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D o s s i e r L e i s t u n g s g e s e ll s c h a f t O d e r w i e m a n d a s b e s t e v o n s i c h g i b t

Ausgabe 992 Dezember 2011/Januar 2012 CHF 18.50 / Euro 13.00

D i e Au t o r e n z e i t s c h r i f t f ü r P o l i t i k , W i r t s c h a f t u n d K u lt u r

Frei, Frau, Firma

Ayn Rand, Ambitionen und Ich-AG: Kolumnistin Xenia Tchoumitcheva im Gespräch

Auf dem Weg zur Spitze Ueli Steck, Didier Sornette und Benedikt Goldkamp über höhere Leistungsbereitschaft

Die verfrühte Nation Dieter Freiburghaus über ein modernes Land, das nie modern sein wollte

Der Kurator Hans Ulrich Obrist ist der Marathonmann der zeitgenössischen Kunst


Entscheidend ist nicht, wie, sondern was Sie lesen.

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Schweizer Monat 992 Dezember 2011/Januar 2012

editorial

Editorial

Sie schreibt die Kolumne in dieser Zeitschrift, auf die wir am öftesten angesprochen werden. Sie ist jung, ambitioniert, diszipliniert und belesen. Und sie hat Mut, wenn sie sich in Zeiten eines modischen Antikapitalismus als «überzeugte Kapitalistin» und «radikale Individualis­ tin» outet: Xenia Tchoumitcheva. Zum Interview erscheint sie perfekt gestylt in einem klas­ sischen grünen Kleid. Sie wünscht sich ein offenes, direktes Gespräch. Dabei gibt sich die junge Ökonomin selbstbewusst und abgeklärt, auch bezüglich ihres bisherigen Geschäftsmodells. Schönheit, sagt Tchoumitcheva, sei bloss eine «schöne Illusion». Lesen Sie mehr im grossen Gespräch ab S. 66 und wie immer in der Kolumne auf S. 13.

René Scheu Herausgeber

Didier Sornette ist ein Multitalent: Professor für Entrepreneurial Risks, für Physik, Geophysik an der ETH Zürich und für Finanzwissenschaften am Swiss Finance Institute. Sein Arbeits­ instrument ist das Gehirn. Wir wollten von ihm wissen: Was muss man tun, um eine konstant hohe Denkleistung abzurufen? Herausgekommen ist eine detaillierte Anleitung zur mentalen Leistungsoptimierung, sozusagen ein modernes Memorandum über das bewährte mens sana in corpore sano, für Studenten, Unternehmer und andere engagierte Menschen. Mehr zum Thema Leistungsgesellschaft ab S. 29. Mit der «postnationalen Konstellation» (Jürgen Habermas) ist es in der EU nicht weit her. Es sind die alten Nationalstaaten, die auch in Krisenzeiten ihre Eigeninteressen vertreten. Anders die Schweiz. Sie war und ist kein eigentlicher Nationalstaat, der sich auf eine gemeinsame Herkunft oder Sprache berufen kann, sondern wirklich ein Gebilde sui generis. Lesen Sie im Essay von Dieter Freiburghaus ab S. 15, warum die Schweiz nicht zur EU passt. Fast täglich ereilen uns Meldungen vom Klimawandel und dessen Folgen. Es ist eine Binsen­ wahrheit zu sagen, dass sich das Klima wandelt – die Erde ist ein komplexes dynamisches System. Die Frage ist jedoch: Steuern wir auf eine Wärmeperiode zu? Und beeinflusst der Mensch durch den CO 2-Ausstoss das Klima nachhaltig? Wissenschaftskabarettist Vince Ebert, Klima­s keptiker Fred Singer und ETH-Professor Andreas Fischlin widmen sich ab S. 18 einem aufgeheizten Thema. Hans Ulrich Obrist ist eine Art Kunstmanager. Der heutige Welt-Kurator begann seine Karriere mit einer Ausstellung in der eigenen Küche, heute begleitet der gebürtige Thurgauer Kunstaus­ stellungen auf der ganzen Welt. Im Gespräch mit Johannes M. Hedinger ab S. 60 spricht er über seinen Schaffensmodus. René Scheu

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inhalt

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Inhalt

Anstossen 7 Occupy, Habermas & Co.: Über Demokratie und Markt René Scheu 8 Freie Wissenschaft ist nicht korrekt Norbert Bolz 9 Einmal im Jahr sind Ökonomen die Helden Karen Horn 10 Entweihung Wolfgang Sofsky 12 Der neue Extremismus lauert in der Mitte Christian P. Hoffmann 13 Die gute alte Zeit ist schlechter als ihr Ruf! Xenia Tchoumitcheva

Weiterdenken 15 Die verfrühte Nation Dieter Freiburghaus 18

Luft anhalten für das Klima Vince Ebert

21 It’s the sun, stupid! Michael Wiederstein und Florian Rittmeyer treffen Fred Singer 26 Herr Singer, die Wahrheit und der Klimawandel Andreas Fischlin

Vertiefen 29

Leistungsgesellschaft oder Wie man das Beste von sich gibt

32 1_Die dünne Luft am Gipfel Michael Wiederstein und Markus Rottmann treffen Ueli Steck 38 2_Du kannst dein Leben steigern Didier Sornette 50 3_Deine Mutter! Michael Klonovsky

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53 4_Die den Karren ziehen Benedikt Goldkamp 56 5_Fürchtet euch nicht! Tim Harford

Begegnen 61 Schmetterlingseffekt Johannes M. Hedinger trifft Hans Ulrich Obrist 66 Sie nannten sie Dagny René Scheu trifft Xenia Tchoumitcheva

Erzählen 72 Bildessay: Weihnachtszirkus Hanspeter Schiess 76 Autonome Republik Dürrenmatt Silvia Hess zu Peter Rüedi 77 Neues Avantgardevergnügen Michael Pfister zu Bruce Bégout 79 Die politische Ordnung Daniel Brühlmeier zu Francis Fukuyama 80 Nacht des Monats mit Roland Wagner Michael Wiederstein


Schweizer Monat 992 Dezember 2011/Januar 2012

inhalt

32 Irgendwann schrieb der Wetterdienst: der Sturm kommt schon morgens um sechs! Oben auf dem Grat angekommen, wo die alternative Route zum Basislager abzweigt, musste ich mich erneut fragen: schaffe ich den Gipfel? Bin ich fit genug? Bleibt genug Zeit? Ueli Steck

Das Kyoto-Protokoll basiert im wesentlichen auf der Idee, zwei Billionen Euro für Massnahmen auszugeben, die dafür sorgen, dass Bangladesch nicht 2050 absäuft – sondern erst fünf Jahre später. Vince Ebert auf Seite

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Wenn Unternehmen Lebenswerke sind und der Unternehmer langfristig auf Gedeih und Verderb zu seiner Firma steht, lösen sich viele gesellschaftliche Konflikte der heutigen Zeit von selbst. Benedikt Goldkamp auf Seite

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In der perversen Abweichung liegt die letzte Chance des Widerstands gegen die Routine. Michael Pfister auf Seite

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38 Ich behaupte, dass es möglich ist, jeden Tag in vollen Zügen zu geniessen, zu spielen, auf nahezu 100 Prozent unserer möglichen Höchstleistung zu arbeiten. Wir sollten uns nicht mit weniger zufrieden geben. Didier Sornette Titelbild: Xenia Tchoumitcheva, photographiert von Thomas Burla.

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Klartext. Seit 1741 Weder die Realität im politischen Weltgeschehen noch die Entwicklungen an den Finanzmärkten geben fortwährend Anlass zu Freudensprüngen. Deshalb gilt es, immer wieder über die Auswirkungen widriger Rahmenbedingungen und über zu optimistische, aber auch zu pessimistische Einschätzungen und daraus folgende Übertreibungen nachzudenken. Lernen Sie die gesunde Skepsis aus St. Gallen kennen. Im regelmässig publizierten Anlagekommentar präsentieren Wegelin & Co. Privatbankiers ihre ganz persönliche Meinung zum Geschehen an den internationalen Finanzmärkten. Lesen und hören Sie den aktuellen Anlagekommentar unter www.wegelin-anlagekommentar.ch

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Notizbuch

Ohne Scheuklappen

Occupy, Habermas & Co.: Über Demokratie und Markt von René Scheu

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emokratie gegen Markt. Oder genauer: jene «Guten», die sich auf die Demokratie berufen, polemisieren gegen die «bösen» anonymen Finanzmärkte und deren Vertreter. Doch sind die selbst­ ernannten Demokraten echte Demokraten? Und sind die Finanz­ märkte wirklich freie Märkte? Der neue Konflikt zieht sich durch alle sozialen Schichten, von den Freizeitdemonstranten der «Occupy»-Bewegung bis hinauf zu Profes­ soren wie Jürgen Habermas. Das Statement des in die Jahre gekomme­ nen deutschen Soziologen ist symptomatisch. Habermas beschrieb seine Haupterkenntnis aus dem griechischen Drama mit dem Satz: «Weniger Demokratie ist besser für die Märkte.» Die «Märkte» – da­ mit gemeint sind Finanzmärkte – haben heute nach Habermasscher Lesart das Sagen. Woraus selbstverständlich folgt: «Märkte», diese zutiefst undemokratischen Institutionen, müssen endlich an die Kandare der Politik genommen werden. Genau das wollen auch die «Occupy»-Bewegten: ein Primat der Politik über die Ökonomie. Grundvoraussetzung der Demokratie ist der mündige Bürger, der sich nicht nur frei äussern, sondern auch frei informieren und ent­ scheiden kann. In der real existierenden Praxis der wohlfahrtsstaat­ lich verwalteten Welt ist dieser Bürger jedoch immer seltener anzu­ treffen. Er wurde durch Wohltaten gefügig gemacht. Volksvertreter des Wohlfahrtsstaats haben sich darauf spezialisiert, die Stimmen der Bürger zu kaufen – durch sozialstaatliche Versprechungen, die sie zwar nicht finanzieren können, aber glücklicherweise auch nicht selbst finanzieren müssen. Jeder kommt im spätmodernen Wohl­ fahrtsstaat direkt oder indirekt in den Genuss staatlicher Transfer­ leistungen. Dass einige der Empfänger auch Zahler sind, ist dabei nicht der entscheidende Punkt. Entscheidend ist vielmehr, dass viele und immer mehr Bürger auf diese Leistungen spekulieren. Und viele, ebenfalls immer mehr, stehen im Lohn des Staates und wissen – wer möchte es ihnen verdenken – dessen volkswirtschaftlich kostenintensive Garantien und Privilegien zu schätzen. Leistungen, die nicht durch Steuern und Umverteilung finanziert werden können, sind Schulden, die der Staat anderweitig re­­ finanzieren muss. Die europäischen Wohlfahrtsstaaten haben in

René Scheu Herausgeber und Chefredaktor

den letzten 50 Jahren folgerichtig einen unglaublichen Schulden­ berg aufgetürmt, dem sie durch die Rettung maroder Banken sozu­ sagen noch die Krone aufsetzten. Was also macht der Staat? Er refinanziert die bestehenden Schulden über neue Schulden. Kon­ kret: er gibt Staatsanleihen heraus. Wer aber kauft diese Papiere heute noch freiwillig? Zum Beispiel Geschäftsbanken, wenn sie sich davon eine gute Rendite ohne Risiko versprechen. Gelegen kommt dem Staat, dass die de jure unabhängigen, de facto jedoch längst politisch agierenden Zentralbanken eine expansive Geldpolitik betreiben. Sie schaffen Geld aus dem Nichts und stel­ len es den Geschäftsbanken günstig bis gratis in beliebigen Men­ gen zur Verfügung. Was machen diese mit dem Geld? Richtig: sie kaufen damit gern Staatsanleihen – zumal der Staat ja erfolgreich die Doktrin verbreiten half, dass er nicht (mehr) pleitegehen kann: gute Rendite, kein Risiko, wer kann da schon widerstehen. Oder noch besser: die Zentralbanken kaufen wie in den USA gleich Staatsanleihen mit neugeschaffenem Geld. Der Ökonom Rahim Taghizadegan sagt es in seinem neuen Buch «Wirtschaft wirklich verstehen» schön: «Das gesamte Finanzsystem eignet sich hervor­ ragend zur Schuldenpolitik und Schuldenwirtschaft; es ist für diese Zwecke gewissermassen massgeschneidert.» – Brauchen wir also wirklich ein Primat der Politik? Wir haben es bereits, nur ist es nicht so leicht erkennbar: Staat, Zentral- und Geschäftsbanken haben ein korporatistisches Geld- und Schuldensystem geschaffen, das sich von Realität und Markt abgekoppelt hat. Nicht zu wenig Regulierung der Geldwelt, sondern zu viel staatliche Privilegierung ist das Prob­ lem. Das System schien lange wie ein perpetuum mobile zu funktio­ nieren. Nun zeigt sich jäh: es ist doch keins. Das tut weh. Dagegen hilft nur eins: Disziplinierung durch echten Markt. Und Abschaf­ fung der staatlichen Privilegienwirtschaft. So finden mündiger Bür­ ger und Demokratie wieder zu ihrer Würde zurück. � 7


Kolumne

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Neue Bürgerlichkeit

Freie Wissenschaft ist nicht korrekt

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ax Scheler hat recht behalten: die heutige Universität ist keine «universitas» mehr, sondern eine Summe von Fach­ hochschulen. Ganz selbstverständlich und unverfroren tituliert man die Studentenschaft als «Generation Praktikum», weil es nie­ mand mehr wagt, die rigorose Berufsbezogenheit des Studiums in Frage zu stellen. Alle Lernprozesse sind heute riskant, denn auf ihrem Buckel tragen sie die Frage mit sich: Kann man das später brauchen? Es ist deshalb zur Selbstverständlichkeit geworden, von Professoren die Praxisrelevanz ihrer Arbeit einzufordern. Dabei wird übersehen, dass die Wissenschaft Nutzloses er­ forschen muss, denn die Gesellschaft kann nicht wissen, wel­ ches Wissen sie in Zukunft braucht. Stattdessen propagiert man heute auch in Universitäten das Recht auf Unbildung: Philoso­ phie und Altgriechisch braucht man nicht mehr. Geist gilt als reaktionär. Um nieman­ den zu beleidigen, der des An der Gremienuniversi- Lateinischen nicht mäch­ tig ist, darf man Disserta­ tät herrscht die «Diktatur tionen nicht mehr mit «summa cum laude» be­ des Sitzfleischs». werten. Dekanate nennen sich jetzt «Service-Cen­ ter». Und an der Gremienuniversität, die uns die Studentenbe­ wegung beschert hat, herrscht die «Diktatur des Sitzfleischs» (Harald Weinrich). Die Krise der Wissenschaften verdankt sich aber nicht nur dem Druck der Politik, die vor allem die Geisteswissenschafter mit dem Wort «Drittmittel» in Angst und Schrecken versetzt, son­ dern sie ist auch selbstverschuldet. Ich nenne nur die vier wich­ tigsten Symptome. Da ist zum einen das, was Robert Park «Voo­ doo Science» genannt hat. Den klassischen Medizinern mutet man die Mystik der Homöopathie als gleichberechtigte Wissen­ schaft zu. Das Zauberwort «Gender», mit dessen Hilfe das biolo­ gische Schicksal des Geschlechts in eine soziale Konstruktion umgedeutet wird, öffnet die Tür zur Universitätskarriere. Und der «Dekonstruktivismus», den Klaus Laermann schon vor Jahr­ zehnten als «Lacacan» und «Derridada» entlarvt hat, narrt die Literatur- und Kulturwissenschaften. 8

Norbert Bolz Norbert Bolz ist Professor für Medienwissenschaften an der Technischen Universität Berlin und Autor von «Die ungeliebte Freiheit. Ein Lagebericht» (2010).

Da sind zum zweiten die «Resentment Studies». Damit ist lei­ der nicht gemeint, dass das Ressentiment erforscht würde, son­ dern umgekehrt, dass das Ressentiment die Forschungen an­ treibt. Das Spektrum reicht von den Black Studies in den USA bis zum Radikalfeminismus und Antikolonialismus. Dabei dient die politische Korrektheit als der grosse Katechismus. Aller Hass ist auf die Besserverdienenden ohne Migrationshintergrund kon­ zentriert. Nichts ist diesen akademischen Hasspredigern ferner als Abraham Lincolns Einsicht, dass man die Schwachen nicht stärken kann, indem man die Starken schwächt. Die Schwachen werden nämlich nicht von den Starken, sondern von den Unfähi­ gen unterdrückt. Die Armen werden nicht von den Reichen, son­ dern von den Faulen ausgebeutet. Da ist, drittens, die Angstindustrie mit ihren Slogans «Global Warming» und «Atomkraft, nein danke». Sie gibt der Apokalypse eine wissenschaftliche Form und sorgt in einer unheiligen Allianz mit Politik und Massenmedien dafür, dass über alle Andersden­ kenden ein Scherbengericht ergeht. Das vierte und letzte Symptom nenne ich «Gefälligkeitswissenschaft». In der Regel wird jeder wichtige Politiker von Gefälligkeitswissenschaftern umschmei­ chelt, die genau spüren, was die Ministerien gerne hören würden, und das dann als Ergebnis der eigenen Forschungen anbieten. Bei­ spiele dafür finden sich vor allem in der Familienpolitik, der Klima­ forschung und in den Szenarien der sogenannten Wirtschaftswei­ sen. Bert Brecht hat sie «ein Geschlecht erfinderischer Zwerge, die für alles gemietet werden können», genannt. Und damit sind wir am Gegenpol dessen angelangt, was noch für Max Weber nicht nur den Beruf zur Politik, sondern auch zur Wissenschaft definierte: die Einheit von Sachlichkeit und Leiden­ schaft. Was uns heute am meisten fehlt, ist das, was die 68er so fanatisch bekämpften: bürgerliche Wissenschaft. �


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Kolumne

Marktplatz

Einmal im Jahr sind Ökonomen die Helden

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iesmal also Thomas Sargent und Christopher Sims. Der Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften ging an zwei For­ scher, die den heutigen Instrumentenkasten der Makroökonomik wesentlich geprägt haben. Zwar mäkeln Kritiker: angesichts der globalen Finanzkrise hätte man die Demontage des keynesiani­ schen Ansatzes durch die Theorie der rationalen Erwartungen, an der sich seinerzeit die beiden Amerikaner beteiligt hatten, nicht derart adeln sollen. Denn diese Theorie sei mittlerweile durch die irrationale Wirklichkeit widerlegt. Tatsächlich haben die beiden Wissenschafter ihre Auszeichnung nicht dafür, son­ dern für eine Technik erhalten, die heute auch die Keynesianer verwenden – in der Makroökonomik haben sich die Lager eben längst vermischt. Vorwerfen könnte man den beiden Amerika­ nern, dass ihr Instrumentarium noch mehr Menschen verführt hat, die Wirtschaft als ein hydraulisches, ausrechen­ Den Glamour des Preises bares und entsprechend zu steuerndes System miss­ haben Ökonomen zuverstehen. Mit jedem Tag der No­ bitter nötig. bel-Woche steigt alljähr­ lich die Spannung – als letzte sind stets die Wirtschaftswissenschafter an der Reihe. Nicht weil sie die Krönung des Reigens sind, sondern weil es eigentlich gar kein Nobelpreis ist, der in Stockholm für ökonomische For­ schung vergeben wird. Der Industrielle Alfred Nobel, der von schlechtem Gewissen gegenüber der Menschheit geplagte Erfinder des Dynamits, wäre im Traum nicht darauf gekommen, einen sol­ chen Preis zu finanzieren. Er konnte die Wirtschaftswissenschaf­ ten nicht leiden. Gut siebzig Jahre nach seinem Tod beging jedoch die Schwedische Reichsbank einen so generösen wie gegenüber dem Namensgeber ziemlich respektlosen Akt des «corriger la for­ tune». Sie stiftete jenen Zusatzpreis, der korrekt «Preis für Wirt­ schaftswissenschaften der Schwedischen Reichsbank im Geden­ ken an Alfred Nobel» heisst. Natürlich gibt es an diesem Preis viel zu kritisieren. Er wird letztlich mit Steuerzahlergeld finanziert. Es gab Fehlentscheidun­ gen; gelegentlich hat sich gar ein politischer Proporz eingeschli­

Karen Horn Karen Horn, promovierte Ökonomin, leitet das Hauptstadtbüro des Instituts der deutschen Wirtschaft und ist Vorsitzende der Friedrich-A.-von-Hayek-Gesellschaft.

chen. Zumeist kommt der Preis im Leben der Forscher zu spät, um ihnen in ihrer Arbeit noch den Rücken zu stärken. Das Auswahlver­ fahren, das auf den Einschätzungen der Zunft beruht, befördert den «Matthew-Effekt»: wer reich ist, dem wird gegeben; auch des­ halb kommen so selten Ansätze jenseits des Mainstreams zum Zuge. Nach mehr als vierzig Jahren scheint sich zudem auch die Liste der naheliegenden Kandidaten auszudünnen. Und schliess­ lich ist zu bezweifeln, dass sich in einer weichen Sozialwissen­ schaft wie der Ökonomik klar bestimmen lässt, ob eine For­ schungsarbeit von eminenter Bedeutung für die Menschheit ist. Und doch war es ein Geniestreich der schwedischen Noten­ bank, ausgerechnet 1968, im Jahr der Studentenrevolten, ein Instru­ ment in die Welt zu setzen, das den Blick der Menschen in positiver Weise auf die Wirtschaftswissenschaften lenkt – aller Kritik zum Trotz. Der Preis schenkt den Ökonomen kurzfristig Glamour. Den haben sie auch bitter nötig. Die Wirtschaftswissenschaften tragen seit jeher das Stigma einer ungeliebten Wissenschaft, gedrückt vom atavistischen Affekt gegenüber allem, was irgendwie mit Geld zu tun hat. Wie der «ungesteuerte», «entfesselte» Markt in der überwiegenden Wahrnehmung als das hässliche Gegenstück zum angeblich «menschlicheren» Staat herhalten muss, so haftet den Ökonomen der Ruf der rationalen Kälte an. Sie sind klassische Sün­ denböcke. Ihnen nimmt man es übel, wenn sie nicht erkennen, dass sich Krisen anbahnen. Wer indes vor Fehlentwicklungen warnt, wird als ideologisch oder betulich abgestempelt. Aber einmal im Jahr, wenn der Preis verliehen wird, sind die Ökonomen Helden. Als Ansporn und Anreiz ist der Preis trotz allem ein Segen. Man muss den Nobelpreis ja nicht so überhöhen, dass man von ihm ewige Wahrheiten verlangt. Er ist eine Anerkennung, mehr nicht. Auch Nobel-Juroren können irren. Und es gibt auch Fortschritt ohne den Preis aus Stockholm. � 9


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Bild: KEYSTONE AP / Gregorio Borgia


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Analyse

Sofskys Welt

Entweihung

Das böse Spiel soll Chaos, Krawall und Scherben­haufen hinterlassen. Sein Ziel ist das Siegeszeichen der Willkür, die Spur eigener Omnipotenz. Den Ehrentitel der Anarchie haben sich die römischen Bilderstürmer, Plünderer und Randalierer nur angemasst. Sie frönten ihrer Destruktivmacht. Doch nicht auf die Leere der Verwüstung waren sie aus, sondern auf eine sicht­bare Trophäe des Willens zur Schändung. Es war eine Aktion für Zuschauer, und das Photo dokumentiert den Frevel für alle Zeit. Die Demonstranten paradierten an den Bruchstücken vorbei.

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Sie goutierten die Tat mit Gelächter oder Gleichgültigkeit. Ihre uf der Strasse liegt die unbefleckte Jungfrau. Kopf und

Idole waren von anderer Art. Sie folgten den Fahnen des Protestes,

Schleier sind unversehrt, nur von der Stirn ist ein kleines

gefielen sich im Erlebnis wütender Empörung und im Gleichklang

Stück abgeplatzt. Die betenden Hände jedoch sind zertrümmert,

selbstgerechter Gemeinschaft. Alte Bildwerke der Andacht,

ebenso der Unterleib. Mit voller Wucht war ihr der Bilderstürmer

der Ehrfurcht und Hoffnung waren ihnen nur Asche und Staub.

auf den Bauch gesprungen, nachdem er die Skulptur auf

Dennoch hält jeder Akt der Entweihung manifest, was er

die Strasse geworfen hatte. Nun marschiert der Protestzug der

entwürdigt. Er kehrt hervor, was er zunichte macht. Die heilige

Empörten achtlos über die Gottesmutter hinweg. Einige blicken

Vogelscheuche, das zerkratzte Antlitz, der verschmierte Grabstein,

zu dem Photographen herunter, der sich niedergekniet hat,

das zerbrochene Kreuz, die Jungfrau ohne Unterleib – an den

um die Szene aus der Untersicht festzuhalten. Von dem Täter

Überresten sollen Anhänger und Zuschauer erkennen,

und seinen Kumpanen fehlt jede Spur. Sie sind nach vollbrachtem

dass das Höchste unnützer Abfall, dass das Heilige nur Unrat,

Frevel in der Menge verschwunden.

dass Gott nur ein Götzenbild ist.

Ein Hüne von Gestalt war der Missetäter, bewehrt mit Kampf­

Minuten später las jemand die Bruchstücke der Gipsskulptur

stiefeln, Kapuzenpullover und schwarzer Maske. Er nutzte den

von der Strasse auf und lehnte sie an die nahe Häuserwand.

Protest gegen Finanzkrise, Bankenmacht und Regierungskorrup­

Wie eine Bettlerin beobachtete die heilige Jungfrau das Treiben auf

tion zum Bildersturm. Auf einer der ältesten Strassen Roms,

der Strasse. Im Hintergrund loderte noch das Feuer des Aufstands,

der Via Labicana, drang er in eine Pfarrkirche ein, zerstörte ein

der Protestzug jedoch war verschwunden, ein paar Nachzügler,

Kruzifix, zerschmetterte die Marienskulptur auf dem Asphalt

darunter ein älteres Ehepaar, begutachteten die Szenerie.

und trat, unter dem Gejohle seiner Spiessgenossen, mit dem Absatz

Wie eine stumme Zeugin ihrer eigenen Schändung blickte Maria

nochmals nach. Gewalt war an dem Tatort nicht unbekannt.

auf die Schuhe und Hosenbeine der Passanten. Niemand beachtete

Die Kirche ist den Märtyrern Marcellinus und Petrus geweiht.

sie. Aber auch nach der Entweihung war die Figur mehr als ein

Sie fielen um 300 n.Chr. der letzten Christenverfolgung unter

Stück demolierter Gips. Die Schutzherrin der Kranken und

Kaiser Diokletian zum Opfer.

Beladenen, die Mittlerin des Heils war zurückgekehrt an ihren

Dass dem selbsternannten Strassenkämpfer der Sinn seines

wahren Bestimmungsort. Der Angriff stürzte sie aus der Geborgen­

Frevels gegenwärtig gewesen wäre, ist unwahrscheinlich.

heit des Kirchenraums in den Abgrund der Stadt. Unter den

Ihn reizte die Aktion, die symbolische Mutprobe, die Schändung

Ungläubigen harrte sie aus, bis ein barmherziger Diener einen

der heiligen Figur, die Geste der Zerstörung. Destruktion

neuen Platz für die demolierte Gipsstatue fand. �

durchbricht Grenzen, sie schlägt Türen ein, löscht die Aura der Bildwerke, wirft Heiliges in den Schmutz des Profanen. Das Gebot des Bewahrens ist aufgehoben, mit Jubel und Getöse feiert der Mob das Zerstörungsfest. Klirrendes Glas und knirschender Gips verkünden den Durchbruch. Es regiert das Gesetz des Zufalls. Jeder Wurf, jeder Tritt ist recht. Der Mutwille des Ausprobierens hat seinen eigenen Reiz.

Wolfgang Sofsky Wolfgang Sofsky ist Soziologe und Autor.

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Kolumne

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Freie Sicht

Der neue Extremismus lauert in der Mitte

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ie Mitte hat Konjunktur, Mitteparteien florieren. Erfahrene wie taufrische Politiker drängt es folgerichtig in die goldene Mitte. In einer Schweizer Tageszeitung stand gar zu lesen, der Erfolg der Mitteparteien könne nun «auch gemässigte Politiker in anderen Parteien dazu bewegen, entschlossener für pragmatische Überzeugungen einzustehen». Gemässigte Politiker, die entschlossen für pragmatische Über­ zeugungen eintreten? Hier wird das ganze Elend der politischen Mitte in einen widersprüchlichen Satz gezwungen. In der Bibel stand noch: «Eure Rede aber sei: Ja, ja; nein, nein. Was darüber ist, das ist vom Übel.» Der «gemässigte» Politiker bezieht dagegen kaum je eindeutig Stellung. Seine Position ist ein dauerhaftgequältes «Einerseits-Anderseits». Überzeugungen hat der «ent­ schlossene» Pragmatiker naturgemäss keine – er orientiert sich am Machbaren. Er analysiert oder begründet nicht, er handelt. Der «verantwortungs­ volle» Pragmatiker ist vom Typus des Karrieristen und Pragmatismus ist eine Funktionärs. Er trägt das Form der Denkfaulheit System mit, das ihn trägt. und Prinzipienlosigkeit. Missgünstig schaut er auf meinungsfreudige Kollegen, die tatsächlich ein Profil aufweisen oder eine klare Haltung vertreten. Gerne schmäht er sie als ideologische Betonköpfe. Dem geschmeidigen Pragmatiker geht es darum, einen «verant­ wortungsvollen» Kompromiss zu finden – sei es eine Steuerer­ höhung, ein neues Ver- oder Gebot, eine «vorübergehende» Auswei­ tung der Schulden oder eine «provisorische» Aufweichung der Währung. Die Mitte ist heute so verfangen im Status quo des be­ ständigen Durchwurstelns, des zwanghaften Erhalts überholter Strukturen, dass ein Denken in Alternativen, das Erkunden auch kantiger Lösungsansätze als ungebührlicher Fauxpas, ja als eine Art Anfall politischen Irrsinns empfunden wird. Eine Politikerin, die seit Beginn ihrer beachtlichen Karriere den Ruf einer Gemässigten und Pragmatikerin geniesst, ist Ange­ la Merkel. Als Kanzlerin zeichnet sich ihr Regierungsstil durch ein konsequentes Abwarten aus, das der möglichst umfassenden 12

Christian P. Hoffmann Christian P. Hoffmann ist Assistenzprofessor für Kommunikationsmanagement an der Universität St. Gallen und Forschungsleiter am Liberalen Institut.

Erkundung widerstreitender Interessen dient, um so am Ende eine Kompromisslösung verabschieden zu können. Diese Lösung tut zwar keinem wirklich wohl, doch auch niemandem ernsthaft weh. So perfektioniert die Pragmatikerin das Prinzip der Prinzi­ pienlosigkeit. Was ist die Konsequenz? Die Regierung Merkel – im Verbund mit anderen EU-Regierungen – hat ein grosses Geschick darin ent­ wickelt, grundlegende Rechtsprinzipien zu missachten. So betei­ ligt sich Deutschland an der Hehlerei gestohlener Bankkundenda­ ten, am regelmässigen und umfassenden Bruch europäischer Verträge oder an der illegalen Bespitzelung der eigenen Bürger im Internet. Hinzu kommt das Verschleudern von Steuergeldern in hundertfacher Milliardenhöhe, um die missglückte europäische Einheitswährung zu retten. Kann einer Angela Merkel jedoch diese rechtlich fragwürdige und ordnungspolitisch desaströse Politik vorgeworfen werden? Vermutlich nicht, denn als «Pragmatikerin» der Mitte hat sie nicht über einen moralischen Kompass zu verfügen, nicht über Prinzipien oder Überzeugungen, sondern nur über ein Gespür für das poli­ tisch Machbare. Die Staatstragende hat stets nur jenen Kompro­ miss zu finden, der den Status quo in die Zukunft fortschreibt. Nun, Pragmatismus ist keine politische Tugend, er ist eine Form der Denkfaulheit und Prinzipienlosigkeit. Die Extremisten der Mitte glänzen, oder besser: blenden, durch Profillosigkeit. Doch hinter dem Gestus der Verantwortung und der Vernunft ver­ steckt sich eine Geringschätzung notwendiger Regeln. Was wir heute brauchen, sind nicht noch mehr staatstragende Kompro­ missler einer haltlosen «Mitte», sondern entschiedene Verteidiger unserer bürgerlichen Rechte – gegen den tumben Ansturm der Pragmatiker. �


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Kolumne

Kultur leben

Die gute alte Zeit ist schlechter als ihr Ruf!

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ls ich meiner Mutter sagte, dass ich nach London ziehen wür­ de, führte dies zu einer tragischen Abschiedsszene. Sie re­ agierte, als sei ich ein Soldat, der die Familie in Richtung Krieg ver­ lässt, als sei unsere gemeinsame Zeit damit endgültig vorbei. Dafür gibt es einen einfachen Grund. Meine Mutter versteht das Verlas­ sen der eigenen Nachbarschaft als Ausnahme, nicht als Normali­ tät. Sie kommt aus einer anderen Welt, in der Reisen noch Monate im voraus geplant wurden. Aber: London ist nur eine Flugstunde entfernt. Ich kann sie weiterhin sehen, wann immer ich will. Für meine Generation ist die Überwindung von grossen Dis­ tanzen in kurzer Zeit zu einer Normalität und Routine geworden, die meinen Eltern schlicht fremd ist. Billigmobilität und -kommu­ nikation lassen die Welt zusammenrücken, sie machen sie kleiner – nicht nur für die Aristokratie oder Privilegierte. Meine Freunde sind nicht mehr nur Leute von nebenan, sondern sie befinden sich in jeder Stadt, in die ich reise. Ich weiss, ich kann in Hongkong mit Freunden «Metropolis» macht ganz spontan ein Abend­ die Menschen essen planen, in Rio mit einem Kollegen aus New nicht egoistischer. York noch rasch ins Kino gehen oder mich in Ham­ burg zum Work-out verabreden. Es spielt keine Rolle, ob ich Freunde Monate oder sogar Jahre nicht gesehen habe: Wenn mein BB-Status «Madrid» sagt, dauert es nicht lange und mit mir be­ freundete Madrilenen teilen mir per PIN mit, dass wir etwas ge­ meinsam unternehmen könnten. Die Beziehung geht genau dort weiter, wo sie einmal endete, so, als ob es nie eine Unterbrechung gegeben hätte. Es reicht heute nicht mehr, den überkompetitiven Freund­ schaftsmarkt New Yorks zu vergleichen mit den sogenannten «echten» Beziehungen, die Sie mit den Menschen pflegen, die Sie immer schon gekannt haben oder mit denen Sie gemeinsam in kleineren Städten mit stabilen Routinen aufwuchsen. Es handelt sich hier im eigentlichen Sinne um zwei völlig verschiedene Wel­ ten und damit um unterschiedliche Verständnisse von Beziehun­ gen. Für diese «neue Welt», der in der alten Welt das Prädikat

Xenia Tchoumitcheva Xenia Tchoumitcheva ist Unternehmerin und Model. Sie lebt in London.

«oberflächlich» anhaftet, lassen sich Tendenzen ausmachen, die der engstirnig-defensiven Provinzialität weit überlegen sind. Selbst die verbreitete Ansicht, dass «Metropolis» die Menschen egoistischer und individualistischer mache – illustriert mit Bil­ dern toter Kinder auf Shanghais Strassen, die dort Minuten oder sogar Stunden liegen, bevor jemand auf die Idee kommt, nach ih­ nen zu sehen –, geht fehl. Denn: ist diesem Bild nicht genau der Charakter des grausamen Einzelfalls eigen, der auch jedem Gross­ stadtleben fremd ist? Wird nicht genau deshalb darüber berichtet? Die persönlichen Dimensionen haben sich mit der Mobilisie­ rung der Menschen verändert und es gibt nunmehr eine gegen­ seitige Verbindung zwischen Fremden, die mich wieder zur Kriegsmetapher vom Beginn zurückbringt: Reisende in Kriegsoder Krisenzeiten wurden in beinahe jedem Haus willkommen geheissen, mit einem Bett und einer warmen Mahlzeit ausgestattet, als handle es sich bei ihnen um alte Freunde. Ähnliches bemerken heute «Couchsurfer» und andere Weltenbummler auch in Friedens­ zeiten. Sie erleben die «neue» Welt als eine raffinierte und edle Gesellschaft, die lautlos beschliesst, eine neue vernetzte Gruppe rund um den Globus zu bilden – sich gegenseitig Gast und Wirt zu sein, einander interkulturell und ganz praktisch zu helfen. Damit geht eine neue Form der menschlichen Beziehung einher: eine flexible, aufgeschlossene und eifersuchtslose. Nennen Sie mich «Idealistin», aber ich sehe die Zukunft dieser Entwicklung als eine sehr hohe Form der Menschlichkeit: frei und individualis­ tisch, aber bereit zu helfen und füreinander da zu sein, jederzeit. Möglich geworden, unterstützt und abgesichert dank des techno­ logischen Fortschritts, der uns erlaubt, in Kontakt zu bleiben und letztlich auch die Hindernisse der «guten alten Zeit» zu über­ winden. � 13


«

Die Schweiz sehnt sich nicht nach einem postnationalen Europa – denn eine Nation war sie eigentlich nie!» Dieter Freiburghaus

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Schweizer Monat 992 Dezember 2011/Januar 2012

Essay

Die verfrühte Nation Die Schweiz ist mittendrin und doch ausserhalb. Das Abseitsstehen pflegt sie mit Bedacht – und mit Erfolg. Das hat seinen Grund. Und seine Geschichte. Gedanken zur helvetischen Staatlichkeit, die modern ist, weil sie nie modern sein wollte. von Dieter Freiburghaus

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ls Gymnasiast ging ich oft und gerne in die Landesbibliothek. Sie lag unserer Schule direkt gegenüber, und der moderne Bau von Oeschger, Kaufmann und Hostettler hatte es mir angetan. Heute heisst die Institution «Schweizerische Nationalbibliothek»; und das Landesmuseum in Zürich wird zum Schweizerischen Nationalmuseum. Wird die Schweiz im 21. Jahrhundert etwa spät noch eine Nation? Nein, werden wir beruhigt, es sei nur so, dass «Landes...» im Ausland – zum Beispiel in Deutschland, wo die Kan­ tone «Länder» genannt werden – zu Missverständnissen führen könnte. Ausserdem habe es schon immer «Bibliothèque nationa­ le», «Musée national» geheissen. Handelt es sich hier also um eine harmlose Namensänderung oder steckt doch mehr da­ hinter? Ist die Schweiz eine Im Unterschied zu ihren Nation wie jede andere auch? europäischen Zeitgenossen «Nation» war schon feierten die Schweizer bis zum immer ein schwer fassbarer Exzess ihre Unterschiede. Begriff, der vor allem zu politischen Zwecken geund missbraucht wurde. Er stammt wortgeschichtlich von lateinisch natio für Geburt, Herkunft, Volk ab, und bis in die Neuzeit wurde nationes an den Universitäten gebraucht, um die Studenten einer bestimmten Her­ kunft und Sprache zu bezeichnen. Später dann, mit der Herausbil­ dung des modernen Staates, bezeichnete die Nation gleichsam das Staatsvolk als eine ideelle Einheit. In Frankreich sind das alle Men­ schen, die einem Gesetz unterstellt sind und also durch ein Parla­ ment als Gesetzgeber repräsentiert werden. Weil dies in Deutsch­ land bis ins 19. Jahrhundert nicht der Fall war, meinte hier Nation vor allem Kultur- und Sprachnation. Man könnte also versucht sein, die Differenz zwischen «Bibliothèque nationale» und «Lan­ desbibliothek» mit Hinweis auf die französische Tradition gleich­ sam wegzuerklären, denn die Schweiz ist eben, seit 1848, eine Na­ tion im französischen Sinne, wohingegen sie mit sprachlicher und kultureller Einheit nie aufwarten konnte. Doch auch in Frankreich wurde ab dem 18. Jahrhundert die Einheit von Sprache und Kultur wichtig, die regionalen Sprachen wurden unterdrückt: «La France

Dieter Freiburghaus Dieter Freiburghaus ist emeritierter Professor für europäische Studien am Institut de hautes études en administration publique in Lausanne und Autor des Grundlagenwerks «Königsweg oder Sackgasse? Sechzig Jahre schweizerische Europapolitik» (2009).

– nation une et indivisible» klingt gut, «La Suisse – nation une et indivisible» schon weniger. Bleibt also dennoch die Frage: Ist die Schweiz überhaupt eine Nation, ein souveräner Nationalstaat? Der Staat als Zerfallsprodukt Der souveräne Staat ist eine europäische Erfindung des 17. Jahrhunderts. Als Zerfallsprodukt des «Reiches» und im Gegensatz zu diesem traten die neuen Staaten immer in der Mehrzahl auf. Die Idee von Reich und Kaiser ging ursprünglich auf das antike Rom zurück. Nach den Wirren der Völkerwanderung hat Karl der Grosse das Reich von Rom bis Friesland und von der Bretagne bis nach Bayern wieder errichtet. Papst und Kaiser bildeten fortan das Machtduopol, das Europas Schicksal für tausend Jahre bestimmte. Dieses Reich wurde immer wieder geteilt und Teile wiederverei­ nigt, Friedrich II. von Hohenstaufen trug neben der Reichskrone diejenigen von Sizilien und Jerusalem, und im Herrschaftsbereich Karls V. ging die Sonne nie unter. Welche Völker, Sprachen und Kulturen zum Reich gehörten, war belanglos, es wurde durch den Kaiser zusammengehalten. Dessen tatsächliche Herrschaftsmacht wurde im Laufe der Zeit schwächer, doch grundsätzlich wurde sie bis in die Neuzeit nicht in Frage gestellt: Das Reich bildete die Klammer, welche die Völker zusammenhielt. Im Spätmittelalter verselbständigten sich im Westen und Nor­ den Europas Königreiche – Portugal, Frankreich, England, Däne­ mark –, welche die Oberhoheit des Kaisers nicht mehr anerkann­ ten. Es etablierten sich absolutistische Herrscher, die ihre Rechte direkt von der Gnade Gottes und der Macht ihrer Armeen ableite­ ten. Der Westfälische Friede von 1648 gründete darauf, dass es nun in Europa mehrere souveräne Staaten gab, die unter sich Verträge abschliessen konnten. Im Osten dagegen herrschten weiterhin Kaiser, Zaren und Sultane über Vielvölkerreiche. Reiche waren also 15


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in Europa vom Frühmittelalter bis in die Moderne die vorherr­ schende politische Organisationsform. Doch etablierte sich der eigenständige Staat als Erfolgsmodell. Neue Staaten bildeten sich in Europas Mitte durch Vereinigung – Deutschland, Italien –, im Osten durch Zerfall der alten Reiche. Heute zählt Europa über vierzig Staaten, 27 davon gehören zur Europäischen Union. Haben wir es im Falle der EU mit einer Art neuem Reich zu tun? War der Nationalstaat nur ein kurzlebiger Irrläufer der Evolution? Wie erging es in diesem Prozess des nation building der Schweiz? Gehörte sie zu den Vorläufern oder eher zu den Nach­ züglern? Eigenartigerweise zu beiden. In der frühen Neuzeit wur­ de sie zu einer Pionierin in der Loslösung vom Reich. Mit Gessler und Tell hat dies fast gar nichts zu tun, denn damals kämpfte man für Freiheiten, die der Kaiser gewährt hatte und die es gegen lokale Fürsten zu verteidigen galt. Auch der Schwabenkrieg von 1499 führte nicht zum Ausscheiden aus dem Reichsverband, jedoch zu einer Schwächung des kai­ serlichen Einflusses – noch im 17. Jahrhundert stellte man die Kantons­ War der Nationalstaat wappen überall und regel­ nur ein kurzlebiger mässig unter die Fittiche Irrläufer des Reichsadlers. Irgendwie der Evolution? gehörte man doch noch dazu. Irgendwie aber auch nicht, denn «das Land der Eidgenossen» oder das «Corpus helveticum» wurde zunehmend als selbständiger Herrschaftsbereich anerkannt. Schon 1530 sandte der französische König einen Botschafter nach Solothurn – zwecks Absicherung der Soldverträge. Man tat sich allerdings schwer mit diesem «unidentifizierbaren republikanischen Kon­ glomerat». So präsentierte sich die Lage zur Zeit des Westfälischen Frie­ dens. Die Schweiz war vom Dreissigjährigen Krieg verschont geblieben, und deswegen hatte sie auch keinen Anlass, einen Ver­ treter nach Münster und Osnabrück zu senden. Auf eigene Initiative nahm jedoch der Basler Bürgermeister Johann Rudolf Wettstein teil. Inzwischen waren die Beziehungen der Eidgenos­ senschaft zu Frankreich stärker geworden als diejenigen zum Reich, und Frankreich war daran interessiert, dass die Schweiz sich ganz vom Reich löste. Die Franzosen rieten Wettstein des­ halb, für die Schweiz die Souveränität zu fordern. Doch dieser Begriff war noch neu und sein Gebrauch unklar. Was die Schweiz nach zähem Verhandeln erreichte, war die Nichtmehrunterstel­ lung unter das Reichskammergericht, die sogenannte Exemption, die aber realiter nichts änderte. Da freilich markante Daten be­ liebt sind, sagt man gelegentlich, die Schweiz habe 1648 ihre völkerrechtliche Unabhängigkeit erlangt. Die Bedeutung von Souveränität Die Idee des souveränen, meist absolutistisch regierten Staates setzte sich in Europa, wie bereits erwähnt, im 17. und 18. Jahrhun­ 16

dert durch. Was bedeutete dies für die Eidgenossenschaft? Sou­ veränität hatte und hat eine Innen- und eine Aussenseite, die sich gegenseitig bedingen: dass der Fürst im Innern des Landes tat­ sächlich und ausschliesslich gebietet (Monopol der legitimen Gewaltanwendung, Monopol der Gesetzgebung), ist die Voraus­ setzung dafür, dass er von aussen, von den anderen Herrschern als legitimer Vertreter seines Staates respektiert wird. Und dass er die Interessen seines Landes nach aussen wirkungsvoll vertreten kann – à la rigueur auch mit militärischen Mitteln –, ist die Vor­ aussetzung dafür, dass die Legitimität seiner Herrschaft im In­ nern anerkannt wird. Die Eidgenossenschaft wurde zwar in ihrer Unabhängigkeit vom Reich anerkannt, doch zur Souveränität fehlten ihr wichtige Voraussetzungen. Sie verfügte über keinerlei zentrale Autorität, die für das Land sprechen konnte, und sie hatte keine schlagkräf­ tige moderne Armee, um ihre Interessen zu verteidigen. Sie blieb ein Bündnissystem von dreizehn weitgehend unabhängigen Republiken mit äusserst unterschiedlichen inneren Verfassun­ gen. Die Tagsatzung war eine diplomatische Konferenz, die nach Instruktionen verhandelte und nur einstimmig beschliessen konnte. Insofern war die Schweiz mehr ein letztes Refugium deutscher Kleinstaaterei denn ein moderner Staat. Dass dieses Gebilde im 17. und 18. Jahrhundert überlebte, hat vor allem damit zu tun, dass Frankreich und Habsburg ein Interesse an einem «neutralen» Puffer hatten. Der Nutzen dieser Funktion war auch Napoleon bewusst, liess er die Eidgenossenschaft doch als Puffer zu Österreich bestehen, als er mit seinen Armeen über Europa fegte. Jedoch räumte er mit den Strukturen des Ancien régime auf und schuf mit der helveti­ schen Republik einen modernen, zentralistischen Staat. Doch sol­ ches war den Eidgenossen völlig fremd; der von anhaltenden Streitigkeiten zwischen Unitariern und Föderalisten geprägten Helvetik setzte der Korse ein Ende, indem er das Land mit der Mediationsverfassung reföderalisierte. Die alten Gemeinen Herr­ schaften, die Untertanengebiete und die zugewandten Orte wur­ den gleichberechtigte Kantone. Diese Verfassung funktionierte nicht schlecht, doch begann nach dem Sturz Napoleons und dem Wiener Kongress mit der Restauration in der Schweiz eine dreis­ sigjährige Umbruchphase, in der zuerst die reaktionären Kräfte obenaufschwangen, schliesslich aber die liberal-bürgerliche Be­ wegung den Sieg davontrug. Sie gab dem Land nach dem Sonder­ bundskrieg 1848 die neue Verfassung, die es bis heute prägt. Anerkennung der Differenzen War die Schweiz nun ein Nationalstaat geworden? Ja und nein. «Confoederatio helvetica» wies nach wie vor auf einen Staa­ tenbund hin. Doch sie hatte eine Bundesregierung, die unter an­ derem für die Aussenpolitik zuständig war, und sie baute eine Armee auf, die das Land verteidigen konnte. Einige Hürden für den Handel und die Industrie wurden beseitigt, im übrigen spiel­ ten die Kantone weiterhin die Hauptrolle. Nach aussen aber er­ füllte die Schweiz die Kriterien eines souveränen Staates, und der


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Bundesrat vertrat seit der Mitte des 19. Jahrhunderts mit mehr oder weniger Geschick ihre Interessen. In allen Ländern waren inzwischen die alten Bindungen an Re­ ligion und Fürstenhäuser zerbrochen, und die Arbeiterklasse be­ gann sich aufzulehnen. Die Eliten entdeckten in der Nation ein neues Bindemittel, eine neue Weise des Zusammenhalts und der Abgrenzung gegen aussen. Die Ideologie des Nationalismus griff um sich, und es gelang den Regierungen immer wieder, die Völker hinter sich zu scharen und gegen Nachbarn in den Krieg zu führen. Diese Ideologie stützte sich auf die Einheitlichkeit des Volkes, sei sie nun real sprachlich und kulturell gegeben oder von oben herab dekretiert. Daran gebrach es der Schweiz. Nicht nur war sie äus­ serst heterogen, was Geschichte, Sprache, Konfession und Kultur anbelangte, ihre Identität zog sie geradezu aus der Anerkennung und Perpetuierung dieser Differenzen – eine recht paradoxe Opera­ tion. Mehr der Not gehorchend als dem eignen Triebe, versuchten die eidgenössischen Eliten zwar, mittels Gründungsmythen, Hym­ nen, Schützenfesten und allegorischen Darstellungen so etwas wie ein gesamtschweizerisches Bewusstsein zu schaffen; was aber den Genfer Banquier, den Bergbauern vom Ofenpass und den Tuch­ händler aus St. Gallen wirklich mit dem Rütli oder Grütli verbinden sollte, blieb immer einigermassen unklar. Die Schweiz war also im 19. Jahrhundert formell ein Staat wie jeder andere in Europa, doch zeichnete sich dieser durch so viele Besonderheiten aus, dass es den Nachbarn schwer fiel, ihn zu be­ greifen. Fast gänzlich von König- oder Kaiserreichen umgeben, war die Schweiz eine in der Wolle eingefärbte Republik; wer anderswo gegen die Herrscher aufbegehrte, fand hier Zuflucht. Die meisten Staaten hatten eine starke Zentralgewalt, in der Schweiz blieb sie schwach, die meisten Kompetenzen und Ressourcen blieben bei den Kantonen. Während ihre europäischen Zeitgenossen die Ein­ heit von Volk und Nation predigten, feierten die Schweizer bis zum Exzess ihre Unterschiede. Die meisten Staaten wurden von kleinen Oberschichten und Eliten regiert, in der Schweiz beteiligte sich das Volk mittels immer neuer Instrumente an der Macht oder jeden­ falls an ihrer Kontrolle. Nirgendwo sonst ist «Volkssouveränität» so zur Wirksamkeit gelangt wie in der Schweiz. Die meisten Staaten verwickelten sich immer wieder in Bündnisse und Kriege, die Schweiz mischte sich nicht in fremde Händel ein. Sie war bis zu einem gewissen Grade bereit, das Spiel der Staaten mitzuspielen – wozu sie auch aus ökonomischen Gründen gezwungen war –, doch blieb sie fremd unter ihnen. Ein politisches System sui generis. Spätestens nach den zwei Weltkriegen hatte der Nationalstaat einen schlechten Ruf, denn er wurde für sie verantwortlich ge­ macht. Die europäischen Eliten gingen daran, ihn durch Einbin­ dung in einen neuen, grösseren europäischen Verband zu schwä­ chen. Es entstanden die Europäische Gemeinschaft und später die Union. Die «Finalität» dieses supranationalen Systems wurde nie geklärt, so dass es für jeden als Projektionsfläche seiner Wünsche dienen konnte und kann. Die einen wollen starke Vereinigte Staa­ ten von Europa, die mit den andern Grossmächten auf Augenhöhe stehen, die andern ein liebliches Europa der Regionen, welches

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sich aus der Weltgeschichte abmeldet. Die dritten träumen von einem postnationalen, demokratischen Europa der Bürger. Und den vierten genügt ein gut funktionierender Binnenmarkt. Zwei­ fellos ist es gelungen, den früheren Nationalstaaten einige Zähne zu ziehen, doch dies um den Preis der Einbindung in ein politisches System, von dem niemand so recht weiss, wozu es gut sein soll. Den Eliten gefällt es, denn es verschafft ihnen neue Handlungsmöglich­ keiten, die Bürger bleiben eher auf Distanz. Die EU ist eine büro­ kratische Grossorganisation mit einer fast unheimlichen Eigendy­ namik geworden. Aussenseiterin Europa Da die Schweiz dabei nicht mitmacht, wird sie einmal mehr zur Aussenseiterin in Europa. Das Abseitsstehen hat viele Gründe. Ein­ mal mussten dieser Nation keine aggressiven Zähne gezogen wer­ den, denn zumindest militärisch hatte sie seit einigen hundert Jahren niemandem mehr Leid zugefügt. Dann ist den Eidgenossen Grösse und Einheitlichkeit zuwider, Wo in Europa Eliten den Ton sie sehen sich als Hort des angeben, hält in der Schweiz Kleinteiligen und der Di­ das Volk das politische versität. Wo in Europa Eli­ Personal an der kurzen Leine. ten den Ton angeben, hält in der Schweiz das Volk das politische Personal an der kurzen Leine. Auch benötigt das Land keinen Anker für seinen Zu­ sammenhalt und seine politische Stabilität, denn beide stehen nicht in Frage. Auch auf Transfers zur Sanierung der Staatsfinan­ zen ist man in Bern nicht angewiesen. Ausserdem hält die Schweiz nichts davon, in der Welt eine wichtige Rolle zu spielen, es reicht ihr, wenn sie mit allen Geschäfte machen kann. Und sie sehnt sich nicht nach einem postnationalen Europa – denn eine Nation war sie eigentlich nie! Und trotzdem heisst nun das Landesmuseum «Nationalmuse­ um» und die Landesbibliothek «Nationalbibliothek». Warum ei­ gentlich? Wer hat das beschlossen. �

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Debatte I

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Luft anhalten für das Klima Weltretten ist gerade unglaublich hip! Vor allem, wenn es um die CO2-Reduktion geht. Doch erhitzte Gemüter verschmutzen das wissenschaftliche Diskussionsklima, findet Vince Ebert. Eine kleine Einführung in die Klimadebatte. von Vince Ebert

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er Fernsehmoderator Günter Jauch trinkt Krombacher-Bier für den Regenwald. Cameron Diaz benutzt einlagiges Klopa­ pier. Und Frank Asbeck, der Chef der Bonner Solarworld AG, fährt seinen 300 PS starken Maserati aus Energiespargründen nur noch, wenn die Sonne scheint: jeder kleine Beitrag zählt, denn es sieht nicht gut aus für die Zukunft unseres Planeten. Das Klima spielt verrückt, und wir mit unserer CO2-Produk­tion sind daran schuld. Meint zumindest Al Gore. Und mit ihm prak­ tisch der gesamte Weltklimarat IPCC. Und spätestens seit das re­ nommierte Wissenschaftsmagazin BILD titelte: «Geheimer KlimaBericht – Wir haben nur noch 13 Jahre!», geriet ein ganzes Volk in Panik. An der Sache muss etwas dran sein. Jeder redet darüber, und in allen Sendungen wird uns eingeheizt: Wir haben auf Kosten der Natur gelebt, haben diesen Planeten ausgebeutet – und bekommen jetzt die Quittung. Wir sind schuld, weil wir sorglos unsere Res­ sourcen durch den Kamin blasen. Wir haben uns an dieser Erde versündigt und müssen nun büssen. Denn: CO2-Sünder sind wir! Die grössten Klimasünder sind übrigens Nationen wie USA, Japan oder Frankreich. Länder wie Nordkorea, Simbabwe oder der Iran dagegen schneiden in der CO2-Bilanz wesentlich besser ab. Da frage ich Als in den 70ern die hoch mich: Können wir uns die Demokratie überhaupt toupierten Frisuren in Mode noch leisten? kamen, änderte sich Deutschland setzt in schlagartig das Weltklima. puncto Klimaschutz auf den sogenannten Emissions­ handel. Keine neue Idee, der mittelalterliche Ablasshandel ist das Vorbild: Wenn ich an einer Stelle CO2 verbrauche, kann ich mich von der Sünde freikaufen, indem ich es an anderer Stelle wieder einspare. Angenommen also, Sie haben einen Porsche Cayenne und fahren im Monat 1000 km. Damit blasen Sie etwa 400 kg CO2 in die Luft. Diese immense Menge können Sie ganz leicht wieder einsparen und zwar durch – Atmung! Ich hab’s ausgerechnet: Wenn ich 35 Minuten lang die Luft anhalte, kann ich dafür mit einem Cayenne CO 2-frei zum Bäcker fahren. Man muss eben auch mal kleinere Brötchen backen. 18

Vince Ebert Vince Ebert ist Wissenschaftskabarettist und Physiker. Zuletzt von ihm erschienen: «Machen Sie sich frei! Sonst tut es keiner für Sie» (rororo).

Als ich ein Kind war, hatte man übrigens noch ganz andere Zu­ kunftsängste. Vor 30 Jahren prognostizierten viele Fachleute panisch eine bevorstehende Eiszeit. Damals gingen drei Jahrzehnte lang die Temperaturen kontinuierlich nach unten. Als jedoch in den 70ern die hoch toupierten Frisuren in Mode kamen, änderte sich schlagartig das Weltklima. Alleine der Haarsprayverbrauch meiner Mutter liess die Globaltemperatur innerhalb weniger Monate um 2,5 Grad nach oben schnellen. Und obwohl sie bald auf einen CO 2-neutralen Kurzhaarschnitt umstieg, hatte sie damit wohl eine andere tödliche Spirale in Gang gesetzt. Denn seitdem wird’s immer wärmer. Und die hohen Temperaturen steigen uns mehr und mehr zu Kopf. Mein Nachbar lässt mittlerweile sogar nachts sein Eisfach offen, um die Erderwärmung aufzuhalten. Wie gross sind also wirklich die Chancen, dass wir den Eskimos in dreizehn Jahren aufgrund unseres CO2-Ausstosses endlich Kühl­ schränke verkaufen können? Seriöse Forscher sind sich in dieser Frage vollkommen einig. Die Antwort lautet entschieden: «Wissenwir-nicht!» Nicht ganz zu Unrecht, denn unser Klima ist ein hochkomplexes System. Dutzende von Einflussgrössen stehen in kompliziertesten Wechselwirkungen zueinander. Und jeder Mathe­ma­tikstudent weiss: Schon eine Gleichung mit drei Unbe­ kannten ist nicht lösbar (während eine Begegnung mit drei Unbe­ kannten durchaus schöne Ergebnisse erzielen kann). Natur ist nichts anderes als Wandel. Und der Klimawandel ist eine Realität. Bleibt die Frage, wie und ob der Mensch dazu beigetragen hat. Das einzige, was wir sicher wissen, ist: In den letzten Jahrzehnten gingen die Temperaturen stark nach oben. Und wenn sich diese Entwicklung fortsetzt, werden sicherlich viele Regionen unseres Erdballs mit grossen Problemen zu kämpfen haben. Andererseits haben höhere Temperaturen durchaus auch positive Aspekte. Die Heizkosten weltweit werden sinken. Ganz Sibirien wird fruchtba­ rer werden. Und wenn ich an die Nordsee möchte, spare ich mir die Fahrt durch Holland.


Bild: Fotolia/Jan Will

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Debatte I

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Es darf übrigens bezweifelt werden, ob diese prognostizierten katastrophalen Szenarien tatsächlich so eintreffen, wie man uns medial weismachen will. Vor einigen Jahren untersuchte der Sozial­ psychologe Philip E. Tetlock die Prognosefähigkeit von Experten. Er bat 248 renommierte Fachleute, Voraussagen zu künftigen Er­ eignissen abzugeben. Nach Auswertung von insgesamt über 80 000 Zukunftsfragen kam er zu dem ernüchternden Ergebnis: Obwohl es sich bei den Befragten ausnahmslos um hochqualifizierte Fach­ leute handelte, die sich ihr Wissen teuer bezahlen liessen, schnit­ ten ihre Vorhersagen schlechter ab als Zufallsprognosen. Und noch schlimmer: Tetlock stellte eine bemerkenswerte Korrelation zwi­ schen der Qualität der Experten und der Häufigkeit, mit der sie im Fernsehen auftreten, fest, die auch als die «Goldene Regel der Sekt­ herstellung» bekannt ist: Die grössten Flaschen sind meistens auch die lautesten. Die Diskussion ist nicht beendet Nicht, dass Sie mich falsch verstehen: Die Erforschung des Klimas macht natürlich Sinn. Ich halte es für wichtig, herauszufin­ den, wie das komplizierte Wechselspiel von Ozeanen, Sonnenakti­ vität, Wolkenbildung und menschlichen Einflüssen funktioniert. Modellbildungen und Computersimulationen sind hierbei uner­ lässliche Hilfsmittel, um diese Zusammenhänge besser zu verste­ hen und einordnen zu können. Doch wenn hochrangige IPCC-Kli­ maforscher in Redaktionen anrufen, mit dem Ziel, skeptische Kollegen mundtot zu machen, oder wenn der Vorsitzende des Welt­ klimarates Rajendra Pachauri bei der Vorstellung des Weltklimabe­ richts wörtlich sagt: «Es geht in erster Linie darum, zu schockie­ ren!» – dann darf man sich nicht wundern, wenn einem der eisige Wind der Kritik ins Gesicht bläst. Seriöse Wenn die Wissenschaft hat es näm­ CO2-Bilanz stimmt, lich nicht nötig, alarmis­ ist uns tisch zu sein. die Umwelt egal. Entgegen medialer Ver­­ lautbarungen sind in der Klimaforschung viele Fra­ gen nach wie vor offen. Viele Mechanismen sind noch ungeklärt. Kein Wunder, denn die beobachteten Phänomene sind nun mal hochkompliziert. Gerade deswegen ist es irritierend, wenn alle paar Wochen Klimaexperten mit Aussagen wie «wir sind sicher, dass ...» oder gar «...die Diskussion ist beendet!» an die Öffentlich­ keit gehen. Denn: In der Wissenschaft gibt es keine absolut gülti­ gen Wahrheiten. Ich erkläre Ihnen das anhand eines Beispiels: Ein Bauer geht jeden Morgen zum Füttern in den Gänsestall und die Gänse denken sich: «Mensch, unser Bauer – ein super Kumpel!» Kurz vor Weihnachten allerdings wird den Gänsen schlagartig klar: «Irgendwas an unserer Theorie ist faul...» Im wissenschaftlichen Fachjargon nennt man so etwas «Falsifizierbarkeit». Jede Theorie gilt nur so lange als richtig, bis sie entkräftet und durch eine besse­ re ersetzt wird. Und dadurch irren wir uns quasi nach oben. 20

Unglücklicherweise lässt sich mit dem Eingeständnis der eige­ nen Fehlbarkeit nur sehr schlecht Einfluss ausüben. Kein Staats­ mann, der sich hinstellt und sagt: «Och, eigentlich haben wir keine Ahnung ...», wird gewählt. Insgeheim sehnen wir uns alle nach kla­ ren, einfachen Wahrheiten – auch wenn sie eventuell falsch sind. Das ist wahrscheinlich der Hauptgrund dafür, dass nahezu alle Politiker die Klimaforschung so lieben. Man stabilisiert lieber die Globaltemperatur für das Jahr 2100 als den Staatshaushalt für nächstes Jahr. So gesehen geht es in der Klimapolitik keineswegs ums Klima, sondern ebenso um Macht, um Ideologie. Und es geht um die Beschränkung der menschlichen Freiheit. Man will die freie und spontane Entwicklung der Menschheit durch eine zentralisti­ sche Art der Planung ersetzen. Die Argumentation ist klar: Wenn es ums Klima geht, darf uns eben kein Opfer zu gross sein! Früher wurden ganze ICE-Trassees verlegt, um den Wachtelkönig oder die Mopsfledermaus zu retten, heute setzt man sich dafür ein, die ge­ samte Nordseeküste mit Windkraftanlagen zuzubetonieren. Das sei zwar nicht schön, aber das Wattenmeer sterbe dann wenigstens für eine gute Sache, denken die Klimaschützer. Und darauf kommt es doch an. Wenn die CO2-Bilanz stimmt, ist uns die Umwelt egal. Deswegen ist die Durchsetzung des Kyoto-Protokolls ja auch so wichtig. Das Kyoto-Protokoll basiert im wesentlichen auf der Idee, zwei Billionen Euro für Massnahmen auszugeben, die dafür sor­ gen, dass Bangladesch nicht 2050 absäuft – sondern erst fünf Jahre später. Das ist nicht nur ökonomischer Irrsinn, sondern schadet letztlich genau denjenigen, die durch den Klimawandel die gröss­ ten Probleme haben werden. Laut UN-Schätzungen könnte man für die Hälfte der Kosten von Kyoto die schlimmsten Probleme der Welt dauerhaft lösen: Trinkwasser, Sanitärhygiene, Gesundheits­ versorgung, Bildung. Investitionen also, die sofort Leben retten würden. Genau aus diesem Grund habe ich mit Leuten wie Al Gore ein Problem: weil sie vor lauter Weltretterei die Menschen vergessen. Weil sie von einer Gesellschaftsordnung träumen, in der nicht der Mensch, sondern das Klima an erster Stelle steht. Und weil sie eine Ideologie vertreten, die als grundsätzliche Ursache für die Proble­ me der Welt allein die Verbreitung des Homo sapiens sieht. Ich habe bis zum heutigen Tage nicht verstanden, warum das einen Friedensnobelpreis wert ist. �


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Debatte II

It’s the sun, stupid! Nicht der Mensch sei für steigende Temperaturen und Meeresspiegel verantwortlich, meint Fred Singer, sondern die Sonne. Verantwortlich dafür, dass das kaum jemand weiss, sei vor allem der politisch instrumentalisierte Weltklimarat IPCC. Eine Provokation. Michael Wiederstein und Florian Rittmeyer treffen Fred Singer

Herr Singer, Sie sind ein sogenannter «Klimaskeptiker», manche nennen Sie gar einen «Klimaleugner» – weil Sie mit den Verlautbarungen des Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC) nicht einverstanden sind. Wie lebt es sich auf der «schwarzen Liste» der Klimaforschung? Ich bin für viele zu einer Persona non grata geworden. Und es gab ein paar einst befreundete Wissenschafter, die irgendwann nichts mehr mit mir zu tun haben wollten. Sie haben wahrscheinlich gedacht, wenn sie zu oft mit mir gesehen würden, drehe man ihnen den Geldhahn ab. (lacht) Das ist verständlich. Denn letztlich sind Wissenschafter von Forschungsgeldern abhängig. Richtig. Und an die kommen Wissenschafter am ehesten, wenn sie sensationelle Forschungsergebnisse publizieren können, besten­ falls solche, die Gesellschaft und Politik aufschrecken. Je alarmie­ render – ich würde sogar sagen: alarmistischer – die Ergebnisse, desto geringer die politische Hemmschwelle bei der Bewilligung von Geldern. Das IPCC ist also die ideale Bühne, um an politisch verteilte Forschungsgelder zu kommen. An diese Gelder wollen Sie doch auch. Geht es um Ihre Person, führen Kritiker stets an, Sie hätten Geld von Exxon erhalten… Ich bekam vor Jahren einmal eine Zuwendung in Form eines Schecks über 10 0 00 Dollar aus der Ölindustrie. Ich habe mich noch gewundert, warum das so wenig war! (lacht) Exxon finan­ ziert an amerikanischen Universitäten seit Jahren Klimafor­ schung und -studien im Wert von über 100 Millionen US-Dollar. Denen ist dann auch ziemlich egal, was alarmistische Forscher mit ihrem Geld anstellen. Denn Exxon oder BP verkaufen Benzin, weil die Leute Auto fahren. Und das tun die Menschen auch dann noch, wenn man ihnen sagt, dass das nicht so gut fürs weltweite Klima sei. Die Wirtschaft spielt das Spiel einfach mit, um sich gute Publicity zu sichern. Das von Ihnen kritisierte IPCC ist kein wirtschaftlicher Global Player, sondern eine UNO-Organisation, die Daten zum Weltklima untersucht, zusammenfasst und eine Erklärung herausgibt, die die

Fred Singer Fred Singer ist Atmosphärenphysiker und Gründer des Science and Environmental Policy Projects (SEPP).

Datenlage allgemeinverständlich erklären will. Was soll daran falsch sein? Bei genauerer Betrachtung stellt sich heraus, dass die Organisation von einer Handvoll Wissenschafter kontrolliert wird. Sie nutzen die Plattform, um Einfluss auf die globale Klimapolitik zu nehmen. Sie schrecken nicht einmal davor zurück, Daten, die im Report stehen, für die anschliessende Zusammenfassung in ihrem Sinne abzuändern. Das ist ein harter Vorwurf. Aber er ist begründet. Es ist nicht untypisch, dass die Zusammenfassung Je alarmierender die Ergebnisse, desto geringer die ganz andere Zahlen und Daten beinhaltet als der ei­ politische Hemmschwelle bei gentliche Report. Die Poli­ der Bewilligung von Geldern. tik ist auf Vereinfachungen angewiesen, und Politiker lesen – wenn überhaupt – nur die zehnseitige Zusammenfassung – oder gar nur die einseitige Pressemitteilung. Das ist ein politisches, kein wissenschaftliches Problem. Beide Parteien sind beteiligt. Die Politiker beschliessen aufgrund tendenziöser Zusammenfassungen wissenschaftlicher Studien globale Klimaschutzziele. Das Kyoto-Protokoll zum Beispiel kam infolge des zweiten IPCC-Berichts von 1996 zustande. Wir wissen heute, dass der sogenannte Konsens in der Klimawissenschaft, wie er 1995 im Bericht des IPCC erstmals erwähnt wurde, keiner ist. Einzelne Aussagen wurden bewusst verändert. Sie waren als wissenschaftlicher Gutachter beteiligt. Was genau ist vorgefallen? 21


Fred Singer, photographiert von Philipp Baer.

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Ich bemerkte, dass der fertige Entwurf des «Berichts für Entschei­ dungsträger» in der Zeit zwischen der Unterzeichnung durch die Wissenschafter und der Veröffentlichung abgeändert wurde. Schlüsselelemente wie der Passus «Wir können nichts über den Ursprung des Temperaturanstieges sagen» wurden sinngemäss zugunsten eines «Die Faktenlage legt nahe, dass menschliche Einflüsse für den Temperaturanstieg verantwortlich sind» geän­ dert. Das ist leicht nachprüfbar und wird auch vom Urheber nicht verleugnet. Wie konnte so etwas passieren? Die Änderungen hat ein junger amerikanischer Wissenschafter na­ mens Benjamin Santer vorgenommen, der auf Nachfrage angab, dass er von am Abschluss­ bericht mitarbeitenden Politikern dazu angehalten wurde. Aber nicht nur im Alarmistische Daten werden aufgrund neuerer Messungen Ausdruck finden sich Un­ terschiede zwischen legiti­ durch Wetterballons und mierter und veröffentlichter -satelliten nicht bestätigt. Version: Santer veränderte auch einige Graphiken, so dass schliesslich die Zu­ sammenfassung des Reports den Daten im wissenschaftlichen Teil nicht mehr entsprach. Denn der Report selbst gibt keinen Auf­ schluss darüber, wer oder was für einen prognostizierten Anstieg der globalen Durchschnittstemperatur verantwortlich ist. Es han­ delte sich also – ganz offiziell – um eine Manipulation. Wie verhält es sich mit der Qualität des wissenschaftlichen Teils des IPCC-Reports? Im dritten Report von 2001 fand sich darin beispielsweise die be­ rühmte Hockeyschlägerkurve, die den Anstieg der globalen Durch­ schnittstemperatur veranschaulichen sollte. Sie ist mittlerweile von Statistikern widerlegt worden: egal, mit welchen Daten das zugrunde liegende Modell gefüttert wird – aufgrund des Modell­ aufbaus entsteht stets die gleiche Kurve. Man findet diese umstrit­ tene Hockeyschlägerkurve trotzdem bis heute in jeder Präsenta­ tion zum Thema Klimawandel und auch in vielen Schulbüchern. Man könnte antworten: niemand ist unfehlbar. Auch der beste Klimawissenschafter nicht. Am tatsächlichen Bericht ist wissenschaftlich trotz einiger Fehler in der Tat wenig auszusetzen, denn Fehler sind auch in der Wis­ senschaft nicht vermeidbar; sie werden in der Regel entdeckt und dann getilgt. Der neuste Bericht von 2007 ist letztlich eine Zu­ sammenstellung veröffentlichter Arbeiten aus der Klimawissen­ schaft, die allgemeine Anerkennung geniessen. Auch meine, des­ wegen greife ich auf diese Datensammlung in Vorträgen stets gern zurück. Meine Kritik betrifft die Zusammenstellung: die versam­ melten Vorträge bilden die Gesamtheit der Forschung zum Thema nämlich nicht ausreichend ab! Ich kritisiere, dass der Katalog des

Debatte II

IPCC kaum Forschungsergebnisse beinhaltet, die nahelegen, dass das Klima vom Menschen gar nicht oder nur sehr bedingt beein­ flusst wird. Sie sprachen die in den Berichten publizierten Forschungsergebnisse bereits an: 9 von 10 Klimawissenschaftern sind sich demnach sicher, dass wir das Klima entscheidend beeinflussen… ...um den Ursprung von Temperaturveränderungen zu ermitteln, greifen die allermeisten Klimawissenschafter auf Daten zurück, die in Wetterstationen auf der ganzen Welt gesammelt wurden und eine durchschnittliche Erwärmung von 1910 bis 1940, eine Abküh­ lung bis Mitte des Jahrhunderts und eine erneute Erwärmung bis 2000 zeigen. Steigende Durchschnittstemperaturen legitimieren ein Eingreifen der Politik. Und das Nachweisen dieser angeblich stark steigenden Temperaturen kann mit einem statistischen Trick erfolgen: man zieht bloss die Wetterstationsdaten der letzten 50 Jahre heran. Nähme man die Daten der letzten 100 oder 200 Jahre, sähe die Sache schon ganz anders aus – und längst nicht so alar­ mierend, denn man könnte anhand dieser Periode anschaulich zei­ gen, dass die globale Durchschnittstemperatur natürlich schwankt, unabhängig von menschlichen Aktivitäten. Der Nachweis einer sich beschleunigenden anthropogenen Erwärmung ist wissen­ schaftlich also weder sauber noch aussagekräftig! Hinzu kommt, dass die alarmistischen Daten aufgrund neuerer Messungen durch Wetterballons und -satelliten einfach nicht bestätigt werden. Diese den Bodendaten widersprechenden Messungen stärken Ihre Skepsis. Aber sind sie auch wissenschaftlich anerkannt? Absolut. Der Durchschnittswert der Bodendaten hat den Nachteil, dass er aus Messungen von Orten stammt, die auf unserer Erdkugel weit auseinanderliegen und durchaus ein eigenes Mikroklima ha­ ben. Einige dieser tausend Wetterstationen zeigen eine Erwär­ mung, andere nicht. Da aber die meisten der Messstationen in urbanen Regionen liegen, die tatsächlich wärmer werden, weil dort immer mehr Menschen leben, entsteht über die primäre Ungenauig­ keit hinaus noch ein offensichtliches Zerrbild der Datenlage. Denn: wenn Sie die Temperatur nur auf Flughäfen messen, die in der Nähe von wachsenden Städten liegen, so ist ein Trend zur Erwär­ mung wahrhaftig keine Überraschung. Man hat sogar einen wis­ senschaftlichen Namen dafür: «Urban Heat Island Effect». Der ist altbekannt. Stimmt. Die Auswahl hat man gerechtfertigt, indem man darauf verwies, dass es die zuverlässigsten Quellen seien, da sie perma­ nent gewartet würden. Dagegen ist prinzipiell auch nichts einzu­ wenden. Wenn man aber weiss, dass die gut gewarteten Wettersta­ tionen ausnahmslos in und um Städte herum positioniert sind, ist das Ergebnis ihrer Messungen keine besondere Überraschung. Über die globale Durchschnittstemperatur sagt der ermittelte Trend aber leider rein gar nichts aus. Die ausgewerteten Daten von Wetterballons, die die Atmosphäre bis in eine Höhe von 30 Kilome­ tern dokumentieren, zeigen aber seit Jahren keine Erwärmung. 23


Debatte II

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Sie sagen also: die Bodendaten sind nutzlos, und in Wirklichkeit gibt es derzeit keine Erwärmung? Seit dem Jahr 2000 ist abseits der Hitzeinseln keine Erwärmung mehr messbar, das geben sogar renommierte Klimawissenschafter wie Phil Jones zu. Noch spannender wird die ganze Geschichte, wenn man noch die sogenannten Proxy-Daten, also aus Eisbohr­ kernen entnommene, an Baumringen abgelesene oder geologisch anderweitig nachweisbare Daten, hinzuzieht. Denn auch diese zei­ gen keine aussergewöhnliche Erwärmung in den letzten 50 Jahren. Sie zeigen nichts, was besonders alarmierend oder beispiellos in der Geschichte der Menschheit wäre. Ganz grundsätzlich gefragt: welches sind die entscheidenden Faktoren, dass sich das Klima überhaupt verändert? Je nachdem, welche Zeitspanne man untersucht, ergeben sich ver­ schiedene Erklärungen für Klimaveränderungen: von Kontinental­ verschiebungen über die Entstehung von Gebirgen bis hin zu extre­ men Vulkanausbrüchen. Interessant ist in diesem Zusammenhang auch eine Publikation von Ulrich Neff, Augusto Man­ gini und anderen im Maga­ zin Nature. Sie untersuch­ Der Haupteinfluss ten die Schichtung von auf unser Klima geht Stalagmiten und konnten von der Sonne aus, einen direkten Zusammen­ nicht vom Menschen. hang von Sonnenaktivität und Klimaerwärmung nachweisen. Der Hauptein­ fluss auf unser Klima geht also von der Sonne aus, nicht vom Men­ schen. Nun frage ich Sie: wieso hat das IPCC diese – weithin bekann­ ten – Forschungsergebnisse nicht in seinen Bericht aufgenommen? Weil der Einfluss der Sonne auf das Klima unbestritten, jedoch nicht markant genug ist? Nein. Weil diese Forschungen bisher nicht ins Konzept der feder­ führenden Wissenschafter des IPCC passten. Aber langsam tut sich auch dort etwas: ich bin optimistisch, dass die Studie, nebst eini­ gen anderen, im nächsten IPCC-Bericht Erwähnung findet. Sollten nicht gerade Wissenschafter erpicht darauf sein, Gegenmeinungen anzuhören – um dann durch ihren potentiellen argumentativen Triumph über diese Gegenmeinung die eigene Position zu stärken? Wissenschaft sollte so funktionieren. Allein: sie tut es oft nicht, wenn die Resultate brisante politische Implikationen haben. Sie funktioniert nur – das wissen wir seit Karl Popper –, wenn man Theorien aufstellt, die falsifizierbar sind. Die Modelle, mit denen viele Klimawissenschafter die klimatische Zukunft vorausberechnen, entziehen sich prinzipiell der Falsifizierbarkeit. Das wäre meine zugegebenermassen ziemlich allgemeine und bescheidene Kritik an der Klimawissenschaft. 24

Bei der Validierung der von Ihnen angesprochenen mathemati­ schen Modelle wird auf drei Ebenen geschlampt. Zunächst liefern die Modelle bei gleichem Datenfutter immer unterschiedliche Er­ gebnisse, teils weichen sie um Faktor 10 voneinander ab. Zweitens lässt man sie nicht oft genug – also mindestens 10mal – laufen, um aus dem Durchschnitt ein Ergebnis zu erhalten, das sich in weite­ ren Durchläufen nicht mehr fundamental ändert. Im IPCC-Bericht finden 22 dieser Modelle Erwähnung, keines ist für das Ergebnis mehr als fünfmal gelaufen. Und drittens und am verblüffendsten: keines der Modelle ist bis heute in der Lage, mit den vorliegenden Daten die jüngere Vergangenheit so zu berechnen, wie sie tatsäch­ lich gemessen wurde. Mit Wissenschaft hat das Modellieren also nichts zu tun. Weil CO2 ein Treibhausgas ist, das sich in der Atmosphäre ansammelt, ist es trotzdem nur logisch anzunehmen, dass diese Ansammlung letztlich zu einem Temperaturanstieg führt. Das stimmt. Einige Skeptiker bezweifeln, dass der Treibhauseffekt existiert, ich gehöre nicht zu ihnen. Es ist für mich nur logisch, dass ein Lebewesen seine Umwelt und damit das Klima beeinflusst – erst recht, wenn es ein so entwickeltes, hochtechnisiertes, erfin­ derisches Wesen ist wie der Mensch. Allein: der Einfluss ist ver­ mutlich deutlich geringer, als uns die genannten Modelle glauben machen sollen. Und andererseits ist unser Klima viel komplizier­ ter, als die Modelle suggerieren – und dieser Umstand wird unter­ schlagen. Nehmen Sie beispielsweise einmal die Wolkenbildung: jeder weiss, dass Wolken verschiedene Einflüsse auf das Klima ha­ ben. Tagsüber spenden sie Schatten und kühlen, nachts hält eine geschlossene Wolkendecke die Wärme davon ab, nach oben zu ent­ weichen. In den Modellen spielen sie keine Rolle. Wenn es stimmt, was Sie sagen: Wieso werden offensichtliche Ungereimtheiten dann nicht von den beteiligten Wissenschaftern thematisiert? Weil sie ungemütlich sind. Und ungemütliche Fakten finden sich im fertigen IPCC-Bericht nur sehr selten. Sicher spielt auch das Be­ wusstsein eine Rolle, dass die Öffentlichkeit nun einmal auf ein­ deutige Aussagen angewiesen scheint. Unsicherheiten, die den Forschungsbetrieb a priori kennzeichnen, ihn motivieren, kom­ men draussen nicht gut an. Es gibt einfach Dinge, die wir gegenwär­ tig nicht verstehen oder nicht wissen können. Aber ich glaube, dass Ehrlichkeit und Redlichkeit die besten Mittel sind, um der Öffent­ lichkeit gegenüberzutreten. Auch wenn dieses Geständnis dafür sorgt, dass die Wissenschaft im Auge vieler unbedarfter Beobach­ ter nicht besonders gut dasteht. �


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Debatte III

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Herr Singer, die Wahrheit und der Klimawandel Die Sonne – und nicht der Mensch – ist verantwortlich für den Anstieg der globalen Durchschnittstemperatur? Keineswegs, meint Andreas Fischlin. Auch ansonsten hält der ETH-Wissenschafter wenig von den Verlautbarungen vieler «Klimaskeptiker». Eine Replik. von Andreas Fischlin

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n einem einzigen Punkt gebe ich Herrn Singer voll und ganz recht: Ehrlichkeit und Redlichkeit sind die besten Mittel, um der Öffentlichkeit gegenüberzutreten. Als Wissenschafter pflege ich mich deshalb auf inhaltlich-sachliche Argumente zu konzentrie­ ren. Mit dieser Replik sehe ich mich aber gezwungen, von dieser Regel zum Teil abzuweichen. Ich schicke an dieser Stelle bereits voraus, dass Herr Singer erstens kein aktiver Klimaforscher ist und es, zweitens, gerade mit der «Ehrlichkeit und der Redlichkeit» nicht besonders genau nimmt. Drittens: Klimaforschung ist heute so breit, dass ein einzelner nie in allem Experte sein kann. Das trifft selbstredend auch auf mich zu, und viele von Singer ins Feld ge­ führte Themen fallen nicht in meine Kernkompetenz. Dennoch werde ich im folgenden seinen zentralen Vorwürfen entgegentreten. Eine immer wieder von Singer vorgetragene Kritik am IPCCBericht zielt auf die sogenannte Hockeyschlägerkurve. Singer be­ hauptet, die Hockeyschlägerkurve aus dem IPCC-Bericht von 2001 sei mittlerweile von Statistikern widerlegt worden. Das ist mir nicht bekannt, und ich zweifle, dass Herr Singer hierfür irgendei­ nen Beleg hat. Zwar trifft zu, dass methodisch-statistische Kritik an der Kurve geäussert wurde und dass in der zugrunde liegenden wissenschaftlichen Arbeit technische Fehler entdeckt wurden. Was Singer aber verschweigt: den Kritikern sind in ihrer Analyse ebenfalls wissenschaftliche Fehler unterlaufen und an der Ho­ ckeykurve waren bloss geringfügige Korrekturen erforderlich1. Die wesentlichen Erkenntnisse, die der Hockeystick illustriert, sind je­ doch korrekt. Sie zeigen erstens, dass die schon vor zehn Jahren messbare Erwärmung sich deutlich aus dem Bereich der langfristi­ gen natürlichen Schwankungen heraus bewegte, und zweitens, dass die heutigen Temperaturen diejenigen vergangener, warmer Epochen – auch die der mittelalterlichen Warmzeit, mit der Herr Singer gern argumentiert – übersteigen2. Zudem zielen Singers Vorwürfe am Wesentlichen vorbei: Fügt man (wie im vorletzten IPCC- Bericht geschehen) die Temperatu­ ren der letzten 1000 Jahre und die Projektionen für eine mögliche Erwärmung dieses Jahrhunderts aneinander, so ergibt sich nach wie vor ein Hockeystick. Ob der Stil am Hockeyschläger also etwas mehr oder weniger Krümmungen aufweist, ist letztlich irrelevant. Relevant ist hingegen, dass ohne wirksamen Klimaschutz die Spit­ 26

Andreas Fischlin Andreas Fischlin ist Leiter der Gruppe Terrestrische Systemökologie am Institut für Integrative Biologie der ETH Zürich. Er war u.a. hauptverantwortlicher Autor bei der Verfassung des Kapitels «Ecosystems, their properties, goods, and services» des vierten Wissensstandsberichtes des IPCC «Climate Change 2007».

ze des Schlägers für das Jahr 2100 Temperaturen aufweist, die auf diesem Planeten letztmals vor 3 oder 40 Millionen Jahren herrsch­ ten! Und nicht ohne Folgen: Damals im Pliozän, vor 4 Millionen Jahren, war Grönland eisfrei und der Meeresspiegel lag 15 bis 25 Meter höher als heute. Herr Singer behauptet, dass Klimamodelle als Mittel zur Ab­ schätzung zukünftiger Temperaturen nichts taugten, da sie nicht genügend überprüft seien und nicht einmal vergangene Tempera­ turänderungen nachrechnen könnten. Beides sind unzutreffende Behauptungen: Klimamodelle basieren auf physikalischen Geset­ zen, und ihre Berechnung hat eine lange Tradition. Sie wurden zu­ nächst für die Wettervorhersage entwickelt, wo sie sich ständig, allerdings jeweils nur für wenige Tage, bewähren müssen. Klima­ modelle sind ähnlich, aber man betreibt sie im Langzeitmodus. Nur so lassen sich Ausreisser durch zufällige Witterungsschwan­ kungen ausgleichen und werden Klimatrends erkennbar. Der Be­ trieb dieser Modelle ist teuer: ein Lauf zur Berechnung von zwei Jahrhunderten mit einem modernen Klimamodell kostet beinahe eine halbe Million CHF. Trotzdem arbeiten Heere von Wissen­ schaftern mit grossem Aufwand an der Überprüfung und stetigen Verbesserung dieser Modelle. Sie machen auf den hierfür erforder­ lichen Hochleistungsrechnern so viele Läufe als möglich, und das sind Tausende. Die Ergebnisse werden immer besser und sind zu­ friedenstellend: Gemessene jahreszeitliche und regionale Muster, Schichtungsmuster bis hin zu vergangenen Klimaänderungen wer­ den durch die Modelle gut wiedergegeben3. Zu behaupten, dass da gar keine Übereinstimmung mit Messwerten vorliege oder gar dass Überprüfungen unwillkommen wären, ist irreführend. Ja, der Klimawandel hat sich in der Tat in den letzten Jahrzehn­ ten sehr wohl beschleunigt. Herr Singer unterstellt nun dem IPCC, die Daten der letzten 100 bis 200 Jahre nicht ausreichend betrach­


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tet zu haben, was unwahr ist. Das IPCC hat sämtliche zur Verfü­ gung stehenden Daten ausgewertet, vor allem auch die aus der so­ genannten instrumentellen Periode, der jüngeren Geschichte also, bei der wir über genaue Messungen verfügen. Die verlässlichsten Daten umfassen die letzten 150 Jahre. Schon die Zusammenfassung für Entscheidungsträger des Syntheseberichts des IPCC zeigt dies, wie jedermann selbst nachprüfen kann 4. Anhand dieser Messun­ gen kann man auch ablesen, dass Singers Behauptung, neueste Entwicklungen seien vergleichbar mit vergangenen, keineswegs zutrifft: Laut Auswertung der amerikanischen Raumfahrtbehörde NASA war 2010 das wärmste je gemessene Jahr. Es übertrifft damit das warme 2005 und auch das bisher wärmste, als El-Niño-Jahr be­ sonders warme 1998. Gleiches gilt für das ganze letzte Jahrzehnt, das ebenfalls eindeutig das wärmste je gemessene war. Studien zei­ gen: den städtischen Wärmeinseleffekt gibt es zwar, er ist aber ver­ nachlässigbar (unterhalb 0,006° C pro Dekade) und kann die globa­ len Trends nicht erklären. Das statistische Ausklammern ungünstig aufgestellter Messstationen sorgt überdies nicht dafür, dass die ge­ messene Erwärmung sich in Luft auflöst, wie Singer weiter be­ hauptet. Ironischerweise zeigen neueste Untersuchungen5, dass sich sogar das Gegenteil von dem ergibt, was Singer gerne hätte: beim Weglassen der schlecht aufgestellten Stationen kommt die Erwärmung teilweise gar deutlicher zum Vorschein. Satellitenmessungen und der natürliche Einfluss der Sonne Herr Singer meint, dass sich Satelliten zur Temperaturbestim­ mung besser eigneten als genaue Thermometer, da sie eine globale Abdeckung gewährleisteten. Letzteres, das ist zutreffend, macht Fernerkundungsdaten attraktiv. Doch erkauft man sich dafür er­ hebliche Nachteile, die Singer wiederum verschweigt: Satelliten messen erst seit 1979, leiden bis heute an Kalibrierungsschwierig­ keiten und wechseln häufig die Messinstrumente und Abdeckungs­ regionen. Singers Behauptung, der IPCC-Bericht klammere Satelli­ tendaten aus, ist zudem schlicht falsch: Figuren und Texte schenken diesen Daten viel Aufmerksamkeit. Schliesslich zeigen auch die Satellitendaten eine Erwärmung seit 1979, ähnlich der mit den verlässlicheren Bodenstationen gemessenen: Aus den Satelli­ tendaten ergibt sich eine Erwärmung von +0,12 bis 0,19° C, die Bo­ denstationen zeigen eine Zunahme von +0,16 bis 0,18° C pro Dekade. Soll, wie Singer behauptet, die Sonne diese Erwärmung verur­ sachen? Keineswegs. Die Atmosphäre enthält heute 40 Prozent mehr CO2 als in vorindustrialisierten Zeiten, eine Menge also, die mindestens in den letzten 800 000 Jahren nie erreicht wurde. Im Zeitraum zwischen der Inbetriebnahme erster mit Koks betriebener Hochöfen und der Erfindung des «iPhone» wurde eine Erhöhung der mittleren Erdtemperatur um 0,74° C gemessen, was gut mit den Erwartungen übereinstimmt, die sich also durch den CO2-Anstieg mittels Treibhauseffekts ergeben – den Herr Singer ja nicht bestreitet. Hierbei haben Schwankungen der Sonnenaktivität lediglich einen Beitrag von 7 Prozent geleistet – seit Ende der 80er Jahre zeigt sich sogar ein gegenteiliger Effekt, die Sonnenaktivität schwächt sich ab. All das zeigt: die Sonne kann als natürliche Ursache für die beob­

Debatte III

achtete Erwärmung nicht verantwortlich gemacht werden6. Auch in der von Singer erwähnten Arbeit von Mangini wird unzulässiger­ weise von einer Punktbeobachtung in einer Tropfsteinhöhle auf das Weltklima geschlossen und damit keineswegs ein Beweis für die Sonne als Ursache der heutigen Erwärmung beigebracht. Schliess­ lich zeigt die durch Singer selbst erwähnte Abkühlung der oberen Luftschichten, dass der Treibhauseffekt wirksam ist. Nur der An­ stieg der CO2-Konzentration kann erklären, wieso am Boden eine Erwärmung und in der Stratosphäre eine Abkühlung stattfindet. Wäre die Sonne verantwortlich, so müsste sich die ganze Atmo­ sphäre gleichmässig erwärmen. Bei der Behauptung Singers, die Erde reagiere weit weniger empfindlich auf die Verdoppelung des CO 2 als durch die Klima­ modelle «angenommen», übersieht er, dass diese sogenannte Klimasensitivität auch zu vergangenen Klimaänderungen passen sollte. Errechnet man ohne Klimamo­delle den Zusammenhang zwi­ schen CO2 und Gleichgewichtstemperaturen für die letzten 420 Millionen Jahre, so ergibt sich ein Wert von 2,8° C. Diese Zahl liegt nahe beim sich auf viele andere wissenschaftliche Arbeiten abstüt­ zenden, besten Schätzwert des IPCC von 3° C. Es ist unbestritten, dass hier tatsächlich er­ hebliche Unsicherheiten die Wissenschaft plagen. Singer verschweigt, dass den Doch handelt es sich bei meisten seiner Behauptungen diesem «Argument» um ein z we i s c h n e i d i ges belegte Gegenargumente Schwert. Nimmt man die entgegengehalten wurden. Unsicherheiten wirklich ernst, so bedeuten sie, dass nicht bloss schwächere, sondern auch weit stärkere Erwärmungen auf uns zukommen könnten. Bei einem vorsichtigen Umgang mit Risiken ergibt sich daraus nicht das Nichtstun, sondern eher das Gegenteil7. Die Person Singer Schliesslich – und leider unvermeidbar – zurück zur Person von Herrn Singer. Er ist meines Wissens seit den 1970er Jahren kein aktiver Forscher mehr8 und kann demnach auch auf keiner schwar­ zen Liste der Klimaforschung stehen. Das tut seinen vorherigen Arbeiten sicher keinen Abbruch, macht ihn aber auch nicht zum Klimaexperten für alle Belange. Bei meinen Recherchen über seine Tätigkeiten ist mir aufgefallen, dass er mit schwerwiegenden Vor­ würfen gegen einzelne Forscher oder den ganzen IPCC nicht spart, ihm aber bei sachlichen Argumenten die stichhaltigen Belege feh­ len. Wird er widerlegt, beginnt er zu schweigen oder wiederholt unverfroren die gleichen Behauptungen, wobei er die in der Zwi­ schenzeit offensichtlich gewordenen Gegenbelege unterschlägt 9. In den 90er Jahren hat Singer aufgehört, die von ihm bis anhin de­ mentierte Schädlichkeit des Passivrauchens zu bestreiten und hat sich dem Thema Klimawandel zugewandt. Seither argumentiert er motiviert von der gleichen, vorgefassten Haltung her: Klimaschutz bzw. das Kyoto-Protokoll seien wirtschaftlich ruinös10. Er tut dies, 27


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ohne etwas aus den seither gewonnenen Forschungsergebnissen, die das Gegenteil ergaben, zu lernen. Weder vorgefasste Meinun­ gen noch rosinenklauberisches Auswählen passender Daten und Ergebnisse, noch das Ignorieren neuer Erkenntnisse sind in der Wissenschaft zulässig. Im Gegenteil: das Vorgehen Singers muss als pseudowissenschaftlich bezeichnet werden. Ich möchte klarstellen: am letzten IPCC-Bericht haben 1369 Autoren mitgeschrieben, mehr als 2500 Gutachter haben die Texte überprüft, Zehntausende wissenschaftlicher Originalarbeiten von Zehntausenden Forschern sind berücksichtigt worden. Beim an­ geblichen Gegenbericht, dem NIPCC-Bericht, den Fred Singer mit Craig Idso geschrieben hat, sind es ganze 37 Personen, inklusive Gutachtern und Sekretärinnen, die mitgewirkt haben. Dieser Be­ richt kopiert in vermutlich bewusst verwirrender Absicht das Er­ scheinungsbild des letzten IPCC-Berichts, ist durch die Wiederho­ lungen immer gleicher Zitate unnötig aufgebläht und argumentiert durchwegs rosinenklauberisch. Er genügt wissenschaftlichen An­ forderungen nicht und ist aus oben genannten Gründen als pseu­ dowissenschaftliches Machwerk zu bezeichnen.

hebt seit 1996 nicht nur gegen den IPCC als Ganzes Vorwürfe, son­ dern schreckt bis heute nicht davor zurück, auch einzelne Wissenschafter persönlich anzugreifen. Herr Singer hat bislang etwa keinen einzigen Beleg für seine teils schwerwiegenden Vor­ würfe gegen Ben Santer vorgelegt, und er lässt unerwähnt, dass viele, nicht zuletzt durch ihn ausgelöste Untersuchungen in die­ sem Fall gezeigt haben, dass die Vorwürfe unhaltbar waren und als widerlegt gelten. Er verschweigt auch hier, dass im Verlauf der Jah­ re den meisten seiner Behauptungen belegte Gegenargumente ent­ gegengehalten wurden. Zudem haben nicht bloss einzelne Wissen­ schafter ihm widersprochen, sondern auch Institutionen wie Akademien, die NASA, Universitätsverbände oder der IPCC. Wer angesichts dieser Sachlage unbeirrt an vorgefassten Resultaten festhält, wer wissenschaftliche Ergebnisse aus seriöser Forschung – weil nicht ins Weltbild passend – ausklammert, verschweigt, ver­ zerrt und haltlose Unterstellungen macht, was die mir bekannten Tätigkeiten und Veröffentlichungen von Herrn Singer seit Jahr­ zehnten wie ein roter Faden durchzieht, kann nicht in Anspruch nehmen, ein redlicher und ehrlicher Wissenschafter zu sein. �

Wissenschaft und Forschungsgelder Herr Singer schreibt aber nicht nur fleissig Leserbriefe und Berichte, sondern macht auch Unterstellungen schwerwiegenderer Art, indem er die Wichtigkeit von Forschungsgeldern für die Wis­ senschaft ins Feld führt – bloss um im gleichen Atemzug zu behaup­ ten, alle Klimaforscher ausser ihm seien dadurch korrumpiert. Ja, Wissenschafter sind auf Forschungsgelder angewiesen. Damit aber zu unterstellen, dass alle Wissenschafter mit Ausnahme von Herrn Singer und anderer sogenannter «Skeptiker» nicht der Wahrheit verpflichtet seien, ist eine böse Unterstellung, die der Kenntnis des gegenwärtigen Wissenschaftsbetriebs entbehrt. Es entspricht nicht der Realität, dass vor allem dann Gelder gesprochen werden, wenn alarmistische Ergebnisse vorliegen. Der Wettbewerb um die be­ grenzten Forschungsgelder ist gewaltig. So monierte der Präsident des Schweizerischen Nationalfonds Dieter Imboden kürzlich, dass in den letzten Jahren über die Hälfte der Gesuche abgelehnt werden mussten. Da Forschung höchsten wissenschaftlichen Standards genügen muss, werden Gesuche durch unabhängige Gutachter beurteilt, also von potentiellen Konkurrenten um die begrenzten Mittel. Wie wahrscheinlich ist es, dass dabei jahrzehntelang unred­ liche Wissenschaft nicht aufgedeckt würde? Auch behauptet Herr Singer, dass der IPCC durch eine Handvoll Wissenschafter kontrol­ liert werde. Denkt er allen Ernstes, alle Regierungen dieser Welt liessen sich so auf der Nase herumtanzen? Glaubt er, Flugdienste, Bauern, kriegführende Armeeleitungen würden stillhalten, wenn sie unzutreffende Wetterdaten vorgesetzt bekämen, da die Wetter­ dienste – einer Handvoll IPCC-Autoren gehorchend – die Tempera­ turmessungen ständig nach oben fälschten? Und das alles, weil man angeblich umso mehr Forschungsgeld bekomme, je alarmistischer man argumentiere? Wo sind die Belege für solche Behauptungen? Leider haben die Unterstellungen von Singer in der Vergangen­ heit auch schon wiederholt zu erheblichen Folgen geführt. Er er­

Wahl, E. R. & Ammann, C. M., 2007. Robustness of the Mann; Bradley, Hughes, Reconstruction of Northern Hemisphere surface temperatures: Examination of criticisms based on the nature and processing of proxy climate evidence. Clim. Chang., 85(1–2): 33–69. http://dx.doi.org/10.1007/s10584-006-9105-7 2 Fig. 6.10 in Jansen et al., 2007. Paleoclimate. In: AR4 IPCC WGI. S. 433–497. AR4 IPCC WGI ist Solomon et al. (eds.). Climate Change 2007: The Physical Science Basis. Contribution of Working Group I to the Fourth Assessment Report of the Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC). Cambridge University Press: Cambridge, UK and New York, NY, USA. www.ipcc.ch 3 Randall et al., 2007. Climate models and their evaluation. In: AR4 IPCC WGI ibd. S. 589–662. 4 IPCC AR4 SYR ist IPCC, 2007. Summary for Policymakers of the Synthesis Report of the IPCC Fourth Assessment Report. In: Synthesis Report of the IPCC Fourth Assessment Report. Cambridge University Press: Cambridge, UK. p. 1–22. www.ipcc.ch 5 Menne et al., 2010. On the reliability of the US surface temperature record. J. Geophys. Res. D, 115D11108. http://dx.doi.org/10.1029/2009JD013094 6 Damon & Laut, 2004. Pattern of strange errors plagues solar activity and terrestrial climate data. EOS Trans. AGU, 85(39): 370–374. http://dx.doi. org/10.1029/2004EO390005 7 Fischlin, 2009. Berücksichtigen wir in der Klimapolitik genügend Sicherheitsmar­ gen?, GAIA, 18(3): 193–199. http://www.sysecol.ethz.ch/Publications.html%23Fi153 8 Er hat in den letzten 20 Jahren in Wissenschaftskreisen hauptsächlich durch Schreiben von Leserbriefen an renommierte wissenschaftliche Zeitschriften wie «Science» und «Nature» von sich reden gemacht, nicht aber durch wiss. Original­ arbeiten. Bsp.: Singer, 1996a. Climate change and consensus. Science, 271(5249): 581–582. http://dx.doi.org/10.1126/science.271.5249.581; Singer, 1996b. Climate debate. Nature, 382(6590): 392–392. http://dx.doi.org/10.1038/382392b0; Singer, 1997. Call for emission limits heats debate on global warming. Physics Today, 50(8): 84–85. http://dx.doi.org/10.1063/1.881851 9 So widerspricht z.B. Wigley (1996. Climate change report. Science, 271(5255, Mar. 15: 1479–1483. http://dx.doi.org/10.1126/science.271.5255.1481) den Behauptungen, welche Herr Singer in seinem vorangegangenen Leserbrief (Singer, 1996a, ibd.) aufstellt, mit vielen stichhaltigen Belegen. Herr Singer antwortet lediglich mit der Angabe eines einzigen Zitats aus einem Regierungsbericht, also nicht mit einer wissenschaftlichen Originalarbeit, oder er macht lediglich eine Korrektur seiner vorgängig falsch angeführten E-Mail und bleibt somit jegliche stichhaltige Argu­ mente schuldig. 10 So schreibt er schon 1996 und 1997 in seinen Leserbriefen an «Science», «Nature» und «Physics Today» (Singer, 1996a,b, 1997, ibd.), ohne auch nur im geringsten diese Aussagen zu belegen, von «costly policies» oder «Such global controls on energy use would have serious economic consequences, impacting mainly on the world’s poor». Ökonomische Studien zu dieser Frage sind klar auf gegenteilige Ergebnisse gekommen, z.B. zusammengestellt und beurteilt in IPCC AR4 SYR, 2007, ibd

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Leistungsgesellschaft

oder Wie man das Beste von sich gibt Dossier

Bild: Prisma/Sonderegger Christof

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Die d端nne Luft am Gipfel Michael Wiederstein und Markus Rottmann treffen Ueli Steck

Du kannst dein Leben steigern Didier Sornette 3 Deine Mutter! Michael Klonovsky 4 Die den Karren ziehen Benedikt Goldkamp 5 F端rchtet euch nicht! Tim Harford 2

F端r die Unterst端tzung bei der Lancierung des Dossiers danken wir Dr. Georges Bindschedler, Bern. 29


« er leistet, «Wbringt nicht nur sich,

sondern alle weiter.»

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Georges Bindschedler, Unternehmer


Dossier

Leistungsgesellschaft oder Wie man das Beste von sich gibt

In den letzten Jahrzehnten ist es den Industrienationen gelungen, eine beispiellose Mehrung des Wohlstandes zu generieren. Nicht nur alle angenommenen «Grenzen des Wachstums» wurden gesprengt, entgegen vielerlei Ver­ lautbarungen ist es der westlichen Welt auch gelungen, die Durchlässigkeit der sozialen Schichten zu erhöhen: gesellschaftlichen Gruppen, denen früher aufgrund von nationaler oder religiöser Herkunft, Hautfarbe oder sexuel­len Vorlieben der Zutritt zu höherer Bildung, höheren Ämtern oder wirtschaftlicher Selbstbestimmung verwehrt blieb,

stehen heute die Türen nach oben weiter offen als jemals zuvor. Ein meritokratisches System, in dem sich die Besten ihres Metiers durchsetzen, ist eine «Leistungsgesellschaft». Die martialisch anmutende Vokabel geistert nicht nur durch Soziologieseminare über Pierre Bourdieu bis Max Weber, sondern schürt auch Ängste vor dem Eindringen des Leistungsprinzips in alle Nischen der Gesellschaft.

Die «Leistungskultur» bereitet vielen Menschen Bauchschmerzen, weil mit ihr hohe Erwartungen an den einzelnen gestellt und gleichsam die potentiellen Risiken des individuellen Scheiterns erhöht werden. Diesen Bauchschmerzen wollen wir mit der nötigen intellektuellen Medikation begegnen. Denn Leistung ist sowohl die Freude am Ausnützen der eigenen Möglichkeiten als auch ein Schmiermittel sozialer Kooperation. Leistung, so das etymologische Wörterbuch, ist zunächst Gegenstand einer Schuldverpflichtung – von ihr geht also keine atomisierende, sondern eine vergesellschaftende Funktion aus: in der «Leistungsgesellschaft» sehen sich die Individuen einer gegenseitigen Bringschuld verpflichtet, sie dienen einander, und zwar nach jeweiliger Befähigung und Präferenz. Jeder Teilnehmer der «Leistungsgesellschaft» ist dazu befähigt, seine Zeit, sein Enga­ gement und vor allen Dingen sein Talent so zu investieren, dass sich damit das Miteinander verbessert. Dies geschieht jedoch nicht auf Kommando, sondern freiwillig. Leistung ist intrinsisch motiviert und Ausdruck des menschlichen

Bedürfnisses nach Anerkennung und Fortschritt.

Die Redaktion

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Dossier

Schweizer Monat 992 Dezember 2011/Januar 2012

Die dünne Luft am Gipfel

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Er erkletterte die drei grossen Nordwände der Alpen – Eiger, Mönch und Jungfrau – an einem Tag. Nun stellt er im Himalaya vertikale Geschwindigkeitsrekorde auf. Der Bergsteiger Ueli Steck über kalte Füsse, Halluzinationen auf dem Everest und Köche im Basislager. Michael Wiederstein und Markus Rottmann treffen Ueli Steck

Herr Steck, Sie sind soeben aus dem Hima­ laya zurückgekehrt. Welchen Rekord haben Sie diesmal gebrochen? Keinen. Ich habe Urlaub gemacht. Am Mount Everest? Nein. Ich bin auf die über 6800 Meter hohe Ama Dablam gestiegen. Zum dritten Mal. Diesmal mit meiner Frau. Wie oft mussten Sie auf Ihre Frau warten? (lacht) Nur selten. Wenn ich mit meiner Frau oder Freunden am Berg bin, dann bin ich nicht der Bergsteiger Ueli Steck. Ich bin also nicht am Arbeiten und muss auch nicht mög­ lichst schnell von A nach B kommen, nir­ gendwo raufrennen, keine Rekorde brechen. Ich weiss zwar, dass ich wohl immer schnel­ ler sein könnte, aber ich geniesse dann das Gemütliche. Das habe ich lernen müssen. Sie waren als Bergsteiger irgendwann technisch und konditionell an einen Punkt, an dem Sie niemand anderen mehr mitnehmen konnten – und haben sich deshalb entschieden, vornehmlich solo zu gehen? Sicher: ab einem gewissen Niveau ist der Kreis der potentiellen Partner ziemlich übersichtlich geworden. Irgendwann merkte ich sogar, dass es mich schon gestresst hat, Kollegen anzurufen, um zu fragen, ob sie mit mir klettern gehen wollen. Es ist so schön simpel, morgens aufzustehen und den gan­ zen Tag, die ganze Reise und die ganze Tour allein zu bestimmen. Ich brauche die Mo­ mente, in denen ich mich verausgaben und Vollgas geben kann. Solo funktioniert das wunderbar, im Team nur mit sehr wenigen 32

Menschen. Die Schattenseite davon: man läuft Gefahr, richtig asozial zu werden.

Ueli Steck Ueli Steck ist Profibergsteiger. 2004 durchstieg er nacheinander die Nordwände von Eiger, Mönch

Inwiefern? Früher war ich ziemlich ungeduldig, wollte mich nicht aufhalten lassen. Seit ich zwi­ schen beruflichen und privaten Touren un­ terscheide, wird es besser. Dabei gilt heute: wenn ich das eine nicht hätte, könnte ich das andere nicht tun. Würde ich aber nur noch mit meiner Frau bergsteigen, so wäre das wohl auf längere Sicht unbefriedigend. Nun haben Sie mit ihr also die Ama Dablam, das «Matterhorn Nepals», bestiegen, das gleich neben dem Mount Everest liegt. Beim Versuch, den Everest zu besteigen, mussten Sie im Frühjahr 2011 auf 8700 Metern, also knapp 180 Meter unter dem Gipfel, umkehren… …käme ich überall hoch, müsste ich nicht mehr bergsteigen, sondern würde wohl eher Minigolf spielen. Als Bergsteiger muss man auch den Willen zum Scheitern haben, denn dieser gehört zum Beruf, wenn man ihn überleben will. Wieso sind Sie am Everest gescheitert? Es gab zwei Gründe für die Umkehr: erstens wollte ich ohne zusätzliche Sauerstoffzu­ fuhr nach oben kommen. Es herrscht da ziemlicher Betrieb, wissen Sie, und als ich am Gipfelaufbau zwei wartende Sherpas traf, hatte ich sogar noch die Chance, mich zwischen Sauerstoffflasche und Umkehr zu entscheiden. Hätte ich denen das nötige Kleingeld in die Finger gedrückt, hätten sie mir eine gegeben. Damit wäre der alpinisti­ sche Stellenwert der Besteigung aber dahin

und Jungfrau in 25 Stunden. 2008 und 2009 brach er solo die Geschwindigkeitsrekorde am Eiger (Nordwand, Heckmair-Route in 2:47 Std.) und am Matterhorn (Nordwand, Schmid-Route in 1:56 Std.). Er lebt in Ringgenberg bei Interlaken.

gewesen. Auf den Everest kommt mit Sauer­ stoffflasche heute so ziemlich jeder, der zwei Beine hat und es sich leisten kann. Das ist gut für die Einheimischen, die so ein Auskom­ men gefunden haben. Schlecht ist es aber für den Alpinismus, denn die dort oben anzu­ treffenden Prestigejäger verkaufen ihre Be­ gehung bis heute als besondere Leistung! Das ist die isolierte Sicht des passionierten Bergsteigers. Nicht jeder schafft es, den höchsten Berg der Erde zu besteigen. Stimmt. Aber: Wer einen Marathon läuft, vollbringt eine grössere sportliche Leis­ tung. Streng genommen ist zusätzlicher Sauerstoff sogar Beschiss, schliesslich hat man sich damit der grössten Herausforde­ rung am Everest gar nicht gestellt: der Luft. Aber ist es nicht auch etwas übertrieben, nach Tausenden von aufgestiegenen Höhenmetern wegen weniger als zweihundert «erschummelten» umzukehren? Mein Problem war nicht nur die Schumme­ lei. Ich bekam als Folge der dünnen Luft wortwörtlich kalte Füsse. Das klingt lapi­ dar, ist aber eine perfide Sache: das Blut wird aufgrund des niedrigen Sauerstoffge­ halts über 7000 Meter dicker. Nach und nach werden so die Extremitäten nicht mehr


Ueli Steck, photographiert von Robert Bรถsch.

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Dossier

Schweizer Monat 991

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richtig durchblutet. Es beginnt an den Zehen – die sind immer kalt, wenn man nach der Nacht in gefrorene Schuhe steigt – und kriecht über die Fersen die Waden hoch. Zwanzig Minuten sind kein Problem. Nach Stunden wird es aber gefährlich! Wenn man – wie ich – schon einmal schwarze Zehen hatte, weiss man ungefähr, wie lange die Zeit ist, bis es wieder kritisch wird. Auch deshalb, weil die Finger denselben Prozess durchlau­ fen wie die Zehen. Ich schaute also am Eve­ rest immer wieder auf die Uhr und beobach­ tete meine Finger und Hände. Sie wurden immer kälter, ich zunehmend unruhiger, und schliesslich war es mir zu heikel. Ich entschied mich, umzukehren. Weil ich meine Füsse behalten wollte – nicht, weil meine Lungen nicht mitgemacht hätten. Sie wollen mir weismachen, die sogenannte «Todeszone» auf über 7000 Metern habe Ihnen keine Schwierigkeiten gemacht?

Meine Erfahrung mit dem Atmen, eigent­ lich das Hauptproblem dort oben, war sehr positiv. Reinhold Messner, Gerlinde Kalten­ brunner und andere berichteten von Hallu­ zinationen. Ich bemerkte nichts Unge­ wöhnliches. Bis zuletzt habe ich gedacht: es klappt. Umso schlimmer ist es dann, wenn man unverrichteter Dinge ins Basislager zu­ rückkehrt und die trifft, die mit Sauerstoff­ flasche oben waren und eigentlich sonst kaum geradeaus gehen können. Sie fragen dich, was denn los gewesen sei: «Der Ueli Steck: zusammengebrochen auf einer Nor­ malroute auf einen 8000er?» Haben Sie an Ihrer Entscheidung gezweifelt? Oben: keine Sekunde. Die Sache war für mich klar. Im nachhinein habe ich mir bei all den Kommentaren aber irgendwann die gleiche Frage gestellt. Man darf sich aber bei so etwas nicht zu wichtig nehmen. An­ hand der Tatsache, dass ich noch über zwei

gesunde Füsse verfüge, darf ich mutmas­ sen, dass die Entscheidung zumindest nicht falsch war. (lacht) Sie können sich also auf Ihr persönliches Risikomanagement verlassen. Mit jeder Bergerfahrung wird es besser, ja. Der Umgang mit Rückschlägen ist lernbar: man muss seine Lehren daraus ziehen. So kann man im Vorfeld neuer Projekte die Gefahren besser abschätzen und das Risiko minimieren. Sie erstellen also eine Art Checkliste, bevor Sie sich in die Wände wagen? Eine ungeschriebene, ja. Die kann sich aber während der Tour ändern. Am Shishapang­ ma, auch im Frühjahr 2011, wusste ich: im Laufe des nächsten Tages zieht ein Sturm auf. Ich habe also über das Satellitentelefon mit dem Wetterdienst in der Schweiz Kon­ takt gehalten und mich informieren lassen,

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wie sich dieser Sturm verhält – während ich weiter anstieg. Sie sagten mir zunächst: er kommt am Mittag. Ich überlegte: wenn ich nun bei 7200 Metern weitergehe, bleibt mir nur der Gipfel und keine Alternative. Be­ komme ich weiter oben während des Klet­ terns kalte Finger, kann ich nicht mehr ab­ brechen und rechtzeitig vor dem Sturm über die Abstiegsroute zum Lager zurück­ kehren – dafür fehlen Zeit und Material. Reicht meine Kondition? Reicht die Zeit für den Gipfel? Da muss man innerhalb von Mi­ nuten entscheiden. Ich habe mir also ge­ dacht: gut, ich probiere es. Irgendwann schrieb der Wetterdienst: der Sturm kommt schon morgens um sechs! Oben auf dem Grat angekommen, wo die alternative Route zum Basislager abzweigt, musste ich mich erneut fragen: schaffe ich den Gipfel? Bin ich fit genug? Bleibt genug Zeit? Das war unplanbar in den Wochen zuvor, unplanbar am Vortag und auch noch bis vor wenigen

Minuten. Ich entschied mich für den An­ stieg und setzte mir ein Richtungszeitlimit, bei dessen Erreichung ich dann hätte um­ kehren müssen. Kurz und gut: ich habe es geschafft. Viele Bergsteiger bezeichnen nicht Schnee und Eis, sondern die Zeit im Basislager als grösste, weil mental strapazierendste Zerreissprobe. Das ist so, ja. Man verbringt dort gemeinhin mehr Zeit als am Fels, manchmal wartet man wochenlang auf den einen Tag, an dem die Besteigung möglich ist. Auch hier ist Er­ fahrung ausschlaggebend: ich habe vor Ort meinen Kontakt, der die Logistik plant und flexibel genug ist, zu garantieren, dass Trä­ ger und Fahrzeuge dort sind, wo man sie braucht. Und ich habe einen Koch, der mir gutes Essen macht. Sie können sich gar nicht vorstellen, wie unangenehm es ist, wenn man da die falschen Leute hat. Man­ cher Küchenchef kocht ja nicht einmal das

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Wasser richtig ab – schlimmstenfalls fängt man sich mit einem harmlosen Tee irgend­ etwas ein und kann dann mit Magen­ schmerzen direkt wieder abreisen. Manchmal wartet man aber auch umsonst auf bessere Wetterbedingungen. Richtig. Das ist zermürbend. Ich suche des­ halb immer schon im Vorfeld nach Alterna­ tiven für eine Route. Nach welchen Kriterien wählen Sie die aus? Nach Herausforderung. Das ist einer dieser Bergsteiger-Allgemeinplätze. Die «Herausforderung», der «eigene Weg»... Bergsteiger sind tendenziell egoistische Menschen, und es steckt hinter jeder Bege­ hung der Wunsch nach Selbstverwirkli­ chung. Das muss auch so sein. Die Bewer­ tung von alpinistischen Leistungen ist jenseits der objektiven Rekorde anhand von

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Zeiten und Höhen hochindividuell, das macht den Reiz für den einzelnen Bergstei­ ger aus. Rein medial, also greifbar und nachvollziehbar für andere, ist meine Be­ steigung der drei grossen Nordwände der Alpen – Eiger, Mönch und Jungfrau – in 25 Stunden von mir wohl nicht mehr zu top­ pen. Andernorts finde ich aber für mich viel herausforderndere Projekte, die sonst nie­ manden interessieren. Konkreter? Vielleicht illustriert es ein Beispiel: Gehen Sie joggen? Ja. Ohne Ambitionen. Gut. Und wahrscheinlich wissen Sie in etwa, wie lange Sie dabei am Stück durchhalten. Nach einer Stunde wird es harzig. Gut. Nun nehmen Sie einmal an, Sie wür­ den während eines guten Laufs herausfin­ den, dass Sie bereits eine Stunde und fünf­ zehn Minuten joggen. Wie fühlen Sie sich, wenn Sie zurückkommen? Besser, stärker als sonst. Glücklicher? Sehen Sie! Genau so geht es mir, wenn ich feststelle, dass ich die eigene Messlatte wie­ der ein Stück höher gesetzt habe. Ich habe gehört, Sie joggen zu Trainings­ zwecken täglich auf Interlakens Hausberg. Auf Harder Kulm, ja. Nicht täglich, aber häufig. Wie lang brauchen Sie für die 800 Höhenmeter? Das ist so eine Standardstrecke von mir: 35 Minuten. Je nach Projekt ändert sich aber der Trainingsplan, den ich mit Simon Trachsel, meinem Trainer, gemeinsam erar­ beite. Nach dem anspruchsvollen Frühjahr haben wir den Rhythmus runtergefahren und im Sommer bloss etwas Lauftraining für den Jungfraumarathon gemacht. Gegen­ wärtig sind wir an der Vorbereitung für 2012 – da geht es zurück in den Himalaya. In einer ersten Phase spielt die Ausdauer die Hauptrolle. Nebenher baue ich Kraft auf, auch an Maschinen. Im Februar wird das Training optimiert, sprich: intensiver. 36

Im März warten harte drei Wochen auf mich, in denen ich verschiedene Blöcke sehr harten Trainings absolvieren muss, die strenggenommen den Körper überbean­ spruchen, also harte Reize setzen. Mein Ta­ gesablauf, alle Termine, die Ernährung und auch das Privatleben richten sich nach den Trainingsstrukturen. Sie und andere transformieren das Bergsteigen zum Leistungssport, nehmen ihm seinen mythischen Gehalt. Damit geht eine Kultur verloren. Früher war das reines Abenteuer, Bergsteiger wussten nichts von Trainings- und Ernäh­ rungsplänen, konzentrierten Technikeinhei­ ten und sie haben auch nicht ausgiebig mit Sportmedizinern zusammengearbeitet. Frü­ her ging man zünftig «mehr in die Berge», um zu trainieren, oder «mehr Ski fahren» wie Walter Bonatti. Früher war aber auch die Herausforderung einfacher zu finden, die Ei­ gernordwand vielleicht noch nicht erstiegen – heute muss man dort förmlich anstehen. Der Bergsteiger muss also kreativ werden! Ich fand meine Herausforderung in der Ge­ schwindigkeit und in diesem Licht sehen dann auch die 8000er wieder reizvoll aus. Die Kultur geht nicht verloren, sondern wird ergänzt. Heute ist das Wissen vorhanden und zugänglich, um sie zu professionalisie­ ren. Es brauchte bloss einen Präzedenzfall, der zeigte: das ist möglich! Es wächst ein an­ derer Typus von Bergsportlern heran... ...dem man – wie Ihnen – vorwirft, den Berg zum Trainingsgerät herabzuwürdigen. Die neue Sicht auf den Bergsport hat tat­ sächlich zu vielen Konfrontationen mit Kol­ legen geführt, mittlerweile ist sie aber weit­ gehend akzeptiert. Ich habe den Berg nie als Trainingsgerät betrachtet, sondern bloss die sportliche Herausforderung in den Vor­ dergrund gestellt und nicht das emphati­ sche Naturerlebnis. Sicher ist es ein phan­ tastischer Naturmoment, wenn ich unter der Eigernordwand stehe und hinauf­ schaue. Aber in dem Moment, in dem ich in die Wand einsteige, muss ich mich auf den Fels konzentrieren – also tatsächlich auf den Berg. Ich habe in diesem Zustand nicht die Wahl, doch lieber das Panorama zu ge­

niessen – ich muss fokussieren. Und dieser Fokus, diese Konzentration, ist von einer anderen Intensität als der GipfelsandwichMoment eines klassischen Bergsteigers. Sie sprechen von Intensität, Ihre Kritiker von Fahrlässigkeit. Zugestanden: es ist sicher gefährlicher, in die Berge zu gehen, als zu Hause vor dem Fernseher zu hocken. Aber: Erhard Loretan zum Beispiel hat als Bergsteiger die wildes­ ten Sachen gemacht, alle vierzehn 8000er der Welt ohne zusätzlichen Sauerstoff be­ stiegen und mehr – er ist im Frühjahr dieses Jahres von einem ungefährlichen Wander­ weg am Grünhorn tödlich abgestürzt. Un­ fälle passieren in den ungefährlichsten Si­ tuationen, vor allem, wenn man Risiko falsch einschätzt! Die Besteigungen, die ich mache, sehen für den Aussenstehenden wahnsinnig aus, deswegen nennen mich viele einen «Extrembergsteiger». Aber: das bin ich nicht. Das Risiko ist für mich be­ herrschbar. Weil ich Erfahrung habe. Sie wollen sagen: Wenn Sie 50mal hochsteigen, verkleinert sich das Einzelrisiko mit jedem Mal. Aber… ...das abnehmende Einzelrisiko vervielfacht sich gleichzeitig durch die Menge der Bege­ hungen, meinen Sie? Ja. Aber wenn das Ein­ zelrisiko gegen null geht, weil ich in Form bin und meine Grenzen kenne, spielt das keine Rolle. Wie gross ist die Gefahr, sich zu überschätzen? Gross. Man darf auch bei wachsender Rou­ tine nicht unkonzentriert und nachlässig werden. Und man muss sich eingestehen können, wenn man den Zenit des eigenen Leistungsvermögens erreicht hat. Heute bin ich an einem Punkt, an dem ich mir bewusst bin, dass das so ist. Eine jüngere Generation pulverisiert gegenwärtig meine Rekorde. Und es wird in der Zukunft etliche Bergstei­ ger geben, die die Fähigkeiten haben, die ich mir antrainiert habe. Die Jahre, in denen ich in der komfortablen Situation war, allen anderen am Berg wegzurennen, sind vorbei. Für mich heisst es also: zunächst mehr trai­ nieren, Ziele neu stecken, irgendwann aber auch loslassen können. �


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Du kannst dein Leben steigern

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Wir können uns mit dem zufrieden geben, was wir sind. Oder wir arbeiten ständig an uns und optimieren die eigene Leistungsfähigkeit. Sieben alltagstaugliche Rezepte zur Verbesserung der Hirnleistung – und zur Steigerung der Lebenslust. von Didier Sornette

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achheit, intellektuelle Stärke und Beständigkeit, körperliche Gesund­ heit – das sind Dinge, die sich herstellen lassen, mit einem Minimum an Willens­ kraft und organisatorischem bzw. zeitli­ chem Aufwand. Die Ergebnisse dieser ein­ fachen Rezepte können das Leben nachhaltig verändern. Warum optimieren? Warum Leistung? Warum Leistungsdenken? Eigentlich wol­ len die meisten von uns doch bloss ihr Leben geniessen und ihm einen Sinn abge­ winnen. So weit, so gut. Ich behaupte je­ doch, dass es ganz einfach ist, eine volle körperliche und geistige Fitness zu errei­

Mein Ansatz basiert auf der Hypothese, dass wir einen grossen Teil unserer Gesundheit und unseres Erfolgs kontrollieren können.

chen, die die meisten von uns auf diesem Level und mit dieser Beständigkeit als un­ möglich erachten, und dass diese Leistungs­ fähigkeit den Erfahrungsschatz zu erwei­ tern und die Freude am Leben zu erhöhen vermag. Als Kinder lieben wir es, mit Höchstgeschwindigkeit zu rennen und alles Mögliche auszuprobieren, was uns die Mut­ ter untersagt hat. Als Teenager und junge Erwachsene sind wir bestrebt, unsere auf­ keimenden Talente und Stärken zu nutzen, um neue Abenteuer zu wagen und unsere Grenzen bis zum Äussersten auszureizen. 38

Und als Erwachsene können wir genau dar­ an anknüpfen. Ist es nicht phantastisch, einen stärke­ ren und flexiblen Körper zu haben, mit dem wir jegliche Art von Sport versuchen und praktizieren können? Macht Musizieren nicht viel mehr Spass, wenn wir die Techni­ ken beherrschen und unser Ohr geübt ist? Ist es nicht wunderbar, Schach auf Meister­ niveau zu spielen? Die Liste lässt sich auf alle menschlichen Aktivitäten erstrecken. So viel sollte klar sein: die Dimension und Breite der Freude ist umso intensiver, je stärker die Kräfte von Körper und Geist sind. Dennoch akzeptieren wir nur allzu oft unsere eigenen Grenzen und geben uns mit dem zufrieden, was wir haben – vor allem wenn wir älter werden und die Schrump­ fung der Leistungsfähigkeit im Alter – zu Unrecht! – als unvermeidlich betrachten. Mit der Revolution der Biotechnologie, den Errungenschaften des Humangenom­ projekts und den boomenden Disziplinen der Genomik, Proteomik und anderen «iks» betont die moderne Wissenschaft die Gene als Ursache für Krankheiten und psychi­ sche Macken. Dabei werden die Gene oft als Gegensatz zu umweltbedingten und erwor­ benen Eigenschaften gesehen. Diese Debat­ te von «angeboren» versus «erworben» ist ein Minenfeld von Kontroversen, die die grosse Komplexität von Biologie, Evolution und ökologischen Wechselwirkungen wi­ derspiegeln. Meine Interpretation der über­ bordenden wissenschaftlichen Literatur ist: die Überbetonung der Gene vonseiten der Wissenschaft ist Ausdruck einer Wahr­ nehmungsverzerrung, die «den verlorenen

Didier Sornette Didier Sornette ist Professor für Entrepreneurial Risks, für Physik und Geophysik an der ETH Zürich und für Finanzwissenschaften am Swiss Finance Institute. Er zählt zu den weltweit führenden Risikoforschern.

Schlüssel unter der Laterne sucht» – sie folgt im Rahmen linearen kausalen Den­ kens einem Weg, der für technische Ansät­ ze zugänglich ist. Als Spezialist komplexer Systeme stelle ich jedoch eine andere Hypothese auf: die meisten Krankheiten und Probleme, die durchaus in einer genetischen Umgebung verwurzelt sind (das ist fast ein Pleonasmus, da unsere genetischen Codes die grundle­ genden Anweisungen unserer Biologie steu­ ern), werden tatsächlich durch Prozesse in unserer Umwelt bedingt bzw. erleichtert, die sich vorhersehen und/oder steuern las­ sen. In ihrer sorgfältigen Prüfung der jünge­ ren Literatur über Krebs stellen Campbell und Campbell sowie Servan-Schreiber fest, dass Gene nur wenige Prozent der Faktoren darstellen, die Krebs fördern.1 Wenn die Gene nur einen geringen Teil der Ursachen ausmachen, dann besteht der dominierende Faktor aus dem, was wir tun, trinken, essen, leisten und denken. Mein Ansatz basiert auf der Hypothese, dass wir einen grossen Teil unserer Gesundheit, unserer Leistung, un­ seres Lebens und unseres Erfolgs kontrol­ lieren können. Ich gebe mich nicht mit dem zufrieden, was unsere Kultur für unvermeidlich hält, sprich: unregelmässige und/oder subopti­ male Leistung sowie abnehmende Fähigkei­


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ten mit zunehmendem Alter. Ich behaupte, dass es möglich ist, jeden Tag in vollen Zü­ gen zu geniessen, zu spielen, auf nahezu 100 Prozent unserer möglichen Höchstleis­ tung zu arbeiten und kontinuierlich «im Hier und Jetzt» zu leben – und zwar über Jahrzehnte hinweg. Wir sollten uns nicht mit weniger zufrieden geben. Ich bin weder Professor für Medizin noch Professor für Gesundheit, Ernährung oder Sport. Doch strebe ich in meiner wis­ senschaftlichen Arbeit danach, interdiszipli­ näres Verständnis und Lösungen für kom­ plexe Probleme zu entwickeln. Die Liste meiner Positionen deutet auch darauf hin, dass ich viele intensive Stunden im Büro ver­ bringen und wahrscheinlich härter arbeiten muss als viele monodisziplinäre Personen. Ich bin deshalb immer motiviert gewesen, Wege zur Leistungssteigerung zu finden. Die hier vorgelegten Rezepte wurden inspiriert durch Projekte, die ich gemein­ sam mit Kollegen verschiedener medizini­ scher und gesundheitlicher Einrichtungen durchgeführt habe. 2 Diese Zusammenar­ beit widerspiegelt meinen Traum von der Entwicklung einer ganzheitlichen Lebensart. Mein älterer Sohn Paul-Emmanuel (23) hat mich dazu gedrängt, Ihnen kundzutun, dass ich ihn, der ein hervorragender Athlet mit beeindruckender Kraft und Ausdauer ist, mit 54 Jahren im Armdrücken immer noch zu schlagen vermag; dass ich oft Ex­ tremsportarten mit ihm mache; dass ich in der Lage bin, täglich während 12 bis 14 Stunden im Bereich meiner maximalen Hirnleistung zu arbeiten; dass wir kürzlich gemeinsam die fast 200 Kilometer lange Meerenge zwischen Nizza und Korsika auf einem Wakeboard hinter einem Schnell­ boot überquert haben; dass ich nach der Rückkehr von internationalen Reisen bei Aussentemperaturen von 4 Grad Celsius fast ohne Jetlag auf dem Zürichsee Monoski fahren kann – mit nur minimalem Schutz, aber dem maximalen Genuss, den einem das Spiel eines gut funktionierenden Kör­ pers beschert. Dies alles mag nach Prahlerei klingen. Bei den Beispielen handelt es sich jedoch um ein «normales» und typisches Mass an Leistung und Spiel, und sie sollen lediglich illustrieren, was wir standardmäs­

sig erreichen können, wenn wir den einfa­ chen und einfach umzusetzenden Rezepten folgen, die ich im folgenden beschreiben werde. Für die Vielbeschäftigten unter uns sei darauf hingewiesen, dass der zeitliche Aufwand erschreckend klein ist.3 Ich lege zuerst die sieben Leitprinzipien dar, zeige dann deren vernünftige Basis sowie die zu erwartenden Wirkungen und beschreibe danach kurz, wie man sie in die Praxis umsetzt: 1. Schlaf: Erholen Sie sich mit gutem Schlaf während mindestens 7 bis 8 Stunden pro Nacht. 2. Liebe und Sex: Machen Sie mit Ihrem Partner so oft wie möglich Liebe und pfle­ gen Sie die Romantik und eine Beziehung; unterbrechen Sie bei Bedarf Ihre Arbeit und konzentrieren Sie sich eine Minute lang auf die geliebte Person, vielleicht, zum Auslö­ sen von Glückshormonen, mit Hilfe roman­ tisch-inspirierender Photos. Dies steigert die Leistungsfähigkeit des Gehirns und das allgemeine Wohlbefinden. 3. Tiefes Atmen und tägliche Trainings­ übungen: Beginnen Sie jeden Ihrer Tage (ohne Ausnahme!) mit 5 bis 10 Minuten dauernden Trainingsübungen, die tiefes Atmungs-Stretching, Bauchmuskeltraining

Entdecken Sie den homo ludens – den spielenden Menschen – in sich, so dass Arbeit und Leben zu einem grossen Spielplatz werden.

und eine sehr kurze, aber intensive Trai­ ningseinheit beinhalten; praktizieren Sie während des Tages einige Blocks von zweibis dreiminütigen intensiven Trainings und tiefer Atmung – in Ihrem Büro oder wo auch immer Sie sich gerade befinden. Damit rei­ chern Sie den Körper mit Sauerstoff an und erfrischen das Gehirn. 4. Wasser und Kauen: Trinken Sie täg­ lich ausserhalb der Mahlzeiten mindestens 2 Liter Wasser (keine konservierten Säfte, kein Cola, kein Bier, keine Zuckergetränke) und trinken Sie während der Mahlzeiten

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nur wenig oder gar nicht (ein kleines Glas Rotwein oder eine Tasse heisser Grüntee ist in Ordnung). Kurz: «trinken Sie Ihr Essen» und «essen Sie Ihre Getränke». 5. Früchte, rohe Produkte, Nahrungsmittelkombination, Vitamin D und Sonnenlicht, kein Fleisch und keine Milchprodukte: Essen Sie während des Tages möglichst viele wasserhaltige Früchte auf nüchternen Magen, verzichten Sie auf Fleisch und konsumieren Sie nur unraffi­ nierte Produkte; vermeiden Sie schlechte Nahrungsmittelkombinationen, um Kon­ flikte zwischen sauren und alkalischen Le­ bensmitteln zu umgehen. 6. Powerfood: Zwiebeln, Knoblauch, Zitronen, Kiwis, Mandeln, Nüsse, Trocken­ früchte für Zeiten, in denen Spitzenleistun­ gen gefragt sind. 7. Spielen, intrinsische Motivation, positive Psychologie und Willen: (Wie­ der-)Entdecken Sie den homo ludens – den spielenden Menschen – in sich, so dass Ar­ beit und Leben zu einem grossen Spielplatz werden, kultivieren Sie Motivation als Vir­ tuous Circle – als tugendhaften Kreis sich selbst verstärkender positiver Rückmel­ dungen. Diese einfachen Regeln beruhen auf der Zusammenführung von evolutionärem Denken, persönlichen Experimenten und Erkenntnissen aus Experimenten, über die in der wissenschaftlichen Literatur berich­ tet wurde.4 1. Schlaf Schlaf scheint eine unproduktive Tätig­ keit zu sein – besonders für jene, die statt­ dessen lieber spielen, die Gesellschaft von Mitmenschen geniessen oder arbeiten und Neues erschaffen würden. Doch neuere Forschungen zeigen, dass Schlaf viele Vor­ teile hat, die über die Konsolidierung des Gedächtnisses und anderer Gehirnfunktio­ nen hinausgehen. Während des Schlafs sendet das Gehirn Signale, um die Repara­ tur von zellularen Schäden auszulösen, die durch Stoffwechselvorgänge entstehen. Und während des Schlafs führt das Gehirn kortikale Reorganisationen durch, um sen­ sorische Inputs zu verarbeiten.5 Während des Schlafs gehen Körper und Gehirn in ei­ 39


Didier Sornette, photographiert von Philipp Baer.

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nen «Wartungs-» und «Reparatur-Modus» über, wodurch unser Körper auf effiziente Art und Weise verjüngt wird. Darüber hin­ aus hat sich gezeigt, dass Schlaf den Er­ kenntnisprozess erleichtert.6 Und viele von uns haben beim Aufwachen schon Inspira­ tionsimpulse erlebt. Ich halte Schlaf für das wichtigste Ele­ ment für den kurz- ebenso wie für den lang­ fristigen Erhalt von Leistungsfähigkeit. Ausreichender Schlaf sorgt für Energie und Enthusiasmus, um den Tag begeistert in Angriff zu nehmen. Lang und tief zu schla­ fen, ist paradoxerweise ein Zeitgewinn, denn unsere Produktivität sowie unser Wohlbefinden und unsere Aufmerksamkeit werden dadurch erheblich gesteigert. Traurige Tatsache ist allerdings, dass viele nach Leistung strebende Personen sich selbst um ihren Schlaf bringen. Es ist gut dokumentiert, dass Schlafmangel zu einer verminderten Leistungsfähigkeit, Unzufriedenheit, Angst, Anspannung und Depression sowie einem geschwächten Im­ munsystem führt. An Schlafentzug lei­ dende Menschen treten oft in einen prozy­ klischen Feedback-Prozess ein, der zu einer Art selbstperpetuierendem Schlafmangel führt: wer unter Schlafmangel leidet, benö­ tigt mehr Zeit, um Aufgaben zu erfüllen, und findet weniger Zeit für Schlaf. Nach ei­ ner Weile passen sich diese Menschen ihrer neuen Homöostase (Selbstregulation) an und entwickeln eine Toleranz gegenüber den Müdigkeitsgefühlen, was sie wiederum daran hindert, ihre sinkende Wachsamkeit und Leistungsfähigkeit zu bemerken. Die negativen Auswirkungen ihrer neuen (sub­ optimalen) Normalität kompensieren sie mit verschiedenen Mitteln, etwa Kaffee und Antidepressiva. Es ist bekannt, dass ältere Menschen zu weniger Schlaf neigen. Ich stelle folgende Hypothese auf: weniger Schlaf lässt die Menschen schneller altern, schnelleres Al­ tern führt zu weniger Schlaf, was wiederum die Tendenz zum schnelleren Altern ver­ stärkt... und sich in einem prozyklischen Teufelskreis fortsetzt. Regelmässiger Schlaf von etwa 7 bis 8 Stunden pro Nacht, beibe­ halten auch im fortschreitenden Alter, wird – so vermute ich – dafür sorgen, dass die

meisten Fähigkeiten erhalten bleiben und das Altern aufgrund der geförderten kör­ perlichen Reparaturprozesse wesentlich verzögert wird. Da der Körper stark an tagesrhythmi­ schen Zyklen orientiert ist und Signale braucht, um Schlaf auszulösen, ist es hilf­ reich, sich an regelmässige Zeiten zu halten. Nach meiner Erfahrung haben Frühaufste­ her tendenziell einen tiefer regenerieren­ den Schlaf als Nachtschwärmer: versuchen Sie, vor 23 Uhr zu schlafen. Wenn Sie tags­ über unter starkem Schlafmangel leiden, empfehle ich ein fünfminütiges medita­ tionsartiges Abschalten des Geistes mit ge­ schlossenen Augen – zum Beispiel, indem Sie sich im Badezimmer isolieren. Das füllt die Energiespeicher auf und verwandelt den Rest des Tages. 2. Liebe und Sex Ein kontinuierlich hohes Leistungsni­ veau des Gehirns erfordert ein starkes per­ sönliches Motivierungs- und Belohnungs­ system. Eine sehr effiziente Art und Weise, das Gehirn fortlaufend durch Belohnungen zu lüften, ist die Liebe. Nach Helen Fisher ist Liebe kein Ge­ fühl, sondern «ein Motivationssystem, ein Trieb, Teil des Belohnungssystems des Ge­ hirns; ein Bedürfnis, das Liebende dazu zwingt, sich einen spezifischen Paarungs­ partner zu suchen».7 Sie betont, dass die Liebe der stärkste Motivator sei, den uns die Evolution gegeben habe. Liebe, die nach Fisher in (I) Lustliebe, (II) Attraktionsliebe und (III) Bindungsliebe unterschieden wer­ den kann, ist mit dem Ausscheiden sehr starker Hormone verbunden, die auch als Neurotransmitter fungieren. Belohnungsprozesse im Nervensystem scheinen mit vielen Funktionen im Körper verbunden zu sein, einschliesslich des Im­ munsystems.8 Insbesondere Attraktionslie­ be – auch bekannt als romantische oder lei­ denschaftliche Liebe – ist verbunden mit einem hohen Dopaminspiegel. Dieser spielt eine wesentliche Rolle bei der Steuerung der Belohnungs- und Vergnügungszentren des Gehirns sowie bei der Regulierung emo­ tionaler Reaktionen. Im Gegenzug ist die Bindungsliebe durch die Hormone Oxyto­

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cin und Vasopressin getrieben. Diese gehen mit jenem Gefühl von Ruhe, Frieden und Stabilität einher, das man bei einem lang­ fristigen Partner fühlt. Bindungsliebe um­ fasst auch platonische «Geliebte», wie Fa­ milie, Freunde und Haustiere. Eine grossangelegte ökonomische Stu­ die zu den Zusammenhängen zwischen Einkommen, Sexualverhalten und empfun­

Liebe sorgt für positive Kreisläufe von neuronalen Stimulationen, Hormonen und der Sauerstoffversorgung.

denem Glück zeigte, basierend auf Stich­ probendaten von 16 000 erwachsenen Ame­ rikanern, dass sexuelle Aktivität ein wichtiger Faktor in Glücksgleichungen ist und dass Sex eine unverhältnismässig starke Auswir­ kung auf das Glück von Personen mit ho­ hem Bildungsstand zu haben scheint.9 Ich schlage daher – je nach Verfügbar­ keit – eine Kombination der drei Typen von «Liebe» vor; am wirksamsten ist eine Mi­ schung der drei. Wenn Liebe auf sexueller, ro­ mantischer und bindender Ebene so oft wie möglich aktiviert wird, gewährleistet sie einen Strom von Hormonen und Neuro­ transmittern, die das Gehirn belohnen und stimulieren. Dies hilft dabei, eine optimisti­ sche und dynamisch-aktive Haltung zu bewahren. Und die Kombination von kör­ perlicher und emotionaler Liebe ist wahr­ scheinlich eine der besten Trainingsaktivi­ täten für Gehirn und Körper. Liebe ist ein ausgezeichneter Katalysa­ tor, um einen Tag zu starten und/oder zu beenden. Sie sorgt für positive Kreisläufe von neuronalen Stimulationen, Hormonen und der Sauerstoffversorgung. In Stress­ situationen oder bei Aufgaben, die hohe Konzentration erfordern, empfehle ich, sich eine Minute Zeit zu nehmen, in sich zu gehen und sich in die geliebte Person einzu­ fühlen – vielleicht mit Hilfe von roman­ tisch-inspirierenden Bildern oder durch einen kurzen Anruf. Diese Minute der «Ent­ 41


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spannung» löst Glückshormone und Wohl­ befinden aus und wird die Leistungsfähig­ keit des Gehirns für Stunden steigern. Auf lange Sicht sorgen Lustliebe, Attraktions­ liebe und Bindungsliebe zusammen für Spitzenleistung und ein langes Leben voll Kraft und Gesundheit. 3. Tiefes Atmen und tägliche Übungen Wir müssen täglich über 35 Kilogramm Sauerstoff einatmen (und etwa viermal so viel Luft), etwa 2 Kilogramm Wasser trinken und etwa 1 Kilogramm Lebensmittel essen. Diese Zahlen geben einen ersten Hinweis auf die relative Bedeutung dieser drei Kraftstof­ fe. Eine andere Möglichkeit, sich ihre Wich­ tigkeit zu verdeutlichen, ist der folgende Vergleich: Während man rund einen Monat mit nichts ausser Wasser und eine gute Wo­ che ganz ohne Wasser überleben kann, sind schon einige wenige Minuten ohne Sauer­ stoff tödlich. Weil unser autonomes Nerven­ system die Atmung automatisch kontrolliert, setzen wir sie als selbstverständlich voraus. Atmung – wie wir alle wissen – kann jedoch auch bewusst gesteuert werden. Bewusstes tiefes Atmen und tägliche Übungen sind unerlässlich, um das Gehirn mit Sauerstoff zu versorgen – jenes Organ, das zwei bis drei Prozent des Körperge­ wichts ausmacht und 30 Prozent des Sauer­ stoffs verbraucht. Tiefes Atmen und tägli­ che körperliche Übungen katalysieren auch die Zirkulation des Lymphsystems (die Kör­ perflüssigkeit rund um unsere Zellen, die alle Arten von Stoffen transportiert, ein­ schliesslich der von den Zellen erzeugten Abfälle). Durch tiefes Atmen und Trainings­ übungen werden all unsere Organe inner­ lich massiert, unsere Blutströme aktiviert und die Zirkulation von Sauerstoff und Nährstoffen angetrieben. Regelmässige Übungen leisten nicht nur Beiträge zur kar­ diovaskulären Gesundheit, zur Prävention von Diabetes und zur Reduzierung von Cholesterin. Jüngst haben Studien auch überzeugend belegt, dass zu den langfristi­ gen Effekten ein verlangsamtes Fortschrei­ ten von neurodegenerativen Krankheiten wie Alzheimer und Parkinson zählt.10 Darum beginne ich jeden Morgen, grund­ sätzlich ohne Ausnahme, mit tiefem Atmen 42

und Trainingsübungen. Eine zehnminütige Einheit von Atmen und Übungen genügt, um sich den ganzen Tag tatkräftig und dy­ namisch zu fühlen – eine Dauer, die in je­ den ausgelasteten Zeitplan einfach einge­ fügt werden kann (man denke an die gleiche Zeit, die man sich für eine schnelle Dusche und zum Zähneputzen nimmt). Manchmal habe ich Lust, die Übungen auf 15 bis 20 Mi­ nuten zu verlängern, meistens aber inves­ tiere ich knapp 10 Minuten. Wenn ich in Eile bin, reduziere ich die Trainingseinheit auf nur drei Minuten. Dann verlege ich das Atmen auf den Spurt zur Arbeit, aufs Trep­ pensteigen oder aufs Muskelanspannen (Fussgelenke, Beine, Hintern, Brust, Arme, Schultern usw.) während des Wartens an der Tramstation. Jeder freie Moment ist eine

Jeder freie Moment ist eine Gelegenheit zu atmen, zu trainieren und dem sesshaften Lebensstil zu trotzen.

Gelegenheit zu atmen, zu trainieren und dem sesshaften Lebensstil zu trotzen, der uns langsam, aber sicher entkräftet. Wenn nötig, rate ich, das Frühstück zu verkürzen, nur viel Wasser zu trinken und Früchte zu essen (was man auch den ganzen Morgen über tun sollte, um bis am Mittag leistungs­ fähig zu sein) – nie aber auf diese morgend­ liche Trainingseinheit zu verzichten. Es ist wichtig, Übungen zu finden, die zur eigenen Physiologie und Kondition pas­ sen. Was mich betrifft, so halte ich mich an Klassiker, die ich überall praktizieren kann: im Schlafzimmer, auf Reisen im Hotelzim­ mer, im Büro – überall dort, wo ich zwei Quadratmeter finden kann. Einen Kraft­raum braucht es nicht; anstatt zu Zeitverlust füh­ ren die einfachen Übungen zu Wohlbefin­ den, Effizienz und Leistung. Zwar gibt es eine Vielzahl möglicher Übungen, jedoch ist es unerlässlich, einige durchzuführen, die so intensiv sind, dass das Herz auf etwa 120 bis 150 Pulsschläge pro Minute beschleunigt und folglich tief

geatmet und leicht geschwitzt wird. Yoga und andere statische Praktiken sind eine ausgezeichnete Komponente des täglichen Trainings, reichen alleine aber nicht aus. Ich beginne immer mit einer Übung, die tiefes Atmen mit einer Dehnung der Schultern und Arme kombiniert. Ich atme tief ein und bewege meine gestreckten Arme synchron langsam nach oben. Wäh­ rend sich die Arme hinter dem Rücken sen­ ken, atme ich aus – die Bewegung ähnelt je­ ner des Rückenschwimmens, aber beide Arme bewegen sich parallel und bleiben ge­ streckt. Das Ziel ist, den Brustkorb zu öff­ nen und die Gelenke und Muskeln vorsich­ tig so weit wie möglich zu strecken. Ich öffne meine Handflächen, strecke ihre Muskeln während der Aufwärtsbewegung so weit wie möglich und entspanne sie während des Senkens. Ich beginne diese erste Übung zuerst langsam, tief und im Gleichtakt at­ mend, und strecke meine Schultern mög­ lichst weit nach hinten. Dann beschleunige ich schrittweise die Arm-Schulter-Bewe­ gung synchron mit der Atmung. Ich mache normalerweise etwa 50 bis 100 Umdrehun­ gen. Das Gehirn ist dann mit Sauerstoff durchflutet, der Oberkörper randvoll mit Energie. Diese Übung hat den Vorteil, den oberen Rücken zu strecken. Darüber hinaus sorgt sie dafür, dass die Schultermuskula­ tur – die wohl zweitwichtigste Muskelpartie nach den weiter unten zu besprechenden Bauchmuskeln – gestärkt wird. In Graden gemessen verfügen die Schultern über die grösste Freiheit in unserem Körper. Als In­ genieur kann man sich vorstellen, wie kom­ plex die Schultern gebaut sind. Starke Schultern helfen einem, vielen Verletzun­ gen aus dem Weg zu gehen, und verändern das Leben – wirklich! Als zweites dehne ich meine Beine und meinen Rücken in verschiedenen Varian­ ten, zum Beispiel, indem ich mit gespreiz­ ten Beinen auf den Boden sitze und die ge­ streckten Arme inklusive Oberkörper so weit wie möglich Richtung Boden senke. Dann folgt die gleiche Übung mit parallelen Beinen. Das Ziel ist, mit der flachen Hand den Boden zu berühren. Bringen Sie die tie­ fe Atmung mit den Bewegungen in Ein­ klang: Einatmen bei der Aufwärtsbewe­


Variolabel SICAV Global Equity Style (I)

«Mit Systematik Mehrwert im Aktienmarkt» Der Fonds «Global Equity Style (I)» investiert weltweit in Aktien aus entwickelten Ländern. Dabei kommt eine eigens entwickelte Anlagestrategie, die sogenannte «Active Style Selection», zur Anwendung. Diese Technik selektiert Aktien konsequent nach ihren tatsächlichen ökonomischen Eigenschaften. Die Allokation passt sich laufend dem ökonomischen Umfeld an. Unter strenger Beachtung der Risikovorgaben wird durch diese Systematik ein maximaler Mehrwert gegenüber dem breiten Aktienmarkt angestrebt.

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gung, ausatmen bei Abwärtsbewegungen. Diese Übung hat einen dreifachen Nutzen: (I) sie trainiert die Dehnungsfähigkeit der Sehnen und Muskeln auf der Rückseite der Beine, insbesondere der hinteren Ober­ schenkelmuskeln, (II) sie trainiert Nerven, Knochen, Muskeln, Bänder und Sehnen des Rückens, insbesondere die Streckseiten, Beugemuskeln und die schrägen Muskeln im unteren Rücken, (III) sie aktiviert die Sauerstoffversorgung. Dann arbeite ich an meinen Bauchmus­ keln, was für die Gesundheit meiner Rü­ ckenmuskulatur und Bandscheiben von entscheidender Bedeutung ist. Rücken­ schmerzen sind ein Fluch der modernen, sitzenden Lebensweise. Sie gehören zu den häufigsten Arten von Schmerzen bei Er­ wachsenen. Bei weitem die häufigste Ursa­ che für Rückenschmerzen sind überbelas­

Ich mache jeweils etwa 50 Kicks im Stile eines Kung-Fu-Kämpfers.

tete Rückenmuskeln. Die Wirbelsäule kann mit dem Mast eines Segelbootes verglichen werden, der durch Kabel gehalten wird, die sowohl an der Front befestigt sind als auch beidseits in Richtung Heck des Bootes ver­ laufen; sie sind es – und nicht der Mast –, die die Kräfte des Windes von den Segeln auf den Bootsrumpf übertragen. Auch die Stärke des Körpers ergibt sich aus dem Zu­ sammenspiel der Muskeln im Rücken und an der Front – wobei die Bauchmuskulatur die wichtigste ist. Um einen starken und ge­ sunden Rücken zu haben, braucht es starke Bauchmuskeln. Mit einem starken Rücken werden Sie in der Lage sein, schwere Lasten zu tragen, ohne sich gross Gedanken zu machen. Ich kann diese Aussage durch Beispiele bele­ gen: etwa kann ich problemlos 100 Kilo­ gramm und mehr vom Boden aufheben und schwere Möbel, grosse Steine oder Baum­ stämme in meinem Garten herumtragen. 44

Dies ist einfach nur das Resultat des mor­ gendlichen Bauchmuskeltrainings, das ich nie ausfallen lasse. Starke Bauchmuskeln sorgen auch für eine bessere, aufrechtere Sitzhaltung am Schreibtisch, was wieder­ um dazu führt, dass der Rücken langsamer ermüdet. Besonders gerne mache ich etwa 50 bis 100 Rumpfbeugen. Sie können mit 5 oder 10 beginnen und diese dann schrittweise stei­ gern, wobei immer darauf zu achten ist, dass die volle Bewegung gemacht und so so­ wohl der Rücken als auch der Bauch bear­ beitet werden. Während der Aufwärtsbewe­ gung drehe ich den Oberkörper jeweils leicht nach rechts und nach links. Auch hier wieder läuft die Atmung synchron zu der Bewegung. Sie werden sehen: Ihre Leistung steigert sich von Tag zu Tag bemerkenswert schnell. Beendet wird meine morgendliche Trainingseinheit mit 40 bis 50 Liegestüt­ zen. Es gibt dabei einen grossen Varianten­ reichtum, etwa dank unterschiedlichen Positionierungen der Hände und Verlage­ rungen des Schwerpunktes. Man kann sich auch an einer Wand abstützen oder die Hände auf das Bett oder einen Tisch stüt­ zen – je nach Stärke mit angepasstem Win­ kel. Liegestütze sind grossartig für die Form von Armen und Brust. Das wars. Die Übungen dauern zwi­ schen 3 und 7 Minuten, je nach Variation und Intensität. Um tagsüber meinen Körper zu ent­ spannen und mein Gehirn mit Sauerstoff zu versorgen, mache ich zwischendurch wäh­ rend einer Minute 50 Liegestütze und gehe dann wieder an die Arbeit. Oder ich voll­ führe Luftsprünge – drei Serien, unterbro­ chen von jeweils 30 Sekunden Erholung: in der ersten Serie versuche ich, 20mal so hoch wie möglich zu springen und mit meinem Kopf die Decke zu berühren; dann folgen 15 weitere Sprünge und zuletzt nochmals 15. Ich versuche, weich und geschmeidig zu landen. Trotzdem mögen sich die Nutzer des Büros unter mir über das Klopfen über ihren Köpfen wundern. Aber es dient der guten Sache. Oder ich kicke im Stile eines Karateoder Kung-Fu-Kämpfers abwechselnd mit

beiden Beinen in die Luft (auch möglich im Stile eines Fussballspielers oder mit Tanz­ bewegungen). Dies ist ausgezeichnet für die Durchblutung, das Dehnen und das Stärken der Beine. Ich mache etwa 50 Tritte mit je­ dem Bein und Kicks in mehreren Variatio­ nen. All diese Übungen sind von jedermann leicht und an beliebigen Orten nachzuma­ chen. Passen Sie die Anzahl und Intensität Ihrem Zustand an. Wenn Sie nur schon hier und da ein paar Minuten darauf verwenden, wird sich Ihr Niveau bedeutend steigern – und Wohlbefinden und Leistungsfähigkeit werden ihm folgen. Das Konzept basiert auf der Strategie des Hochintensitäts-IntervallTrainings, das die Leistung mit kurzen Trai­ ningseinheiten verbessern soll. Mit Art de Vany denke ich, dass wir ähnlich wie unsere Vorfahren aus der Steinzeit trainieren soll­ ten: aus Ruhepositionen aufspringen, um einem Raubtierangriff zu entkommen oder um eine Beute zu jagen, wenn sich eine plötzliche Gelegenheit ergibt, wobei diese Bewegungen «fraktal» sporadischen Mus­ tern folgen.11 Ich absolviere diese kurzen intensiven Trainingseinheiten nach dem Zufallsprin­ zip, wann immer mir danach ist. Sie dauern jeweils nur ein paar Minuten, aber sie lösen einen Neustart meines Gehirns aus. Nach Stunden intensiver Konzentration gibt es Momente, in denen Sie sich müde oder sogar erschöpft fühlen. Eigentlich sind Sie es gar nicht, und was Sie brauchen, ist nicht Erholung – denn körperlich haben Sie sich nicht angestrengt. Müde ist nur Ihr Nervensystem. Ihr Körper ist verstopft, und die Muskeln sind vom langen Verharren in der ewig gleichen Sitzposition ermattet. Durch diese kurzen intensiven Trainings­ einheiten gewinnen Sie neue Energie und regenerieren das System. Das spontane Training wirkt für mich Wunder. Grundsätzlich sorgt die in diesem Ab­ schnitt beschriebene Haltung dafür, dass man besser auf die Risiken von Unfällen und Verletzungen vorbereitet ist – und spe­ ziell auch auf die extremeren Sportarten, die ich selber ausübe. Der Punkt ist, dass jede Anstrengung Teil eines ganzen Vir­ tuous Circle sein sollte. Man denke an den Prozess und tauche mit dem Gehirn in das


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Ereignis ein, etwa über eine kurze CheckList, die neben ein paar Beugungen, Dehnun­ gen und Kraftübungen auch mentale Bilder dessen beinhaltet, was da kommen wird. Auf diese Weise ist man für fast alles bereit. 4. Wasser und Kauen Chemiker und Physiker wissen, dass Wasser in vielerlei Hinsicht eine wirklich aussergewöhnliche Flüssigkeit ist. Es ist kein Zufall, dass Leben aus Wasser entstand und sich mit Wasser organisiert. Ein durch­ schnittlicher menschlicher Körper besteht zu ca. 60 Prozent aus Wasser. Wasser ist Teil der natürlichen Transportflüssigkeit aller wichtigen Kommunikationsnetze des Kör­ pers: es sorgt dafür, dass die für das Filtern und Reinigen zuständigen Organe ausrei­ chende Transportkapazitäten haben und damit Giftstoffe und Abfälle beseitigen können. Man kann es ganz einfach so sagen: wir benötigen genügend Wasser für die Ver­ dünnung von Abfällen. Dehydration ist eine häufige Ursache von Müdigkeit, Schmerzen und chronischen Krankheiten. Das Trinken von täglich zwei Litern Wasser (mittlerer bis geringer Minera­ lisierung) wirkt Wunder. Es hilft, Müdigkeit zu verhindern und gesund zu bleiben. Tat­ sächlich ist heute wenig bekannt oder gänz­ lich vergessen, dass viele chronische Krank­ heiten mit ungenügender Wasserzufuhr zusammenhängen können. Eine so simple Sache wie regelmässiges Wassertrinken kann viel zur Vermeidung von Müdigkeit und zum Erhalt der Gesundheit beitragen. Wichtig ist, dass reines Wasser getrun­ ken wird – keine Softdrinks, Cola, verarbei­ tete Säfte, Kaffee und so weiter. Einfach nur reines Wasser. Industriell verarbeitete Ge­ tränke sind in der Regel mit zusätzlichen Süssstoffen angereichert, die bekanntlich bösartiges Zellwachstum fördern.12 Darüber hinaus hindern Zuckergetränke den Körper daran, den Stoffwechselkreislauf zu för­ dern, der in Zeiten des Überschusses Fett speichert und es bei Bedarf effizient ver­ brennt. Indem wir unseren Körper ständig mit süssen Getränken und Zucker füttern, sättigen wir unser Blut mit Zucker und schwächen die Stoffwechselprozesse des Speicherns und Abrufens von Zucker deut­

lich ab, was uns in den seltenen Fällen, in denen keine externe Zuckeraufnahme mehr erfolgt, anfällig für Hypoglykämie (Unterzuckerung) macht. Die Folge ist, dass man sich schnell schwach und müde fühlt. Durchspült man hingegen seinen Kör­ per stundenlang nur mit reinem Wasser, werden der Stoffwechsel und damit das ef­ fiziente Verbrennen von Fetten stimuliert. Wasser fördert den Aufbau einer optimalen Stoffwechselleistung – ähnlich wie der Muskelaufbau durch Training stimuliert wird. Art de Vany argumentiert überzeu­ gend, dass wir unseren Körper im Grunde von unserer Jäger-und-Sammler-Zeit ge­ erbt hätten und somit an ein Leben in jener lückenhaften, variierenden Umgebung an­ gepasst seien, für die unser Stoffwechsel seine effizienten Lösungen des Energie­ flussproblems entwickelt habe. Diese Lösung beisst sich jedoch mit unseren modernen kalorien- und zuckerreichen, aber ernäh­ rungsphysiologisch verdünnten Lebensmit­ teln, die wir ohne Kraftaufwand bekommen. Dieser Konflikt tritt in Form von chroni­ schen Erkrankungen ebenso zutage wie in der anhaltenden sogenannten Epidemie der Fettleibigkeit und vielen anderen mo­ dernen Krankheiten sogenannt entwickel­ ter Länder.13 Um zu bestimmen, wie viel Wasser ge­ trunken werden muss, gibt es eine einfache Faustregel: der Urin soll durchsichtig sein. Fühlen Sie sich ein bisschen müde? Trinken Sie Wasser. Der Effekt tritt fast augenblick­ lich ein. Von höchster Bedeutung ist es, ausser­ halb der Mahlzeiten zu trinken. Das wider­ spricht unseren Gewohnheiten, denn die meisten Leute benutzen Frühstück, Mittagund Abendessen dazu, ihren Körper sowohl mit flüssigen als auch mit festen Nährstof­ fen zu versorgen. Dieses Verhalten ist zwar logisch, aber grundlegend falsch. Stellen Sie sich einmal die Frage: welche anderen Säugetiere in der Tierwelt trinken ihr Was­ ser, während sie ihre festen Mahlzeiten zu sich nehmen? Wir sind die einzigen unter den etwa 5500 bekannten Säugetierarten. Dank der Entwicklung von Technologien und Gerätschaften verfügen wir auf unse­ ren Tischen über die Annehmlichkeit von

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Flaschen, die es uns erlauben, Flüssigkeit zeitgleich mit fester Nahrung zu uns zu nehmen. Dieser scheinbare zivilisatorische Gewinn kollidiert aus mindestens drei Gründen mit einer gesunden Ernährung: (I) Trinken schmiert und hilft, unzurei­ chend gekaute Häppchen zu schlucken. Die Verdauung im Magen aber erfordert die Zerkleinerung der Nahrung zu Partikeln, die so winzig wie möglich sein sollten. Je grösser das Verhältnis zwischen ihrer Ober­ fläche und ihrem Volumen, desto einfacher die chemische Verdauung durch Magense­ krete – das ist schlicht und einfach nur Che­ mie, die Sinn macht. Wenn wir unzureichend gekaute Häppchen schlucken, müssen un­ ser Magen und das ganze Verdauungssys­ tem mehr Sekret absondern und brauchen mehr Zeit, um das Essen zu verarbeiten. Das führt langfristig zu kumulativ anstei­

Fühlen Sie sich ein bisschen müde? Trinken Sie Wasser. Der Effekt tritt fast augenblicklich ein.

gender Müdigkeit und Erschöpfung. Ich empfehle daher: kauen Sie so lange, dass Sie Ihr «Essen trinken» können. Ebenso sollten Wasser und Flüssigkeiten eine Weile im Mund bleiben, um sich vor dem Schlu­ cken aufzuwärmen und mit dem Speichel zu vermischen, so dass Sie Ihre «Getränke essen» können. Ein schwerer Verdauungs­ start im Mund trägt massgeblich zum Mü­ digkeitsgefühl bei, das sich nach einer Mahlzeit einstellen kann. (II) Die Verdauung von Stärke und an­ deren pflanzlichen Stoffen beginnt mit Hil­ fe von Enzymen, die sich im Speichel fin­ den. Langes Kauen sorgt für optimale chemische Reaktionen mit diesen Enzymen und spart Energie für den Rest des Verdau­ ungsprozesses in Magen und Darm. (III) Eingenommene Flüssigkeiten ver­ dünnen die Magensekretion und behindern so die Verdauung. Auch hier: schlicht und einfach Chemie, die Sinn macht. 45


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5. Ernährung Unser Körper besteht aus den chemi­ schen Bausteinen, die wir essen. Für die Nutzung dieser Rohstoffe besitzt unser Körper eine aussergewöhnliche Fähigkeit zur Steuerung von fein abgestimmten Auf­ bau-, Funktions- und Reparaturmechanis­ men. Wenn aber diese Mechanismen immer wieder belastet und ständig missbraucht werden, geht die Fähigkeit zur Steuerung dieser Rückkoppelungsmechanismen all­ mählich verloren – das ist ein der Biologie wohlbekanntes Phänomen. Hinweise dar­ auf, dass dieses Ungleichgewicht zu chroni­ schen Krankheiten wie Herz-Kreislauf-Pro­ blemen und verschiedenen Formen von Krebs führen kann, finde ich sehr überzeu­ gend.14 Hippokrates, der Gründer der west­ lichen Medizin, sagte: «Lass deine Nahrung deine Medizin sein und deine Medizin dei­ ne Nahrung.» Unsere jagenden und sammelnden Vor­ fahren assen eine Menge frischer Früchte und Pflanzen. Alle grossen Menschenaffen – mit Ausnahme des blätterfressenden Go­ rillas – sind in erster Linie Fruchtfresser, die ihre Ernährung ergänzen, indem sie oppor­ tunistisch in bedeutender Menge auch In­ sekten und Eier zu sich nehmen. Wir soll­ ten vor allem deshalb viel Obst und Gemüse essen, weil sich unser Körper so entwickelt hat, dass er von ihnen profitieren kann. Früchte bieten gute Gelegenheiten zur Aufnahme von Flüssigkeit, besteht ihr Ge­ wicht doch in vielen Fällen bis zu 80 Pro­ zent aus Wasser. Sie sind auch voller Vita­ mine; diese organisch-chemischen Verbin­ dungen können nicht in ausreichender Menge durch unseren Organismus synthe­ tisiert und müssen deshalb mit der Nah­ rung aufgenommen werden. Viele Früchte enthalten auch natürliche Fasern, die hel­ fen, die Darmtätigkeit zu regulieren. In frischem Gemüse und Obst sind zu­ dem in reichlichen Mengen pflanzenchemi­ sche Antioxidantien vorhanden. Eine klei­ ne Erinnerung an den Chemieunterricht: Antioxidantien entfernen «freie Radikale», die vermutlich für degenerative Erkrankun­ gen, Vergreisung und Krebs mitverantwort­ lich sind. Früchte mit dunkler Schale stellen die grösste Anzahl der Typen von Anti­ 46

oxidantien bereit: die meisten an Antioxi­ dantien reichen Früchte finden sich im vio­ lett-blau-rot-orangen Spektrum. Diverse medizinische Studien haben die Vorteile ei­ nes reichlichen Obst- und Gemüseverzehrs belegt. Der Nutzen besteht unter anderem in der Prävention von Herzerkrankungen und Schlaganfällen, der Kontrolle von Blut­ druck, der Vermeidung einiger Formen von Krebs und der Abwehr von grauem Star und Makuladegeneration (Augenkrankheiten). Eine gute Möglichkeit, Früchte zu kon­ sumieren, bietet das Trinken von frisch ge­ presstem Fruchtsaft. Für mich persönlich besteht der erste Trank des Tages aus dem frisch gepressten Saft von zwei bis vier

Hippokrates sagte: «Lass deine Nahrung deine Medizin sein und deine Medizin deine Nahrung.»

Orangen. Ich habe festgestellt, dass Oran­ gen viel besser verdaut werden, wenn sie am Morgen als allererstes eingenommen werden. Um Konflikte zu vermeiden, die sich aus der Säure der Orangen ergeben könnten, warte ich in der Regel etwa 15 Mi­ nuten vor dem Verzehr von süssen oder süsslichen Früchten wie zum Beispiel Äpfeln, Melonen, Erdbeeren, Beeren, Kiwis etc. Weitere 15 Minuten später, wenn ich immer noch hungrig bin, esse ich Nüsse (Man­ deln), Feigen, Rosinen, Getreide oder Voll­ kornbrot mit Honig. Wenn die Zeit knapp ist, trinke ich nur den frisch gepressten Orangensaft. Wenn ich auf Reisen keine Fruchtpresse zur Verfügung habe, esse ich die Früchte einfach. Mein Körper fühlt sich dann stark, energiegeladen und zugleich leicht an. Die Regel, dass saure und süsse Früchte nicht gemischt werden sollten, gilt für alle Lebensmittel. In der Tat sollte man es ver­ meiden, Lebensmittel, die zur Verdauung ein saures Medium benötigen, mit solchen Lebensmitteln zu mischen, die basischer Säfte bedürfen. Ebenfalls zu vermeiden ist

das Mischen von Lebensmitteln, die sehr unterschiedlich schnell verdaut werden. Auch hier handelt es sich nur um nahelie­ gende Chemie und Physik. Denken Sie sich unser Verdauungssystem als eine komplexe chemische Anlage. Ich wage folgende Ana­ logie: die Art und Weise, wie wir in moder­ nen Gerichten verschiedene Lebensmittel mischen, ist vergleichbar mit der Forde­ rung, dass eine chemische Ölraffinerie in ein und derselben Maschine dickflüssiges Teeröl und konventionelles Öl verarbeiten und gleichzeitig auch noch Wasser auf Trinkqualität reinigen und Kohle zu Benzin umwandeln können soll. Für ein industriel­ les Gerät ist dies absolut unmöglich. Unse­ ren Körper aber zwingen wir routinemässig zu derartigen Kraftakten. Durch seine gros­ se Anpassungsfähigkeit funktioniert unser Verdauungssystem viel besser als jede Ölraffinerie und richtet sich nach unseren unberechenbaren und irrationalen oder unverantwortlich unbewussten Verhaltens­ weisen. Dies geschieht aber auf Kosten un­ serer Energieressourcen und einer opti­­ma­len Absorbierung von Vitalstoffen. Die am schnellsten verdauten Lebens­ mittel sind – abgesehen von Wasser und wasserreichen Früchten – «einfache Zu­ cker», gefolgt von Stärke (Kohlenhydrate), Proteinen und Fetten. Essen wir zuerst et­ was, das eine lange Verdauungsdauer hat, und nehmen danach ein normalerweise schnell verdauliches Lebensmittel zu uns, so ist dieses letztere gezwungen, den glei­ chen langsamen Verdauungsweg zu gehen, wie das erstere. Dies ganz einfach darum, weil es keinen Mechanismus gibt, die ver­ schiedenen Lebensmittel, die wir alle zu­ sammen in unseren Magen und Darm wer­ fen, zu trennen. In solchen Situationen werden Zucker und Stärke vergären, wäh­ rend Eiweisse verfaulen. Die dadurch ent­ stehenden Unannehmlichkeiten reichen von Müdigkeit und Unwohlsein bis hin zu ernsthaften Krankheiten, die sich langfristig einstellen können. Was die Fragen des Gegensatzes zwi­ schen säurehaltig und alkalisch betrifft, muss man wissen, dass stärkehaltige Nah­ rungsmittel (Weizen, Brot, Reis, Getreide, Kartoffeln) für die Verdauung ein alkali­


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sches Medium benötigen, das mit dem im Speichel vorgefundenen Enzym Ptyalin assoziiert wird (daher die Bedeutung des Kauens stärkehaltiger Nahrungsmittel). Im Gegensatz dazu erfordert der Abbau von Proteinen ein saures Medium. Es ist ein un­ umgängliches Gesetz der Chemie, dass ein Verdauungsmedium nicht gleichzeitig sauer und alkalisch sein kann. Daher ist von inkom­ patiblen Mischungen dringend abzuraten. Nicht zuletzt empfehle ich, auf tieri­ sche Produkte, vor allem Fleisch und Milch­ produkte, zu verzichten. Die «China-Stu­ die» (siehe Fussnote 1) hat mit enorm viel Datenmaterial belegt, dass die Einnahme von Fleisch – vor allem von rotem Fleisch – und Kuhmilch stark gesundheitsschädlich ist. Sie vergleicht die langfristigen gesund­ heitlichen Eigenschaften von 65 chinesi­ schen Gruppen mit jenen von westlichen Ländern und zeigt, dass viele Erkrankungen der reichen Welt zu einem grossen Teil durch schlechte Ernährung verursacht werden. Die Chinesen waren immun gegen chronische Krankheiten und andere Leiden der westlichen Gesellschaften, bis sie in den Westen auswanderten oder einfach nur die entsprechenden Lebensgewohnheiten annahmen. Dass sie daraufhin zunehmend «westliche» Krankheiten entwickelten, be­ legt, dass der Unterschied im wesentlichen kein genetischer ist, sondern vor allem von Umwelt und Ernährung herrührt. Die «ChinaStudie» legt nahe, dass kognitive Störungen (wie Demenz), Nierensteine, Herzkrankhei­ ten, Fettleibigkeit, Multiple Sklerose und andere Autoimmunerkrankungen wie rheu­ matoide Arthritis und Diabetes Typ 1 durch eine Ernährung auf pflanzlicher Basis deut­ lich reduziert werden können. Tierisches Eiweiss, mehr noch als gesättigte Fettsäu­ ren und Cholesterin, erhöht den Choleste­ rinspiegel im Blut von Versuchstieren, ein­ zelnen Menschen und ganzen Völkern. Das Wohlbefinden kann auch durch simples Sonnenbaden gesteigert werden. Wann immer ich kann, setze ich Teile mei­ ner Haut kurz (15 Minuten oder weniger) dem Sonnenlicht aus. Das reicht, um genü­ gend Vitamin D zu synthetisieren. Vitamin D wird im Fett der Leber während mehrerer Wochen gelagert. Wenn wir uns periodisch

dem Sonnenlicht aussetzen, kann unser Körper dieses Vitamin D speichern. Und wenn er es für Antioxidation und für das Funktionieren des Immunsystems benötigt, wird es innerhalb nur weniger Stunden in eine aufgeladene Form namens 1,25 D um­ gewandelt, die normale Zellen davon ab­ hält, sich in kranke Zellen zu transformie­ ren, und den Kalziumspiegel reguliert (siehe «China-Studie»). Es hat sich heraus­ gestellt, dass tierische Proteinzufuhr die Bildung von 1,25 D in der Niere blockiert. Zusammenfassend: eine enorm um­ fangreiche wissenschaftliche Literatur und Tausende von verschiedenen Studien bele­ gen, dass pflanzliche Nahrungsmittel einen

Wenn ich einen leichten Rückgang meiner Vitalität beobachte, esse ich rohe Zwiebeln und Knoblauch.

präventiven Nutzen und/oder tierische Le­ bensmittel eine schädliche Wirkung haben. Eine Ernährung auf pflanzlicher Basis ist daher meiner Meinung nach die beste Grundlage für Leistung. 6. Powerfood Zusätzlich zu den einfachen oben ge­ nannten Empfehlungen möchte ich einige der «Tricks» verraten, die ich zur Bewälti­ gung von Stresssituationen anwende. Wenn ich auf der ganzen Welt mit sehr intelligen­ ten Menschen interagiere, benötige ich in­ tensive Konzentration. Auf Reisen besteht die grösste Herausforderung manchmal darin, sich so intelligent wie möglich zu un­ terhalten und trotz Jetlag während einer Woche täglich mehr als 10 Stunden pausen­ los inspiriert und kreativ zu bleiben. Ich habe im Laufe der Zeit festgestellt, dass bei physischen und kognitiven Anforderungen eine Kombination von frischen und ge­ trockneten Früchten besonders effizient ist. Vor Veranstaltungen mit hohen Anfor­ derungen (und das können täglich mehrere sein) esse ich in der Regel so viele getrock­

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nete Feigen, Aprikosen und Mandeln, wie mein Körper benötigt. Das funktioniert wunderbar. Darüber hinaus sind einige Stü­ cke dunkler Schokolade (mehr als 70 Pro­ zent Kakao) grossartig für das Gehirn (Mag­ nesium) und für die Stimmung (zusätzlich zum Geschmack enthält Schokolade Sero­ tonin, das als Antidepressivum wirkt). Die gesundheitlichen Vorteile dunkler Schoko­ lade kommen zum Teil von Flavonoiden. Diese Antioxidantien sind in Kakao reich­ lich vorhanden und neutralisieren Sauer­ stoffradikale. Ich bin nicht ganz immun gegen Grippe oder Erkältungen – vor allem wenn ich mei­ nen Körper etwas überbeanspruche, führt die Müdigkeit zu einem geschwächten Im­ munsystem. Wenn ich einen leichten Rück­ gang meiner Vitalität beobachte und/oder vermehrt niese oder einen Anflug von Hals­ schmerzen verspüre, stelle ich meine Er­ nährung sofort auf leichte Sachen um, trin­ ke noch mehr Wasser und – jetzt kommt das Wichtigste – esse rohe Zwiebeln und Knob­ lauch. Die Zwiebel ist ein natürliches Antibio­ tikum, reich an Schwefel und Flavonoiden, und bekannt als eines der effizientesten na­ türlichen Heilmittel zur Bekämpfung von Infektionskrankheiten der Atemwege. Das Kauen von rohen Zwiebeln imprägniert die Atemwege, den Rachen und die Nasenne­ benhöhlen. Das bringt fast augenblicklich Erleichterung. Seit ich diesen Trick anwen­ de, kann ich innerhalb von weniger als 24 Stunden meine volle Leistungsfähigkeit zu­ rückerlangen. Zwiebeln sind ganz allge­ mein grossartige Elemente unserer Ernäh­ rung, denn sie sind voller Vitamine (wie C, B1 und B6) sowie Kalium, Phosphor und Ballaststoffe. George Washington, der Gründungsvater der USA, wurde wie folgt zitiert: «Wenn ich erkältet bin, esse ich immer eine heisse ge­ röstete Zwiebel, kurz bevor ich zu Bett gehe, das ist mein eigenes Heilmittel.» Meiner eigenen Erfahrung zufolge sind rohe Zwie­ beln noch wirksamer und effizienter. Aller­ dings müssen Sie Ihre bessere Hälfte und die Familie (Haustiere sind grossartig, denn die stören sich nicht daran) überzeugen, dasselbe zu tun, damit sich die lästigen Ge­ 47


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rüche gegenseitig aufheben und man sich trotzdem die Vorzüge verschaffen kann, die sich aus Liebe, Schmusen und Sex ergeben! In ähnlicher Weise kann Knoblauch helfen, Bronchitis und Nasennebenhöhlen­ entzündungen zu heilen. Bereits Louis Pas­ teur hat im Jahre 1858 die antibakterielle Aktivität von Knoblauch beobachtet. Seit­ her wurde festgestellt, dass Knoblauch im Glas antibakterielle, antivirale und antifun­ gielle Aktivitäten entwickelt und Herz­ krankheiten (einschliesslich Arteriosklero­ se, hoher Cholesterinspiegel und hoher Blutdruck) und Krebs vorbeugt. Knoblauch, so meine persönliche Erfahrung, verflüssigt das Blut und erzeugt ein tolles Gefühl des

Indem ich jeder sogenannten Arbeitstätigkeit als «Spiel» begegne, mache ich das Leben lebenswert.

Wohlbefindens. Zitronen (insbesondere für die Ascorbinsäure, auch als Vitamin C be­ kannt), Nüsse, getrocknete Früchte und Ki­ wis sind weitere Lebensmittel, die mir zu einem kräftigen Körpergefühl verhelfen. Mein letzter Rat ist, auf den eigenen Körper zu hören, um die schwachen, aber allgegen­ wärtigen Signale wahrzunehmen, die Ma­ gen, Darm, Herz und das gesamte Nerven­ system aussenden. Zum Beispiel habe ich festgestellt, dass ich sagen kann, ob ein Le­ bensmittel gut für mich ist, wenn ich darauf achte, wie mein Magen und mein Körper auf den ersten Bissen reagieren. Körper und Geist bestehen aus komple­ xen, verwobenen Netzwerken von Sensoren, die das Gehirn – sowohl bewusst als auch unbewusst – auf vielen Informationskanälen mit kontinuierlichen Feedbacks füttern. Die Grenze zwischen bewusst und unbewusst ist durchlässig, und ich glaube, dass Training und Meditation helfen können, unsere Leis­ tungsfähigkeit durch die Verstärkung unse­ rer internen Sinneswahrnehmungen zu ver­ bessern. Hippokrates sagte: «Wer nicht sein eigener Arzt ist, ist ein Narr.» 48

7. Spielen, intrinsische Motivation, positive Psychologie und Willen Viele Tiere spielen, aber wir Menschen haben eine aussergewöhnliche Gabe zum Spielen. Vor einigen Jahren habe ich den Be­ griff «Spieldurst» geprägt, um die Hypothese zu lancieren, dass wir uns zu kooperativen sozialen Tieren mit einem ungewöhnlichen Spieltrieb entwickelt haben (aber viele von uns haben ihn im Zuge ihres von ernsten Tatsachen geprägten Erwachsenenlebens vergessen). Beim Beobachten von Kindern sieht man, dass deren Ziel offensichtlich darin besteht, die ganze Zeit alle Arten von Spie­ len zu machen (im elektronischen Zeitalter immer mehr Videospiele). Spielen ist moti­ viert durch (a) den Wunsch nach Neuem, nach Veränderung, nach neuen Erfahrun­ gen und durch (b) einen Trieb, «die eigenen Muskeln spielen zu lassen», Fertigkeiten und Fähigkeiten zu zeigen und alles aus sich her­auszuholen. Wenn Spielen Kooperation begünstigt, streben wir beim Spielen nach Kooperation. Mannschaftssportarten sind dafür ein gu­ tes Beispiel. Als Erwachsene neigen wir dazu, unsere kindliche Spielfähigkeit zu verlieren. Ich persönlich schätze mich sehr glücklich, mit meinem Beruf die Chance zu haben, im Grunde genommen während 100 Prozent meiner Zeit zu «spielen». Das be­ deutet nicht, dass ich meine Arbeit auf die leichte Schulter nehme. Im Gegenteil, der Spielmodus schärft meine Aufmerksamkeit und erhöht den Antrieb zu Leistung. Indem ich jeder sogenannten Arbeitstätigkeit als «Spiel» begegne, mache ich das Leben le­ benswert. Zusätzlich zum Spielen eignet sich eine Reihe von weiteren Tätigkeiten hervorragend zum Stressabbau: Entspan­ nung und Ausblenden des Geistes, eine kleine Fahrt mit dem Fahrrad, ein Spazier­ gang, Tratschen mit Freunden, Familie, Kinder, sich über Menschen lustig machen, scherzen. Spitzenleistung ist zunächst ein Kind des Geistes und vor allem eine Folge hoher intrinsischer Motivation. Intrinsische Mo­ tivation bedeutet, für sich selbst ein Ziel zu finden. Etwas, für das es sich mit Leiden­ schaft zu leben und/oder arbeiten lohnt.

Den wahren Machern dieser Welt geht es um viel mehr als um monetäre Anreize. Eine Reihe von Belegen 15 und Metaanaly­ sen16 stellen die Gültigkeit des von Ökono­ men und Personalabteilungen vertretenen Standardaxioms in Frage, wonach die Men­ schen im wesentlichen durch äusserliche Belohnungen motiviert werden. Tatsäch­ lich wurde festgestellt, dass in nahezu allen Fällen, in denen Menschen nach Belohnun­ gen streben, «extrinsische materielle Be­ lohnungen die intrinsische Motivation un­ tergraben». Ich glaube, intrinsische Motivation ist wie die Liebe. Sie kann einen in Form eines Blitzes treffen oder zuerst nur zaghaft auf­ keimen und dann Schritt für Schritt in ei­ nem langen, sorgfältig gepflegten Prozess erblühen. Intrinsische Motivation ist das Ergebnis von Prozessen mit positiven Feed­ backs: je mehr man die innere Motivation lebt, desto stärker wächst sie. Sie ist ähnlich wie das Glück, mit dem es sich nach Abra­ ham Lincoln so verhält, dass «Menschen genau so glücklich sind, wie sie sich ent­ schliessen, es zu sein». Intrinsische Motiva­ tion ist ein Geisteszustand, der mit seiner Ausübung gleichsam wächst. Oft höre ich Leute sagen: «Ich habe eine Abneigung gegen...», «Ich fürchte mich, zu scheitern» oder «Ich weiss nicht, wie...». Die meisten Leute drücken solche Sätze nicht laut aus, aber sie wiegen schwer in ih­ ren Köpfen. Meine Reaktion besteht darin, diese negativen Wendungen, diese Ausdrü­ cke einer Verlusthaltung, zu ersetzen durch Haltungen wie: «Ich versuche es gerne, weil ich neue Dinge lernen kann» oder «Wenn ich dies oder jenes mache, werde ich kon­ zentriert und tapfer sein» oder «Das ist eine Chance für mich, zu lernen wie...». Durch das Erzwingen einer positiven konstrukti­ ven Haltung können sich Verhaltensweisen ändern und verbessern. Ich glaube, es ist möglich, einen Teil unserer Software, die in unseren frühen Jahren geprägt wurde, neu zu programmie­ ren und Ängste und Grenzen zu überwin­ den. Damit rührt man an die Grenzen der gegenwärtigen wissenschaftlichen Er­ kenntnisse über das Gehirn als ein Organ, das jene kognitiven und psychologischen


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Prozesse sichert, die uns als Persönlichkeit definieren. Kontinuierliche Verbesserung der Software Es gibt keine allgemein anerkannten Techniken zur Verbesserung und Program­ mierung des Gehirns für höhere Leistung. Wenn wir unsere mentalen Prozesse als Er­ gebnis einer Software sehen, die wir im Laufe unseres Lebens erworben haben, so halte ich es jedoch für möglich, Einfluss auf sie zu nehmen und die unerwünschten Code-Bits zu modifizieren – ähnlich wie ein Computeringenieur, der ein Computerpro­ gramm verbessert und von Bugs befreit. Man muss auf die schwachen Signale und Rückmeldungen hören, die unser Ge­ hirn aussendet, und dann individuell expe­ rimentieren. Meditation kann eine hilfrei­ che Methode für ein «Reset» sein: man achtet auf die Rückmeldungen, die uns Kör­ per und Geist permanent geben. Das gibt uns Macht und ein Gefühl von Relevanz und Wichtigkeit. Der Wille ist eine wichtige Treibkraft für Leistungen. Wie entwickelt man Wil­ len? Ich glaube, dass der Wille – wie Kraft und Gesundheit – eine Qualität ist, die ge­ nährt und entwickelt werden kann. Wir nähren und entwickeln sie in einem langsa­ men, kumulativen Prozess kleiner Gewin­ ne, die durch die Wirkung von tugendhaf­ ten positiven Feedbacks stufenweise wachsen. Unser Wille kann durch eine opti­ mistische und positive Psychologie kataly­ siert werden, die ihrerseits von der Existenz eines sozialen Netzwerks mit hoher emoti­ onaler Qualität profitieren und in dieser Umgebung die unabdingbaren Feedbacks bieten kann. Intrinsische Motivation blüht dann auf, wenn die Freiheit zu denken und zu han­ deln ein Gefühl der Kontrolle über das eige­ ne Leben bietet und zur Erkenntnis führt, dass wir die Verantwortung dafür tragen, was uns widerfährt. Erfolg lächelt jenen entgegen, die darauf vorbereitet sind, Chancen beim Schopf zu packen. Grossartige Menschen, Genies und die Innovatoren, die in dieser Welt etwas ver­ ändert haben, zeichnen sich durch ein aus­ serordentliches Leistungsniveau aus. Allzu

oft habe ich aber beobachtet, wie solche Menschen sich nicht darum kümmerten oder nicht erkannt haben, dass ihr Körper die erste Maschine/Kreatur/Einheit ist, die es zu pflegen gilt. Um etwas zu erreichen oder um ande­ ren zu helfen, muss man stark und vorbild­ haft sein. Ich habe zu oft gesehen, wie gros­ se Menschen ihre biologische Maschine auf untragbare Ebenen getrieben und sie mit Stress und Giften überladen haben. Zu viele grosse Menschen sind diesem blinden Fleck zum Opfer gefallen, sind schwächenden Krankheiten, Herzleiden, Krebs und der­ gleichen erlegen und haben uns viel zu früh verlassen. Ich wollte eine Neugierde für eine andere, langfristige Möglichkeit zur vol­ len Ausschöpfung der eigenen Leistungsfä­ higkeit wecken: jene, die in Form einer per­ sönlichen Hygiene auftritt und als Spiegelbild der eigenen Ziele funktioniert. � Aus dem Englischen übersetzt von Florian Rittmeyer Die englische Originalversion des Textes ist auf unserer Website www.schweizermonat.ch abrufbar.

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Siehe T.C. Campell und T.M. Campell. «The China Study». Dallas: Bendella Books, 2004. (Die China-Stu­ die ist die umfangreichste Untersuchung über Ernäh­ rung, die jemals durchgeführt wurde. Sie hat verblüf­ fende Implikationen auf Essgewohnheiten, Gewichtsverlust und langfristige Gesundheit.) Siehe auch D. Servan-Schreiber: «Anticancer: A New Way of Life China Study». London: Michael Joseph, 2009. 2 D. Sornette, F. Ferré und E. Papiernik. «Mathematical Model of Human Gestation and Parturition: Implica­ tions for Early Diagnostic of Prematurity and Post-Ma­ turity», in: Int. J. Bifurcation and Chaos 4 (1994), 693– 699; D. Sornette et al. «Endogenous versus Exogenous Origins of Diseases», in: Journal of Biological Systems 17 (2009), 225–257; I. Orsorio et al. «Pharmaco-Resis­ tant Seizures: Self-Triggering Capacity, Scale-Free Properties and Predictability?», in: European Journal of Neuroscience 30 (2009), 1554–1558; I. Osorio et al. «Epileptic Seizures, Quakes of the Brain?», in: Physical Review E 82 (2010), 021919. 3 Siehe T. Ferris. «The 4-Hour-Body. An Uncommon Guide to Rapid Fat-Loss, Incredible Sex and Becoming Superhuman». New York: Vermilion, 2011. 4 Die folgenden inspirierenden Bücher bieten ergän­ zende Informationen und viele nützliche Verweise: T. Robbins. «Unlimited Power: The New Science of Personal Achievement». New York: Free Press (1997). Kapitel 10 ist eine bewundernswerte Synthese, die meine Darstellung ergänzt. Aber ich pflichte nicht allen Kapiteln des Buchs bei. Siehe auch China-Study, Servan-Schreiber, Ferris sowie A. de Vany. «The Evolu­ tionary Diet. What Our Paleolithic Ancestors Can Teach Us about Weight Loss, Fitness, and Aging». Emmaus: Rodale Books (2010). Wobei bei Art de Vany zu sagen ist, dass er nicht genug Wert darauf legt, viel Wasser zu trinken und viele wasserhaltige Früchte dunkler Farbe zu essen. Seine Empfehlung, auf Koh­ lenhydrate zu verzichten, sollte ergänzt werden durch die Unterscheidung zwischen verarbeiteten (diese sind nicht empfehlenswert – einverstanden) und un­ verarbeiteten Kohlehydraten (die zu empfehlen sind). Nach meiner Erfahrung und Ansicht ist die Betonung auf proteinhaltiges Fleisch fehlgeleitet. 5 Siehe V.M. Savage und G.B. West. (2007) «A Quantita­ tive, Theoretical Framework for Understanding Mammalian Sleep», in: Proceedings of the National Academy of Sciences (USA) 104 (2010), 1051–1056. 6 U. Wagner et al. «Sleep Inspires Insight», in: Nature 427 (2004), 352–355. 7 Siehe H. Fisher. «Why We Love: The Nature and Chemistry of Romantic Love». New York: Henry Holt (2004) und H. Fisher. «Why Him? Why Her? Finding Real Love by Understanding Your Personality Type». New York, Henry Holt (2009). 8 R. Ader, D. Felten und N. Cohen. «Interactions between the Brain and the Immune System», in: Annual Review of Pharmacology and Toxicology 30 (1990), 561–602. 9 D.G. Blanchflower und A.J. Osward. «Money, Sex and Happiness: an Empirical Study», in: Scandinavian Journal of Economics 106 (2004), 393–415. 10 Siehe J.D. Fryer et al. «Exercise and Genetic Rescue of SCA1 via the Transcriptional Repressor Capicua», in: Science 334 (2011), 690–693; A.D. Gitler. «Another Reason to Exercise», in: Science 334 (2011), 606–607. 11 B.B. Mandelbrot. «The Fractal Geometry of Nature». San Francisco: W.H. Freeman, 1983. 12 Siehe Servan-Schreiber. 13 Siehe China-Studie von Campell und Campell. 14 Siehe Campell und Campell sowie Servan-Schreiber. 15 Siehe N. Fleming. «The Bonus Myth: How Paying for Results Backfires», in: New Scientist 2807 (2009), 40–43. 16 Siehe E.L. Deci, R. Koestner und R.M. Ryan. «A Meta-Analytic Review of Experiments Examining the Effects of Extrinsic Rewards on Intrinsic Motiva­ tion», in: Psychological Bulletin 125 (1999), 627–668. 1

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Die den Karren ziehen

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Manager sind untendurch. Unternehmer stehen hoch im Kurs. Aber was ist das, ein Unternehmer? von Benedikt Goldkamp

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er Begriff des Unternehmers ist heute wieder in aller Munde. In Zeiten media­ ler Angriffe auf Abzocker, Heuschrecken und «neoliberale» Kapitalisten bietet er für viele Leistungswillige die Legitimation ihres Handelns. So bilden Top-Business-Schools gemäss Selbstdeklaration unternehmeri­ sche Manager aus, Compensation Commit­ tees modellieren ihre Vergütungsmodelle für hochbezahlte Topmanager nach unter­ nehmerischen Gesichtspunkten, und er­ folgreiche angestellte Manager von Kon­ zernunternehmen lassen sich in sehr freier Auslegung des Unternehmerbegriffes zum «Entrepreneur des Jahres» küren. Alles nach dem Motto: Wenn schon Kapitalist, dann bitte in der vergleichsweise gesellschaftlich akzeptablen Gestalt des Unternehmers. Was für Unternehmer aber braucht das Land? Von welchen Usurpatoren des Begrif­ fes gilt es sich abzugrenzen? Wo lauert, so­ zusagen, die Gefahr in den eigenen Reihen? Tatsächlich gibt es keine allgemeingültige Definition des Unternehmers, und der in wei­ ten Teilen der Gesellschaft positiv besetzte, ungeschützte Begriff wird zunehmend ver­ wässert. Begriffe wie «Serial Entrepreneur», «unternehmerischer Financier» oder «Social Entrepreneur» illustrieren die Bandbreite derer, die sich ein positives Image vom selbst­ gewählten Unternehmerstatus versprechen. Der Unternehmer ist zunächst einmal in der umgangssprachlichen Bedeutung des Wortes der Inhaber (Eigentümer) eines Un­ ternehmens beziehungsweise eines Betrie­ bes, den er selbständig und eigenverant­ wortlich führt. Es genügt also nicht, «nur» Eigentümer zu sein oder «nur» selbständig 50

und eigenverantwortlich zu führen. Erst wenn beide Kriterien erfüllt sind, haben wir es nach gängiger, aber durchaus präziser Lesart mit Unternehmern zu tun. Erfreulicherweise ist die Gründung oder Übernahme eines Unternehmens in den vergangenen Jahren wieder beliebter gewor­ den. Doch sind diese Neu- und Jungunter­ nehmer «echte» Unternehmer, oder erle­ ben wir hier eine Mogelpackung? Mir geht es hier weniger um die Schumpetersche Unterscheidung zwischen dem Unterneh­ mer als Innovator und Gleichgewichtszer­ störer und dem Kapitalisten als (planvoll)

Der Karren wird bewegt: von dieser Leistung profitiert die Gesellschaft.

Ressourcen unter Renditeaspekten einset­ zendem «Wirt». Für mich steht vielmehr der soziale Nutzen und die soziale Akzep­ tanz der Unternehmer im Vordergrund, die ihr eigenes Schicksal mit dem ihrer Unter­ nehmen verbinden und als Kapitäne das sinkende Schiff als Letzte verlassen, sollte es zum Äussersten kommen. In diesem Sinne bietet sich eine Erweite­ rung der Begriffsdefinition an, um den Un­ ternehmertypus zu beschreiben, der meiner Meinung nach einen echten gesellschaftli­ chen Nutzen erzeugt und dem die Gesell­ schaft auch zu Recht Respekt zollt: eine Er­

Benedikt Goldkamp Benedikt Goldkamp ist Delegierter des Verwaltungsrats von Phoenix Mecano. Er führt das börsen­ kotierte Familienunternehmen und vertritt die Familie, die als langfristige Ankeraktionärin rund 33 Prozent des Aktienkapitals hält. Das international tätige Schweizer Technologieunternehmen hat 2010 einen Umsatz von 500 Millionen Euro erwirtschaftet und beschäftigt 5900 Mitarbeiter.

weiterung um den Aspekt der Langfristigkeit. Es war Winston Churchill, der diesen Unternehmertypus treffend beschrieb: «Manche Leute halten den Unternehmer für einen räudigen Wolf, den man totschla­ gen müsse. Andere sehen in ihm eine Kuh, die man ununterbrochen melken müsse. Nur wenige erkennen in ihm das Pferd, das den Karren zieht.» Der Unternehmer wird von Churchill also als gesellschaftlicher Leistungsträger – nicht als Innovator oder Gleichgewichtszerstörer – definiert. Dabei verzichtet er auf moralische Kriterien. Der Karren wird bewegt: von dieser Leistung profitiert die Gesellschaft. Sie ist die Quelle von Wohlstand, Arbeitsplätzen, Steuerein­ nahmen für den Staat und von Produkten und Dienstleistungen für den Konsumenten. Arbeit, Verzicht, Leistungswillen Viele Unternehmen, die heute das Rückgrat der Volkswirtschaften Mitteleuro­ pas bilden, wurden in beeindruckenden Le­ bensleistungen von Vertretern der Nach­ kriegsgeneration aufgebaut. Durch harte Arbeit, Verzicht, Kreativität und unbeding­ ten Leistungswillen der Unternehmer ent­ standen Werte, die Generationen überdau­ ert und bis heute Bestand haben. Bei diesen


Benedikt Goldkamp, photographiert von Philipp Baer.

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Unternehmern ist also zweifelsfrei das Kri­ terium der Langfristigkeit erfüllt. Schauen wir uns dazu im Vergleich die neuen Unternehmer von heute an. Eine Aussage von Dietmar Grichnik, Professor für Entrepreneurship an der WHU-Univer­ sität, Otto Beisheim School of Management, im deutschen Magazin «Wirtschaftswoche» ist aufschlussreich. 2009 hielt er fest, dass

Die Firma ist das eigene Baby, das man nicht einfach so hergibt.

zuletzt jeder fünfte Absolvent der Eliteuni­ versität ein eigenes Unternehmen gegrün­ det habe – und dass die Gründung gerade in Krisenzeiten an Attraktivität gewinne. Zu­ gleich gab er zu Protokoll, dass die belieb­ testen Neugründungen Web-2.0-Internet­ unternehmen seien, weil diese Branche einen schnellen und ertragreichen Exit (!) verspreche. Gleichzeitig beklagte er einen relativen Mangel an langfristig interessan­ ten Unternehmensgründungen im Techno­ logiebereich. In dieselbe Kerbe schlug der jüngst verstorbene Steve Jobs, in dessen Biographie zu lesen steht: «Ich mag es nicht, wenn sich Leute ‹Unternehmer› nennen, die Start-ups gründen und sie dann verkau­ fen bzw. an die Börse gehen, bloss um schön einsacken und weitermachen zu können.» Geht es also doch nur um den Wunsch nach dem schnellen Rubel? Ist die Idealvor­ stellung dieser jungen Unternehmensgrün­ der der Lebensstil der Internetmillionäre, die heute die Villenviertel an der Zürcher Goldküste bevölkern, von denen jedoch kaum einer heute noch Eigentümer des selbstgegründeten Unternehmens ist? Und wie sieht es bei modernen Unternehmern der Generation «Private Equity» aus? Hal­ ten diese selbsternannten «Spezialisten für die Mittelstrecke», die – im Idealfall – in drei bis fünf Jahren stille Reserven der mit hohem Fremdfinanzierungshebel über­ nommenen Firmen aufdecken, dem Ver­ 52

gleich mit den Gründerunternehmern der Nachkriegsgeneration stand? Ist der gesell­ schaftliche Nutzen der durch aggressive M&A-Transaktionen aufgebauten «Firmen­ cluster» zur Erreichung einer für einen leichteren Weiterverkauf erforderlichen kritischen Grösse vergleichbar mit der or­ ganischen Wertschöpfung von Generationen überdauernden Familienunternehmen? Wer profitiert letztlich von kurzfristigen Wertsteigerungen durch Effizienzgewinn (sprich: Verzicht auf Zukunftsinvestitio­ nen, Personalabbau), wenn am Ende nur das Ziel besteht, so den für einen erfolgrei­ chen Exit erforderlichen Verkaufspreis zu steigern? Doch es gibt sie noch, die Gründer, die sich mit ihrem Unternehmen als Lebens­ werk verbunden fühlen. Übrigens auch un­ ternehmerisch geführte Beteiligungsgesell­ schaften wie die Berkshire Hathaway von Warren Buffet, der einst auf die Frage eines Analysten nach seinem bevorzugten Inves­ titionshorizont antwortete: forever. Solche Unternehmer brauchen keinen modernen Nachhaltigkeitsbericht als zusätzliche ad­ ministrative Auflage durch die Börse. Hier liegt die langfristige Wertsteigerung im ur­ eigenen Interesse des Unternehmers. Joseph Marie de Maistre, der französi­ sche Politiker und Philosoph des 19. Jahr­ hunderts, sagte einst, dass jedes Volk die Regierung habe, die es verdiene. Vielleicht ist es eben auch so, dass unsere Gesellschaft auch die Unternehmer bekommt, die sie verdient. Anstatt Leistung über die Höhe des Bonus zu messen, sollten sich die Mei­ nungsführer in Politik und Medien für Rah­ menbedingungen einsetzen, die intrinsisch motivierten Menschen den Schritt in die unternehmerische Selbständigkeit als Le­ bensaufgabe erleichtern. Warum verkaufen? Ich habe das Glück, im Rahmen meiner eigenen, unternehmerischen Tätigkeit re­ gelmässig die aufstrebenden Volkswirt­ schaften Asiens zu bereisen. Dabei fällt mir immer wieder auf, wie gross dort die Bedeu­ tung der Ingenieurswissenschaften ist, während sie in den westlichen Industrie­ ländern laufend abnimmt. Sie stehen, ver­

glichen mit Jura und Betriebswirtschaft, hoch im Kurs der jungen Eliten. Und wenn junge Menschen in Asien Unternehmen gründen, steht viel häufiger das Produkt oder die Dienstleistung im Vordergrund – und nicht die Gestaltung einer späteren all­ fälligen M&A-Transaktion. Der Traum vom eigenen Unternehmen beinhaltet natürlich immer auch den Wunsch nach wirtschaftlichem Erfolg. Trotzdem zeigt sich auf der Suche nach ge­ eigneten Akquisitionen für meine Unter­ nehmensgruppe in Asien oft eine ver­ gleichsweise geringe Verkaufsbereitschaft der Eigentümer. Die Firma ist das eigene Baby, das man nicht einfach so hergibt. Nach einem gelungenen Unterneh­ menskauf in China sprach mich kürzlich ein chinesischer Bekannter an einem ge­ sellschaftlichen Anlass an. Anstatt mich zu diesem mutigen Wachstumsschritt zu be­ glückwünschen, kritisierte er die Akquisi­ tion auf höfliche chinesische Art. Niemand verkaufe ein gutes Unternehmen, meinte er. Obgleich ich seine Äusserung zunächst nicht nachvollziehen konnte, brachte sie mich in Grübeln. Vor gar nicht allzu langer Zeit hätte man möglicherweise eine solche Aussage auch in Europa hören können. Wie kann man sich mit Leib und Seele einer Fir­ ma, Mitarbeitern und Produkten verschrei­ ben und gleichzeitig die optimale Ver­ kaufstransaktion strukturieren? Wenn Unternehmen Lebenswerke sind und der Unternehmer langfristig auf Ge­ deih und Verderb zu seiner Firma steht, lö­ sen sich viele gesellschaftliche Konflikte der heutigen Zeit von selbst. Wenn das eigene Unternehmen, also konkret: die Verantwortung für die Mitar­ beiter und die Freude an der kreativen Auf­ gabe der Entwicklung von Produkten und Dienstleistungen, vom Unternehmer als sinnstiftend empfunden wird und die ge­ sellschaftlichen Rahmenbedingungen für die Verfolgung langfristiger Ziele gegeben sind, dann werden wir die Unternehmer im Sinne Churchills haben, die den Karren zum Nutzen der Allgemeinheit ziehen. Dann können Unternehmer auch wieder vermehrt einen Beitrag zum Kitt leisten, der unsere Gesellschaft zusammenhält. �


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Deine Mutter!

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Eine provokante Würdigung verkannter Leistungsträgerinnen von Michael Klonovsky

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s ist heutzutage viel von der «Doppelbe­ lastung der Frau» die Rede. Bekanntlich umfasst dieser modische Begriff die paral­ lelen Anforderungen von Berufstätigkeit und Familie, das heisst, beide werden als «Belastungen» auf eine Ebene gestellt. So verwandeln sich Kinder in Belastungen, vergleichbar ungefähr dem Terminstress bei einer Projektabgabe oder einem nerven­ den Chef. Zweifellos können Kinder zuwei­ len sogar noch belastender sein als der schlimmste Chef, aber der Formulierung von der Doppelbelastung sollte man keines­ wegs so ohne weiteres trauen. Besser wäre vielleicht: Doppelleistung, je nach Naturell sogar: Doppelglück. Schliesslich kann ein Tag intensiver Kinderbetreuung so anstren­ gend (und erfüllend) sein wie das tägliche Arbeitspensum eines Physiknobelpreisträ­ gers oder einer Konzertpianistin, wie eine Schicht im Bergwerk oder eine Bergetappe bei der Tour de France.

Verzicht zugunsten anderer Aber gehen Berufstätigkeit und Familie zusammen? Viele Frauen, die sich zur Fort­ pflanzung entschliessen, erfahren irgend­ wann: unter den Bedingungen des soge­ nannt modernen Lebens bedarf es einer Parforceleistung, erfolgreich Kinder gross­ zuziehen und gleichzeitig einem Beruf nachzugehen. Die sogenannte Doppelbe­ lastung wird deshalb häufig delegiert. Frau kann heutzutage Kinder haben und gar nicht vorrangig Mutter sein; dafür gibt es Einrichtungen oder Au-pairs, oder die Väter übernehmen Betreuungsaufgaben. Wobei ich nicht glaube, dass sie dasselbe leisten 54

können wie Mütter. Denn die Leistung einer Mutter ist einzigartig – und zugleich nicht messbar. Deshalb wird ihr die Anerkennung der Leistungsgesellschaft versagt. Dies gilt insbesondere sowohl für jene stillen Hel­ dinnen, die den Spagat zwischen Mutterda­ sein und Berufsleben bewältigen, als auch für die Mutter allgemein. Das erste und elementarste Wort, das mir im Zusammenhang mit dem Begriff «Mut­ ter» einfällt, ist «Trost». Mit dem Vater mag sich die kindliche Assoziation «Sicherheit»

Die Leistung einer Mutter ist einzigartig – und zugleich nicht messbar.

verbinden – ich rede hier von Normalfällen –, doch sie beschreibt nur ein sozusagen praktisch-weltliches Vermögen, während jenes, Trost zu spenden, in die Bezirke des Chthonischen und zugleich Transzenden­ ten hineinreicht, weshalb es lange Zeit den Geistlichen oblag, jene zu trösten, die der Obhut der Mutter entwachsen waren. Ei­ nem unglücklichen oder kranken Kind Trost zu spenden, ist zwar eine der gewöhn­ lichsten Beschäftigungen der Mütter dieser Erde, doch sie funktioniert nur zwischen zwei unaustauschbaren Menschen. Nur die Mutter kann jenen ungetrübten Frieden schenken, von dem Proust spricht, wenn er beschreibt, wie seine Mama ihm gute Nacht

Michael Klonovsky Michael Klonovsky, Schriftsteller und Journalist, ist Leiter des Debattenressorts der Zeitschrift «Focus» und Vater von vier Kindern. Zuletzt veröffentlichte er «Der Held – ein Nachruf» (2011).

sagte. Die Verbindung des Kindes zur Mut­ ter ist weit enger und dauerhafter als jene zum Vater; kein Gekreuzigter, mit Ausnahme des einen, rief nach seinem Vater, und auch die Schwerverletzten in den Schützengräben brüllten «Mama!» und nicht «Papa!». Der Philosoph Hans-Georg Gadamer hat in seinen alten Tagen immer wieder den Verlust der Mütterlichkeit in den jüngeren, also derzeit tonangebenden Generationen beklagt. Mütterlichkeit, das ist – neben je­ ner Fähigkeit des aufnehmenden Bergens, die tiefer in die Gattungsgeschichte hinab­ reicht als alle Kultur – die Bereitschaft zu engelsgeduldiger Selbstverleugnung und dienender Empathie, ein liebevolles Sich­ aufopfern, das nicht nach Grund und Hono­ rar fragt. Es ist ein Verzicht zugunsten an­ derer, wie ihn der Zeitgeist einfach nicht mehr vorsieht. In den Familien findet man immer noch die Asymmetrie der Lastenver­ teilung, die sich in ausserfamiliären Struk­ turen sofort als Ungerechtigkeit angepran­ gert sähe. Extreme Anforderungen Als Hauptfeinde der Mütterlichkeit agieren der Ökonomismus (am deutlichs­ ten in Gestalt des feministischen Karriere­ fetischismus) und der Hedonismus. An eine moderne junge Frau werden extreme


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Forderungen gestellt: Sie soll emanzipiert sein, attraktiv, sportlich, gepflegt, modisch up to date, mobil, dynamisch, beruflich er­ folgreich (und belastbar), sexuell aktiv (und disponibel). Hat sie einen festen Part­ ner, fällt nur das «disponibel» weg, der An­ schein freilich sollte bleiben. Nichts stört hier mehr als Kinder. Die Supermodels ma­ chen vor, dass zumindest theoretisch die Möglichkeit besteht, ein halbes Jahr nach der Geburt wieder bauchfaltenfrei vor die Kamera zu treten. Im Regelfall aber ist am Ende der Schoss durchbrochen, der Bauch gerissen, die Brüste verlieren an Spannung, OP-Narben bleiben ewig sichtbar. Ohne privaten Fitnesstrainer und zwei Nannys pro Kind ist Mutterschaft, zumindest nach den Kriterien des beruflichen und partner­ schaftlichen Marktes, eine mittlere Kata­ strophe. Sie bedeutet das exakte Gegenteil von ganztägiger beruflicher Belastbarkeit und sexueller Attraktivität. Schwanger­ schaft und Stillzeit gelten heutzutage so­ mit eher als temporäre Behinderungen. Kinder sind sozusagen gutartige Tumore, die die Frau körperlich dauerhaft beschädi­ gen und ihr Zeit und Energie und Attrakti­ vität abziehen.

wickeln stattdessen Theorien über «Gender» und «konstruierte Geschlechterrollen». Doch die Lektüre launiger Gender-Studies vermag die Melancholie nicht zu vertrei­ ben, die sich auf das Gesicht der kinderlo­ sen Endvierzigerin malt. Wenn wir auf 5000 Jahre rekapitulierbarer menschlicher Geschichte zurückschauen, dann würde in ca. 4950 davon kein Mensch den Begriff «Mutterrolle» verstanden haben. Gewiss, die Begriffe «Work-Life-Balance» oder «Frauenquote» hätte auch niemand ver­ standen, aber es dürfte kein Zufall sein, dass die Idee, aus der natürlichen Mutter die angeblich sozial konstruierte Mutterrolle zu machen (so wie aus den Geschlechtern die angeblich sozial konstruierten Ge­ schlechterrollen), aus einem demographisch erschöpften Weltteil stammt, dessen Bevöl­ kerungspyramide sich anschickt, einen auf Dauer höchst ungesunden Kopfstand zu machen. Vor hundert Jahren schrieb Henry Louis Mencken: «Es ist allgemein bekannt, dass eine Hausfrau, die gut kocht oder ihre eige­ nen Kleider so geschickt näht, dass man es

Outsourcing der Kinderbetreuung Nach den geltenden Kriterien verwan­ delt sich eine Mutter erst dann in ein Leis­ tungswesen, wenn sie die Kinder in der Krippe abgegeben hat und im Büro ange­ kommen ist. Das ist ein vergleichsweise trauriges Phänomen, das mit der Heiligung der Lohnarbeit zusammenhängt und viele Frauen in die paradoxe Lage bringt, die eine Freundin in die Worte fasste: Sie arbeite im­ mer mehr, um sich immer bessere Kinder­ betreuung leisten zu können. Mit anderen Worten: «Man hat Kinder, als hätte man sie nicht» (Norbert Bolz). Kinder zu betreuen gilt nur als verrechenbare Leistung, wenn sie von professionellen Erzieherinnen er­ bracht wird. Mutterschaft läuft nebenher oder findet gar nicht mehr statt; wir können diesen Trend speziell bei zahlreichen Aka­ demikerinnen beobachten. Sie verzichten auf die entscheidende Erfahrung ihres Ge­ schlechts, und die Avanciertesten oder auch bloss Verzweifeltsten unter ihnen ent­

Mutterschaft läuft nebenher oder findet gar nicht mehr statt.

nicht gleich merkt, oder die ihre Kinder in den Anfangsgründen der Moral, der Natur­ wissenschaft und der Hygiene unterrichten kann – bekanntlich sind solche Frauen sehr selten –, dass eine solche Frau gewöhnlich nicht für einen Menschen von bemerkens­ werter Intelligenz gehalten wird.» Das war damals vor allem als Spott auf den Aller­ weltsmann gemünzt, der seine täglichen Geschäfte für wunder wie bedeutend hielt (und bis heute hält). Inzwischen stehen wir vor dem Phänomen, dass auch viele Frauen diese Geschäfte für bedeutender halten als die Betreuung des Nachwuchses oder solch eminente Kulturtaten wie die Zubereitung des Mahls. Das liegt weniger an den Pro­

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dukten ihrer Berufstätigkeit – viele Men­ schen sind heutzutage ja dazu verdammt, ihr Geld mit Beschäftigungen zu verdienen, deren Produkte schierer Tinneff sind – als vielmehr an den Begleiterscheinungen des Berufstätigseins. Der angestrebte Gewinn, den die sogenannte moderne Frau daraus zieht, besteht in ihrer sozialen und vor allem finanziellen Unabhängigkeit vom Mann. Ei­ nerseits mag diese Unabhängigkeit ein Ideal von kinderwunschbefreiten Akademikerin­ nen sein, andererseits scheint sie aber auch für jede andere Frau erstrebenswert – auch weil der aktuelle Typus Mann oft nicht mehr willens oder imstande ist, eine Fami­ lie zu gründen und zu ernähren, weil sie sich also nicht auf ihn verlassen kann. Doch der erfüllendste Job mit dem höchsten Sozi­ alprestige – Kanzlerin etwa – wird es einer kinderlosen Frau nicht ermöglichen, der Sinnfrage aus dem Weg zu gehen. Und be­ steht nicht der einzige Sinn, den dieses sonderbare menschliche Dasein produ­ ziert, in der generativen Weitergabe der unbeantwortbaren Sinnfrage? Wie gering schätzt ein Mensch seine Gene, der mit ih­ nen aus der weiteren Menschheitsge­ schichte aussteigt? Und wie viele von die­ sen Aussteigern produzieren in ihrem Job Bleibendes? Man könnte vielleicht so formulieren: Eine Frau, die dauerhaft daheim bleibt, ist in ähnlichem Masse eine Leistungsverwei­ gerin wie eine Frau, die wegen ihres Jobs auf Kinder verzichtet (weibliche Genies ausge­ nommen). Dass es dagegen zahllose Frauen schaffen, ihre Kinder vernünftig grosszu­ ziehen, gleichzeitig einen Beruf auszuüben und dabei noch manierlich auszuschauen, ist eines jener schönen Alltagswunder, die wahlweise aus der Ferne zu bestaunen oder aus der Nähe zu geniessen sich niemand versagen sollte. �

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Fürchtet euch nicht!

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Viele Leistungsträger fürchten unternehmerisches und persönliches Scheitern wie der Teufel das Weihwasser. Warum? Weil sie ein falsches Erfolgsdenken kultivieren. Die Kultur des Scheiterns ist Grundlage für erfolgreiche Anpassung. Und damit für eine echte Leistungsgesellschaft. von Tim Harford

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m Jahre 1450 schrieb ein deutscher Gold­ schmied und Unternehmer namens Jo­ hannes Gutenberg ein Gedicht. Hätte er das Gedicht bloss zu Papier gebracht, wäre dies heute keine Zeile wert. Aber Gutenberg war gleichzeitig Drucker, und das Gedicht dürf­ te das erste Werk gewesen sein, das auf einer Presse mit beweglichen metallenen Lettern gedruckt wurde. Die Maschine er­ möglichte erstmals die Massenproduktion von Büchern und war zweifellos eine der wichtigsten technologischen Innovationen in der Geschichte der Menschheit. Doch schon fünf Jahre nach ihrer Erfindung war Johannes Gutenberg schwer verschuldet. Der Druck seiner gefeierten Bibel mit 42 Zeilen pro Seite – das vielleicht berühmtes­ te und wertvollste Buch aller Zeiten – ver­ ursachte massive Kosten. Er stand im Streit mit seinem Geschäftspartner, und Ende 1455 war Johannes Gutenberg, der Pionier der modernen Welt, bankrott. Scheitern im Wirtschaftsleben ist jeder­ zeit möglich, ganz gewöhnlich und allge­ genwärtig. Und dennoch tendieren wir in Leistungsgesellschaften dazu, diese schmerz­ hafte Wahrheit zu ignorieren. Auch brillan­ te Visionäre wie Gutenberg waren keines­ wegs immun dagegen – es liessen sich viele weitere prominente Beispiele für unterneh­ merisches Scheitern finden. Woraus folgt: Erfolg im Wirtschaftsleben geht viel öfter, als wir uns eingestehen wollen, aus einem Prozess von trial and error hervor. Man könnte meinen, mit der Erfindung der * Vgl. Mohammad Yunus, «Die neuen Unternehmer», Schweizer Monat, Juli/August 2011, 53 ff.

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Druckpresse sei auch ein erfolgreiches Businessmodell einhergegangen. Dem war nicht so, denn Gutenberg wählte zunächst die Strategie, mit der Kalligraphie und Buchmalerei handgemachter Bibeln zu kon­ kurrenzieren. Diese Strategie stellte sich als Irrtum heraus. Ablassbriefe als Innovation Von Mainz, dem Wirkungsort Guten­ bergs, nach Venedig: In der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts wurde die italienische Stadt zum Zentrum des Druckgeschäftes. Aber wie der Ökonom Paul Ormerod schreibt, gingen drei Viertel der veneziani­ schen Druckereien innerhalb von drei Jah­

Erfolg im Wirtschaftsleben geht viel öfter, als wir uns eingestehen wollen, aus einem Prozess von trial and error hervor.

ren nach ihrer Gründung in Konkurs. Glücklicherweise stolperte die neugebore­ ne Druckindustrie aber über die passende Antwort auf ihre existenzbedrohenden Fra­ gen: ihr unternehmerisches Heil bestand fortan im Druck von religiösen Ablassbrie­ fen – einer Art vorkonfektionierter Befrei­ ung von göttlicher Bestrafung. Statt schöne Bücher zu drucken, machten Drucker ihr Geld nun mit der Fliessbandproduktion von Handzetteln für die Kirche. Kurz, obwohl sie Gutenbergs weltverändernde Innova­

Tim Harford Tim Harford hat an der University of Oxford Ökonomie studiert. Er ist Kolumnist der «Financial Times» und Autor von «The Undercover Economist» (2005) und des im Juni erschienenen Buches «Adapt: Why Success Always Starts with Failure».

tion bereits zur Verfügung hatten, mussten sich die Pioniere des Drucks ihren Weg zum Erfolg erst noch herbeiexperimentieren. Beinahe fünf Jahrhunderte später hal­ ten wir noch immer an der Idee fest, dass wirtschaftlicher Erfolg vornehmlich das Re­ sultat talentierter Leitstungsträger an der Spitze hervorragender Unternehmen sei. Die Wahrheit ist freilich eine andere. Die Welt ist zu komplex und verändert sich zu schnell, als dass wir bloss daran glauben könnten. Viele Unternehmen genossen er­ folgreiche Zeiten und wurden für ihre Erfol­ ge gefeiert – nur um kurz darauf zu schei­ tern, weil sie es verpassten, sich neuen Gegebenheiten anzupassen. Andere Unter­ nehmen – man könnte eBay, McDonald’s und die mit dem Nobelpreis ausgezeichnete Grameen Bank* nennen – stiessen beinahe aus Zufall auf eine brillante Idee, die eta­ blierten Unternehmen bis anhin entgangen war. Nun, es ist zweifellos verlockend zu denken, dass wirtschaftlicher Erfolg trotz des unternehmerischen Scheiterns erfolge. Es ist jedoch wahrscheinlich zutreffender zu argumentieren, dass sich wirtschaftli­ cher Erfolg gerade wegen des unternehme­ rischen Scheiterns einstelle. Warum? Ganz einfach, es ist das Scheitern einst den Markt dominierender Unternehmen, das Platz für


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neue Geschäftsideen schafft. Genau des­ halb nutzen dominante Firmen unfaire Wettbewerbsvorteile wie staatliche Bailouts, Subventionen oder die Trägheit bzw. Unwissenheit der Konsumenten, um junge Konkurrenten aus dem Markt zu drängen. In diesen Fällen wird die Rate unternehme­ rischen Scheiterns tief sein, entsprechend hoch ist jedoch die Gefahr unternehmeri­ scher Stagnation. Dies wiederum ist eine schlechte Nachricht für die Wirtschaft als Ganzes. In einer kürzlich in der Zeitschrift «Journal of Financial Economics» veröf­ fentlichten Studie haben die Ökonomen Ka­ thy Fogel, Randall Morck und Bernard Yeung eine Liste der jeweils zehn grössten Arbeitgeber in 44 Ländern aufgelistet. Sie fanden heraus, dass jene Länder, in denen sich die Liste der grössten ständig verän­ derte, über ein höheres wirtschaftliches Wachstum verfügten. Noch beeindrucken­ der ist, dass diese Beziehung, auch unter statistischer Berücksichtigung anderer Fak­ toren, kausal zu sein scheint: eine hohe Fluktuation von gestern korreliert mit schnellem ökonomischem Wachstum von morgen. Fogel und ihre Kollegen argumen­ tieren, dass der Schlüsselfaktor nicht «aufsteigende Sterne», sondern «sinkende Behemoths», also strauchelnde Grossunter­ nehmen, seien. Scheitern ist nicht nur all­ gegenwärtig und nicht zwangsläufig tödlich – es ist sogar nützlich. Aufstieg und Fall exzellenter Unternehmen Über fünf Jahrhunderte nach Guten­ bergs Bankrott haben zwei Managementbe­ rater, Tom Peters und Robert Waterman, mit «In Search of Excellence» ein Buch ge­ schrieben, das das Genre der Businesslite­ ratur bis heute prägt. Das Buch geniesst weitaus grösseren finanziellen Erfolg als Gutenbergs Bibel, und Tom Peters schuf sich damit die Basis für die Karriere als Ma­ nagementguru. Teil von Petersʼ und Water­ mans Streben, von den besten Unterneh­ men der Welt zu lernen, war eine Auswahl 43 exzellenter Firmen. Damit war Ärger programmiert, denn nur zwei Jahre nach der Publikation von «In Search of Excel­ lence» brachte die «Business Week» auf ih­ 58

rer Titelseite den entblössenden Aufma­ cher: «Oops! Who’s excellent now?» – «Business Week» wies süffisant darauf hin, dass ein Drittel der von Peters und Water­ man lobgepriesenen Unternehmen sich in schweren finanziellen Nöten befand. Viel­ leicht waren Peters und Waterman voreilig, solche Geiseln des Glücks zu schaffen. Es wäre jedoch ungerecht, die Vorstellung zu erwecken, die beiden hätten eine inkompe­ tente Auswahl von «Exzellenten» getroffen: eine kompetitive Wirtschaft ist einfach zu komplex, um in ihr mit irgendeiner abstrak­ ten Qualität von «Exzellenz» navigieren zu können. Vielmehr passen sich einige Unter­

Scheitern ist nicht nur allgegenwärtig und nicht zwangsläufig tödlich – es ist sogar nützlich.

nehmen mit ihren spezifischen Projekten und Produkten dem an, was der Markt ver­ langt, und haben Erfolg – andere tun es nicht und scheitern. Es ist schlicht unmög­ lich, brillante Führungskräfte oder exzel­ lente Unternehmen einmal auszuwählen und dann per se davon auszugehen, dass sie auch weiterhin die richtigen, weil erfolgrei­ chen Entscheidungen treffen. Wenn der Aufstieg und Fall von Businessmodellen un­ vermeidbarer Teil von wirtschaftlichem Wachstum ist, wird der schlaue und wache Unternehmer oder Manager die Möglich­ keit des Scheiterns antizipieren und sicher­ stellen, dass sein Unternehmen das Schei­ tern überlebt. Und er wird genau Ausschau halten nach Anzeichen von Ärger, so dass er scheiternde Projekte entweder frühzeitig abbrechen oder ihnen einen scharfen Rich­ tungswechsel verpassen kann. Halten wir also fest: wir alle machen Lippenbekenntnisse zur Idee des «Lerne aus deinen Fehlern!» oder zum Konzept: «Wenn es beim ersten Mal nicht klappt, ver­ suche es noch einmal und noch einmal.» Aber wir meinen dabei selten, was wir sagen. Psychologische Studien zeigen, dass es ein

dysfunktionaler Prozess ist, aus Erfahrun­ gen des Scheiterns zu lernen. Trial and error ist eine Strategie für Erfolg. Und trotzdem haben wir Mühe damit, auf Fehler so kon­ struktiv zu antworten, wie wir eigentlich sollten. Die meisten Organisationen feiern den ehrlichen Fehler oder den vielverspre­ chenden Beinahe-Unfall nicht. Und die meisten Wähler sind nicht begeistert von Politikern, die ihr eigenes Scheitern einge­ stehen und ihre Meinung ändern, wenn sich die Umstände ändern. Die zwei am meisten wiedergewählten Premierminister in der modernen Geschichte Grossbritanni­ ens waren Tony Blair und Margaret That­ cher. Blair verkündete, er besitze keinen Rückwärtsgang, und Thatcher: «Die Lady ist nicht fürs Umkehren.» Absurde Zockerei Am schwerwiegendsten wirkt aber, dass die meisten Menschen schlecht darauf reagieren, eigene Fehler machen zu kön­ nen. Wir setzen unbewusst auf eine gut do­ kumentierte Auswahl von Strategien: zum Beispiel Verleugnen von Fehlern oder rück­ sichtslose Jagd nach Verlusten. Eines der tragisch-komischsten Beispiele dieses Ver­ haltens tritt in einer Studie über die TVSpielshow «Deal or No Deal» zutage. In die­ ser Show wählen Kandidaten nach dem Zufallsprinzip einen Koffer aus, dessen In­ halt von einigen Rappen bis zu mehreren hunderttausend Franken reichen kann. Die Kandidaten eliminieren danach einen Kof­ fer nach dem anderen und erfahren jedes Mal, wie viel Geld ihnen dabei entgangen ist. Zwischendurch ruft ein mysteriöser Banker an und bietet ihnen Geld dafür, dass sie sich von ihrem ursprünglich ausgewähl­ ten Koffer trennen. «Deal or No Deal» wur­ de analysiert von einem Team rund um Richard Thaler, Co-Autor des berühmten Buches «Nudge». Die Verhaltensökonomen wollten verstehen, wie willig die Kandida­ ten zum Zocken sind, wenn sie vom Banker eine Menge von Geld angeboten bekom­ men, die in verschiedenen Verhältnissen zur wahrscheinlichen Menge von Geld in ihrem eigenen Koffer steht. Das Verhalten des Kandidaten Frank illustriert die Ergebnisse von Thalers Team:


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Frank, der in der niederländischen Origi­ nalversion der Show auftrat, hatte die Chance auf den Gewinn eines riesigen Jack­ pots, und genau deswegen lag der erwartete Wert seines eigenen Koffers leicht über 100 0 00 Euro. Der Banker offerierte ihm 75 000 Euro. Frank lehnte ab und bewies da­ mit seinen Hang zum Risiko. Dann aber wurde er vom Unglück eingeholt: seine nächste Wahl zur Eliminierung stellte sich als Koffer mit dem Jackpot der halben Mil­ lion heraus, und Franks erwarteter Gewinn sank auf lediglich 2508 Euro. Hier kommt der seltsame Teil: der Banker begann damit, Frank mit Angeboten zu konfrontieren, die viel näher an einem fairen Wert seines Ge­ winnes lagen als vor der Elimination des Jackpot-Koffers. Das erste Angebot des Ban­ kers lag bei 2400 Euro, 96 Prozent des zu erwartenden Gewinns. Das nächste Ange­ bot übertraf sogar 100 Prozent von Franks wahrscheinlichem Gewinn. Zuletzt hatte Frank zwei verbleibende Möglichkeiten in seinem Geheimkoffer: 10 oder 10 000 Euro. Der Banker offerierte 6000 Euro – ein gross­ zügiges Angebot. Frank lehnte auch diesen Deal ab. Das Ende der Geschichte: er ver­ liess mit nur 10 Euro das Studio. Nachdem er durch den Verlust von sicheren 75 000 Euro verletzt wurde, begann Frank vor den Fernsehzuschauern mit absurder Zockerei. Franks Verhalten stellt sich laut Thaler als typisch heraus: die Wahrscheinlichkeit, dass Kandidaten von «Deal or No Deal» An­ gebote des Bankers ablehnen, ist viel höher, wenn sie zuvor gerade eine unglückliche Wahl bezüglich eines Koffers getroffen ha­ ben – trotz der Tatsache, dass der Banker sie aus objektiver Sicht wohlgesinnter be­ handelt als andere Kandidaten. Sie ziehen es vor, weiterzuzocken, und rechnen sich Chancen auf Amortisierung des glücklosen Entscheides aus. Ein ähnliches Verhalten wurde festgestellt bei Aktienmarktinvesto­ ren, die sich verzweifelt an sinkenden Ak­ tien festhalten, weil sich bei deren Verkauf ihr Verlust herauskristallisieren würde. Und im professionellen Poker riskieren Spieler ständig – um den Slangausdruck zu gebrauchen –, tilt zu gehen. Wir alle haben das Äquivalent in der Wirtschaft gesehen: der CEO, der gutes Geld schlechtem nach­

wirft; der Manager, der einfach nicht vom scheiternden Projekt loslassen will; der Un­ ternehmer, der mit seinem Vermögen «Ver­ doppeln oder nichts» spielt. So kann Wirt­ schaft auf Dauer nicht funktionieren. Wir müssen in der Leistungsgesellschaft folg­ lich einen sicheren Weg finden, auch ein­ mal Mist bauen zu dürfen. Wie dies geht, zeigt Peter Sims in «Little Bets». Sims beschreibt, wie der Stand-upComedian Chris Rock in einem lokalen Co­ medy Club sein Glück versucht. Rock findet es unmöglich, funktionierende Routinen am Schreibtisch zu entwickeln: er muss ausprobieren und bis zu 40- bis 50mal öf­

Wir müssen einen sicheren Weg finden, auch einmal Mist bauen zu dürfen.

fentlich scheitern, bevor er mit seinem Ma­ terial dann auf Tournee geht. Die ersten Auftritte sind absolut qualvoll, ein zermür­ bender Prozess – aber die Resultate stim­ men: Rock ist nicht mehr nur Comedian, sondern auch erfolgreicher Hollywood­ schauspieler. 2005 moderierte er die Oscar­ verleihung. Teil seiner Erfolgsformel war und ist das Finden eines abgelegenen Rau­ mes, in dem öffentliches Scheitern keine Tragödie darstellt. Das Experimentieren härtet ab, bereitet den grossen Auftritt vor, den Zeitpunkt also, auf den es letztlich an­ kommt. In einem Unternehmen gibt es die­ se «Generalproben» für den Angestellten eher selten: wer etwas verbockt, fliegt raus. Wenige Unternehmen werden 50faches Scheitern tolerieren, selbst wenn es dabei eine klare Lernkurve gibt. Konstruktives Experimentieren in der Wirtschaft setzt jedoch voraus, dass sich Individuum und Organisation «in der Mitte» treffen. Es gibt einige ermutigende Beispiele von Unternehmenskulturen, die dem Scheitern gegenüber freundlich eingestellt sind. Die indische Tata Group vergibt einen «Wage den Versuch»-Preis, der kreative

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Beinahe-Fehler auszeichnet, wie zum Bei­ spiel die Idee, den Kleinwagen Tata Nano mit Plastiktüren auszustatten. Alina Tugend, Autorin von «Better by Mistake», zitiert zu­ stimmend den «Golden Egg»-Preis, der von einem Industrieverband in Michigan verge­ ben wird. Er wird verliehen an «Mitglieder, die dumm dastehen, weil sie versucht ha­ ben, etwas Neues zu machen». Aber solche Belohnungen sind ungewöhnlich. Das mag der Grund dafür sein, warum ein Grossteil des ökonomischen Wandels nicht daraus resultiert, dass sich Unternehmen neu er­ finden, sondern dass etablierte Unterneh­ men durch junge, innovative Rivalen ver­ drängt werden. Alina Tugend streicht heraus, dass es sehr leicht sei, die Gewohn­ heit zu entwickeln, Fehler zu vertuschen oder auf Kollegen innerhalb einer Organisa­ tion abzuschieben. Dies hilft, die unglaubli­ che Rate ökonomischer Fluktuation zu erklären. Man würde erwarten, dass lang­ jährige «exzellente» Firmen ohne Schwie­ rigkeiten emporkommende Konkurrenten ausstechen können. In Wahrheit haben eta­ blierte Unternehmen oftmals alle Vorteile in der Hand, bis auf jenen, auf den es an­ kommt: die kollektive Bereitschaft, etwas Neues und Gewagtes auszuprobieren. Wenn Scheitern wahrscheinlich ist und Unternehmen gleichzeitig Scheitern als be­ schämend und inakzeptabel erachten, las­ sen sich zwei Dinge folgern. Erstens, schei­ ternde Projekte werden so lange wie möglich verschleiert – sie werden aufrechterhalten und finanziert, obwohl sie längst hätten ein­ gefroren werden sollen. Zweitens laufen Organisationen Gefahr des langsamen Ersti­ ckungstods, weil niemand mehr etwas Neues ausprobiert. Erfolg und Scheitern werden ununterscheidbar: Konsequenz ist ein lan­ ges, kaum wahrnehmbares, aber sicheres Abgleiten in die Mittelmässigkeit. Wir alle erkennen diese Symptome: sie stellen klassi­ sche Frustmomente des Bürolebens dar. Dennoch müssen wir irgendwie einen Weg finden, konstruktiver auf das Risiko des Scheiterns zu reagieren. Denn: wenn Johan­ nes Gutenberg Angst vorm Scheitern gehabt hätte, wo stünden wir heute? � Aus dem Englischen übersetzt von Florian Rittmeyer

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Was macht die Kunst?

Schmetterlingseffekt Hans Ulrich Obrist ist viel unterwegs: im Zeichen der Kunst pendelt der Kurator zwischen den Metropolen. Im Gespräch spricht er über seine früh ausgeprägte Grossstadtsehnsucht, seine Schlafexperimente, das Prinzip «ordine e disordine» und Ai Weiwei. Johannes M. Hedinger trifft Hans Ulrich Obrist

Hans Ulrich, was macht die Kunst? «Parallele Realitäten» umschreiben es wohl recht gut: in meiner Hauptaufgabe als Co-Director der Serpentine Gallery in London arbeite ich an den nächsten Ausstellungen von Lygia Pape und Hans-Peter Feldmann. Soeben schloss der Gartenpavillon von Peter Zumthor und der Garten von Piet Oudolf mit dem diesjährigen Gesprächsmarathon, der sich dem Thema «Garten» widmete und so unterschiedliche Künstler, Architekten und Theoretiker wie Richard Sennett, Dan Graham, Elizabeth Diller oder Wolfgang Till­ mans zusammengebracht hat. Gerade bereite ich einen weiteren Gesprächsmarathon für Buenos Aires vor. Was du in deiner Aufzählung nicht erwähnt hast: deine vielen Pu­ blikationen. Herrschen da auch parallele Realitäten? Kann man sagen. Im Jahr sind es gut 10 bis 12 Publikationen. Zu­ sammen mit Rem Kohlhaas habe ich eben ein Buch über die japani­ sche Architekturbewegung Metabolismus herausgebracht. Derzeit schreibe ich an einem zweiten Buch über das Kuratieren und An­ fang 2012 kommt ein Band zum Thema Interview und Künstlerge­ spräch heraus. Daneben führe ich die monographischen Interview­ bücher mit Walther König weiter, Dan Graham und SANAA sind als nächstes geplant. Kürzlich kam dein Interviewband mit dem bis vor kurzem inhaftierten chinesischen Künstler und Regimekritiker Ai Weiwei auf Deutsch heraus… …richtig. Das Buch versammelt meine Interviews mit Ai Weiwei zu vielen Aspekten seiner Arbeit: Kunst, Architektur, Design, Blog, Poesie und auch Aktivismus. Leider kann Ai Weiwei zurzeit keine weiteren Interviews geben. Das Künstlerinterview hat bisher eher ein Nischendasein gefristet. Du hast es zu einer populären Form der Kunstvermittlung, ja fast schon zu einer Kunstform erhoben. Aus einem einfachen Grund: Ich wollte jeden Tag lernen. Es ging immer um Neugierde. Die kann nur gestillt werden, wenn ich Ge­ spräche führe und neue Dinge herausfinde. Es ist wirklich fast eine existenzielle Notwendigkeit, ich kann ohne das nicht leben.

Hans Ulrich Obrist Hans Ulrich Obrist ist Co-Direktor der Serpentine Gallery in London. Seit 1991 hat er über 250 Ausstellungen kuratiert, darunter die Manifesta in Rotterdam, Biennalen in Berlin, Dakar, Moskau, Lyon und Triennalen in Yokohama und Guangzhou. Art Review hat ihn kürzlich zur zweitwichtigsten Persönlichkeit (nach Ai Weiwei) der Gegenwartskunst gewählt. Im März 2011 wurde Obrist der Bard College Award für kuratorische Exzellenz verliehen.

Wichtig war mir auch immer, dass die Gespräche in die Vertikale und in die Horizontale wachsen: Dadurch, dass man mit densel­ ben Künstlern über mehrere Jahre hinweg mehrmals spricht, er­ reichen die Interviews eine Nachhaltigkeit. Und: um die Kräfte der Kunst zu Es ging immer um Neugierde. verstehen, muss man im­ mer auch in andere Diszi­ Die kann nur gestillt werden, plinen hineinschauen. wenn ich Gespräche führe Deshalb spreche ich auch und neue Dinge herausfinde. nicht nur mit Künstlern. Du führst diese Interviews nun bereits seit über 15 Jahren, dein Archiv muss riesig sein. Es umfasst über 2200 Stunden. Und es wächst… Wie behältst du den Überblick über dein vielfältiges Schaffen – Ausstellungen, Bücher, Talks? Was das Gesprächsarchiv betrifft, so halte ich es mit Alighiero Boetti: ordine e disordine. Das ist immer Ordnung und Unordnung zugleich. Es ist insofern organisiert, als es möglich war, darin re­ lativ schnell die sieben Interviews zu finden, die ich im Verlauf der letzten 10 Jahre mit Ai Weiwei geführt habe, und daraus in­ nert einer Woche ein fertiges Buch zu machen. Chronologisch oder sonstwie systematisch organisiert ist das Archiv aber nicht – und vieles muss auch noch digitalisiert werden. Ein Problem ist, dass ich so viel produziere, dass die Produktion der Archivierung davonläuft. 61


Was macht die Kunst?

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Wer wacht über dieses Archiv? Ich schicke immer eine Kopie von allem – von jeder Einladungs­ karte und jeder Pressemeldung – an zwei Orte. Einerseits an mein eigenes Archiv und andererseits zu Joseph Grigley, einem ameri­ kanischen Künstler, der in einem Werk einen Kurator thematisie­ ren wollte und deshalb begonnen hat, meine ganze Bibliographie zu erstellen. Das sind bis heute etwa 300 bis 350 Bücher und rund 200 bis 250 Ausstellungen. Ich glaube selber, dass es erstickend ist, wenn man sich selbst zu sehr mit seinem Archiv beschäftigt. Man wird schnell zum Verwalter der eigenen Vergangenheit und produziert keine Zukunft mehr. Da muss man aufpassen, denn: man ist immer nur so gut, wie das nächste Interview oder die nächste Ausstellung. Diese Disziplin kann nur durch ein gutes Zeitmanagement aufrechterhalten werden. Es gibt Legenden über dich, die besagen, dass du pro Nacht nur 3 Stunden schläfst, dafür aber am Tag rund 50 Tassen Kaffee trinkst. Was ist dran an diesen Geschichten? Heute spielt der Kaffee keine Rolle mehr. Wie du siehst, trinken wir hier Tee. In den 90er Jah­ ren gab es aber tatsächlich mal diese 50 Tassen am Ich habe nach dem «Da-Vinci- Tag. Ich war fasziniert von Rhythmus» gelebt – 15 Stunden Honoré de Balzacs Output an Büchern und habe gele­ wach, 3 Stunden schlafen, sen, dass er von sehr viel dann wieder 15 Stunden wach. Kaffee angetrieben war… das war der Auslöser. Eine Zeitlang habe ich auch mit dem Schlaf experimentiert und nach dem sogenannten «Da-Vinci-Rhythmus» gelebt – 15 Stunden wach, 3 Stunden schlafen, dann wieder 15 Stunden wach. Das liegt aber weit zurück. Auf Dauer lässt sich so etwas nicht durchhalten. Ich schlafe nun verhältnismässig normal: also 5 bis 6 Stunden pro Nacht. Und was geschieht tagsüber: Wie sieht ein Arbeitstag von HUO aus? In den 90er Jahren bin ich 350 Tage im Jahr durch die Gegend gefahren, oft in Nachtzügen und oftmals war mein Koffer das Büro, alles war in Bewegung. Seit 2000 hat sich das geändert: ich habe nun ein festes Büro samt Sekretärin. Ich stehe zwischen 5 und 6 Uhr auf, schreibe ein bisschen, gehe dann in den Park laufen und gegen 8 für etwa rund 12 Stunden ins Büro. Der Tag endet dann wie­ der mit Schreiben. Normalerweise bin ich wochentags in London und an Wochenenden auf Recherchereise für freie Projekte. Harald Szeemann hat mich einst auf die Möglichkeit einer Mischexistenz vom abhängig-unabhängigen Kurator aufmerksam gemacht: man kann in einem Museum arbeiten und gleichzeitig auch unabhängige Ausstellungen machen. Wie gehst du auf diesen Recherchereisen vor, was passiert da? Wie ein Architekt dort arbeitet, wo seine Gebäude entstehen, 62

arbeite ich dort, wo meine Ausstellungen entstehen. Wenn ich unterwegs bin, ist das immer sehr fiebrig, weil die Reisen jetzt kürzer sind. Das sind verschachtelte, komplexe Tage mit Dutzen­ den von Meetings und Atelierbesuchen. Eigentlich sind meine Recherchen Marathons: innert kürzester Zeit möglichst viel über einen Ort lernen, das ist die erste Methode. Die zweite ist, ein möglichst breites Recherchenetzwerk zu haben und mit vielen Leuten aus verschiedenen Kontexten zu sprechen: Künstlern, Galeristen, Kuratoren, Kritiker etc. Wie kamst du zur Kunst? Was war das Initialerlebnis? Deine ersten Helden? Als 10jähriger habe ich in einer Thurgauer Papeterie Postkarten von Picasso, Braque und Renoir entdeckt. Die eigentliche «epiphany» verdanke ich aber dem Schweizer Künstlerduo Fischli/Weiss. Als ich in deren Atelier ihren Film «Lauf der Dinge» sah, wusste ich: mit dem will ich im Leben zu tun haben. Wenig später kamen dann die ersten Begegnungen mit Gerhard Richter und Christian Boltanski. Und anfangs 20 habe ich die Kuratoren Kasper König und Suzanne Pagé getroffen. Sie wurden meine Mentoren. Einen ganz entschei­ denden Einfluss hatte auch Alberto Giacometti. Interessant, inwiefern? Ich war als Jugendlicher magnetisch von diesen dünnen langen Figuren angezogen und immer wieder nach Zürich gefahren, um sie mir im Kunsthaus anzuschauen; ich habe alles über ihren Schöpfer gelesen. Irgendwie war es so logisch, dass ich eines Tages selbst nach Paris ging. Für Giacometti war die Grossstadt ausschlaggebend, und da habe ich mir überlegt, dass es für meine Arbeit als Vermittler auch wichtig sein müsste, die Schweiz zu verlassen. Ich fühlte, dass ich, um wirklich vermitteln zu können, die Verbindungen und die Komplexität einer Grossstadt brauche. Interessanterweise wurde Giacometti dann in Paris auch zu meiner ersten Museumserfahrung, als mich Suzanne Pagé eingeladen hat, einen Katalogtext über Giacometti und die Gegenwart zu schrei­ ben. Das war zugleich auch der Anfang des Interviewprojekts: wir haben Zeitzeugen, die Giacometti gut gekannt haben, für den Katalog befragt: Henri Cartier-Bresson, Balthus, Serge Brignoni und andere. Dir war damals schon klar, dass du die Schweiz Richtung Paris verlassen wirst? Mir war schon mit 12 klar, dass ich die Schweiz verlassen will. Sie ist zwar ein Paradies für Kunst – es gibt eine sehr reiche Museums­ landschaft –, und trotzdem hat etwas immer gefehlt: die Gross­ stadt. Auch deshalb habe ich im Gymnasium begonnen, sechs Spra­ chen zu lernen: um die Reise vorzubereiten. Andererseits ist meine Utopie flexibel. In einer komplexen Welt muss man das Unvorher­ sehbare auch einbeziehen. In diesem Sinne gab es nie einen Karriere­ plan, es gab immer nur eine Dringlichkeit und eine Notwendigkeit und die Idee, dass man alles an einem Tag zu machen versucht, denn es kann ja sein, dass es der letzte ist.


Hans Ulrich Obrist, photographiert von Yang Fudong.

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Wenn es keinen Masterplan gab: Wie hast du dann konkret den Schritt raus aus der Schweiz geschafft? Die Giacometti-Geschichte in Paris ist nicht aus heiterem Himmel gekommen; ich hatte zuvor aufgrund meiner Ausstellung «world soup» 1991 in meiner St.Galler Studentenwohnung ein Stipendium der Cartier-Stiftung erhalten. Mit ganz vielen Büchern bin ich dann nach Paris gefahren und habe begonnen, zu schreiben und Hun­ derte von Ateliers zu besuchen. Diese Recherchen haben mich mit Suzanne Pagé vom Musée d’Art Moderne de la Ville de Paris zusam­ mengeführt. Daraus entstand zunächst eine freie Mitarbeiter­ schaft, ab 2000 wurde ich fester Kurator und ein paar Jahre später kam der Ruf nach London an die Serpentine Gallery. Auf deinem Parcours hast du über 200 Ausstellungen an ganz unterschiedlichen Orten – vom Säntis bis zur Kläranlage – kuratiert. Gibt es einen Ort oder ein Gefäss, das dich nach all den Erfahrungen noch reizt? Ja, sonst müsste ich ja gleich aufhören. Es gibt eine grosse Anzahl von Dingen, die ich machen will, ich habe nie den Ein­ druck, an einen Punkt zu gelangen, an dem nichts Mir war schon mehr folgt – andernfalls mit 12 klar, müsste man das Medium dass ich die Schweiz wechseln. Denn Routine ist verlassen will. der grösste Feind der Aus­ steller. Es muss immer sein wie bei der ersten Ausstel­ lung, es muss Begeisterung im Spiel sein – wenn die weg wäre, dann würde ich sehr wahrscheinlich mit dem Ausstellungmachen auf­ hören. Was wäre so ein Wunschprojekt? Da ist etwa der Palast der unrealisierten Projekte, ein transdiszipli­ närer Fun-Palast, der Wissenschaft, Kunst, Musik und Literatur in einem Ort vereinen würde. Auch gibt es den grossen Wunsch, eines Tages mit Jean-Luc Godard eine Ausstellung zu machen… und mir fehlt die Lebenserfahrung in der nichtwestlichen Welt. Ich war zwar sehr häufig ausserhalb Europas, habe aber nie mein Lebens­ zentrum dorthin verlegt. Und auf der Haben-Seite: Welche früheren unrealisierten Projekte hast du in den letzten Jahren fertigstellen oder in Angriff nehmen können? Lange Zeit habe ich vornehmlich in der Kunstwelt für die Kunstwelt mit der Kunstwelt kommuniziert – das hat sich stark verändert. Seit ich in London bin, arbeite ich viel stärker nach der «maya»-Idee. Das heisst? «Most advanced yet acceptable» – wie die Künstler zur Zeit der nouvelle vague und des nouvel roman, die darauf bedacht waren, experimentelle Projekte zu realisieren, aber dennoch eine breite 64

Öffentlichkeit anzusprechen. So versuche ich, experimentelle Kunst zu zeigen und gleichzeitig ein Publikum zu erreichen, das über die enge Kunstwelt hinausreicht. Wie erfolgreich gelingt dir dieser Spagat zwischen Experiment und Mainstream? Die Serpentine Gallery hat 800 000 Besucher pro Jahr. Wir hatten letztes Jahr bei der Wolfgang- Tillmans-Ausstellung einen Rekord von 210 000 Besuchern, was für eine Gegenwartskunst-Schau viel ist. Unser temporärer Sommerpavillon wird von 150 0 00 bis 200 000 Menschen besucht, das sind so viele wie an der Architek­ turbiennale in Venedig. Kurz: Das ist wirklich Kunst für alle. Und gleichzeitig trotzdem ein Programm, das versucht, experimentell zu sein, eben: «maya». Ich glaube, dass das für unsere jetzige Zeit sehr wichtig ist: Experimente machen und stabile «Passerellen in die Gesellschaft» bauen, wie Félix Fénéon sagte. Welche Themen, Tendenzen oder Medien kristallisieren sich für dich derzeit in der zeitgenössischen Kunst heraus? Wir leben in einer Zeit der post-medium-condition, wo Künstler oft verschiedenste Medien parallel einsetzen. Die Praxis auf ein einzi­ ges Medium zu reduzieren, ist sehr schwierig geworden. Man kann aber feststellen, dass es Gegenstände und Themen gibt, die spar­ tenübergreifend auf verschiedenen Feldern eine Rolle spielen. Phi­ lippe Parreno meint etwa, dass «Widerstand» ein grosses Thema unserer Zeit sei, und von Matthew Barney habe ich mitgenommen, wieder vermehrt über die Liveerfahrung nachzudenken. Die Kunst­ projekte im Rahmen des Manchester International Festival sind eine Folge davon. Temporalität ist auch bei meinen Vortragsmara­ thons ein zentrales Merkmal, ebenso bei den Pavillons im HydePark. Weitere zentrale Zeitthemen sind Ökologie und Nachhaltig­ keit. Es ist sicher kein Zufall, dass so viele Künstler zurzeit an Gärten arbeiten. Wie sieht es mit der Nachhaltigkeit der Kunst selber aus? Es ist sehr erstaunlich, wie sich grosse Kunstwerke immer wieder neu aufladen können. Wer sich Francisco Goya oder Nancy Spero anschaut, denkt heute dabei vielleicht auch an Libyen! Und: du kennst sicher den Schmetterlingseffekt. Ähnlich verhält es sich in der Kunst: sie kann durchaus die Welt verändern. Oftmals in ganz kleinen Dingen, die sich dann in der longue durée als sehr bedeu­ tend erweisen. � Ai Weiwei, Hans Ulrich Obrist: Ai Weiwei spricht. München: Hanser, 2011. Hans Ulrich Obrist: A Brief History of Curating. Zürich: JRP|Ringier, 2009. Hans Ulrich Obrist: Das Interview. Formen und Foren des Künstlergesprächs. Hamburg: Fundus, 2012. www.serpentinegallery.org


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Sie nannten sie Dagny Schönheit, sagt die Schönheitskönigin, ist eine Illusion. Und gibt sich desillusioniert: sie liest am liebsten Ayn Rand, ist überzeugte Kapitalistin und zieht gerade ihr neues Geschäft auf. Ihre Heldin ist ihre Grossmutter, eine Unternehmerin aus dem Südural. Wer ist Xenia Tchoumitcheva? René Scheu trifft Xenia Tchoumitcheva

Frau Tchoumitcheva, Monat für Monat schreiben Sie für uns eine Kolumne mit dem Titel «Kultur leben». Das ist viel Fleissarbeit, oder moderner: Schreibstress. Warum tun Sie sich das an? Ganz einfach: in Ihrem Magazin treffe ich auf ein breites Zielpubli­ kum, das sich von meiner gewöhnlichen Fanbasis unterscheidet. Es gibt da Professoren, Politiker, Kreative, die sich für das interes­ sieren, was ich denke. Unternehmer und Leute aus der Finanzin­ dustrie, die meinen Track Record kennen. Journalisten, die von Berufes wegen verfolgen, was ich schreibe. Ich mag es, diese Leute zu überraschen und sozusagen mit Stil vor den Kopf zu stossen. Letztlich geht es mir jedoch um eine private, persönliche Befriedi­ gung. Ich bin nicht nur das Showgirl, sondern habe auch eine intel­ lektuelle Seite. Sie befassen sich mit der Männerwelt, pflegen aber bewusst eine Frauenperspektive. Adressieren Sie Ihre Texten, anders als im Showbusiness, an ein vorwiegend weibliches Publikum? Klar, warum nicht? Frauen brauchen in mir keine Ri­ Frauen brauchen valin zu sehen, sondern in mir können sich in mir wieder­ keine Rivalin erkennen. Ich bin eine von zu sehen. ihnen, eine, die sich im Be­ rufsleben durchsetzt, die sich Gedanken über das macht, was sie sieht, wenn sie durch die Weltgeschichte reist. Ja, vielleicht könnte man sagen: ich biete eine kritische Frauenper­ spektive auf eine Welt, deren kulturelle und berufliche Standards von Männern definiert werden. Sie haben sich gut überlegt, ob Sie als Kolumnistin bei uns auftreten wollen. Ihre Antwort liess an Klarheit nichts zu wünschen übrig: ich bin dabei, aber nur, wenn ich in jeder Ausgabe schreiben kann. Entweder richtig oder gar nicht, das ist eines meiner Leitprinzipien. Ich habe keine Mühe damit, in der Öffentlichkeit zu stehen. Ich fürch­ te mich nicht vor dem Urteil der anderen. Ich stehe zu meiner Mei­ nung. Aber nun hätte ich eine Frage, die mich brennend interessiert. 66

Xenia Tchoumitcheva Xenia Tchoumitcheva ist Ökonomin und Unternehmerin. In der Wahl zur Miss Schweiz im Jahre 2006 errang sie den zweiten Platz. Sie lebt in Lugano und London.

Nur zu. Wie sind Sie eigentlich auf mich gekommen? Ich schreibe zwar ab und an für Magazine, aber da geht es mehr um Luxus und Lifestyle. Sie haben auf Ihrem Blog in extenso Friedrich Nietzsche und Ayn Rand zitiert. Und Sie haben einige Interviews gegeben, in denen Sie ziemlich keck auftraten. Geben Sie es zu: Sie wollten Aufmerksamkeit mit meinem Namen erzielen. Neben all den Schriftstellern, Unternehmern und Politi­ kern eine ehemalige Miss, die über das Showleben nachdenkt, das ist ein reizvolles Spiel für den Herausgeber! Gewiss, ein wenig Glamour kann nicht schaden. Sogar die Boulevard­ presse hat wegen Ihnen über uns berichtet. Aber im Ernst: wie halten Sie es mit der Lektüre? Gehören Sie zu jenen stets leicht abgelenkten Zeitgenossen, die lieber einzelne Passagen als ganze Bücher lesen? Erst mal: ich lese gerne und viel, richtig gerne und richtig viel. Aber ja, es stimmt, mir kommt Nietzsches aphoristischer Stil entgegen. Lesen, aufblicken, nachdenken, lesen, aufblicken nachdenken, das ist ein guter Rhythmus. Ansonsten habe ich mir gelobt, alle Bücher, die mich interessieren, auch zu Ende zu lesen. Manchmal lasse ich mir dafür einfach die nötige Zeit. Ayn Rand hat mächtige Wälzer geschrieben. Aber es sind zumeist Romane, die sich gut lesen. Bei Ayn Rand ist eine spezielle Aura im Spiel, da gibt es einen mythischen Zusam­ menhang mit meinem Leben. In den Gesprächen der Soulmates, die ich in den letzten Jahren in unterschiedlichen Zusammenhän­ gen auf unterschiedlichen Kontinenten getroffen habe, stellte sich am Ende stets heraus: uns verbindet, dass wir Ayn Rand lesen, «The Fountainhead» oder «Atlas Shrugged». Ich kann nicht glau­ ben, dass das ein Zufall ist.


Xenia Tchoumitcheva , photographiert von Thomas Burla.

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Zieht Ayn Rands Freiheitslehre und Philosophie des Objektivismus junge ambitionierte Geschäftsfrauen an? Absolut. Hier wird ein Individualismus gepriesen, der im Wider­ spruch zum herrschenden Kollektivismus unserer Gesellschaft steht, ein Realismus, der sich über das Wunschdenken der Ange­ passten erhebt. Das ist wohltuend und wirkt auf mich anziehend.

wichtiger und auch fairer Teil des Lebens – er behandelt uns alle mit der gleichen Gleichgültigkeit. Entscheidend ist aber, was wir mit dem anstellen, was uns widerfährt, wie wir es deuten und einordnen. Und hier spielt eben die individuelle Einstellung eine wichtige Rolle. Diese Fähigkeit des Reflektierens können wir trai­ nieren, indem wir an uns arbeiten. Immer wieder, unaufhörlich.

Dagny Taggart, die Hauptfigur im Roman «Atlas Shrugged»… …ein guter Kollege in London, mit dem ich die Wohnung teilte, ein junger Unternehmer, nannte mich immer Dagny. Dagny ist eine meiner Heldinnen, auch wenn sie, ehrlich gesagt, ziemlich trocken ist. Ein wenig zu trocken für meinen Geschmack. Es fehlt ihr die Lo­ ckerheit.

Das wiederum klingt nach Ayn Rand, also leicht verbissen. Überhaupt nicht. Sich zu verbessern, sein Bewusstsein zu schär­ fen, seine Ideen umzusetzen, das ist es doch, was das Schöne am Leben ausmacht.

Ayn Rand war ziemlich verbissen. Auch Nietzsche ist nicht unbedingt eine Ausgeburt der Lebensfreude. Aber er hat sich einen zynischen Blick auf die Welt antrainiert, in dem ich mich zuweilen wiedererkenne. Wenn ich seine Texte lese, höre ich mich oft zu mir selber sagen: mein Gott, dieser Mann bringt das, was ich immer schon dach­ Du bist nicht machtlos, deine te, perfekt auf den Punkt! Entscheidungen verändern Dasselbe Lektüreerlebnis den Gang der Dinge, habe ich zuweilen auch bei egal ob du willst oder nicht. Schopenhauer. Diese Klar­ heit des Denkens, die be­ eindruckt mich. Sie haben also ein platonisches Konzept von Lektüre: Wissen bedeutet, sich an die ewigen Ideen zu erinnern. Fast ein wenig zu schön, um wahr zu sein, zu poetisch sozusagen, oder? So habe ich das nicht gemeint. Es ist eine metaphysische Frage, aber dennoch – ich glaube nicht, dass wir eingeborene Ideen in uns haben, die wir im Laufe des Lebens entdecken. Ich habe diese Auto­ ren einfach für mich entdeckt. Sie bringen mich weiter. Mögen Sie denn Poesie? Früher schon. Als ich klein war, habe ich viele Gedichte geschrie­ ben. Einmal habe ich sogar einen Preis gewonnen. Erinnern Sie sich an das prämierte Gedicht? Ja. Thema war das Alter: Stremate le tue fragili mani sono / lo sgu­ ardo dolcemente arreso / la stanchezza t’ha rapito / l’inverno lento va. Das Altern, die Erfahrung, das erkenne ich immer mehr, spielt eine wichtige Rolle. Wie jemand denkt, das ist immer auch die Frage danach, was jemand erlebt hat. Und vor allem: was er aus dem Erlebten macht. Die letzte Ergänzung ist wichtig. Sonst ist es mit den Individualisten Nietzsche und Rand nicht weit her. Wir haben Einfluss darauf, was uns widerfährt. Der Zufall ist ein 68

Ich habe gedacht: Xenia Tchoumitcheva glaubt ans Schicksal. Wie kommen Sie denn darauf? Ich bin wohl einem Boulevardklischee aufgesessen. Sieht so aus! (lacht) Ich habe eine simple Sicht der Dinge: wir befin­ den uns stets in einer Situation, für die wir nichts können, finden sozusagen einen Strauss von Optionen vor, aus denen wir auswäh­ len. Entscheidend ist, was wir auswählen und was wir daraus machen. Am Anfang steht die persönliche Entscheidung, etwas zu tun oder eben nicht zu tun. Wir durchschauen oft nicht, welche Folgen unser Handeln hat, aber es bleibt unser Handeln. Diese Ein­ sicht, die die persönliche Verantwortung betont, wirkt auf mich be­ freiend. Sie transportiert die Botschaft: du bist nicht machtlos, dei­ ne Entscheidungen verändern den Gang der Dinge, egal ob du willst oder nicht. Darum sage ich: wenn ich den Gang ohnehin verändere, dann tue ich dies gleich auf Anhieb mit vollem Bewusstsein. Hier spricht die Karrierefrau. Es steht mir wohl ins Gesicht geschrieben, und ich strenge mich auch nicht an, es zu verbergen: ich bin ambitioniert. Ich bin nie zu­ frieden mit dem Erreichten, ich will stets noch mehr erreichen. Das Sich-nicht-Zufriedengeben ist des Menschen Antrieb und die Träg­ heit, die Bequemlichkeit, die Gewohnheit sein grösster Feind. Den­ noch bin ich nicht unzufrieden – ich freue mich auf das, was kommt. Und ich weiss: es könnte alles viel schlimmer sein, als es tatsäch­ lich ist. Das ist ja auch irgendwie beruhigend. Nun sprechen Sie wie eine Frau mit 60. Finden Sie? Das sind einfach die Gedanken, die mir durch den Kopf gehen. Sie finden das altklug? Eher abgebrüht, zu abgebrüht. Damit kann ich leben. Sie stammen aus einer Unternehmerfamilie. Wie stark hat Sie dieser Hintergrund geprägt? Meine Grossmutter väterlicherseits war eine eiserne Frau, stark, bestimmt, von grosser Willenskraft. Sie hat in Magnitogorsk im Südural zu Zeiten der Sowjetunion eine grosse Fabrik geleitet. Es gab da bloss zwei Dinge: Stahlerzeugung und Eishockey. Ein hartes


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Business, aber sie hat sich durchgesetzt. Und ich fühle mich ihr seelenverwandt. Und der Mann Ihrer Grossmutter? Ihr Mann war ihr Mann. Sie leitete die Fabrik. Ihr Sohn, also mein Vater, war ebenfalls Unternehmer in der Stahlbranche, zuerst in der Sowjetunion, später, nach dem Fall des Eisernen Vorhangs, in der Schweiz. Es waren unternehmerische Überlegungen, die dafür sorgten, dass ich heute Italienisch spreche. Mein Vater konnte zwischen Los Angeles und Lugano wählen und entschied sich un­ ter gütiger Mitwirkung meiner Grossmutter für die Schweiz. Sie wollte, dass ich in einem guten Umfeld aufwachse. Im nachhinein hat sich gezeigt: es war die richtige Entscheidung. Ayn Rand, eigentlich Alissa Sinowjewna Rosenbaum, hatte ebenfalls russische Wurzeln. Identifizieren Sie sich auch biographisch mit ihr? Identifizieren? Das nicht. Aber ich lasse mich von ihr inspirieren. Ayn Rand wan­derte in die USA aus, und ihr radikaler Individualis­ mus war gewiss auch eine Reaktion auf den russischen Kollektivis­ mus. Sie propagierte die Unabhängigkeit und die Freiheit des Men­ schen, das Prinzip der Produktivität und die Vorstellung, dass man sich die Dinge im Leben verdienen muss. Ayn Rand war eine Kämp­ ferin. Sie sind 1989 geboren, kurz vor dem Fall des Eisernen Vorhangs. Kennen Sie den Sozialismus noch aus den Erzählungen Ihrer Eltern? Mein erster Pass lautete auf Xenia Tchoumitcheva, Bürgerin der Sowjetunion. Ich habe ein Jahr meines Lebens dort gelebt, und meine Grosseltern tun es noch immer. Gut, diese Vergangenheit gehört zu mir, damit setze ich mich auseinander. Meine Mutter hat sich einen sozialistischen Habitus bewahrt, sie hat eine Art in­ stinktiven Widerwillen gegen die Marktwirtschaft und einen star­ ken Glauben an den Staat. Sie ist Kind ihrer Zeit, wie wir alle. Mein Vater ist das pure Gegenteil – die Unternehmer der ersten Stunde, die aus der Sowjetunion kamen, sind Oberkapitalisten, Verehrer des freien Marktes, weil sie dank ihm schnell viel gutes Geld ver­ dient haben. Die Frage ist, ob sie das, was sie günstigen geschichtli­ chen Umständen verdanken, in einer allzu einfachen Weise dem Kapitalismus zuschreiben. Sozialismus oder Kapitalismus – das war für Sie schon früh die Frage? Ich bin eine überzeugte Kapitalistin und Individualistin. Das sorgt für Reibung mit meinen Eltern. Für sie war zum Beispiel immer klar, dass sich die Kinder irgendwann um sie kümmern werden. Die Familie war in der Sowjetunion überlebenswichtig, sie war eine Art Lebensversicherung. Das sehe ich anders. Ich liebe meine Eltern und unterstütze sie. Aber ich führe mein eigenes Leben und habe mein eigenes Business – gänzlich unabhängig von ihnen. Sie halten nicht viel vom Konzept der Familie? Im Gegenteil – ich halte sehr viel davon! Nur sind die Kinder nicht

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für die Eltern da. Die Werte und Prinzipien menschlichen Zusam­ menlebens sind fundamental. Die Familie, Freunde, ich wüsste nicht, wie ich ohne sie glücklich sein könnte. Zugleich hat aber jeder sein Leben, seine Aktivitäten, seine persönlichen Präferen­ zen, sein Business. Es ist letztlich ein freiwilliges Geben und Neh­ men unter Individuen. Sie führen die Familie auf die Tauschrelation zurück… ...wir haben die Tendenz, unsere Gefühle zu verklären, zu mystifi­ zieren. Ich bin mir nicht sicher, ob familiäre und freundschaftliche Gefühle nicht einfach rational sind. Es ist wichtig, jemanden zu haben, auf den man sich zu 100 Prozent verlassen kann – also kann er sich auch auf mich zu 100 Prozent verlassen. Das kann der Vater, die Mutter oder ein guter Freund sein. Egoismus als Tugend? Ja, warum nicht? Sehen Sie, der Altruismus ist doch auch nur eine raffinierte Form des Egoismus: du gefällst dir darin, eine uneigen­ nützige Tat zu vollbringen, was beweist, dass die un­ eigennützige Tat eigentlich eine eigennützige war. Aber Ich bin eine überzeugte Kapitalistin und Individualis- dagegen ist überhaupt nichts einzuwenden. Ein aufge­ tin. Das sorgt für Reibung klärter Egoismus macht die mit meinen Eltern. Welt besser, nicht schlech­ ter, wie viele glauben. Viele Ihrer Fans dürften dies anders sehen. Kapitalismus ist nicht gerade en vogue. Leider. Ein weites Feld und ein schwieriges Thema. Ich frage Sie: läuft im Kapitalismus alles sauber? Nein. Liefen im Kommunismus die Dinge gut? Noch viel weniger. Letztlich ist es doch so, dass es stets eine Elite gibt, die das Sagen hat. Die grosse Masse regt sich darüber auf, folgt ihr aber letztlich blindlings, bis es irgendwann kracht. Und dann geht die ganze Geschichte wieder von vorne los. Da ist er wieder, Nietzsches Zynismus. Nennen Sie es Zynismus, vielleicht ist es aber auch bloss Realis­ mus. Es wird stets eine Minderheit geben, die über eine Mehrheit herrscht, in allen möglichen Systemen. Natürlich ist die Demokra­ tie die beste Regierungsform, weil sie allen Bürgern Partizipations­ möglichkeiten bietet. An der Grundkonstellation aber ändert das nichts. Viele Menschen lassen sich gerne treiben, andere schwim­ men mit. Dagegen ist auch nichts einzuwenden. Das muss letztlich jeder selber für sich entscheiden. Mit einer solchen Argumentation ebnen Sie auch die Unterschiede zwischen Kapitalismus und Sozialismus ein. Keineswegs. Im Kapitalismus sind die Menschen frei. Sie werden sozusagen durch Glücksversprechungen verführt. Im Sozialismus werden sie gezwungen, sich dem Machtwillen anderer unterzuord­ 69


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nen. Ich ziehe Freiwilligkeit dem Zwang vor. Darum ist Bildung, oder besser: Selbstbildung, wichtig. Wir haben die Möglichkeit, die Mechanismen zu durchschauen und unser Leben so zu gestalten, wie wir wollen. Darum geht es letztlich. Haben Sie darum Ihr Angestelltendasein bei JPMorgan aufgegeben? Genau. Dieses Dasein ist nicht für mich gemacht, und deshalb habe ich meinen Dienst quittiert. Ich arbeitete hart, und ein Grossteil dessen, was ich in der kurzen Zeit meiner Anstellung an Mehrwert generieren konnte, ging in die Kasse der Bank. Das widerspricht meinem Leistungsdenken. Wenn ich Mehrwert schaffe, dann will ich auch, dass dieser Mehrwert mir zukommt. Das Jahr bei JPMor­ gan hat mich dennoch weitergebracht. Ich habe meine betriebs­ wirtschaftlichen Kenntnisse vertieft, neue Kontakte geknüpft… …aber nun sind Sie doch wieder eine Ich-AG, die im Showbusiness tätig ist. Ich verdiene hier wieder Sind Illusionen etwas Schlimmes? Nein, denn es geht gutes Geld, ja. Ich bin, so würde ich das nennen, die um Träume. Sind Träume Unternehmerin meiner etwas Schlimmes? Nein. selbst. Ich habe Leute, die mir helfen, Buchhaltung, Administration, Rechtsbe­ ratung und so. Aber sonst arbeite ich allein und auf eigene Rech­ nung. Das wird sich in Zukunft ändern. Ich werde mein eigenes Business aufziehen. Welches Business? Das kann ich noch nicht sagen, weil die Sache noch nicht spruch­ reif ist. Es ist eine grössere Geschichte in der Retail-Branche mit einem guten Investor. Eine eigene Parfüm- oder Modelinie? Das wäre zu einfach: irgendein Produkt, dazu mein Name, die Kom­ bination verkaufen, that’s it. Das ist klassisches Branding, ein wenig banal und in meinem Fall auch ziemlich schwierig, weil es um reines Marketing geht. Du musst ins Marketing investieren, dei­ nen Namen promoten, auch im Ausland, was in meinem Fall noch nicht erfolgversprechend wäre. Ich will vielmehr etwas Besonderes kreieren, etwas, in dessen Produktion und Distribution mein Wis­ sen, meine Erfahrung einfliesst: ein eigenes Produkt, das zu mir passt. Es geht also auch um mich, in erster Linie aber geht es um die Substanz, also um das Produkt, das ich unter die Leute bringen will. Dieses Produkt werde ich in der Schweiz testen, aber auf der ganzen Welt vertreiben. Ich liebe die Schweiz, aber sie ist klein, der Markt fragmentiert. Haben Sie sich schon überlegt, Ihr Glück in Hollywood zu versuchen? Ich habe schon Filme gemacht, und ich kenne da mittlerweile einige interessante Leute. Aber ich bin keine geborene Schauspielerin 70

und habe bisher auch nicht ein halbes Leben in diesen Beruf in­ vestiert. Meine schauspielerischen Möglichkeiten sind be­ schränkt. Kommt hinzu, dass das Hollywood-Umfeld, das ich kenne, stark von Männern dominiert ist. Ich treffe die Leute gerne in privatem Rahmen, aber dort zu arbeiten, ist für eine Frau ziem­ lich mühsam. Eine Frau muss in Hollywood wissen, was sie will, sonst hat sie rasch ein Problem. Klingt nicht besonders sympathisch. Wie gehen Sie vor? Ich bin durchaus offen für interessante Aufträge, denn sie passen zu meinem bisherigen Business, der Werbung. Doch gibt es Gren­ zen, die ich nicht überschreite. Ich mache keine schmutzigen Ge­ schichten. Das übliche Hollywood-Spiel spiele ich, im Gegensatz zu vielen bekannten und talentierten Künstlerinnen, nicht mit. Aber klar: ich fühle mich geschmeichelt, wenn Regisseure und Pro­ duzenten, mächtige, aber zuweilen auch schlüpfrige Figuren, um meine Gunst werben. Das tut meinem Ego gut. Meinen Prinzipien bleibe ich dessen ungeachtet treu. Ihr Ego sollte Ihnen doch keine Probleme bereiten. Immerhin sind Sie schön und waren 2006 Vize-Miss Schweiz… …ich gelte als schön. Wo ist der Unterschied? Die Schönheit liegt im Auge des Betrachters. Brav gesagt, politisch korrekt. Aber glauben Sie das wirklich? Was als schön gilt, wird in unterschiedlichen sozialen Kontexten und unterschiedlichen geschichtlichen Epochen unterschiedlich beurteilt. In den 1950er und 1960er Jahren war Jeanne Moreau das Ideal, heute ist es Gisele Bündchen, morgen ist es jemand anders, eine Frau, die wir heute nicht als schön taxieren würden. Die objektive Schönheit – eine Illusion? Ich würde sagen: eine schöne Illusion. Sie machen mit in diesem Spiel der Illusionen. Klar. Marketing ist Illusion. Sind Illusionen etwas Schlimmes? Nein, denn es geht um Träume. Sind Träume etwas Schlimmes? Nein, denn sie machen uns glücklich. Nicht immer. Aber manch­ mal. Und dann müssen wir wieder aufwachen und unser Bewusst­ sein schärfen. �


Xenia Tchoumitcheva, photographiert von Thomas Burla.

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Die Schweiz im Wandel Weihnachtszirkus Bahnhofstrasse Z端rich / von Hanspeter Schiess

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Buch des Monats: Schweiz

Autonome Republik Dürrenmatt Peter Rüedi: Dürrenmatt oder Die Ahnung vom Ganzen. Zürich: Diogenes, 2011.

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Silvia Hess Silvia Hess ist Literaturkritikerin. Sie lebt in Ennetbaden.

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r sagte immer, was er meinte, doch meinte er nicht immer, was er sagte. Nicht endgültig jedenfalls und schon gar nicht für alle Ewigkeit. Denn diese war ihm, dem Pfarrerssohn, sowieso suspekt. Er war, nach eigener Meinung, ein unablässiger «Gedankenschlosser und -konstrukteur», einer, der alles Vollendete dem Toten zuordnete, das Fragment hingegen dem Geglückten. Was in seiner Sprache hiess: dem Möglichen. So gesehen war das Leben des Friedrich Dürrenmatt «fragmentarisch». So gesehen waren die siebzig Jahre seines Lebens eine genuine Möglichkeit – ein Leben als Werk. «Ich habe keine Biographie», fasste er diesen Zustand einmal zusammen. Nun hat er doch eine. Peter Rüedi, langjähriger Weggefährte, reicht ihm einen beinahe tausendseitigen Lebensbericht nach, ein Buch, an dem er, nebst seiner journalistischen Tätigkeit, zwanzig Jahre lang gearbeitet hat. Da den meisten Freundschaften mit Dürrenmatt ein «Verfallsdatum» eigen war (Rüedi), gereicht es auch dem entstandenen Band zum Authentizitätsvorteil, dass der beiden Verhältnis – zumindest aus der Sicht des Biographen – lediglich als «distanzierte Vertrautheit» erfahren wurde. Reflektierte Distanz, Dürrenmattscher Fluchtpunkt in Werk wie in eigener Sache: In der «autonomen Republik Dürrenmatt», wie Rüedi das abgelegene Neuenburger Anwesen nennt, zwischen «hinter dem Mond und dem Rest der Welt», fand das letzte Gespräch der beiden statt, kurz vor Dürrenmatts Tod. Über Gott und die Welt wurde geredet, berichtet Rüedi, was nicht heissen soll: über alles und nichts, sondern über das All und das Nichts. Ausgehend vom christlichen Glauben seines Vaters war Dürrenmatt einen langen Weg gegangen und beim «Glau­ ben der Schriftstellerei, also dem Denken in mehrdeutigen Gleichnissen», angekommen. Er, der sich als Atheist ver­ stand – allerdings mit immerwährender religiöser Grundierung –, hat dieses Ringen um eine eigene Metaphysik in alle seine Werke getragen. Angefangen bei den «Wiedertäufern», den Kriminalromanen und Hörspielen bis hin zu seinen erfolgreichsten Theaterstücken «Der Besuch der alten Dame» und «Die Physiker». Doch das wurde er nicht los: Dürrenmatt, der Protestant, protestierte. Sein Werk – das geschriebene, aber ebenso das gezeichnete und gemalte –, ein einziges Aufbegehren gegen die Welt, wie er sie vorfand. Die Kategorien, denen er folgte, waren seine eigenen, auch die des guten Stils, um nicht zu sagen, des guten Geschmacks. Derbe Scherzchen, drastische Darstellungen sabotierten bewusst gesellschaftlich tradierte Vorstellungen. Und man kann sich das grosse Gelächter des Friedrich Dürrenmatt bestens vorstellen, wenn sich etwa Max Frisch, der Stilist, über Diesbezügliches in den Theaterstücken «Romulus» oder in «Die Ehe des Herrn Mississippi» ärgerte. Dürrenmatt ging es nicht darum, die Welt (stilvoll) zu spiegeln, er hielt ihr vielmehr seine eigenen Welten entgegen: überzeichnete, expressive, prallüp­ pige Schlachtfelder, auf denen sich das Leben ereignete. Das Instrumentarium war ebenfalls sein ureigenes: die über­ reiche Phantasie des Einzelgängers und Unzeitgemässen. Eines der ganz grossen Verdienste Peter Rüedis und seiner Biographie, die ihrerseits von immensem Wissen zeugt, ist das neu evozierte Bild Dürrenmatts: Dürrenmatt als «Dilettant». Der Blick des «Laien» war für Dürrenmatt der einzig mögliche Weg, an den Ursprung des Denkens zu gelangen. In einer Zeit, da alles schon gedacht sei, wie er meinte, war sein Anspruch, alles erst beiseite zu räumen, damit neue Konzeptionen, neue Ahnungen entstehen könnten. Und daran hat er sich gehalten. Weder war er Theologe noch Philosoph, noch Astronom, noch Mathemati­ ker – einzig aus der Distanz des grüblerisch belesenen Dilettanten ist er zu Ahnungen vom Ganzen gekommen. Und hat damit sein Weltrangwerk geschaffen. Die letzte Flasche Wein, berichtet Peter Rüedi, sei während des letzten Gesprächs mit Friedrich Dürrenmatt nicht leergetrunken worden. Zu keinem Ende führt auch sein Buch. Es ist – nicht anders möglich – Fragment geblieben. Und deshalb geglückt. In hohem Masse. �


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Buch des Monats: International

Neues Avantgardevergnügen Bruce Bégout: Der ParK. Aus dem Französischen von Franziska Humphreys-Schottmann. Zürich: diaphanes, 2011.

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Michael Pfister Michael Pfister ist promovierter Philosoph und Literaturwissenschafter. Er lebt in MexikoStadt.

er Vergnügungspark, der die Speerspitzen unserer Spassgesellschaft ausnahmslos in den Schatten stellt, liegt auf einer 624 km2 grossen Privatinsel vor Borneo. Ein Architekt und Cyperpunk-Futurist namens Licht hat ihn im Auftrag des russischen Waffen- und Unterhaltungsindustriellen Kalt für rund 4 Milliarden Dollar erbaut. Die «universelle Quintessenz aller realen und möglichen Parks» wird schlicht «ParK» genannt und täglich von maximal hundert Personen in Fünfergruppen besucht, die für die Eintrittskarte je 15 000 Dollar auslegen. ParK beschäftigt 175 000 Angestellte, darunter Ingenieure, Neurobiologen, Schauspieler, Tierpräparatoren und Militärberater. Die Informationen über die eigentlichen Attraktionen sind bruchstückhaft und bisweilen rätselhaft: Im Uterus-Theater reitet der Tourist «auf wild gewordenen Spermien»; im Viertel der Einsamen beobachtet er Menschen, die ohne jegli­ chen Kontakt zueinander leben; die Terroristischen Gewächshäuser präsentieren fleischfressende Pflanzen neben Folterinstrumenten; in der «perfekten Nachbildung eines amerikanischen Gefängnisses im Irak können die Besucher Folterknecht spielen», das Hotel-Casino Todeskamp I lädt zu Glücksspielen in den stinkenden Baracken von Zwangs­ arbeitern ein; im Konservatorium der Schreie dokumentieren Tonaufzeichnungen den Todeskampf von ParK-Bewoh­ nern, die wilden Tieren zum Opfer gefallen sind. Den zahlenden Besuchern droht freilich keine Gefahr: Sie werden von Aufsehern begleitet, und versteckte «Elitescharfschützen» garantieren das «Nullrisiko». Die Konfrontation mit Wildnis und Grausamkeit findet unter Bedingungen totaler Kontrolle statt. «Der ParK» zeigt, was auf die «Gesellschaft des Spektakels» folgt: ein vollkommen neuer Begriff von Unterhal­ tung. ParK ist «genauso gut ein Park der Sensationen wie der Aversionen». Die lästige Mauer zwischen Zerstreuung und Unbehagen ist gefallen: «Das Wunderbare und das Furchtbare, das Spielerische und das Pathetische, alles, was starke Emotionen weckt, ob angenehme oder nicht: das ist das spektakuläre Versprechen von ParK.» Dass ausgesuchte Kunden alle zwei Wochen der Vergasung einiger ParKianer in den Duschen oder Saunas beiwohnen, ist ein von der Parkleitung dementiertes Gerücht. Dennoch entspricht die Logik von ParK einer Vermi­ schung von «Disneyland und Treblinka», und ein im Buch zitierter Journalist einer Zeitung aus Tomsk bringt es so auf den Punkt: «Die extreme Frage, die ParK aufwirft, ist die: Wie kann man sich nach Auschwitz noch amüsieren? Seine Antwort: Man kann sich gemäss Auschwitz amüsieren.» So erstaunt es nicht, dass die Institution oft Besuch von Menschenrechtskommissionen und Politikern erhält, doch bezeichnenderweise amüsieren sich ausgerechnet diese Gäste am besten und «ziehen mit lauter neuen Ideen im Kopf fröhlich von dannen». Passagen wie diese zeugen von der satirischen Lust des 1967 geborenen Autors Bruce Bégout, Philosophieprofessor an der Universität Bordeaux. Als Spezialist für Edmund Husserl ist Bégout bekennender Phänomenologe und widmet sich in seinen theoretischen Texten den Zusammenhängen zwischen Alltagswelt und Stadtentwicklung. Seine Ver­ bindung von Reportage und Gesellschaftsanalyse knüpft an die kulturkritischen Ansätze seiner Landsleute Jean Baudrillard, Paul Virilio oder auch Michel Foucault an – «Der ParK» erinnert aber auch an Peter Sloterdijks vor einem guten Jahrzehnt heiss umstrittene Thesen über den «Menschenpark» und an den italienischen Philosophen Giorgio Agamben, der die heutige «condition humaine» mit den Paradigmen des Zwangslagers, des Ausnahmezustandes und des «nackten Lebens» beschreibt. Was den Philosophen Bégout umtreibt, ist die Frage, inwieweit und wie sich Menschen der Welt um sie herum öffnen oder aber sich von ihr abkapseln. In den beiden Essays «Lieu commun» und «Zeropolis» (letzterer auch auf Deutsch erschienen) hat er das Motel und die Casinos von Las Vegas als Spielarten solcher Fluchtburgen untersucht. Weitere Beispiele wären gated communities, akademische Elfenbeintürme oder eben: Vergnügungsparks und 77


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Buch des Monats: International

Arbeitslager. ParK zelebriert die «heilbringende Enklavenbildung» – im Hauptausstellungsraum prangt der Satz: «Ungeachtet unserer Sehnsucht nach dem Unendlichen bestimmt das Bedürfnis nach Eingrenzung unser Wesen.» «Der ParK» ist eine Hommage an H. G. Wells’ «Insel des Doktor Moreau» und steht in der Tradition negativer Utopien wie George Orwells «1984» oder Aldous Huxleys «Schöne neue Welt». Der wesentliche Unterschied: Bégouts Insel ist kein totales Modell, das alle Bereiche des Lebens umfasst. Entsprechend ist der «Roman» auch alles andere als ein Roman, viel eher: Invention, Analyse, Gedankenexperiment, fiktive Reportage, philosophierender Tagtraum. Dass namentlich bekannte Figuren nur am Rande auftreten und höchstens Ansätze zu einem Plot vorhanden sind, ist aber nicht der Grund dafür, dass «Der ParK» als literarischer Text nur bedingt geglückt ist. Dies liegt eher am manch­ mal etwas sperrigen und umständlichen Stil. Bégouts ausgeprägte Vorliebe für Aufzählung, Chiasmus und Oxymoron hingegen passen immerhin gut zum grotesken und ambivalenten Inhalt des Buches. Das namenlose «Wir» des Berichterstatters ist ein dubioser Bursche ohne klare Position und Funktion – literaturtheoretisch gesprochen ein «unzuverlässiger Erzähler». Im Unterschied zu den totalitären Weltentwürfen Orwells und Huxleys liefert Bégout eine chaotische Vision in Bruchstücken – auf seiner Insel gibt es keinerlei Übersichtskarten oder Wegweiser. Unter dem Stichwort «NeuroArchitektur» denkt er die Interaktion zwischen Phantasma und Lebensraum an, und so erweist sich das künstliche Paradies von ParK als ebenso nomadisch und plastisch wie das Begehren des Wunschwesens Mensch. Eines der grössten Phantasmen unserer Zeit steckt zweifelsohne in den Fragen: Wie vergnügen sich die Reichen? Wofür lohnt es sich, sehr viel Geld anzuhäufen? Für das Recht, Tabubrüche zu begehen, lautet der schreckliche Verdacht, den das Buch zumindest vordergründig nährt. Die Besucher von ParK sind in ihrem Schwanken zwischen Euphorie und Melancholie Erben der Libertins aus den Romanen des Marquis de Sade oder auch der dekadenten Dandies des fran­ zösischen Fin de Siècle im späten 19. Jahrhundert. Insbesondere Lady W., die dank einer Sonderbewilligung ihren Tudor-Landsitz im ParK errichtet und «nur das Ungeniessbare geniessen» kann, wirkt wie aus Octave Mirbeaus «Garten der Qualen» (1899) entsprungen. Die Pointe von Bruce Bégouts Beitrag zur Diskussion über die Spassgesellschaft besteht darin, dass er die Avant­ garde des Vergnügens verlagert: weg von den Subkulturen der Bohème, hin zu den «vorgewarnten Kunden» aus der Finanzelite. «Post-gregäre Unterhaltung» emanzipiert sich von der populären Massenkultur herkömmlicher Themenparks. In der perversen Abweichung liegt die letzte Chance des Widerstands gegen die Routine. Eine Revolu­ tion von oben und eine souveräne Geste, die dem Katzenjammer dennoch nicht entgeht: Denn selbst die grösste Überschreitung findet nur unter Kontrolle statt: «Grenzerlebnisse in festen Erlebnisgrenzen». Aber die Reichen und Mächtigen, so mag man Bégout entgegnen, werden doch nicht allen Ernstes nach Borneo reisen, um sich am Leiden der Gemarterten zu weiden. In der Tat, dieses Leiden wird traditionellerweise eher verschwiegen, beschönigt oder verdrängt. Insofern ist Bégouts Buch vielleicht gerade keine Schreckensvision der Zukunft, sondern eine Parabel auf den Ist-Zustand. Oder schärfer noch: der schwarzhumorige Appell, Lust und Schmerz in ihrem real existierenden Zusammenhang zu zeigen und die gnadenlosen Demarkationslinien unserer Welt nicht fortlaufend zu vertuschen. ParK wäre dann, wie der Text selber sagt, «die Weltausstellung der Übel unse­ rer Zivilisation, die gerade dadurch abgewendet werden, dass sie öffentlich ausgestellt werden». �

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Buch des Monats: Freiheit

Die politische Ordnung – empirisch vom Ursprung an betrachtet Francis Fukuyama: The Origins of Political Order. Bd. 1. From Prehuman Times to the French Revolution. New York: Farrar, Straus and Giroux, 2011.

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Daniel Brühlmeier Daniel Brühlmeier ist promovierter Politikwissenschafter. Er koordiniert die Aussenbeziehungen des Kantons Zürich.

arum finden sich Menschen zu politischen Gemeinschaften zusammen? Aristoteles ging davon aus, dass der Mensch ein soziales Tier sei und sich deshalb von Natur aus politisch organisiere. Mit ihrem Gedankenexperi­ ment des Naturzustandes, aus dem sich die Menschen in einem (zunehmend demokratischeren und verfassungsnor­ mierteren) Staat verbinden, legitimierten die Sozialvertragstheorien von Hobbes bis Rawls eher eine politische Orga­ nisationsform, als dass sie diese wissenschaftlich erklärten. Ein mächtiges empirisches Gegenprojekt markierte die schottische Aufklärung mit ihrer Vier-Stadien-Theorie, nach der sich die Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft, und vor allem des Eigentums, in vier Stadien entwickelt: Jäger/Sammler, Hirten, (sesshafte) Agrikultur, Handel. In Unkenntnis dieser schottischen Vorläufer beleuchtet nun Francis Fukuyama im ersten Band von «The Origins of Political Order» Entstehung, Entwicklung und Verfall politischer Ordnungen ebenfalls in vier Stadien: von den Horden über die Stämme zu den Stammesfürstentümern, zu den Staaten. Dabei verpflichtet sich Fukuyamas Antwort einer kulturell-institutionell angereicherten Evolutionstheorie: ihn interessieren die Faktoren, die es der Menschheit erlaubten, mittels des einen Prozents DNA, das sie von den bereits zu elementaren Formen der sozialen Kooperation fähigen Schimpansen unterscheidet, die entsprechenden Entwicklungsstufen zu durchlaufen. Zu den Verwandt­ schaftsverhältnissen und dem durch sie induzierten, entsprechend abgestuften gegenseitigen Altruismus kommen nach Fukuyama als weitere Faktoren hinzu: die Sprache mit ihren Abstraktions- und Speichermöglichkeiten, ein normengeleitetes Verhalten aus emotionalem Antrieb und transportiert durch mentale und rituell-religiöse Modelle, später auch durch Ideologie, sowie die hegelianisch inspirierte Suche nach Anerkennung. Den ersten zentralisierten, meritokratisch und professionell verwalteten Staat finden wir in China; er wurde unter Aufwand enormer physischer Gewalt für eine neue Kriegsführung mit entsprechender Steuererhebung geschaffen. Indien hingegen ging den Weg einer gewollt durch Religion geschwächten politischen Ordnung, hat aber erste Ansätze einer ruleoflaw. In (West-)Europa schuf das Christentum mit dem Lehenskontrakt, dem Zölibat und der vergleichsweise höheren rechtlichen und sozialen Stellung der Frau die Voraussetzungen für einen Staat, dem Rechtsfrieden mehr bedeutete als militärische Eroberung. Aber erst mit der Rechenschaftspflicht der Herrschenden, ob moralisch (Fürstenspiegel) oder in demokratisch-konstitutionellen Verfahren, sind die institutionellen Charakte­ ristika moderner Staatlichkeit komplett. Fukuyamas Sekundärquellen füllen Bibliotheken und seine Ambition ist gewaltig. Trotzdem gelingt es ihm, ein kohärentes und eindrücklich vergleichendes Gesamtbild zu vermitteln, ohne dabei ins Allgemeine abzugleiten. Gegen vereinfachende Monokausalitäten stellt er multifaktorielle Wechselwirkungen, die gleichzeitig auch die Varianz der möglichen Entwicklungen erweitern. Entgegen einer Vermutung, die man aus der Lektüre von «Ende der Geschichte» haben könnte, hat die herausgearbeitete Entwicklung politischer Ordnungen keine Finalität oder gar Perfektibilität. Natürlich lebt es sich heute ökonomisch, gesellschaftlich und politisch besser als in früheren Zeiten. Jeder Fortschritt kann aber unter extremen Bedingungen mit einem Rückfall in weniger zivilisierte Stadien oder Formen politischer Ordnung wieder zunichte gemacht werden. Konsequent warnt Fukuyama dann auch vor der Rückkehr der Stammesherrschaft sowie linken wie rechten «Phantasien» von «minimal orno-governmentsocieties». Und: der Zerfall von Staaten, historisch keine Seltenheit, tritt Fukuyama zufolge genau dann ein, wenn Institutionen sich wegen der ihnen inhärenten Rigidität und der Bewahrung durch organisierte Interessen nicht mehr den verän­ derten Bedingungen anpassen. �

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Schweizer Monat 992 Dezember 2011/Januar 2012

Nacht des Monats Michael Wiederstein trifft Roland Wagner

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and aufs Herz: gibt es ein besseres Motiv für den Besuch eines Stripetablissements im Zürcher Niederdorf als die Suche nach den monetären Hinterlassenschaften eines in jeder Hinsicht potenten Onkels, der vor 25 Jahren beim Sexspiel zu Tode stranguliert wurde? Die beiden leicht bekleideten, verlegen lächelnden Damen, die sich soeben neben Roland Wagner und mich aufs rote Leder setzten, staunen jedenfalls nicht schlecht, als er die hollywoodeske Geschichte seines Onkels auftischt. Tagsüber residierte Arthur Bezzola in feinster Zürcher Gesell­ schaft, speiste mit Staats- und Geschäftsmännern aus der ganzen Welt und investierte in renditeträchtige OPEC-Unternehmungen, aber auch in die Novo-Park-Hotelgruppe. Bis zu dem Tag jeden­ falls, an dem er – nackt im Bett, mit einem Strick um den Hals und tot – von der Polizei gefunden wurde. Er, Wagner, sei nun hier, um die Geschichte seines On­ kels und dessen Ablebens zu rekonstruieren, das in «Die 80er. Anständige Kunden: diesem Club am Abend annehmbare Gepflogenheiten, des 19. Dezembers 1985 seinen Ausgang nahm. beste Trinkgelder.» Und die Geschichte der 20 Millionen Franken, die sein Onkel zuvor bei einer liechtensteinischen Bank deponierte, versteht sich. Sie sind der publikumswirksame Aufhänger für das Mitmach-Recherchepro­ jekt des Harvard-Absolventen, ehemaligen IBM-Managers, streit­ baren Gesamtkunstwerkers und zu allem Überfluss auch Wahl­ kampfberaters einer grossen nationalen Partei namens Roland Wagner. Seit zwei Jahren bestellt er Aktenkopien beim Oberge­ richt, interviewt zwielichtige Zeitgenossen seines Onkels, grün­ det aber auch Facebookgruppen für jene, die ihm bei der Recher­ che helfen wollen. Er gibt sich als Mitglied der High Society in und um Zürcher Grandhotels und lädt wildfremde Mädchen zu teuren Bootstouren ein. Oder besucht auf meine Kosten Strip­ clubs in der Zürcher Innenstadt. Einerseits gehe es ihm um die Recherche, sagt er, andererseits um die Figuration. Sein Ziel: dem Leben und der Zeit seines Onkels so nahe wie möglich kommen, um sie in seinem Medienkunstprojekt in Szene zu setzen.

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Wagner erläutert der dunkelblonden Natalia zu seiner Rechten, dass es augenscheinlich zu Onkel Arthur, Arturo, Turi Bezzolas All­ tag gehörte, sich im Zürcher Niederdorf von sämtlichen sittlichen Fesseln zu befreien. Und zwar, indem er sich spätnachts deren andere, unsittliche nämlich, anlegen und sich lustvoll misshandeln liess. Bis er es einmal zu weit trieb. Natalia und Carolina schauen einander über den Champagnerkübel hinweg fragend an. Wagner nippt see­ lenruhig an seinem 40-CHF-Schlückchen Tullamore Dew mit Eis. «Die 80er. Gute Mädchen, anständige Kunden: annehmbare Gepflo­ genheiten, beste Trinkgelder», sagt Natalia. «Die Zeit der Träume.» Heute sei es eher die Zeit der Tränen: Mädchen, die – wie sie – im Ausland von Agenturen angelockt würden, kein Wort Deutsch sprä­ chen, geschweige denn die Chance hätten, sich ihr Studium auf alternativem Wege zu finanzieren, treffen gut und teuer abgefüllte Männer in schlechtsitzenden Anzügen, die von lokalen Unterneh­ men im Anschluss an gut verlaufene Geschäftstermine hereinge­ karrt werden. Die guten Zeiten seien vorbei, schliesst sie. Was sie uns mit vorsichtigem Blick auf die klischeehaft strenge Bardame flüs­ ternd erzählt, ist ein offenes Geheimnis: um 23.45 Uhr sind wir noch immer die einzigen Gäste. In einer Ecke blubbern Wassersäulen, die ihren ästhetischen Mehrwert bereits in den frühen 90ern eingebüsst haben, zwei Bilder an der Wand erinnern mit ihren Blink- und Was­ serfalleffekten eher an ein Chinarestaurant im Ruhrgebiet als an Zürcher Nacktnoblesse. Musikalisch untermalt wird die Szenerie durch ohrenbetäubend laute Remixe von Eurodanceklassikern. Acryl statt Samt: Lust und Leid sind an Ort und Stelle und im Jahr 2011 weit davon entfernt, ein ganzheitliches Aphrodisiakum zu bilden. Das war einmal anders, lacht Wagner – und referiert über blon­ de Frauen mit wallendem Haar und weissen Federboas. Und die Kunden: Männer wie sein Onkel, die gut und gern auch einmal fünfstellige Beträge im samtigen Halbdunkel liessen. Wagner stockt, schaut mich fragend an. Carolina und Natalia goutieren die nun folgende Diskussion über die Zahlungsmodalitäten bei weite­ ren Drinks eindeutig: nachdem es sich ausgeprickelt hat, setzen sie sich zurück an die Bar – zu den fünf anderen leicht bekleideten Mädchen aus fernen Ländern, die dort arbeitslos und verlegen lächelnd auf zumindest monetär potentere Kundschaft in schlecht­ sitzenden Anzügen warten. �


Titel Lead. Dies ist reiner Blindtext und passt nicht zum Titel? Wo stehen die USA nach zwei Jahren unter Barack Obama? Wo stehen die USA nach zwei Jahren unter Barack Obama? Wo stehen die USA nach zwei Jahren unter Barack Obama? von Autor Name Vorname

Name Vorname Text Text Text Text Text Text Text Text Text Text Text Text Text Text Text Text Text Text Text Text Text Text Text Text Text Text Text Text Text Text Text Text Text Text Text Text Text Text Text Text Text Text.

Roland Wagner, photographiert von Michael Wiederstein.

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ausblick

Schweizer Monat 992 Dezember 2011/Januar 2012

Impressum «Schweizer Monat», Nr. 992 91. Jahr, Ausgabe Dezember 2011/Januar 2012 ISSN 0036-7400 Die Zeitschrift wurde 1921 als «Schweizerische Monatshefte» gegründet und erschien ab 1931 als «Schweizer Monatshefte». Seit 2011 heisst sie «Schweizer Monat». VERLAG SMH Verlag AG

Im nächsten «Schweizer Monat» Freiheit und Literatur Der Schriftsteller Mario Vargas Llosa über seine Passion

Alles für das eigene Kind Die Unternehmerin Hanne Grieder über die Babywelt

Indien gibt Gas Der Unternehmer Gautam Thapar über indische Überflieger

Neue Ideen braucht das Land Der Ökonom Reiner Eichenberger über politischen Wettbewerb

HERAUSGEBER & CHEFREDAKTOR René Scheu rene.scheu@schweizermonat.ch RESSORT POLITIK & WIRTSCHAFT Florian Rittmeyer florian.rittmeyer@schweizermonat.ch RESSORT KULTUR Michael Wiederstein michael.wiederstein@schweizermonat.ch STAGE Claudia Mäder DOSSIER Jede Ausgabe enthält einen eigenen Themenschwerpunkt, den wir zusammen mit einem Partner lancieren. Wir leisten die unabhängige redaktionelle Aufbereitung des Themas. Der Dossierpartner ermöglicht uns durch seine Unterstützung dessen Realisierung. KORREKTORAT Roger Gaston Sutter Der «Schweizer Monat» folgt den Vorschlägen zur Rechtschreibung der Schweizer Orthographischen Konferenz (SOK), www.sok.ch. GESTALTUNG & PRODUKTION Pascal Zgraggen pascal.zgraggen@aformat.ch MARKETING & VERKAUF Urs Arnold urs.arnold@schweizermonat.ch ADMINISTRATION/LESERSERVICE Anneliese Klingler (Leitung) anneliese.klingler@schweizermonat.ch Rita Winiger rita.winiger@schweizermonat.ch FREUNDESKREIS Franz Albers, Georges Bindschedler, Elisabeth Buhofer, Peter Forstmoser, Titus Gebel, Annelies Haecki-Buhofer, Manfred Halter, Creed Künzle, Fredy Lienhard, Heinz Müller-Merz, Daniel Model, Ullin Streiff ADRESSE «Schweizer Monat» SMH Verlag AG Vogelsangstrasse 52 8006 Zürich +41 (0)44 361 26 06 www.schweizermonat.ch ANZEIGEN anzeigen@schweizermonat.ch PREISE (ab 1. Januar 2012) Jahresabo Fr. 165.– / Euro 118.– 2-Jahres-Abo Fr. 297.– / Euro 212.– Abo auf Lebenszeit / auf Anfrage Einzelheft Fr. 19.50 / Euro 16.50.– Studenten und Auszubildende erhalten 50% Ermässigung auf das Jahresabonnement. DRUCK ea Druck + Verlag AG, Einsiedeln, www.eadruck.ch BESTELLUNGEN www.schweizermonat.ch

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