangene unserer gesellschaftlich kodierten Identität bleiben. Wir versuchen daher, dem Blick der anderen für eine Weile zu entkommen, um nach einer Periode der Abgeschiedenheit unser «wahres Inneres» zeigen zu können – um in neuer Gestalt, in neuer Form in die Öffentlichkeit zurückzukehren. Diese Zeit der temporären Abwesenheit ist konstitutiv für das, was wir als kreativen Prozess bezeichnen – eigentlich ist sie genau das, was wir den kreativen Prozess nennen. André Breton erzählt eine Geschichte über einen französischen Dichter, der, wenn er schlafen ging, ein Schild an seine Tür heftete, auf dem zu lesen stand: «Bitte um Ruhe – der Dichter arbeitet.» Diese Anekdote fasst das traditionelle Verständnis von kreativer Arbeit zusammen: Kreative Arbeit ist kreativ, weil sie jenseits öffentlicher Kontrolle stattfindet – und sogar jenseits der bewussten Kontrolle durch den Autor. Die Zeit der Abwesenheit konnte Tage, Monate oder Jahre dauern – ja sogar die gesamte Zeit eines Lebens. Erst am Ende der Periode seiner Abwesenheit wurde vom Autor erwartet, ein Werk zu präsentieren (das eventuell auch posthum in seinem Nachlass zu finden war), das dann als kreativ betrachtet wurde, gerade weil es aus dem Nichts hervorgekommen zu sein schien. Mit anderen Worten, kreative Arbeit ist Arbeit, welche die Desynchronisierung zweier Zeiten zur Voraussetzung hat: der Zeit der Arbeit und der Zeit der Präsentation ihrer Resultate. Kreative Arbeit wird in einer Parallelzeit der Abgeschiedenheit, der Geheimhaltung praktiziert

– so dass ein Überraschungseffekt entsteht, wenn diese Parallelzeit wieder mit der Zeit des Publikums synchronisiert wird. Daher wollte das Subjekt der Kunstpraxis traditionellerweise im Verborgenen bleiben, unsichtbar werden, eine Auszeit nehmen. Der Grund dafür war nicht, dass die Künstler irgendein Verbrechen begangen hatten oder irgendein schmutziges Geheimnis vor dem Blick der anderen zu verbergen suchten. Wir erfahren den Blick der anderen nicht dann als böse, wenn er unsere Geheimnisse durchdringen und sie durchsichtig machen will (ein solcher durchdringender Blick wirkt eher schmeichelnd und aufregend), sondern wenn er leugnet, dass wir überhaupt Geheimnisse haben, wenn er uns auf das reduziert, was er sieht und festhält. Die künstlerische Praxis wird oft als individuell und persönlich gesehen. Aber was bedeutet das Individuelle oder Persönliche? Man meint, dass das Individuum sich dadurch auszeichnet, dass es sich von anderen unterscheidet. (Etwa so: In einer totalitären Gesellschaft sind alle gleich. In einer demokratischen, pluralistischen Gesellschaft sind alle unterschiedlich und werden in ihrer Verschiedenheit respektiert.) Hier allerdings geht es weniger um den Unterschied zwischen mir und den anderen, sondern vielmehr um den Unterschied zwischen mir und mir selbst – um die Weigerung, nach den allgemeinen Kriterien der Identifizierung identifiziert zu werden. Tatsächlich sind uns die Parameter, die unsere gesellschaftlich kodierte, namentliche Identität bestimmen, vollkommen äusserlich. Wir haben uns unsere Namen nicht ausgesucht, wir waren am Ort und zur Zeit unserer Geburt nicht bewusst anwesend, wir haben den Namen der Stadt oder der Strasse, in der wir wohnen, nicht ausgewählt, wir haben uns weder unsere Eltern ausgesucht noch unsere Nationalität usw. Alle diese externen Parameter unserer Existenz haben für uns keine Bedeutung – sie korrelieren mit keiner subjektiven Evidenz. Sie

«Kreative Arbeit wird in einer Parallelzeit der Abgeschiedenheit, der Geheimhaltung praktiziert – so dass ein Überraschungseffekt entsteht, wenn diese Parallelzeit wieder mit der Zeit des Publikums synchronisiert wird.» Boris Groys

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«Der Strom der Reproduktionen überflutet das Museum – und die individuelle Identität geht in dieser Flut unter.» Boris Groys

Bild: fotolia.

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zeigen an, wie andere uns sehen, aber sie sind völlig irrelevant für unser inneres, subjektives Leben. Die Suche nach dem wahren Ich Die modernen Künstler revoltierten gegen die Identitäten, die ihnen von anderen auferlegt wurden – von der Gesellschaft, vom Staat, von der Schule, von den Eltern. Sie forderten das Recht auf souveräne Selbstidentifizierung. Die moderne Kunst war die Suche nach dem «wahren Ich». Dabei geht es nicht darum, ob das wahre Ich real ist oder bloss eine metaphysische Spekulation. Die Frage der Identität ist keine Frage der Wahrheit, sondern eine Frage der Macht. Wer hat die Macht über meine Identität – ich oder die Gesellschaft? Überhaupt: Wer besitzt die Kontrolle über die gesellschaftliche Taxonomie, über die gesellschaftlichen Mechanismen der Identifizierung – ich oder die staatlichen Institutionen? Das bedeutet, dass der Kampf gegen meine öffentliche Person und meine namentliche Identität im Namen meiner souveränen Person, meiner souveränen Identität, auch eine öffentliche, politische Dimension hat, da er sich gegen die herrschenden Mechanismen der Identifizierung richtet – gegen die herrschende gesellschaftliche Taxonomie mit all ihren Unterteilungen und Hierarchien. Aus diesem Grund sagten die modernen Künstler immer: Schau nicht mich an. Schau auf das, was ich tue. Das ist mein wahres Ich – oder vielleicht gar kein Ich, sondern die Abwesenheit des Ich. Später gaben die Künstler mehrheitlich die Suche nach dem verborgenen, wahren Ich auf. Stattdessen begannen sie, ihre namentlichen Identitäten als Readymades zu benutzen – und ein kompliziertes Spiel mit ihnen zu treiben. Aber auch diese Strategie setzt immer noch eine Distanzierung von den namentlichen, gesellschaftlich kodierten Identitäten voraus, die es erlaubt, diese Identitäten künstlerisch anzueignen, zu transformieren und zu manipulieren. Die Moderne war die Zeit des Verlangens nach der Utopie. Die utopische Erwartung zielt auf nichts weniger als auf den Erfolg und die gesellschaftliche Anerkennung des Projekts der Freilegung oder der Konstruktion des wahren Ich. Das individuelle Projekt der Suche nach dem wahren Ich nimmt in den avantgardistischen Bewegungen der Moderne eine politische Bedeutung an: Das künstlerische Projekt wird hier zum revolutionären Projekt, das auf die totale Transformation der Gesellschaft und die Abschaffung der existierenden Taxonomien zielt. Hier soll das wahre Ich wieder vergesellschaftet werden – durch die Schaffung der wahren Gesellschaft. Das museale System verhält sich ambivalent in bezug auf dieses utopische Verlangen. Einerseits bietet das Museum dem Künstler die Chance, seine eigene Zeit mit all ihren Taxonomien und namentlichen Identitäten zu transzendieren. Das Museum verspricht, das Werk des Künstlers in die Zukunft zu tragen – was ein utopisches Versprechen ist. Allerdings bricht das Museum das Versprechen im selben Moment, in dem es das Versprechen erfüllt. Das Werk des Künstlers wird in die Zukunft getragen – aber sein Werk wird wieder mit seiner namentlichen Identität ver-

knüpft. Im Museumskatalog lesen wir den gleichen Namen, das gleiche Geburtsdatum, den gleichen Geburtsort, die gleiche Natio­ nalität usw. Aus diesem Grund wollte die moderne Kunst das ­Museum zerstören. Das Internet verrät die Suche nach dem wahren Ich allerdings auf eine noch viel radikalere Weise: Das Internet schreibt diese Suche von Anfang an – und nicht erst an ihrem Ende – in die namentliche, gesellschaftlich kodierte Identität ein. Im gleichen Zug werden die utopischen Projekte historisiert. Wir beobachten dies heute daran, dass der ehemals kommunistische Teil der Menschheit renationalisiert und wieder in die russische, chinesische oder sonstige nationale Geschichte eingeschrieben wird. In der sogenannten postmodernen Periode wurde die Suche nach dem wahren Ich und nach der entsprechenden Gesellschaft, in der sich dieses wahre Ich zeigen könnte, für obsolet erklärt. In diesem Sinne sprechen wir von der Postmoderne als einer postutopischen Zeit. Aber das ist nicht ganz richtig: Auch die Postmoderne gab den Kampf gegen die namentliche Identität des Subjekts nicht auf – tatsächlich radikalisierte sie diesen Kampf. Die Postmoderne hatte ihre eigene Utopie: die Utopie einer Selbstauflösung des Subjekts in den unendlichen, anonymen Flüssen der Energie, des Begehrens oder des Zeichenspiels. Anstatt das namentliche, gesellschaftliche Ich durch eine künstlerische Freilegung des wahren Ich aufzuheben, investierte die postmoderne Kunsttheorie ihre Hoffnungen in einen völligen Identitätsverlust durch den Prozess der Reproduktion: eine andere Strategie, die das gleiche Ziel verfolgt. Die postmoderne utopische Euphorie, die sich am Begriff der Reproduktion entzündete, lässt sich mit der folgenden Passage aus dem Buch «Über die Ruinen des Museums» von Douglas Crimp illustrieren. In diesem vieldiskutierten Buch behauptet Crimp mit Bezug auf Walter Benjamin: «Durch reproduzierende Techniken verzichtet die postmodernistische Kunst auf die Aura. Die Fiktion vom schöpferischen Subjekt weicht der offenen Beschlagnahme, dem Zitat, dem Exzerpt, der Akkumulation und der Wiederholung schon vorhandener Bilder. Begriffe wie Originalität, Authentizität und Präsenz, die dem geordneten Diskurs des Museums eigen sind, werden unterminiert.»1 Der Strom der Reproduktionen überflutet das Museum – und die individuelle Identität geht in dieser Flut unter. Eine Zeitlang wurden diese postmodernen utopischen Träume von der Auflösung aller Identitäten im unendlichen Zeichenspiel auf das Internet projiziert. Das globalisierte Rhizom trat an die Stelle der kommunistischen Menschheit. Das Internet: der Utopienfriedhof Allerdings ist das Internet nicht zum Ort der Realisierung der postmodernen Utopien geworden, sondern zu deren Friedhof – so wie das Museum zum Friedhof der modernen Utopien wurde. Der 1

Douglas Crimp: «Über die Ruinen des Museums» (Verlag der Kunst, 1996), S. 80.

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«Archive werden oft als Mittel zur Konservierung der Vergangenheit betrachtet – zur Präsentation der Vergangenheit in der Gegenwart. Zugleich aber sind Archive Maschinen, mit denen die Gegenwart in die Zukunft transportiert werden kann.» Boris Groys

wichtigste Aspekt des Internets besteht nämlich darin, dass es die Beziehung zwischen Original und Kopie, wie sie von Benjamin beschrieben wurde, fundamental verändert – indem es den anonymen Prozess der Reproduktion kalkulierbar macht und personalisiert. Im Internet hat jedes frei fliessende Zeichen eine Adresse. So wird der deterritorialisierte Datenfluss reterritorialisiert. Walter Benjamin unterschied bekanntlich zwischen dem Original, das durch sein «Hier und Jetzt» definiert ist, und der Kopie, die ortlos, topologisch unbestimmt ist und kein «Hier und Jetzt» besitzt. Die heutige digitale Reproduktion ist in keinerlei Hinsicht ortlos, ihre Zirkulation ist nicht topologisch unbestimmt, und sie zeigt sich nicht in Form einer Vielheit wie die von Benjamin beschriebene Reproduktion. Jede Internetadresse einer Datei weist dieser Datei einen Ort zu. Die gleiche Datei mit einer anderen Adresse ist eine andere Datei. Hier geht die Aura der Originalität nicht verloren, sondern hier wird eine Aura durch eine andere Aura ersetzt. Im Internet produziert die Zirkulation der digitalen Daten keine Kopien, sondern neue Originale. Und diese Zirkulation ist vollständig verfolgbar. Einzelne Daten werden niemals deterritorialisiert. Zudem haben jedes Internetbild und jeder Internettext nicht nur ihren spezifischen eindeutigen Ort, sondern auch eine eindeutige Zeit ihres Erscheinens. Das Internet regis­ triert jeden Moment, in dem eine Datei angeklickt, gelikt oder geunlikt, transferiert oder transformiert wird. Dementsprechend kann ein digitales Bild nicht einfach kopiert werden (wie ein analoges, mechanisch reproduzierbares Bild kopiert werden kann), sondern es kann nur immer wieder neu ausgeführt [staged] oder aufgeführt [performed] werden. Und jede Aufführung [performance] einer Datei wird datiert und archiviert. Während der Epoche der mechanischen Reproduktion haben wir viele Reden über die Abdankung des Subjekts gehört. Wir hörten von Heidegger, dass «die Sprache spricht», und weniger, dass

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ein Individuum die Sprache benutzt. Später lehrten uns die Dekonstruktion von Derrida und die Maschinen des Begehrens von Deleuze, dass wir uns von unseren letzten Illusionen hinsichtlich der Möglichkeit, die Subjektivität zu identifizieren und zu stabilisieren, befreien müssen. Heute allerdings sind unsere «digitalen Seelen» wieder verfolg- und beobachtbar geworden. Unsere Erfahrung mit der Gegenwart ist nicht so sehr durch die Präsenz von Dingen uns gegenüber als vielmehr durch unsere Präsenz dem Blick eines verborgenen und unbekannten Beobachters gegenüber bestimmt. Wir kennen diesen Beobachter nicht. Wir haben keinen Zugang zu seinem Bild – wenn er überhaupt ein Bild hat. Mit anderen Worten, der verborgene universale Beobachter des Internets kann nur als Subjekt einer universalen Verschwörung gedacht werden. Die Reaktion auf diese universale Verschwörung nimmt notwendigerweise die Form einer Gegenverschwörung an: Man muss seine Seele vor dem bösen Blick schützen. Die gegenwärtige Subjektivität kann nicht länger auf ihre Auflösung im Fluss der Zeichen vertrauen, weil dieser Fluss kontrollierbar und verfolgbar geworden ist. So entsteht ein neuer utopischer Traum – der Traum unserer Gegenwart. Es ist der Traum eines nicht entschlüsselbaren Schlüsselworts, das unsere Subjektivität für immer schützen kann. Wir streben danach, uns als ein Geheimnis zu definieren, das noch geheimer ist als das ontologische Geheimnis – ein Geheimnis, das nicht einmal Gott entschlüsseln kann. Das paradigmatische Beispiel für einen solchen Traum kann in Wikileaks gesehen werden. Als Ziel von Wikileaks wird oft der freie Datenfluss gesehen, die Etablierung eines freien Zugangs zu Staatsgeheimnissen. Zugleich aber demonstriert die Praxis von Wikileaks, dass universaler Zugang nur mittels einer universalen Verschwörung geschaffen werden kann. In einem Interview sagt Julian Assange: «Wenn Sie und ich uns auf einen bestimmten Chiffrierschlüssel einigen und dieser mathematisch stark ist, dann kann keine


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Kraft, die von einer Supermacht auf diesen Code angesetzt ist, ihn knacken. So kann es für einen Staat, der etwas gegen ein Individuum unternehmen will, einfach unmöglich sein, dies zu tun – und in diesem Sinne sind Mathematik und Individuen stärker als Supermächte.»2 Transparenz basiert hier auf radikaler Intransparenz. Die universale Offenheit basiert auf der perfekten Schliessung. Das Subjekt verbirgt sich, wird unsichtbar, nimmt eine Auszeit, um tätig zu werden. Die Unsichtbarkeit der gegenwärtigen Subjektivität ist gewährleistet, insofern sein Verschlüsselungscode nicht gehackt werden kann – insofern das Subjekt anonym, nichtidentifizierbar bleibt. Allein die passwortgeschützte Unsichtbarkeit garantiert dem Subjekt die Kontrolle über seine digitalen Operationen und Manifestationen. Hier spreche ich freilich über das Internet, wie wir es heute kennen. Ich erwarte allerdings, dass die kommenden Cyberkriege das Internet radikal verändern werden. Diese Cyberkriege kündigen sich bereits an – und sie werden das Internet als dominierenden Marktplatz und Hauptkommunikationsmittel zerstören oder wenigstens ernsthaft beschädigen. Die gegenwärtige Welt ähnelt stark der Welt des 19. Jahrhunderts. Diese Welt war von offenen Märkten, wachsendem Kapitalismus, Prominentenkultur, Rückkehr der Religion, Terrorismus und Gegenterrorismus geprägt. Der Erste Weltkrieg zerstörte diese Welt und machte die Politik der offenen Märkte unmöglich. Letztendlich erwiesen sich die geopolitischen und militärischen Interessen der einzelnen Nationalstaaten im Vergleich zu den ökonomischen Interessen als weitaus stärker. Es folgte eine lange Periode der Kriege und der Revolutionen. Sehen wir, was uns in naher Zukunft erwartet. Das Archiv: die erlösende Zeitmaschine Ich möchte mit einer eher allgemeinen Bemerkung zum Verhältnis von Utopie und Archiv schliessen. Wie ich zu zeigen versucht habe, bezieht sich der utopische Impuls immer auf den Wunsch des Subjekts, aus seiner geschichtlich bestimmten Identität auszubrechen, seinem Platz in der historischen Taxonomie zu entfliehen. In gewisser Weise verleiht das Archiv dem Subjekt die Hoffnung, seine eigene Gegenwart zu überleben und sein wahres Ich in der Zukunft zu enthüllen, weil das Archiv verspricht, die Texte oder Kunstwerke dieses Subjekts nach seinem Tod zugänglich zu machen. Dieses utopische oder zumindest heterotopische Versprechen ist die Fähigkeit des Subjekts, eine Distanz und eine kritische Haltung in bezug auf seine eigene Zeit und sein eigenes unmittelbares Publikum zu gewinnen. Archive werden oft als Mittel zur Konservierung der Vergangenheit betrachtet – zur Präsentation der Vergangenheit in der Gegenwart. Zugleich aber sind Archive Maschinen, mit denen die Gegenwart in die Zukunft transportiert werden kann. Künstler Hans Ulrich Obrist: «In Conversation with Julian Assange, Part I». In: e-flux journal 25, Mai 2011. Web: http://www.e-flux.com/journal/ in-conversation-with-julian-assange-part-i/

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machen ihre Arbeit nicht nur für ihre eigene Zeit, sondern auch für die Kunstarchive – für die Zukunft, in der die Werke der Künstler präsent bleiben. Daraus ergibt sich der Unterschied zwischen Politik und Kunst. Künstler und Politiker teilen sich den gemeinsamen öffentlichen Raum des «Hier und Jetzt», und beide wollen sie die Zukunft gestalten. Dies verbindet Kunst und Politik. Doch Politik und Kunst gestalten die Zukunft auf jeweils unterschiedliche Weise. Die Politik versteht die Zukunft als Resultat von Handlungen, die hier und jetzt stattfinden. Politisches Handeln muss effizient sein, muss Resultate produzieren, muss das gesellschaftliche Leben transformieren. Anders gesagt, die politische Praxis gestaltet die Zukunft – aber sie verschwindet in und mit dieser Zukunft, sie wird von ihren eigenen Resultaten und Wirkungen vollständig absorbiert. Das Ziel der Politik besteht darin, obsolet zu werden – und Platz für die Politik der Zukunft zu machen. Künstler hingegen arbeiten nicht nur im öffentlichen Raum ihrer Zeit. Sie arbeiten auch innerhalb der heterogenen Räume der Kunstarchive, wo ihre Werke neben den Werken der Vergangenheit und der Zukunft stehen. Kunst, wie sie in der Moderne funktionierte und auch heute noch funktioniert, verschwindet nicht mit getaner Arbeit. Das Kunstwerk bleibt vielmehr in der Zukunft gegenwärtig. Und genau diese antizipierte gegenwärtige Zukunft der Kunst verschafft ihr den Einfluss auf die Zukunft, gibt ihr die Möglichkeit, die Zukunft zu gestalten. Die Politik gestaltet die Zukunft durch ihr eigenes Verschwinden. Die Kunst gestaltet die Zukunft durch ihre eigene verlängerte Gegenwart. Dies schafft eine Kluft zwischen Kunst und Politik – eine Kluft, die sich in der tragischen Geschichte der Beziehung zwischen linker Kunst und linker Politik im zwanzigsten Jahrhundert oftmals gezeigt hat. Unsere Archive sind sicherlich historisch strukturiert. Und unser Umgang mit den Archiven steht immer noch in der historistischen Tradition des 19. Jahrhunderts. So tendieren wir dazu, Künstler posthum in die historischen Kontexte einzuschreiben, aus denen sie eigentlich ausbrechen wollten. In dieser Hinsicht scheinen die Kunstsammlungen aus der Zeit vor dem Historismus des 19. Jahrhunderts – Sammlungen, die nichts als Sammlungen schöner Dinge sein wollten – nur auf den ersten Blick naiv zu sein. Tatsächlich werden sie dem ursprünglichen utopischen Impuls sehr viel gerechter als ihre hochentwickelten historistischen ­G egenstücke. Mir scheint, dass wir uns heute mehr und mehr ­einer nichthistoristischen Annäherung an die Vergangenheit zuwenden. Wir interessieren uns mehr für die Dekontextualisierung und das Reenactment von individuellen Phänomenen der Vergangenheit als für deren historische Rekontextualisierung. Und wir interessieren uns mehr für die utopischen Bestrebungen, die Künstler aus ihren historischen Kontexten herausführen, als für die historischen Kontexte selbst. Dies scheint mir eine gute Entwicklung zu sein, weil sie das utopische Potential der Archive stärkt und das Potential für deren Verrat an den utopischen Versprechen schwächt – ein Potential, das jedem Archiv inhärent ist, egal wie es strukturiert ist. �

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Essenzen aus dem Magazin

Man nehme ein Bundesamt, mische viel guten Willen dazu und lasse alles kräftig aufgehen: Ganze 476 Volkserzieher sind heute darauf bedacht, unsere Gesundheit zu verbessern – und in die Rezepte von Kantinen, Bäckern und Wirten zu pfuschen.

Messen Sie sich nicht mit Zürcher Bordstei­ nen oder Abfalleimern. Nie werden Sie deren Perfektion erreichen. (S. 39)

(S. 55)

Wenn Sie fürs neue Jahr den Vorsatz gefasst haben, eine Führungskraft zu werden, haben Sie die Latte hoch gelegt. Mit mehr als nur gutem Willen ist sie aber zu überwinden. (S. 43)

«Ich bin dann mal weg!» Wer das sagt, ist auf dem Gipfel der Freiheit... S. 69

Mehr Nannys brauchen unsere Staaten – zu­ mindest wenn sie hart im Nehmen sind, sich Starkes zum Frühstück gönnen und keinen Deut auf die gute Gesundheit geben. (S. 48)

... aber noch lange nicht dem Freigebigkeit ist eine Tugend, die man Steueramt vor allem an anderen schätzt. entkommen. (S. 62 f.)

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Ein Wolf im Schafspelz bleibt ein Raubtier. Eine wohlmeinende Anleitung bleibt eine Entmündigung. Die Freiheit bleibt ein bedrohtes Gut – auch wenn es Wohltaten sind, die sie einschränken. (S. 50)

Garantiert ein Minimum an Fremdbestimmung maximale Souveränität? S. 30

Eine der grossen Ungerechtigkeiten der Welt besteht darin, dass Optimisten nicht ernst genommen werden. S. 36

Es gibt einen Unterschied zwischen einem Pissoir und einem Staat: Nur das erstere darf die Trefferquote mittels Psychotricks erhöhen. (S. 60)

Hedge Fonds oder Hizbollah? Einerlei. Im gedanklichen Mainstream tummelt sich der freie Markt unter den verwerflichsten Verbrechern. (S. 40)

«Die Politik gestaltet die Zukunft durch ihr eigenes Verschwinden. Die Kunst gestaltet die Zukunft durch ihre eigene verlängerte Gegenwart.» (S. 70)

Kann man «ein bisschen» manipulieren? Und soll man es dürfen, um das Leben der Menschen zu verlängern? (Und ist ein längeres Leben ein besseres?) (S. 63) 79


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A Nora Schmid im «Pfuusbus»

uf einem verlassenen Platz steht der parkierte Bus. Leicht versteckt hinter einer Baumzeile, bemerkbar zu dieser Uhrzeit bloss wegen der hellen Lichterketten, die mir schon von weitem entgegenleuchten. In der Leere und Stille dieser eiskalten Winternacht strahlen sie lockende Wärme aus, die sich allerdings in der Dunkelheit des Waldes jenseits des Albisgüetli rasch wieder verliert. Ich schiebe die Eingangsplane zur Seite, schaue mich im warmen Vorzelt des «Pfuusbus» um. Eine Dose Kekse steht auf einem Sperrmülltisch und aus dem Inneren des alten Camperbusses dringt Gemurmel. Die schlichte Dekoration erinnert an vergangene Festtage, und Essensdüfte strömen aus der Küche. Pasta mit Fleischsauce, denke ich – hole Luft und tauche für ein paar Stunden als Helferin in eine Welt, die mir fremd, für andere aber harter Alltag ist. Die Holztreppe hinauf zum Bus mündet in eine winzige Küche. Fleissig kochen die Freiwilligen des Küchenteams für die unbestimmte Anzahl Gäste, die allabendlich aus der Stadt und den umliegenden Wäldern zu Pfarrer Siebers «Pfuusbus» wandern. Gestalten, die schon bald langsam und wortkarg die Treppe hochgestapft kommen. Menschen mit gezeichneten Gesichtern,

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aus denen müde Augen konsequent an mir vorbeischauen, Mienen so leer wie ihre inneren Batterien und nicht selten auch verdeckt von lang nicht mehr geschnittenen Haaren. Teller für Teller nehmen sie hungrig entgegen, nur um sie mir innerhalb kürzester Zeit für den Nachschlag entgegenzustrecken. Noch immer verlieren sie kaum ein Wort, warum auch? Es geht hier um die Befriedigung des elementarsten menschlichen Bedürfnisses. Aus Hunger wird Sättigung. Dem kalten Nichts weicht nun immerhin warmes Essen. Und wer redet, denke ich, ist immer auch schon satt. Ich muss zwei ziehen und dann eine Runde aussetzen. Zwei «Pfuuser» haben mich zu einer Partie UNO eingeladen und schnell in ihre Mitte aufgenommen. Erbittert wird um jede Karte gestritten. Egal ob mit Schummeln, der plötzlichen Erhöhung des Spieltempos, bösen Blicken oder blöden Sprüchen: hier wird mit allen Mitteln gekämpft. Mein leicht alkoholisierter Sitznachbar versucht es statt mit ausgeklügelter Taktik lieber mit Provokation. Und mit geringem Erfolg. Aber wie im Flug vergeht die Zeit – und die abgewetzten, bunten Karten verdrängen jeden noch so grauen Alltag. Kurz vor 23.00 Uhr löst sich die Runde allmählich auf. Abgesehen von einzelnen Schnarchern kehrt langsam Ruhe ein im «Pfuusbus». Ich bleibe alleine mit den Hüttenwarten Andreas und Martin zurück. Nun beginne das lange Warten, erzählen mir die zwei. Stets aufmerksam, sich der Verantwortung gegenüber diesen Schlafenden bewusst, hoffen sie auf eine ruhige und ereignislose Nacht. Doch die Eingangsplane wird ein weiteres Mal zur Seite geschoben, und eine Frau tritt ein. Jung sind ihre Augen. Aber markante Narben zeichnen ihre zierlichen Arme, ein ehemals weisser Verband hält den linken Unterarm, ihr Gesicht ist vor Schmutz kaum erkennbar. Mit einer Hand wischt sie sich eine fettige Strähne aus der Stirn und gibt damit gleichzeitig den Blick frei auf eine schlechtverheilte Wunde am Kinn. Trübe, in tiefen Höhlen liegende Augen begegnen meinem Blick. Schnell richte ich einen Essensteller her und überreiche ihn ihr. Sie nickt mir kurz zu, dreht sich um, begibt sich in eine Polsterecke des Busses und vertieft sich in ein Lustiges Taschenbuch. Es ist ihr eigenes, fest umklammert hält sie es, liest langsam Wort für Wort, Satz für Satz, um dann zur nächsten Sprechblase überzugehen. Ein Lächeln umspielt die Lippen. Kurz glätten sich dann die verhärteten Gesichtszüge, bevor die ausdruckslose Maske wieder das Regime übernimmt. Entenhausen als Hosentaschen-Refugium. Eine heile, vorstellbare Welt als kurze Flucht vor der echten, aber unvorstellbar zerrütteten. Wie Kinder seien viele, erzählen mir Andreas und Martin. Nie wisse man, wie es ihnen wirklich gehe, was erfunden und was wahr sei. Aber um das gehe es hier ja auch nicht. Vielmehr stehe das Erzählen, das Abladen und das Ernstgenommenwerden der eigenen Bedürfnisse im Vordergrund. Im «Pfuusbus» können sie kurz durchatmen, auftanken. Die Welt jenseits des Busses vergessen. Wenigstens für ein paar Stunden. �


Pfuusbus, photographiert von Nora Schmid.

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ausblick  Schweizer Monat 1023  Februar 2015

In den nächsten Monaten

Impressum «Schweizer Monat», Nr. 1023, 95. Jahr, Ausgabe Februar 2015 ISSN 0036-7400 Die Zeitschrift wurde 1921 als «Schweizerische Monatshefte» gegründet und erschien ab 1931 als «Schweizer Monatshefte». Seit 2011 heisst sie «Schweizer Monat». VERLAG SMH Verlag AG HERAUSGEBER & CHEFREDAKTOR René Scheu (RS): rene.scheu@schweizermonat.ch REDAKTION Serena Jung (SJ/Bildredaktorin & persönliche Mitarbeiterin des Herausgebers): serena.jung@schweizermonat.ch Claudia Mäder (CM/Redaktorin): claudia.maeder@schweizermonat.ch Florian Rittmeyer (FR/Stv. Chefredaktor): florian.rittmeyer@schweizermonat.ch Michael Wiederstein (MW/Leitender Kulturredaktor): michael.wiederstein@schweizermonat.ch PRAKTIKUM Florian Oegerli (FO), Nora Schmid (NS) DOSSIER Jede Ausgabe enthält einen eigenen Themenschwerpunkt, den wir zusammen mit einem Partner lancieren. Wir leisten die unabhängige redaktionelle Aufbereitung des Themas. Der Dossierpartner ermöglicht uns durch seine Unterstützung dessen Realisierung.

Nassim Nicholas Taleb, photographiert von Sarah Josephine Taleb.

Mit Haut und Haaren

KORREKTORAT Roger Gaston Sutter Der «Schweizer Monat» folgt den Vorschlägen zur Rechtschreibung der Schweizer Orthographischen Konferenz (SOK), www.sok.ch. GESTALTUNG & PRODUKTION Pascal Zgraggen: pascal.zgraggen@aformat.ch MARKETING & VERKAUF Urs Arnold: urs.arnold@schweizermonat.ch

Nassim Nicholas Taleb über echte Verantwortung

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Gleichheit über alles

ADMINISTRATION/LESERSERVICE Anneliese Klingler (Leitung): anneliese.klingler@schweizermonat.ch Jeanne Schärz: jeanne.schaerz@schweizermonat.ch

Hans Ulrich Gumbrecht deutet die sozialdemokratische Gegenwart

Mündige Bürger im zweckmässigen Staat Hans Widmer über Sinn und Nutzen der direkten Demokratie

Kriegstreiber Langeweile Sarah Pines über junge Menschen, die vor lauter Ennui den grossen Knall herbeisehnen

FREUNDESKREIS Franz Albers, Georges Bindschedler, Ulrich Bremi, Elisabeth Buhofer, Peter Forstmoser, Titus Gebel, Annelies Haecki-Buhofer, Manfred Halter, Thomas Hauser, Christian Huber, Thomas W. Jung, Creed Künzle, Fredy Lienhard, Heinz Müller-Merz, Daniel Model, Ulrich Pfister, Inèz und Hans Scherrer, Ullin Streiff, Stiftung für Abendländische Ethik und Kultur. Wir danken der Stiftung FUP für die Unterstützung publizistischer Belange und öffentlicher Veranstaltungen. BOTSCHAFTER DES MAGAZINS Urs Heinz Aerni ADRESSE «Schweizer Monat» SMH Verlag AG Rotbuchstrasse 46 8037 Zürich +41 (0)44 361 26 06 www.schweizermonat.ch ANZEIGEN anzeigen@schweizermonat.ch PREISE Jahresabo Fr. 195.– / Euro 143,– 2-Jahres-Abo Fr. 350.– / Euro 260,– Abo auf Lebenszeit / auf Anfrage Einzelheft Fr. 22.– / Euro 18,– Studenten und Auszubildende erhalten 50% Ermässigung auf das Jahresabonnement. DRUCK pmc Print Media Corporation, Oetwil am See www.pmcoetwil.ch

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