993 (Februar 2012)

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Dossier V o r a u s s c h a u e n !

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A n t wo rt e n auf

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G e g e n wa rt

Ausgabe 993 Februar 2012 CHF 19.50 / Euro 16.50

D i e Au t o r e n z e i t s c h r i f t f ü r P o l i t i k , W i r t s c h a f t u n d K u lt u r

Und die Moral?

Literaturnobelpreisträger Mario Vargas Llosa erinnert an das Erfolgsgeheimnis der freien Welt

Deutsche Rebellen Hans-Olaf Henkel, Wolfgang Clement und Frank Schäffler über eine andere EU

Heimatschutz ade! Norbert Bolz und Reiner Eichenberger entstauben Meinungsfreiheit und Politik

Scheinheilig? Markus Schneider über die Buchpreisbindung


TangenTe DaTum

Für klügere Handgelenke: Eine Uhr mit Charakter. Tangente (hier die extra große Version mit Fernsehdatum) ist der elegante Klassiker von NOMOS Glashütte – keine andere Uhr heimste mehr Auszeichnungen für gute Form, für Qualität und Leistung ein. Umso schöner, dass auch der Preis von NOMOS-Uhren einfach klüger ist. Mindestens 2340 Franken. NOMOS Glashütte gibt es in der Schweiz bei: Aarau: Widmer Goldschmied; Basel: Elia Gilli Schauraum; Bern: Helen Kirchhofer, Uhrsachen; Chur: Unix Goldschmiede; Davos Platz: André Hirschi; Lausanne: Viceversa; Locarno: Zoltan Gioielli; Luzern: Langenbacher Goldschmied; Olten: Jürg Brunner, Maegli; Samnaun Dorf: Hangl; Solothurn: Maegli; St. Gallen: Labhart Chronometrie; Winterthur: Wehrli; Zug: Maya Sulger; Zürich: Daniel Feist, Zeithalle – und im Zürcher NOMOS-Flagshipstore. www.nomos-store.com und www.nomos-glashuette.ch


Schweizer Monat 993  Februar 2012  Editorial

Editorial

M

René Scheu

ario Vargas Llosa sind wir letzten Herbst in St. Gallen begegnet, als der Literaturnobelpreisträger an der HSG über das Verhältnis von Geschichte und Literatur sprach. Wir baten ihn um einen Beitrag, und er sagte zu. Er hat sein Versprechen gehalten und uns eine wortgewaltige Verteidigung der moralischen Grundlagen der freien Marktwirtschaft geschickt. Lesen Sie im Literaturessay ab S. 80, wie Mario Vargas Llosa, der einst für das Amt des peruanischen Präsidenten kandidierte, die Zukunft des Kapitalismus sieht.

Herausgeber

Im Versuch, Vertrauen zu bilden, erzielen die europäischen Politiker mit ihren eilig einberufenen Krisengipfeln den gegenteiligen Effekt. Das Vertrauen in ihr Handeln schwindet. Doch wie kann, wie muss sich die EU entwickeln, wenn sie zukunftsträchtig sein soll? Wir haben zwei ausserhalb des Mainstreams politisierende deutsche Politiker um klare Positionsbezüge gebeten. Lesen Sie mehr von Frank Schäffler und Wolfgang Clement ab S. 14. Ein weiterer deutscher Euro-Rebell kommt im Dossier zu Wort. Hans-Olaf Henkel schreibt darüber, wie es kam, dass er als einst glühender Verfechter des Euro seine Meinung auf den Kopf stellte. Hat der Euro Zukunft, und wenn ja, welche? Wie lässt sich unser kreditgetriebenes Geldsystem reformieren? Welcher Therapie bedarf der europäische Wohlfahrtsstaat, wenn er auch für Kinder und Kindeskinder noch eine Referenz sein soll? Wie lassen sich Eigentum und Freiheit in Zeiten schützen, in denen der Staat den Zugriff auf Bürger und Steuerzahler ausdehnt? Das sind einige der Fragen, die wir im Dossier ab S. 39 behandeln. Weitere Anregungen für aktuelle und künftige Debatten: der deutsche Medienwissenschafter Norbert Bolz bricht ab S. 27 eine Lanze für die intellektuelle Dissidenz. Im Interview ab S. 74 schlägt Kultursoziologe Dirk Baecker seine Thesen zur Kunst der Zukunft an unsere Pforte. Und Reiner Eichenberger plädiert ab S. 22 dafür, den Heimatschutz für Politiker abzuschaffen. Neu werden der Kabarettist Andreas Thiel sowie die Rechtsprofessoren David Dürr und Andreas Kley regelmässig scharfe Blicke auf den Zeit­ geist werfen. Und wir haben das Layout auf das neue Jahr hin nochmals reduziert. Wir finden: je schlichter, desto besser, getreu unserem Credo: zuerst die Inhalte, dann die Inhalte, dann die Inhalte! René Scheu

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Inhalt Schweizer Monat 993 Februar 2012

Inhalt

Anstossen

Vertiefen

7 Vom Lebenselixier moderner Demokratien René Scheu

39

8 Respektiert den Bürger, nicht das Amt! Christian P. Hoffmann 9 Eine Mehrheit macht noch keine Wahrheit Xenia Tchoumitcheva 10 Der Souverän Wolfgang Sofsky 12 So lassen wir uns regieren? David Dürr 13 Das Finanzloch Andreas Thiel

Vorausschauen! Sechs Antworten auf die Gegenwart

42 1_ Neue Welt, neues Geld Jörg Guido Hülsmann 46 2_ Zurück in die Zukunft Hans-Olaf Henkel 50 3_ Europas Schuld Rich Mattione 54 4_ Gewalten teilen Roland Vaubel 58 5_ Mehr sozial, weniger Staat Christian P. Hoffmann 60 6_Märkte verschwinden Gunnar Heinsohn

Weiterdenken 14 Debatte: D & EU

Erzählen

15 Europa kommt sich abhanden Frank Schäffler & Norbert F. Tofall

68 An Grenzen Claudia Mäder

18 Und Europa bewegt sich doch Wolfgang Clement

69

22 Wider den politischen Heimatschutz Reiner Eichenberger und Michael Funk

74 Thesen zur nächsten Kunst Johannes M. Hedinger trifft Dirk Baecker

27 Endlich Andersdenker Norbert Bolz

80 Kapitalismus und Moral Mario Vargas Llosa

31 Selfmadefrau René Scheu und Claudia Mäder treffen Hanne Grieder

88 Nacht des Monats mit Erica Hänssler und Peter Doppelfeld Michael Wiederstein

35 Indienexpress Florian Rittmeyer trifft Gautam Thapar 38 Freund der Freiheit Robert Nef

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Bildessay: An Grenzen Philipp Baer


Schweizer Monat 993 Februar 2012  Inhalt

60 Der Innovationszwang wird in der Krise stärker und der einzige Weg aus ihr heraus. Gunnar Heinsohn

Wenn die öffentliche Meinung in einer Massendemokratie gesprochen hat, bringt kaum mehr jemand den Mut zum Widerspruch auf. Und so breitet sich ein ewiger Friede des Intellekts aus. Norbert Bolz auf Seite

27

Erst wenn der Scherbenhaufen so gross ist, dass die Bürger ihn nicht mehr übersehen können, wird der verhängnisvolle Marsch in einen europäischen Zentralstaat abgebrochen und wieder auf ein plurales Europa gesetzt. Hans-Olaf Henkel auf Seite

46

Die Kunst sprengt ihre hochkulturellen Fesseln und verlässt das Gefängnis ihrer Autonomie. Dirk Baecker auf Seite

74

22 Das Reformprogramm ist denkbar einfach. Am wichtigsten ist, dass neu Auswärtige und Ausländer alle politischen Ämter bekleiden dürfen. Reiner Eichenberger

Titelbild: ddp images/dapd, Thomas Lohnes

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Schweizer Monat 993  Februar 2012  Notizbuch

Ohne Scheuklappen

Vom Lebenselixier moderner Demokratien

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st, wer die Parteienfinanzierung gutheisst, ein Antidemokrat? Ist die EU antidemokratisch? Ist die Sympathie für Verfassungsrichter antidemokratisch? In unseren demokratisch verfassten Gesellschaften gibt es eine bewährte Steigerung der öffentlichen Verunglimpfung. Die erste, harmlose Form stellt die Intelligenz des Verunglimpften in Frage: Du bist dumm. Die zweite tritt mit dem moralischen Furor des Überlegenen auf: Du bist ein schlechter Mensch. Die höchste Form der Verunglimpfung aber stellt in unseren Demokratien jene dar, die den anderen als Antidemokraten hinstellt. Dieser rhetorische Angriff hat nur ein Ziel, ebenso unerbittlich wie unwiderruflich: den Verunglimpften aus der Gemeinschaft der Demokraten zu verbannen. Es ist diese dritte Form der Verunglimpfung, die in angespannten Zeiten wie den gegenwärtigen in fast schon inflationärem Masse zugenommen hat, von linker wie rechter Seite, siehe oben. Der öffentliche Diskurs in modernen Demokratien entwickelt einen Konformitätsdruck, den Alexis de Tocqueville in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts am Beispiel der USA luzide beschrieben hat und der in unseren massenmedial animierten Empörungsgesellschaften laufend zunimmt. Selbstverständlich will niemand ein Konformist sein. Aber wagt es einer, eine abweichende Meinung zu vertreten, wird er schnell von den angeblichen «Nonkonformisten» als Antidemokrat an den Pranger gestellt. Von Antidemokratie lässt sich ernsthafterweise erst da sprechen, wo Verfassung und Gesetzt tangiert sind. Aber darum geht es in der Rhetorik des angeprangerten Antidemokratismus nicht. «Die Mehrheit zieht einen drohenden Kreis um das Denken», schreibt Tocqueville. «Innerhalb dieser Grenzen ist der Schriftsteller frei; aber wehe, wenn er sie zu überschreiten wagt!» Mit Antidemokraten redet man nicht. Man macht sie mundtot.

Der deutsche Medienwissenschafter Norbert Bolz analysierte das Phänomen des demokratischen Konformismus in einem Vortrag, den er kürzlich an der Tagung des Vereins Zivilgesellschaft hielt (siehe S. 27 ff. in dieser Ausgabe). In «der Tyrannei des Kollektivs im Namen der herrschenden öffentlichen Meinung» erblickt er die spezifisch moderne Gefahr für die Freiheit des einzelnen. Und dies, obwohl intellektuelle Dissidenz eigentlich das Lebenselixier der De-

René Scheu Herausgeber und Chefredaktor

mokratie sein sollte – sie lebt gerade vom Widerspruch und einem freien Wettbewerb der Ideen, Meinungen und Positionen. Das Diktat der öffentlichen Meinung ist gesetzes- und verfassungskonform. Aber es widerspricht dem ursprünglichen Widerspruchsgeist der Demokratie. Bolz führt den demokratischen Konformismus auf die Furcht des einzelnen vor der anonymen Masse zurück – das Individuum schliesst sich freiwillig jener Meinung an, von der es annimmt, es sei jene der Mehrheit. Zu einem ähnlichen Schluss gelangte Tocqueville vor 170 Jahren: je ähnlicher die Bürger einander werden, desto stärker wächst die Neigung, «der Masse zu glauben, und am Ende ist es die öffentliche Meinung, die die Menschen führt». Die Teilnahme am Workshop zur Demokratie des Vereins Zivilgesellschaft hat mich bewogen, Alexis de Tocquevilles zwei Bände «Über die Demokratie in Amerika» (1835/1840) wiederzulesen. Tocqueville war fasziniert von der ersten soliden Demokratie der Moderne, wobei er zugleich nicht müde wurde, auf die Gefahr einer «Tyrannei der Mehrheit» hinzuweisen. Demokratie meint «Herrschaft des Volkes», und das Volk ist eben mehr und anderes als bloss die Mehrheit. Eine Demokratie lebt von ihren Minderheiten. Was der französische Intellektuelle in den USA beobachtet, ist ein faszinierendes System der checks and balances: das Mehrheitsprinzip, das sich in Wahlen und Abstimmungen zeigt, wird ergänzt bzw. begrenzt durch eine starke Gemeindeautonomie; durch eine glaubwürdige Verfassung und durch Richter, die über sie wachen; durch eine aus Vereinen und Verbänden bestehende Zivilgesellschaft; durch bewährte Sitten des Anstands und der Selbstverantwortung; und eben – und vor allem – durch die Pressefreiheit. «Die Presse», schreibt Tocqueville, «ist recht eigentlich das demokratische Werkzeug der Freiheit.» Dieser Satz ist heute so gültig wie damals. Darum bleibt diese Zeitschrift unbequem. Und lässt ihre Autoren schreiben, was sie denken – unabhängig davon, was die Mehrheit gerade denkt. � 7


KOLUMNE Schweizer Monat 993 Februar 2012

Freie Sicht

Respektiert den Bürger, nicht das Amt!

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arf ich Ihnen Herrn Maier vorstellen: Herr Maier ist Bäckermeister. Seit fünf Jahren betreibt er eine Bäckerei. Die Geschäfte gehen gut, Herr Maier ist ein findiger Unternehmer. Lange und hart musste er arbeiten, um seine Position zu erreichen. Darum glaubt Herr Maier, Anrecht auf einen kleinen Zustupf zu haben. Er beginnt, ein paar Rappen extra zu verdienen, indem er Brote verkauft, die etwas leichter als deklariert sind. Eines Tages fliegen Herr Maiers Geschäftspraktiken auf. Die Lokalpresse prangert die Selbstbereicherung des Bäckers an. Die Bäckerzunft aber springt Herrn Maier öffentlich bei. Eine Geschäftsaufgabe durch Herrn Maier lehnt sie ab, weil dies dem stolzen Amt des Bäckermeisters unwiederbringlichen Schaden zufügen würde. So gelobt Herr Maier Besserung und mehr Transparenz im BrotÖffentliche Ämter verkauf. Die Presse grummelt sollten wahre noch etwas, die Kunden aber Feuerstühle sein. laufen wieder zu Herrn Maiers Bäckerei. Eine absurde Geschichte? Zweifellos. Der Markt für Brötchen besteht, wie jeder Markt, aus freiwilligen Tausch­­beziehungen. Kunden gehen in eine Bäckerei, weil das Brot gut, der Empfang freundlich oder der Preis günstig ist. Ist dies nicht mehr der Fall, weichen sie auf alternative Angebote aus. Jeder Anbieter hat sich ohne Wenn und Aber dieser Kundendemokratie zu unterwerfen. Was unter Privaten absurd erscheint, ist jedoch auf der Bühne der grossen Politik nur allzu oft Realität. Ein Ministerpräsident profitiert von seinen guten Beziehungen zu vermögenden Unterstützern, indem er sich einen ungewöhnlich günstigen Privatkredit ausstellen lässt. Dem aufsichtshabenden Parlament verschweigt er selbst auf dessen ausdrückliche Nachfrage diese Transaktion. Ein Zentralbankchef, der einschneidende politische Wechselkursmanipulationen zu verantworten hat, profitiert von zeitgleichen privaten Währungsspekulationen. Wie aber reagieren die «Kunden»? Das sind in diesem Fall die Bürger, und die können den staatlichen Geschäftemachern nicht einfach davonlaufen. Denn die findigen Herren repräsentieren ein 8

Christian P. Hoffmann ist Assistenzprofessor für Kommunikationsmanagement an der Universität St. Gallen und Forschungs­leiter am Liberalen Institut.

Monopol. Umso dringlicher ist, dass Fehltritte hier konsequent korrigiert werden. Doch ruck, zuck drängen sich Politiker verschiedenster Couleur ins Scheinwerferlicht und fordern eine Schonung der Verantwortlichen – aus «Respekt vor dem Amt»! Ein Rücktritt, heisst es, würde der Institution erheblichen Schaden zufügen. Das könne, das dürfe nicht im öffentlichen Interesse sein. Öffentliche Ämter sind den Lern- und Korrekturprozessen des Marktes also entzogen. Das ist bedauerlich. Stossend wird es jedoch, wenn diese Ämter darüber hinaus unter eine Art Bestandsgarantie gestellt werden sollen. Wer es geschafft hat, ein hohes Amt zu besetzen, soll sich – «aus Respekt» – darin sicher fühlen können. Die Folgen eines solchen amtlichen Kündigungsschutzes offenbart eine einfache ökonomische Betrachtung. Wenn die demokratische Besetzung eines Amtes jedermann offensteht, eine Räumung des Amtes bei Fehlverhalten aber erschwert wird, so führt dies unweigerlich zu einer Negativselektion. In den protegierten Positionen sammeln sich relativ zu den unprotegierten viele fragwürdige Kandidaten. Mehr noch: just aus diesem Grund entsteht ein Anreiz für fragwürdige Kandidaten, bevorzugt protegierte Positionen anzustreben. Schliesslich weiss der Bewerber stets besser als seine Auftraggeber, ob er zu unlauterem Verhalten neigt. Der amtliche Kündigungsschutz verschärft somit das Prinzipal-Agenten-Problem: der Auftraggeber muss sich umso mehr bemühen, seinen Informationsnachteil gegenüber dem Auftragnehmer zu kompensieren. Was folgt daraus? Das letzte, was öffentliche (also monopolistische) Ämter brauchen, ist falsch verstandener Respekt. Wenn schon Positionen geschaffen werden, die sich der Disziplin des Marktes entziehen, so sollten diese wahre Feuerstühle sein. Ein Fehlverhalten muss sogleich spürbare Folgen zeitigen, andernfalls ist eine Ansammlung fragwürdiger Kandidaten in staatlichen Ämtern unvermeidlich. Und was könnte für das «Ansehen» dieser Institution schädlicher sein? �


Schweizer Monat 993 Februar 2012  Kolumne

Kultur leben

Eine Mehrheit macht noch keine Wahrheit

K

ann eine politische oder geschäftstüchtige Minderheit mit ganz eigenen spezifischen Interessen eine Kettenreaktion in Gang setzen, die eine Minderheitsmeinung so weit verbreitet, dass sie letztlich zur Massenmeinung wird? Ich glaube: sie kann. Wer sich eine eigene Meinung über einer Sache bildet, wird vor allem dadurch beeinflusst, was die wahrgenommene Mehrheit denkt. Dies schon aus dem einfachen Grund, dass es den meisten Menschen ein Gefühl der Sicherheit vermittelt, zu wissen, dass sie mit ihrem Standpunkt nicht allein sind. Nonkonformität bedeutet umgekehrt, sich in der unbequemen Lage wiederzufinden, die eigene Haltung der Mehrheit entgegenzustellen – was die meisten von uns leider nicht besonders mögen. Aber: ist Massenmeinung gleich Die Meinung einzelner Wahrheit? Gesetzt den Fall, werden im Wikipediader «Common sense» beEintrag zur «Wahrheit». stünde aus einer weitverbreiteten Zu- oder Abneigung zu einer Person oder einem Gegenstand, sollen diese positiven oder negativen Konnotationen zu einer enzyklopädischen Wahrheit werden? Sicher nicht. In der Realität lässt sich aber genau das beinahe täglich beobachten. Wikipedia ist ein gutes Beispiel dafür, wie die vermeintliche Mehrheitsmeinung von einigen wenigen gelenkt und zu Wahrheit umgedeutet wird. Das Online-Lexikon, das sich selbst «freie Enzyklopädie» nennt und dessen Wissensdatenbank auf der Mitarbeit vieler beruht, stützt sich inhaltlich stets auf bereitgestellte Links zu Online-Presseartikeln, die das Dargestellte argumentativ abstützen sollen. Eine gute Idee, aber keine kugelsichere, wie sich im Verleumdungsfall von US-Journalist John Seigenthaler zeigte. Der heute 85jährige musste 2005 in seiner eigenen Wikipedia-Biographie lesen, dass er an der Ermordung von John F. Kennedy beteiligt gewesen sei und danach 13 Jahre in der Sowjetunion verbracht habe. Den Gegenbeweis konnte er erbringen, sein Image war jedoch nachhaltig beschädigt. Vergangenen Oktober nahm sich die italienische Wikipedia selbst vom Netz, aus Protest gegen einen Gesetzesentwurf, den das italienische Parlament diskutiert hatte. Gemäss diesem hätten

Xenia Tchoumitcheva ist Unternehmerin und Model. Sie lebt in London.

Online-Medien innert 48 Stunden kommentarlos jegliche Korrektur am publizierten Inhalt vorzunehmen, sofern eine davon betroffene Person mit diesem nicht einverstanden ist. Eine bemerkenswerte Beschränkung der Freiheit der Meinungsäusserung, wie mir scheint. Tatsächlich wäre das neue Gesetz – der Entwurf wurde nach dem Protest entschärft – bloss der hilflose Versuch gewesen, Einzelpersonen gegen die Attacken einiger gut vernetzter, privilegierter und organisierter Leute zu schützen. Oder besser: der Staat wollte dem Szenario vorbeugen, dass sich die Meinungen einzelner in Form eines Wikipedia-Eintrags als neue «Wahrheit» über das Netz verselbständigen. Keine Frage, das Anliegen ist nobel, aber die Methode nicht. Zu gross ist die Gefahr, dass an die Stelle der «Wahrheit» einzelner am Ende bloss die staatliche «Wahrheit» tritt. Das wäre kein Fortschritt. Wie also vorgehen? Halten wir fest: Die Massenmedien sind leistungsfähige Werkzeuge zur allgemeinen Beeinflussung, auch die meisten demokratisch organisierten Projekte vermitteln in vielen strittigen Fällen bloss die landläufige Meta-Sicht, keinesfalls aber immer die «Wahrheit». Um die Unabhängigkeit und die Freiheit des Denkens, das die westliche Gesellschaft in jüngerer Zeit zu Demokratie und Vorherrschaft führte, aufrechtzuerhalten, ist es wichtig, eine klare Unterscheidung in unseren Köpfen vorzunehmen: wir müssen uns stets fragen, wann es sich bei Informationen um empirische und/oder wissenschaftliche Daten handelt und wann wir es mit weniger objektiven und eher diffus vorherrschenden Meinungen von Massen und Mehrheiten zu tun haben. Der wahrscheinlich beste Weg, dies zu tun, besteht darin, die Zuverlässigkeit unserer Quellen zu überprüfen. Manchmal ist das eine schwierige Aufgabe. Vor allem dann, wenn bestimmte private oder staatliche Minderheiten den Zugang zu den Informationskanälen kontrollieren – und diese Positionen selbst legitimieren und verteidigen können. �

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Bild: KEYSTONE AP / Alvaro Barrientes


Schweizer Monat 993 Februar 2012  Analyse

Sofskys Welt

Der Souverän

geheim. Laut und lärmend sind die Zeiten davor und danach, die Kampagnen der Parteien, die öffentlichen Versammlungen, Aufrufe und Reden, die Jubelfeiern der Sieger und die Trauer­ rituale der Unterlegenen. Manche Bürger treffen ihre Wahl gemeinsam, bevor sie ihre Stimmzettel in den gläsernen Kasten werfen. Sie debattieren miteinander, gehen zusammen die Kandidatenliste durch, besprechen die Wahlregeln, um keine ungültige Stimme abzugeben. Wahre Souveränität indes verlangt Schweigen, soziale Abkehr, Einsamkeit. Demokratie erschöpft sich nicht in endloser Debatte.

L

Wahlen verteilen Macht, Ämter und Legitimität. Dazu bedarf angsam geht der alte Mann die Strasse hinunter, Schritt für

es der Diskretion. Ohne Geheimnis keine freie Wahl.

Schritt trippelt er seinem Schatten hinterher. Es ist noch

Allein hat der alte Mann sich auf den Weg gemacht, allein geht

früh am Tag. Kühl bestrahlt das Sonnenlicht die Szenerie,

er zum Wahlort, allein hat er sein Urteil getroffen. Souverän ist,

schneidet die Steine aus der Hauswand heraus, zeichnet die

wer unabhängig von anderen seine Wahl trifft, auch wenn

Körnungen und Kerben im Asphalt nach. Es ist der Tag

die Entscheidung zuletzt ganz durchschnittlich ausfällt.

der Entscheidung.

Nicht Einzigartigkeit, sondern Eigenständigkeit zeichnet den

Doch der Alte trägt keinen Sonntagsstaat, nur ein grosskariertes

souveränen Charakter aus. Zwar kann sich niemand äusseren

Flanellhemd, eine Weste, eine abgewetzte Hose. Das Licht

Einflüssen, Meinungen, Gefühlen entziehen. Der Druck zur

streicht ihm über Kopf, Rücken und Arme. Stumm blickt er

Konformität obsiegt meist über den Mut zur Selbständigkeit.

auf den Schatten vor sich. Am Boden sieht er sich selbst.

Nachahmung, Gewohnheit und Trägheit lassen die Menschen

Den linken Arm hält er leicht angewinkelt, als könnte er nicht

in fremde Fussstapfen treten und ihre eigenen Verstandes­­­-

mehr nach vorn ausgreifen. Unsicher, hüftsteif wirkt sein Gang,

kräfte vergessen.

aber auch kleine Schritte führen zu dem Ziel, zu dem ihn der

Wahlzeiten sind stets Hochzeiten der Überredung, der kollektiven

überlange Schatten führt. Er ist sein verlässlichster Gefährte.

Aufwallung und Gefolgschaftstreue. Davon macht sich der

Nur in der Dunkelheit verlässt er ihn. Er zeigt ihm, dass er noch

Souverän frei. Zwar empfindet auch er Anhänglichkeit, neigt

nicht verstummt ist. In der linken Hand hält er die Stimme,

Stimmungen zu, will falschen Gründen glauben und sich selbst

die er gleich abgeben wird.

täuschen. Doch zuletzt entscheidet er für sich. Es bedürfte

Unbehelligt geht er die Strasse hinunter. Es ist die erste Wahl

der Mühen der Abwägung gar nicht, wäre das Gemüt frei von

ohne Bedrohung, Einschüchterung oder Sabotage. Vor kurzem

den Neigungen der Zeit. Aber weil er imstande ist, sich

haben die Aktivisten im Untergrund der Bombe abgeschworen.

allein auf den Weg zu machen und sein Urteil in der Geheim­

Es blieb ihnen keine Wahl, nachdem man ihre Anführer verhaftet

kammer seines Gehirns zu treffen, trägt der Bürger die Chance

hatte. Die Niederlage des Terrors ist die Freiheit des Volkes.

zur Souveränität in sich. Sie ist eine Quelle seiner Freiheit

Erstmals seit einem Jahrzehnt werden Separatisten im spanischen

und politischen Macht. Das Geheimnis hält den Wahlausgang

Parlament ihre Wählerschaft wieder tatsächlich repräsentieren.

offen – und die Eliten in heilsamer Unruhe. Müssten die

Ohne Blutvergiessen wird der Wahlsonntag verlaufen, auch

Repräsentanten den Souverän nicht mehr fürchten, wäre es

in Ibarra, der kleinen Heimatgemeinde des alten Mannes mit

mit der Demokratie vorbei. �

ihren rund 4000 Einwohnern. Mehr als fünfzig Prozent der Stimmen wird dort das neue Bündnis linksnationalistischer baskischer Parteien erringen. Einsam ist der Weg zum Wahllokal. Zwar wird der Alte vor der Urne Bekannte wiedertreffen, frühere Kollegen vielleicht, Nachbarn, Verwandte, Zechgenossen, Gesinnungsfreunde. Viele werden vermutlich so abstimmen wie er. Doch ist die Wahl

Wolfgang Sofsky ist Soziologe und Autor.

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KOLUMNE Schweizer Monat 993 Februar 2012

Zumutungen von oben

So lassen wir uns regieren?

W

ir freien Schweizerinnen und Schweizer werden nicht von oben beherrscht. Wir sind niemandem Gehorsam schuldig ausser den Gesetzen, die wir uns selbst geben, sei es direkt, sei es indirekt über unsere Stellvertreter, die wir alle vier Jahre mit frischer demokratischer Legitimation ausstatten. Soeben haben diese neu legitimierten Volksvertreter ihre erste Session absolviert, dabei schon eifrig Gesetze produziert, nebenbei noch die Landesregierung gewählt und den Voranschlag 2012 verabschiedet. Dies brachte uns zwar zusätzliche Freiheitsbeschränkungen, zum Beispiel beim «Bundesgesetz über Massnahmen zur Wahrung der inneren Sicherheit», und zudem höhere Staatsausgaben bei höheren Steuereinnahmen, doch – wie gesagt – waren es indirekt ja eigentlich wir selbst, die wir uns all dies auferlegt haben. Das ist jedenfalls die Geschichte, die wir uns (und anderen) gerne erzählen. Aber stimmt sie auch? Schon mit der AuffriVon «Stellvertretern» schung demokratischer Legides Volkes zu reden, timation alle vier Jahre hapert ist irreführend. es. Denn auch bei den Wahlen 2011 waren wiederum zwei Drittel der Gewählten Bisherige. Das heisst, die meisten unserer «Volksvertreter» wurden nicht deshalb gewählt, weil das Volk sie aus seiner Mitte heraus ins Parlament delegieren wollte, sondern weil sie schon dort waren. Aus Macht der Gewohnheit der Wählenden wird Gewohnheit der Macht bei den Gewählten. Überhaupt von «Stellvertretern» des Volkes zu reden, ist irreführend. Die soeben Gewählten vertreten je nach Art der Zählung nur 10 bis 20 Prozent des Volkes; im Durchschnitt entfielen auf die Gewählten je rund 25 Prozent der abgegebenen Stimmen, das heisst 75 Prozent der von den Wählenden auf den Wahlzetteln angekreuzten Namen schafften es nicht ins Parlament. Wollte man statt der Personen- die Listenstimmen gelten lassen, läge die Quote zwar höher, doch allemal bezieht sie sich nicht auf die ganze Landesbevölkerung, sondern nur auf jene, die bei dieser Wahlveranstaltung dabei waren. Nicht dabei waren auch 2011 wiederum zwei Drittel, nämlich Ausländer, Minderjährige sowie jene, die sich aus anderen Gründen in Wahlabstinenz übten. 12

David Dürr ist Titularprofessor für Privatrecht und Rechtstheorie an der Universität Zürich und Rechtsanwalt in Basel.

Kommen wir zum Inhaltlichen. Mit dem Ernennen von Stellvertretern hatte diese Wahlveranstaltung nicht wirklich zu tun. Einen Stellvertreter ernennen heisst diesem Vollmacht mit inhaltlichen Instruktionen erteilen, heisst die Vollmacht auch wieder zurücknehmen und selbst zur Abstimmung gehen können. Doch die Bundesverfassung verbietet ausdrücklich jede Instruktion an Parlamentarier, und zur Abstimmung selbst ins Bundeshaus reisen kann der einzelne natürlich nicht; ganz abgesehen davon, dass er sich in diese «Stellvertreter» jeweils noch mit 30 000 anderen «Vertretenen» teilen muss. So etwas ist nicht Stellvertretung, sondern Zwangsdelegation mit unwiderruflicher Blankovollmacht, was uns gerade die Bundesratswahl einmal mehr vor Augen geführt hat. Aber jetzt kommt der eigentliche Coup: die allermeisten der in Bern produzierten Gesetzeserlasse stammen gar nicht von den Parlamentariern, sondern von der Regierung. Der grösste Teil aller Bundesvorschriften, die sogenannten Verordnungen, wird vom Bundesrat und seinen Departementen erlassen, ohne dass das Parlament sie auch nur zu Gesicht bekommt. Vors Parlament kommen bloss Bundesgesetze und Bundesbeschlüsse, doch auch sie sind weitestgehend Produkte der Regierung, werden sie doch zu mehr als 90 Prozent von ihr initiiert, alsdann von ihr und ihren Departementen textlich ausgearbeitet und schliesslich wieder von ihr in Kraft gesetzt. Dass diese Erlasse auch noch eine Schlaufe durchs Parlament einlegen, hat vorwiegend Ritualcharakter. Mehr als kosmetische Änderungen sind nicht die Regel, von den noch viel selteneren Schlaufen der Volksabstimmung – ganze 2 Prozent der geltenden Bundesgesetze – gar nicht zu reden. Also waren es doch nicht wir, die wir uns in der jüngstvergangenen Session diese Beschränkungen auferlegt, eine Landesregierung gewählt und höhere Kosten beschlossen haben. Das waren andere, ganz wenige, die uns all dies zugemutet haben. Und die nächste Session beginnt in drei Wochen. �


Schweizer Monat 993 Februar 2012  Karikatur

von Andreas Thiel

Das Finanzloch

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Das heutige Europa « ist auf dem Weg in die monetäre Planwirtschaft.» Frank Schäffler

«Die Euro-Gruppe wird nun endgültig zur Avantgarde der europäischen Einigung.» Wolfgang Clement


Schweizer Monat 993 Februar 2012  Debatte: D & EU

Europa kommt sich abhanden Deutsche Sicht I: Europa braucht nicht mehr EU in Brüssel, sondern mehr Freiheit für die Bürger. von Frank Schäffler & Norbert F. Tofall

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chon im Altertum bezeichnet der Geschichtsschreiber Strabo (63 v. Chr. bis 23 n. Chr.) in seiner 17bändigen «Geographie» Europa als vielgestaltig. Spätestens seit Karl dem Grossen ringt Europa mit der Einheit in der Vielfalt – das Ringen prägt die modernen Gesellschaften bis zum heutigen Tag. Vor diesem Hintergrund sind die derzeitigen Versuche zu sehen, einen europäischen Superstaat durch das Schüren der Angst vor einem Zusammenbruch des Finanzsystems und durch kollektiven Rechtsbruch der Europäischen Verträge zu gründen. Diese Versuche erinnern an die ebenfalls forcierte Gründung des Deutschen Reiches im Jahre 1871 durch Bismarcks Blut-und-Eisen-Politik. Und sie dürften, sollten sie von Erfolg gekrönt sein, ebenso katastrophale Folgen zeitigen. Bismarcks vormoderne Politikmethoden waren zwar aus machtpolitischer Sicht kurzfristig erfolgreich, widersprachen jedoch den Erfordernissen einer modernen Gesellschaft, welche die «Freiheit, Gleichheit und Selbständigkeit» (Immanuel Kant) der Bürger sichern sollte. Leider lässt sich heute wieder der gleiche Formatfehler der Politikmethoden beobachten. Aufgrund ihrer «Überforderung auf offener Bühne» (Peter Sloterdijk) fallen die Regierungen der führenden EU-Staaten bei der Bekämpfung der Überschuldungskrise von Staaten und Banken in vormoderne Politikmethoden zurück, die das Heil einzig in mehr Zentralisierung und politischem Zwang von oben sehen. Dabei vernachlässigen sie die europäische Freiheitsidee, die aus der bereits von Strabo reklamierten Vielgestaltigkeit Europas hervorgegangen ist. Die europäische Freiheitsidee beruht auf den folgenden fünf Pfeilern: 1. Ablehnung der Allein- und Fremdherrschaft; 2. Begrenzung und Kontrolle staatlicher Macht (politische Gewaltenteilung); 3. gesellschaftliche Gewaltenteilung zwischen Staat, Zivilgesellschaft, Wirtschaft, Religion usw. (gesellschaftliche Arbeitsteilung); 4. die Idee der individuellen Freiheit und 5. die Herrschaft des Rechts. Nur vor diesem Hintergrund lässt sich die Tragweite der gegenwärtigen Machenschaften in der EU begreifen. Es geht hier

Frank Schäffler ist Ökonom und Mitglied des Deutschen Bundestags für die FDP.

Norbert F. Tofall ist wissenschaftlicher Mitarbeiter von Frank Schäffler und war von 2004 bis 2011 Lehrbeauftragter der Europa-Universität Viadrina Frankfurt (Oder) für die ordnungspolitische Vorlesung «Recht und Freiheit in Europa».

um eine grundsätzliche Fragestellung – darum folgen erst einmal grundsätzliche Überlegungen. Aufgabe und Grenzen des Staates Die fünf Pfeiler haben zu unseren freiheitlichen Gemeinwesen geführt. Ausserhalb Europas bzw. des von europäischen Ideen inspirierten Westens neigt die Staaten- und Gesellschaftsbildung zur Despotie. Infolge der Verbindung von weltlicher und religiöser Gewalt und infolge der Unterwerfung aller gesellschaftlichen Teilbereiche unter den Primat der Politik bzw. des Staates konnte sich keine gesellschaftliche Gewaltenteilung entwickeln, die wirksam genug war, dem Staat Grenzen zu setzen und die Rechte der Bürger zu sichern. Für überzeugte Europäer gibt es deshalb keinen Primat der Politik, denn Politik und Staat haben Recht und Freiheit zu schützen. Für überzeugte Europäer gibt es vielmehr einen Primat von Recht und Freiheit. Recht und Freiheit müssen in allen gesellschaftlichen Teilbereichen gelten. Und das heisst: der freiheitlich-demokratische Staat muss Rechtsstaat sein. Die Wirtschaft muss Marktwirtschaft sein. Für die Religion gilt die Religions- und Gewissensfreiheit, für die Zivilgesellschaft Presse- und Redefreiheit und der Vorrang des Privatrechts vor dem öffentlichen Recht. Individuelle Freiheit heisst, dass alle Menschen in Europa unabhängig von der nötigenden Willkür durch andere Menschen leben und ihre Entscheidungen treffen können. Die individuelle Freiheit für alle Bürger eines Gemeinwesens kann nur durch die Herrschaft des Gesetzes (rule of law) geschützt werden. Allgemeine und abstrakte Regeln sorgen dafür, dass jeder Mensch – sei er Arbeiter oder Unternehmer, reich oder arm – nach der eigenen Fasson glücklich werden kann. Der Staat ist eine Vereinigung von Bürgern unter Rechtsgesetzen, durch die die gleiche Freiheit für alle hergestellt und gesichert wird. 15


Frank Sch채ffler, photographiert von Philipp Baer.

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Schweizer Monat 993 Februar 2012  Debatte: D & EU

Das Recht ist mit der Befugnis zur Anwendung von Zwang verbunden, und nur der demokratische Staat hat das Recht zur Ausübung von Zwang. Aber er hat es auch nur, um eine Verfassung von der grössten Freiheit zwischen Menschen zu errichten und zu sichern, nicht von der grössten Glückseligkeit und Wohlfahrt. Anders gesagt: es ist nicht seine Aufgabe, Glücks- und Wohlfahrtsvorstellungen per Gesetz – also per Zwang – durchzusetzen oder zu fördern. Er hat vielmehr lediglich dafür zu sorgen, dass die unterschiedlichen Glücks- und Wohlfahrtsvorstellungen der Was es braucht, ist eine Menschen nebeneinander bestehen können. Kein europaweite überparteiliche Mensch, keine Gruppe, Bewegung für ein Europa des keine noch so demokraRechts und der Freiheit. tisch gewählte Mehrheit haben deshalb das Recht, Menschen zu zwingen, auf eine bestimmte Art und Weise glücklich zu werden. Die Begrenzung der Macht des Staates verdankt sich nicht nur politischer Gewaltenteilung. Wirksam wird die Begrenzung erst durch die gesellschaftliche Gewaltenteilung oder gesellschaftliche Arbeitsteilung – die Sozialtheoretiker reden von «funktionaler Ausdifferenzierung» der Gesellschaft. Das heisst auch und vor allem: durch das freie, dezentrale und individuelle Handeln von Millionen von Menschen im Privatrechtsverkehr. Nur so kann verhindert werden, dass Politik und Staat despotische Formen annehmen. Es war das europäische Bürgertum, das in der Neuzeit durch dieses millionenfache dezentrale Handeln im Privatrechtsverkehr Schritt für Schritt die gesellschaftliche Gegenmacht zu einem potentiell allmächtigen Staat aufgebaut und eine Verfassung der Freiheit durchgesetzt hat. Deshalb stehen am Anfang der europäischen Einigungsbewegung nach dem Zweiten Weltkrieg die vier europäischen Grundfreiheiten in den Römischen Verträgen, der freie Verkehr von Waren, Personen, Dienstleistungen und Kapital. Vom Primat der europäischen Regierungen ist da nichts zu lesen. Das vereinte Europa ist von seinen Gründungsvätern als ein Hort der Freiheit gegen alle Formen von Machtkonzentration, Diktatur und Planwirtschaft erträumt worden. Das heutige Europa jedoch ist auf dem Weg in die monetäre Planwirtschaft und den politischen Zentralismus. Orwells Europa Die Gründungsväter Europas wollten ein Europa des Rechts und der Rechtsstaatlichkeit. Die heutigen Regierungen des EuroRaums, die EU-Kommission und die EZB verabreden sich hingegen zum kollektiven Rechtsbruch, obwohl die EU-Kommission als Hüterin der Verträge und die nationalen Regierungen zum Schutz des Rechts verpflichtet sind. Die freiheitliche Wirtschaftsverfassung Europas wird an einem Wochenende im Mai 2010 in Brüssel staatsstreichähnlich

ausser Kraft gesetzt, und unsere Staats- und Regierungschefs und die EU-Kommission verbreiten bis heute auf allen Kanälen die falsche Aussage: «Scheitert der Euro, dann scheitert Europa.» Dabei leugnen die EU-Sophisten, dass die europäische Freiheitsidee aus der Vielgestaltigkeit Europas hervorgegangen ist. In Wirklichkeit ist es gerade umgekehrt: werden die Grundpfeiler beschädigt, bricht die EU auseinander. Der von den Märkten, also von uns freien Bürgern, im millionenfachen dezentralen Privatrechtsverkehr ausgeübte Druck auf die Euro-Mitglieds-Staaten, ihre Staatshaushalte zu sanieren, wird von den europäischen Staats- und Regierungschefs als Bevormundung empfunden, die zu bekämpfen ist. Dabei verpflichten die Bürger durch freies Handeln auf dem Finanzmarkt ihre Regierungen bloss zu dem, wozu diese von Gesetzes wegen ohnehin verpflichtet wären. Dieser Beschränkung ihrer Macht treten die meisten Politiker für gewöhnlich entgegen, indem sie die Entscheidungen freier Bürger als Spekulation verantwortungsloser, geldgieriger Menschen darstellen: Währungsspekulation, die unbedingt unterbunden werden muss. Die Politik hat entschieden, dass es eine EU ohne Euro nicht geben kann, und diktiert, wie Bürger und Marktteilnehmer zu denken bzw. zu handeln haben. Kurz, sie arbeitet daran, die Begrenzung der staatlichen Macht durch gesellschaftliche Gewaltenteilung aufzuheben, nach dem Motto: Freiheit der Bürger ist Sklaverei für die Regierungen. Deshalb reden die Politiker in Form des Orwellschen Neusprech den Bürgern ein, dass ihre Freiheit Sklaverei sei, von der die europäischen Staats- und Regierungschefs die EU befreien müssten. Was ist zu tun? Was es braucht, ist eine europaweite überparteiliche Bewegung für ein Europa des Rechts und der Freiheit und gegen Zentralismus und Planwirtschaft, nicht top-down, sondern bottom-up. Erste Konturen von Protestbewegungen zeichnen sich ab, in Deutschland und anderswo. Überzeugte Europäer wachen auf und merken, dass sie den Bürokraten, Zentralisten und Planifikateuren in Brüssel und den nationalen Hauptstädten nicht das Parkett überlassen dürfen. Sie entlarven Sätze à la «Scheitert der Euro, dann scheitert Europa» oder «Wir brauchen mehr Europa» als pseudoeuropäischen Neusprech, der bloss darauf abzielt, den Regierungen der EU-Staaten mehr EU-Zentralismus und Macht einzuräumen. Den Euro-Rettungs-Europäern geht es nicht um die Rettung Europas. Diesen Leuten geht es um die Rettung der eigenen Macht und um die Aufhebung aller gesellschaftlichen Machtbegrenzungen für den Staat. Für überzeugte Europäer geht es nun darum, Menschen für die europäische Idee zu begeistern, ihnen Foren zu bieten, öffentlich für ihre Meinung einzutreten. Was es braucht, ist nichts weniger als eine neue europaweite Freiheitsbewegung. Reden wir nicht davon. Handeln wir. Jetzt. �

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Debatte: D & EU Schweizer Monat 993 Februar 2012

Und Europa bewegt sich doch Deutsche Sicht II: Die EU hat die Chance, an ihrer bisher grössten Krise zu genesen. von Wolfgang Clement

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er Traum von dem einen, einigen, einzigen, grenzenlosen Europa, in dem allerorten Frieden und Freiheit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, Wohlstand und soziale Sicherheit herrschen, geht nun schon seit Jahrzehnten auf dem alten Kontinent um. Heute lässt sich sagen: der Weg zu einer solchen Gemeinschaft erweist sich als viel länger und steiniger, als sich dies unsere Vorväter nach dem Zweiten Weltkrieg ausgemalt haben mögen. Der Weg begann ganz pragmatisch mit den Europäischen Verträgen für Kohle und Stahl von 1952 und erlebte seinen ersten Höhepunkt mit den Römischen Verträgen im Jahr 1957. Seither ging es zumeist nur in Trippelschritten voran. Ein grosser Wurf gelang erst wieder im Jahr 1992 mit dem «Vertrag über die politische Union», der 1992 in Maastricht unter der Federführung von Jacques Delors zustande In den nunmehr zwei kam und die Währungsunion gebar. Doch in den Jahrzehnten seit Maastricht ist der europäische Fortschritt nunmehr zwei Jahrzehnten seit Maastricht ist der euins Stolpern geraten. ropäische Fortschritt ins Stolpern geraten. An seinem Wegesrand liegen etliche enttäuschte Hoffnungen, verpasste Chancen und gebrochene Versprechen. Wer trotz dieses Ungemachs den Glauben an die europäische Zukunft noch nicht aufgegeben hat, der muss wohl ein unverbesserlicher Optimist sein! In der Tat: ich zähle mich zu ihnen. Tote Buchstaben… Der Leidensweg mit all seinen Irrungen und Wirrungen begann mit dem Stabilitäts- und Wachstumspakt von 1996. Der an sich richtige Gedanke bestand darin zu verhindern, dass sich die Mitgliedsländer des Euro-Währungsraums über alle Massen verschuldeten und dadurch ihren finanziellen Handlungsspielraum verringerten. Die konkreten Regeln, die dazu vereinbart wurden, blieben leider, wie wir heute wissen, tote Buchstaben. Von den Mitgliedstaaten der EU insgesamt, die die Höhe ihres jährlichen Haushaltsdefizits auf 3 Prozent ihres Bruttoinlandsprodukts (BIP) und den Stand ihrer öffentlichen Verschuldung auf 60 Prozent ihres BIP begrenzen müssten, haben inzwischen 25 (von 27) – darun18

Wolfgang Clement ist Publizist und Politiker. Er war unter der Regierung von Gerhard Schröder zwischen 2002 und 2005 Bundesminister für Wirtschaft und Arbeit (SPD) und hat sich jüngst wieder prononciert zu Fragen der EU geäussert.

ter auch Frankreich und Deutschland – die Paktkriterien verletzt. Noch unrühmlicher endete die sogenannte «Lissabon-Strategie», auf die sich im März 2000 die europäischen Staats- und Regierungschefs einigten. Die Strategie hatte zum Ziel, die EU innerhalb von zehn Jahren zum wettbewerbsfähigsten und dynamischsten Wirtschaftsraum der Welt zu machen. Europa solle zum «Vorbild für den wirtschaftlichen, sozialen und ökologischen Fortschritt in der Welt» werden, hiess es damals. «Wissensgesellschaft», «Innovation», «soziale Kohäsion» waren die Schlagworte. Schon vier Jahre später musste allerdings der frühere niederländische Ministerpräsident Wim Kok in einem Vergleich mit den USA feststellen, dass die EU Gefahr laufe, «ihr ehrgeiziges Ziel zu verfehlen» und sich als unfähig zu erweisen, «ein dauerhaftes Wirtschaftswachstum mit mehr und besseren Arbeitsplätzen und einem grösseren sozialen Zusammenhalt zu erzielen». Ein Jahr später verzichtete der Europäische Rat, nachdem sich der Wachstumsabstand zu den USA nicht nur nicht verringert, sondern sogar vergrössert hatte, wohlweislich auf jegliche weitere Zielvorgabe. Die Strategie war ebenfalls zu toten Buchstaben geronnen. Die grösste Enttäuschung war aber sicher das Scheitern des europäischen Verfassungsvertrages. Ende 2001 hatten die Staatsund Regierungschefs der EU mit der «Erklärung von Laeken zur Zukunft der Europäischen Union» einen «Konvent über die Zukunft Europas» einberufen. Er sollte die «Erfolgsgeschichte» der EU fortschreiben und nunmehr die politische Union weiterentwickeln. «Demokratisierung» und «Bürgernähe», «Entbürokratisierung» und «klare Zuständigkeitsregelungen innerhalb der EU» waren diesmal die Schlagworte. Der von dem Konvent aus Vertretern der Regierungen der Mitgliedstaaten, der Europäischen Kommission, der nationalen Parlamente und des Europaparlaments erarbeitete Entwurf des Verfassungsvertrages wurde im Jahr 2004 in Rom von den Staats- und Regierungschefs feierlich unterzeichnet. Er scheiterte jedoch an den anschliessenden Referenden in Frankreich und den Niederlanden.


MRB Wandelobligationen Fonds

Wandelanleihen performen besser als Aktien. Der MRB Wandelobligationen Fonds erzielte eine bessere Performance als der Durchschnitt seiner Peers und schlägt mittel- bis langfristig den Benchmark bei deutlich geringerem Risiko. Er investiert überwiegend in Wandelinstrumente, die auf die Währung eines OECD-Mitgliedstaates lauten. Der Fonds ist so ausgestaltet, dass er sich für dynamische Anleger empfiehlt, die auf Kapitalgewinne ausgerichtet sind, einen Anlagehorizont von mindestens drei Jahren aufweisen und die aufgrund ihrer Risikotoleranz bereit und in der Lage sind, vorübergehend auch erhebliche Verluste zu verkraften. (ISIN CH0024491646, Valor 2449164)

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Performance in EUR ■ MRB Wandelobligationen Fonds ■ UBS Convertible Global Index

Die dargestellte Performance lässt allfällige bei Zeichnung und Rücknahme von Anteilen

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ken sich 169 nachteilig auf die Performance aus. Sollte die Währung eines Finanzprodukts

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oder einer159 Finanzdienstleistung nicht mit Ihrer Referenzwährung übereinstimmen, kann

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149 aufgrund der Währungsschwankungen erhöhen oder verringern. Diese sich die Rendite

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139 berücksichtigen weder die spezifischen oder künftigen Anlageziele noch Informationen

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die steuerliche oder finanzielle Lage oder die individuellen Bedürfnisse des einzelnen

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Empfängers. Die Angaben in diesem Dokument werden ohne jegliche Garantie oder Zu-

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sicherung zur Verfügung gestellt, dienen ausschliesslich zu Informationszwecken und

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sind lediglich 89 zum persönlichen Gebrauch des Empfängers bestimmt.

erhobene Kommissionen und Kosten unberücksichtigt. Kommissionen und Kosten wir-

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MRB Vermögensverwaltungs AG Benno Bründler Tel +41 (0)44 210 4277 bb@mrbpartner.ch www.mrbpartner.ch

PMG Fonds Management AG Sihlstrasse 95, CH-8001 Zürich +41 (0)44 215 2838 www.pmg-fonds.ch

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Debatte: D & EU Schweizer Monat 993 Februar 2012

Was folgte, war der «Vertrag von Lissabon», ein völkerrechtlicher Vertrag aller Mitgliedstaaten der EU, der im Dezember 2009 in Kraft trat und eine komplizierte, für Laien, also die grosse Mehrheit der Bürger, kaum verständliche Minderausgabe des Verfassungsentwurfs darstellte. Wesentliche Elemente waren die Rechtsverbindlichkeit der Grundrechtecharta der EU, mehr Mitentscheidungsrechte des Europaparlaments und eine stärkere Beteiligung der nationalen Parlamente an der europäischen Rechtsetzung, das neue Amt des Präsidenten des Europäischen Rates und eines Hohen Vertreters für Aussen- und Sicherheitspolitik mitsamt eigenem Auswärtigen Dienst. Der Vertrag trat in Kraft, doch blieb seine Wirkung beschränkt – sozusagen halbtoter Buchstabe.

Maastricht 1992 beschriebenen Mängeln. Die Währungsunion war bis dato nicht mehr als ein zwischenstaatlicher Verbund mit einer gemeinsamen Währung und gemeinsamen Prinzipien, aber unzureichenden Mechanismen, diese auch durchzusetzen. Die nunmehr vorgesehene «Fiskal- und Stabilitätsunion» (Angela Merkel) ist inhaltlich eine Art «Maastricht plus» – leider ohne Grossbritannien. Sollte sich dieser Kontrakt jedoch bewähren, könnte daraus, wenn die Zeit gekommen ist, eine echte politische Europäische Union werden: mit der Kommission als Exekutive, dem Europaparlament als Legislative und dem Europäischen Rat als «zweiter Kammer». Doch dazu bedürfte es wohl nach allgemeinem Verfassungsverständnis einer neuen Legitimation, in Form von verbindlichen Volksbefragungen in allen Mitgliedstaaten der EU. Das ist die Per­ …erwachen zum Leben spektive, an die ich als Optimist glaube, auch wenn ihre RealisieDemgegenüber haben die globale Finanzkrise und die Ver- rungschance noch weit draussen vor der Tür liegt. schuldungskrise der EU-Staaten auf brutalstmögliche Weise entlarvt, wie mutlos, halbherzig und folglich unzulänglich all diese Die EU kann an ihrer Krise genesen Versuche waren, aus der EU eine echte, handlungsfähige, politiErst einmal muss der neue Vertrag für die Stabilitätsunion unsche Europäische Union zu machen. Allerdings haben die Reak­ terzeichnet werden. Diese nächste Stufe dürfte sich – auch wenn tionen der Märkte auch klargemacht, wo die wahren Mängel lie- dies einige durchaus kluge kritische Kommentatoren anders sehen gen und was zuvörderst geschehen muss, um sie zu beheben. Die – innerhalb des verfassungsrechtlich noch Begehbaren bewegen. Krise habe die Europäer «viel enger, als das jemals der Fall war, Dies bestätigte der bislang kritischste Geist des deutschen Bunzusammenrücken lassen», hat Kanzlerin Merkel gesagt. Und sie desverfassungsgerichts, Udo Di Fabio, zum Ende seiner richterlihat recht, jedenfalls was die deutsch-französische Zusammenar- chen Amtszeit in einem «Spiegel»-Gespräch mit dem lapidar klinbeit angeht. Der britische Partner hingegen scherte aus. Was be- genden Hinweis, dass «die europäische Entwicklung und der Zug deutet dies? zur Globalisierung (…) nun einmal eine exekutive Dominanz» Die Euro-Group wird nun endgültig zur Avantgarde der euro- habe. Die Bundesrepublik sei auch «kein abgeschlossener Staat, päischen Einigung. Die 17 Mitgliedstaaten – plus mindestens sechs sondern ein europäisch integrierter», der dem «Grundsatz der weitere willige EU-Partnerländer – wollen per völkerrechtlichen Europa-Freundlichkeit» verpflichtet sei. Deshalb müsse ein ParlaKontrakt (ausserhalb des ment, das sich per Zustimmungsgesetz verpflichtet habe, die EU-Vertragswerks) einlö- Maastrichter Stabilitätskriterien einzuhalten, sich auch hinter sen, was bei Einführung den neuen Pakt stellen – und «darauf gefasst sein, dass ein Ver­ Die Krise hat der EU des Euro in Aussicht ge- stoss nicht sanktionslos bleibt». stellt wurde: eine gemeinEuropa bewegt sich also doch! In den auffälligsten Krisenlän– so paradox es same, eng abgestimmte und dern der Euro-Region sind inzwischen neue Regierungen mit weitklingen mag – neues kontrollierte Wirtschafts-, reichenden Reformprogrammen am Werk. Wer hätte das vor Jahr Leben eingehaucht. Finanz- und Fiskalpolitik und Tag für möglich gehalten? Aber nur so ist das Übel der Staatsmit einer Sanktionsauto- verschuldung an der Wurzel zu fassen. Nun könnten sich auch die matik für zuwiderhan- – von manchen immer wieder kritisierten – 300 Milliarden Euro delnde Staaten, die bloss noch mit einer Zweidrittelmehrheit der der Brüsseler Struktur- und Kohäsionsfonds als segensreich erMitgliedstaaten ausgebremst werden könnte. Dazu kommen weisen. Solche Mittel zur Förderung von Innovations- und WachsSchuldenregeln im nationalen Recht und die mit Sanktionsmög- tumskräften und zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit (insbesonlichkeiten bewehrten europäischen Schuldenregeln, die dem Ziel dere der explodierenden Jugendarbeitslosigkeit) waren nie besser eines ausgeglichenen Haushalts in allen Mitgliedstaaten dienen, investiert als heute. was wiederum – auf Antrag der EU-Kommission oder eines MitEuropäer sein heisst für mich Optimist sein. Die EU hat eine gliedstaates – vom Europäischen Gerichtshof überprüft werden kann. reelle Chance, an ihrer bisher grössten Krise zu genesen. � Kann nun funktionieren, was zuvor am fehlenden Willen der EU-Staaten scheiterte? Ich denke: ja. Die Krise hat der EU – so paradox es klingen mag – neues Leben eingehaucht, aus den toten lebendige Buchstaben gemacht. Die Euro-Gruppe zieht damit die Konsequenz aus den entscheidenden, von Kritikern schon seit 20


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Ideen: mehr Markt Schweizer Monat 993 Februar 2012

Wider den politischen Heimatschutz Wer es in der Politik nach oben geschafft hat, kann es sich bequem machen. Konkurrenz im eigenen Land gibt es kaum. Quicklebendig werden Politiker erst, wenn sie sich auf einem internationalen Markt für gute Politik behaupten müssen. Doch wie soll dieser aussehen? von Reiner Eichenberger und Michael Funk

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olitikversagen ist systemisch: die Politik weicht oft stark von den Präferenzen der Bürger ab, weil Politiker auch eigene Interessen verfolgen; weil sich kleine Gruppen mit spezifischen Interessen besser organisieren können als grosse gesellschaftliche Gruppen wie Konsumenten und Steuerzahler; und weil die Kosten öffentlicher Leistungen oft nicht von den Nutzern getragen werden müssen. Das gilt trotz guter institutioneller Voraussetzungen auch für die Schweiz. Noch gewichtiger ist Politikversagen jedoch in vielen anderen europäischen Ländern und vor allem in den Schwellenund Entwicklungsländern. Eine der wirklich grossen Fragen für die Forschung ist also: wie kann Politikversagen vermindert und die gemachte Politik – im Sinne der Bevölkerung – verbessert werden? Die Qualität der Politik eines Landes hängt weniger davon ab, welche Parteien oder Politiker gerade an der Macht sind, als vielmehr von den politischen Institutionen. Sie prägen die Anreize der politischen Handlungsträger, im Sinne der Bevölkerung zu handeln, und haben direkten Einfluss auf Asymmetrien zwischen verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen. Welche politischen Institutionen aus dieser Sicht besonders fruchtbar sind, ist wohlbekannt: freie demokratische Wahlen, direkte Demokratie, Dezentralisierung mit echter lokaler Eigenverantwortung und entsprechenden fiskalischen Kompetenzen, automatische Kontrollmechanismen wie Schuldenbremsen, Wettbewerb zwischen der Regierung und un­ abhängigen volksgewählten Kontroll- und Kritikgremien sowie funktional statt territorial orientierte staatliche Körperschaften.1 Politikversagen zu kurieren verlangt also zumeist, dass Entscheidungskompetenzen dezentralisiert und näher hin zu den Bürgern verlagert werden, wobei Zusammenarbeit und Koordination zwischen Gebietskörperschaften und Ländern zuweilen auch ein kleineres oder grösseres Minimum an Zentralisierung bedingen. Diese einfachen Rezepte sind weltweit bekannt. Weshalb werden sie nicht umgesetzt? Einerseits laufen sie den Interessen einflussreicher Politiker zuwider, deren Spielraum durch mehr Dezentralisierung und Volkseinfluss nur eingeschränkt würde. Zudem drohen die empfohlenen demokratischen Institutionen 1 Zur Debatte über FOCJs siehe: Bruno S. Frey: Nonzentrale Welt. In: Schweizer Monat 989, 2011. S. 62. Lukas Rühli: Der Gegenvorschlag zur Utopie ist eine Utopie. In: Schweizer Monat 991, 2011. S. 14.

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Reiner Eichenberger ist ordentlicher Professor für Theorie der Wirtschafts- und Finanzpolitik an der Universität Fribourg sowie Forschungsdirektor von CREMA (Center of Research in Economics, Management, and the Arts).

Michael Funk ist wissenschaftlicher Mitarbeiter bei der Schweizerischen Wett­bewerbs­ kommission (WEKO). Er war Assistent an der Universität Fribourg und wurde mit einer Arbeit auf dem Gebiet der Deregulierung der Politik promoviert.

gerade auch durch grenzüberschreitende Zusammenarbeit und Politikkoordination ausgehöhlt zu werden. Viele Menschen sehen die Lösung des Dilemmas in einer Weltregierung. Ein monopolistisches Ungetüm also, das selbst zu Machtmissbrauch neigen würde und gerade keine Anreize hätte, die erforderlichen Reformen umzusetzen. Hier wird deshalb ein anderer Ansatz vertreten, der eine viel fruchtbarere Form der Globalisierung der Politik und das eigentliche Gegenteil einer Weltregierung bringt: wir sollten einen «internationalen Markt für gute Politik» schaffen. Ursache heutigen Politikversagens Was Anbieter dazu bringt, im Interesse von Nachfragern zu handeln, ist aus dem wirtschaftlichen Bereich wohlbekannt: Märkte müssen geöffnet, Produktionsprozesse dereguliert und Preise freigegeben werden. Im Gegensatz dazu herrschen im politischen Bereich Protektionismus, Überregulierung und Preisvorschriften: Protektionismus. Kandidaten für nationale und lokale Ämter müssen Inländer sein und zumeist in ihren Wahlkreisen und Gebietskörperschaften wohnen. So werden die einheimischen Bewerber vor der Konkurrenz durch auswärtige Politiker geschützt. Auswärtige Bewerber müssten zuerst ihre bisherigen Ämter aufgeben und umziehen, bevor sie kandidieren dürfen. Was so viel Marktschutz bedeutet, zeigt eine Analogieüberlegung: Wie erginge es wohl privaten Unternehmungen, die nur noch oberste Kader und Verwaltungsräte anstellen dürften, die schon bei ihrer Bewerbung vor Ort wohnen? Überregulierung. Wählbar sind nur natürliche Personen, die in der Regel ausschliesslich von politischen Parteien aufgestellt werden dürfen. Das Wahlverbot für juristische Personen wie Politikberatungs-, Menschenrechts- und Umweltorganisationen


Bild: Urs Keller / Ex-Press

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Ideen: mehr Markt Schweizer Monat 993 Februar 2012

zwingt viele Wähler, ihnen unbekannte Menschen zu wählen, die kaum wirksam auf das Parteiprogramm verpflichtet werden können. Preisvorschriften. Die expliziten staatlichen Entschädigungen für die Inhaber politischer Ämter sind gesetzlich festgelegt. Oft sind sie so tief, dass die Politiker auf implizite Entschädigungen durch Interessengruppen angewiesen sind. Doch die verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen verfügen über unterschiedliche Ressourcen und Fähigkeiten, solche implizite Entschädigungen anzubieten. Zudem finden ortsansässige Politiker leichter Zugang zu den Kanälen von impliziten Entschädigungen – etwa bei der Einzonung ihres Landes oder Auftragsvergaben an ihnen nahestehende Firmen – als auswärtige Politiker, die keine materiellen Bindungen in der betreffenden politischen Körperschaft besitzen. Tiefe explizite Politikerlöhne schrecken deshalb auswärtige Konkurrenz ab. Das Reformprogramm: ein Federstrich Das Reformprogramm ist denkbar einfach. Es besteht darin, die bisherigen nachteiligen Regulierungen aufzuheben. Am wichtigsten ist, dass neu Auswärtige und Ausländer alle politischen Ämter bekleiden dürfen. Sie müssen für die neuen Ämter kandidieren können, ohne vorher ihren Wohnsitz zu verlegen, so dass aktive Politiker aus einer Körperschaft in anderen Körperschaften kandidieren können, ohne ihre bisherigen Ämter aufzugeben. Diese Reform verlangt keinerlei Investitionen oder aufwendige Neuordnungen von Verwaltungseinheiten. Eigentlich verlangt sie nur einen Federstrich durch die Nationalitäts- und Wohnsitzvorgaben. Die Anreize und Möglichkeiten auswärtiger sowie einheimischer Politiker, überhaupt in den politischen Markt eines Landes einzutreten, können gestärkt werden, indem auch juristische Personen direkt für politische Ämter kandidieren dürfen und die expliziten staatlichen Entschädigungen von Politikern so gestaltet sind, dass die Ämter auch ohne implizite Entschädigungen attraktiv sind und somit auch auswärtige Kandidaten anziehen. Dank dieser Dynamik entsteht ein offener Markt für gute Politik, in dem auswärtige und einheimische Politikanbieter gleichberechtigt konkurrieren, erfolgreiche Politikanbieter in andere Gebietskörperschaften expandieren, die gewählten juristischen Personen für die gewonnenen Mandate natürliche Personen delegieren und austauschen oder auch internationale Politikberatungs-, Menschenrechts- und Umweltorganisationen direkt als Politikanbieter auftreten können. Die Deregulierung der Politik setzt nicht auf Revolution, sondern auf Evolution. Sie schafft nur neue Möglichkeiten. Selbstverständlich dürfen natürliche Personen und Inländer weiterhin kandidieren. Die bisherige Verfassung bleibt in Kraft und ist auch für auswärtige Politikanbieter verbindlich. Wer profitiert? Die Bürger! Würde ein internationaler Markt für gute Politik geschaffen, profitierten Bürger in vielfältiger Weise. Erstens nähmen die Anreize der Politikanbieter zu, Massnahmen durchzusetzen, die bisher nicht in ihrem Interesse lagen, 24

konkret: die eingangs empfohlenen institutionellen Reformen zu unterstützen, ernsthaft für einen sparsamen Umgang mit den knappen finanziellen Mitteln einzutreten und die Steuern zu senken. In einem offenen Markt können sie zum einen eine Reputation für bürgerorientierte Politik aufbauen, die es ihnen erlaubt, auch in anderen Gebietskörperschaften oder Ländern erfolgreich zu kandidieren. Zum anderen hätten sie die Möglichkeit, durch einen Ortswechsel den für sie allfällig unangenehmen Konsequenzen ihrer bürgerorientierten Reformen auszuweichen. So können sie Ausgaben- und Besteuerungskompetenzen dezentralisieren, direkte Demokratie einführen oder radikale Sparmassnahmen durchsetzen, ohne dann selbst unter der Macht- und Budgetbeschränkung für Politiker leiden zu müssen. Zweitens wird der politische Wettbewerb intensiviert. Die Kandidatenauswahl und der Wettbewerbsdruck wachsen und treiben einheimische Anbieter zu besseren Leistungen an. Während heute der Marktneueintritt den aufwendigen Aufbau neuer lokaler Parteistrukturen verlangt, können in einem deregulierten Markt auswärtige politische Anbieter in neue Märkte expandieren. Dies fördert den Wissenstransfer und senkt die Reaktionszeiten. Neue gesellschaftliche Probleme und unbefriedigte Wählerbedürfnisse können schneller aufgegriffen werden. Drittens nehmen die Anreize der Politiker zu, in ihrem Spezialgebiet grosse Sachkompetenz zu erwerben. In geschlossenen Märkten können erfolgreiche Politiker nur auf die nächsthöhere politische Ebene streben. So werden Bürgermeister oft in nationale Parlamente gewählt, wo dann aber ganz andere Kompetenzen zählen. In offenen Märkten hingegen können erfolgreiche Bürgermeister kleinerer Städte in grösseren Städten und dann in Grossstädten im In- und Ausland kandidieren. Deshalb lohnt es sich für sie viel mehr, den «Beruf» des Bürgermeisters wirklich zu erlernen und in berufsspezifisches Humankapital zu investieren. Das zeigt sich auch im weltweit einzigartigen offenen Markt für Bürgermeister in Deutschland und insbesondere Baden-Württemberg. Dort kann jeder Deutsche ohne lokalen Wohnsitz als Bürgermeister kandidieren. Der Wahlerfolg auswärtiger Kandidaten ist überwältigend. Ihre Chancen steigern sie nicht nur mit guter Arbeit in anderen Gemeinden, sondern auch indem sie spezialisierte Bürgermeisterschulen und -lehrgänge besuchen. Viertens lohnt es sich in offenen politischen Märkten viel weniger als in geschlossenen, politische Gegner vorsätzlich durch negative Wahlkampagnen, Rufmord oder gar Anschläge auf Leib und Leben zu schädigen. Denn freigewordene Plätze würden schnell durch neue auswärtige Kandidaten wiederbesetzt. In offenen Märkten profilieren sich die Kandidaten deshalb vor allem durch eigene gute Leistungen. Fünftens werden die Unterschiede im Einfluss der verschiedenen Interessengruppen kleiner. Schwach organisierte Gruppen leiden darunter, dass sie ihren Mitgliedern weniger gute Informationen über das Verhalten der Kandidaten liefern können und weniger Ressourcen aufbringen können, um die Kandidaten zu beeinflussen. Beides wird in offenen Märkten unwichtiger. Für die


Schweizer Monat 993 Februar 2012  Ideen: mehr Markt

Bürger wird es einfacher sein, die zukünftige Politik eines Kandidaten zu prognostizieren, weil sie seine bisherige politische Arbeit beobachten können und die Kandidaten stärkere Anreize haben, sich an ihre Wahlversprechen zu halten. Die Asymmetrie hinsichtlich verfügbarer Ressourcen nimmt ab, weil die Bürger die Vergabe der expliziten Entschädigungen mit ihrer Stimme direkt beeinflussen können und zudem diese expliziten Entschädigungen bisherige implizite Bezahlungen verdrängen. In einem offenen Markt, der hohe explizite Entschädigungen bietet, lohnt es sich für die Politikanbieter, sich auf die Maximierung dieser expliziten Entschädigungen zu spezialisieren und eine Reputation für Unabhängigkeit aufzubauen. Auch steigen mit höheren expliziten Entschädigungen die Kosten eines Amtsverlustes und damit die Anreize der Politiker, die Präferenzen der Bürger zu berücksichtigen. Letztlich stärkt die Intensivierung des politischen Wettbewerbs auch die Anreize der Politikanbieter, die ungebührliche Annahme impliziter Entschädigungen durch andere aufzudecken. Sechstens können Politikanbieter dank Direktkandidatur und Delegationsmöglichkeiten zentraler organisiert sein. So können sie glaubwürdigere Politikangebote machen als herkömmliche Parteien, die zumeist stark dezentralisiert und deshalb auch sehr heterogen sind. Siebtens wird die Qualität und Ernsthaftigkeit des politischen Diskurses gefördert. Solange die Wahlversprechen unglaubwürdig sind, verhalten sich die Wähler an der Urne oberflächlich und übermässig emotional. Erst wenn die Alternativen konkret und glaubwürdig sind, entsteht eine ernsthafte, sachliche Diskussion über die Politikwirkungen, und erst dann verhalten sich die Wähler zielgerichtet und vernünftig. Unbegründete Vorbehalte Die vorgeschlagene Marktöffnung ist auf alle staatlichen Ämter anwendbar, also auf die Legislative, Exekutive und Judikative, auf alle staatlichen Ebenen von den Gemeinden bis zur Zentralregierung und auch auf unabhängige Institutionen wie die Zentralbanken. Internationale Anbieter dürften sich insbesondere auf den Ausbau der demokratischen Institutionen spezialisieren. Während es sich für Politiker in geschlossenen Märkten oft lohnt, demokratische Institutionen zu missbrauchen und zu ihren Gunsten umzugestalten, haben international aktive Politikanbieter dank dem Reputationsmechanismus allen Grund, sie nachhaltig zu stärken. Natürlich gibt es gegen den Vorschlag naheliegende Einwände. Unsere gemeinsame Forschung hat jedoch gezeigt, dass solche unbegründet sind.2 So gibt es vielerlei und gute Evidenz, dass die Bürger sehr wohl Ausländer wählen, sobald es ihnen vorteilhaft erscheint. Ein Beispiel sind die Institutionen der EU: in allen Beitrittsländern hat sich die Bevölkerung dafür entschieden, dass in Zukunft nicht mehr ihre eigenen, sondern mehrheitlich ausländische Politiker «aus Brüssel» das wichtigste Wort haben. Ein besonders interessantes Beispiel ist auch das Zeitalter der Podesta im Italien des 12. und 13. Jahrhunderts. Da haben die damals unabhängigen Stadtstaaten ganz systematisch das Regie-

rungshaupt – den Podesta – aus anderen Staaten rekrutiert, um so die schrecklichen internen Machtkämpfe zu vermeiden. Das System erwies sich als überaus erfolgreich und legte die Grundlage für ein unvergleichliches Aufblühen Italiens während dieser Zeit. Auch der Einwand, schon in der Wirtschaft würden internationale Firmen regelmässig die Gesetze brechen und in der Politik wäre es nicht anders, ist verkehrt: verglichen mit den inländischen Firmen in Entwicklungsländern halten sich internationale Firmen viel besser an gute internationale Standards, genau weil sie um den Verlust ihrer Reputation fürchten. Wenn offene politische Märkte so gute Resultate bringen, stellt sich die Frage, warum sie sich bisher so selten entwickelt haben. Erstens ist es natürlich nicht im Interesse vieler bisheriger Politiker, den politischen Wettbewerb zu stärken. Zweitens lohnt sich für ein einzelnes Land die einseitige Marktöffnung wenig. Denn es geht ja nicht darum, einfach ausländische Politiker zu importieren. Es gibt gute Evidenz, dass die Vielmehr müssen die eigenen Politiker und Parteien Bürger sehr wohl Ausländer in anderen politischen wählen, sobald es ihnen Einheiten kandidieren vorteilhaft erscheint. können, so dass sich ihre Anreize ändern. Deshalb wäre es sinnvoll, das System gegenseitig in einem internationalen Abkommen zu vereinbaren. Naheliegend wäre als Anfang eine Öffnung der heute in den meisten Bereichen völlig durchregulierten Binnenmärkte in föderalistischen Ländern wie der Schweiz, den USA oder Kanada, und insbesondere eine Öffnung innerhalb der EU. Dort wäre der «freie Politikerverkehr» lediglich die konsequente Fortsetzung der vier wirtschaftlichen Freiheiten. Schliesslich wäre es auch vorstellbar, dass dereinst die UNO oder die USA bei internationalen Einsätzen wie etwa in Kosovo, Afghanistan oder im Irak nicht nur ausländische Zwangsverwalter einsetzen oder Wahlen mit ausschliesslich inländischer Beteiligung befehlen, sondern die Deregulierung der Politik durchsetzen und der geschundenen Bevölkerung erlauben, glaubwürdige auswärtige Politiker zu wählen. Trotz der genannten Hindernisse sind wir zuversichtlich, dass sich bis in vielleicht dreissig Jahren ein voll funktionsfähiger internationaler Markt für gute Politik entwickelt, der den heutigen protektionistischen nationalen Politikmärkten und einer Weltregierung weit überlegen ist. Nationalitäts- und Wohnsitzvorgaben streichen, juristische Personen zulassen sowie die Politiker offen und anständig bezahlen: das ist ein denkbar einfaches, unaufwendiges und risikoloses Reformprogramm. � 2 Reiner Eichenberger / Michael Funk: The deregulation of the political process: Towards an international market for good politics. In: Geoffrey Brennan / Giuseppe Eusepi (Hrsg.): The Economics of Ethics and the Ethics of Economics: Values, Markets and the State. Cheltenham: Elgar, 2009. S. 131–144. Der Artikel ist verfügbar auf www.unifr.ch/finwiss

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Schweizer Monat 993 Februar 2012  Essay: freies Denken

Endlich Andersdenker Jeder ist frei zu denken, was er will. Aber darf er auch sagen, was er denkt? Und wenn er es nicht mehr sagen darf, kann er dann noch frei denken? Plädoyer für mehr kritischen Geist in Zeiten des Konformismus. von Norbert Bolz

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ie Diskussion über Freiheit und soziale Ordnung wird in den immergleichen mentalen Bahnen geführt. Wer sie verlässt, gelangt zu unbequemen Einsichten, die heute die vielen Empörungsbereiten sogleich in Rage treiben, obwohl sie eigentlich ziemlich trivial sind. Zum Beispiel: eine angeblich freie Gesellschaft kann totalitäre Züge aufweisen. Eine Demokratie kann freiheitsfeindlich sein. Die demokratische Verfasstheit des Staates ist keine Garantie für die persönlichen Freiheiten – dazu braucht es mehr, mehr auch als einen ergänzenden Rechtsstaat. Es braucht kritischen Geist, mündige Bürger, echte Öffentlichkeit, das heisst: eine echte öffentliche Debattenkultur, die abweichende Meinungen nicht ächtet, sondern achtet. Es ist frappant: die demokratische Idee der politischen Partizipation entfaltet in modernen Demokratien eine eigenartige Suggestivkraft, die den Konformismus fördert statt hemmt. Die Demokratie Die Gesellschaft selbst ist bietet dem Bürger die Per­ der despotischste Tyrann über spektive einer «Beteiligung» an der Macht an – die Individuen, aus denen woraus viele folgern, dass sie sich zusammensetzt. a) die herrschende staatliche Ordnung, wie sie nun mal ist, partout hinzunehmen sei und dass b) durch die «Beteiligung» das Phänomen der Macht bzw. der Herrschaft (der einen über die anderen) wie von Zauberhand verschwinde. Beides ist falsch, und beides führt zu geistiger Anpassung, zu dem, was Alexis de Tocqueville den demokratischen «Höflingsgeist» genannt hat. So tritt an die Stelle des kritischen einzelnen der teilnehmende, konforme Untertan. Dabei wäre intellektuelle Dissidenz der Kerngehalt der Demokratie. Auch die Gesellschaft kann ein Tyrann sein Die spezifisch moderne Gefahr für die Freiheit liegt in der Tyrannei des Kollektivs im Namen der herrschenden öffentlichen Meinung. Dass gerade die Massendemokratie unaufhaltsam zur Tyrannei der anderen treibt, haben Alexis de Tocqueville und John Stuart Mill schon im 19. Jahrhundert klar erkannt und beschrieben – nur sind ihre scharfen, unbequemen Analysen in Vergessenheit

Norbert Bolz ist Professor für Medienwissenschaften an der Technischen Universität Berlin und Autor u.a. von «Die ungeliebte Freiheit» (2010) und «Das Abc der Medien» (2007).

geraten. Wenn das Volk herrscht, kümmert sich jeder um die Angelegenheiten eines jeden, stets unter Berufung auf die mutmassliche Meinung der Mehrheit. Man könnte auch sagen: die Gesellschaft selbst ist der despotischste Tyrann über die Individuen, aus denen sie sich zusammensetzt. Die Tyrannei der Kollektivs etabliert allgemein geteilte Meinungen und Gefühle und ahndet Dissidenz mit sozialem Ausschluss und intellektueller Ächtung. Die Passage über das «Silencing», das Zum-Schweigen-Bringen der abweichenden Meinung, gehört zu den grossartigsten und aktuellsten Stellen in Mills Essay «Über die Freiheit» (1859). Sein Standpunkt ist von bewundernswerter Klarheit: auch die Immoralität einer Meinung ist kein Grund dafür, ihr Bekenntnis und ihre Diskussion zu beschneiden. Auch wenn nur ein einziger eine abweichende Meinung hat, gibt das der überwältigenden Mehrheit nicht das Recht, ihn zum Schweigen zu bringen. In einer Welt der durch die Tyrannei der öffentlichen Meinung befestigten, massenmedial animierten Mittelmässigkeit ist das Wagnis der Abweichung die eigentliche heroische Tat. Ein Beispiel des Nonkonformismus abzugeben, ist deshalb für Mill der grösste Dienst, den ein einzelner der Gesellschaft erweisen kann. Die Tyrannei der Mehrheit führt dazu, dass einige stets zu wissen meinen, was das Beste für die anderen sei. Sie wollen die anderen auf dem Weg des Gesetzes, also demokratisch legitimiert, zu einem bestimmten Verhalten zwingen, nur weil es besser für sie wäre – zum Beispiel nicht zu rauchen oder Diät zu halten. Der Paternalismus erscheint denen gerechtfertigt, die glauben, dass man die Menschen vor der eigenen Willensschwäche schützen müsse. Dieser Gedanke, dass Selbstverantwortung für die Gesellschaft und den einzelnen selbst unzuträglich sei und durch eine beschränkte Wahlfreiheit für Inkompetente ersetzt werden müsse, hat neuerdings einen netten Namen bekommen: «Nudge». Das ist der Titel eines Buches von Richard Thaler und Cass Sunstein – zu Deutsch etwa: der Schubser in die richtige Richtung des aufgeklär27


Essay: freies Denken Schweizer Monat 993 Februar 2012

ten Verhaltens. Im Klartext geht es um eine Art Sozialvormundschaft im Namen der Mündigkeit. Wenn es um Gesundheit, Bildung und Altersvorsorge geht, hilft es nach Ansicht der neuen Paternalisten den Menschen nicht, wenn man ihnen eine Fülle von Wahlmöglichkeiten anbietet. Je komplexer die Lage, desto wichtiger das Sozialdesign, das die Bürger und Kunden in die richtige Richtung schubst. Andere tun für mich, was ich selbst tun würde, wenn ich bei klarem Verstand wäre. Die modernen Paternalisten gehen also davon aus, dass einige den legitimen Auftrag haben, das Verhalten anderer Leute so zu beeinflussen, dass diese länger, gesünder und besser leben. Konkret sieht das so aus, dass ein allgemeiner Konsens mit dem herrschenden Verhalten unterstellt wird und jedes abweichende Verhalten ausdrücklich deklariert werden muss: ich will nicht teilnehmen am vernünftigen Leben der Guten. Das Glück wird als universalisierbarer Wert verstanden, und deshalb kann sich die positive Wohlfahrtspolitik als Entwicklungshilfe eines sich selbst bestimmenden einzelnen begreifen. Das ist eine schöne Paradoxie: der Staat betreibt Mitbestimmung bei der Selbstbestimmung des einzelnen. So wird Politik zum Glückszwangsangebot. Faulheit und Feigheit dominieren In der Heldenzeit der Aufklärung war das moderne Problem der sozialen Tyrannei durch den Druck der öffentlichen Meinung noch nicht so deutlich erkennbar. Das Recht auf Meinungsfreiheit

und Redefreiheit stellt ja gerade die abweichende Meinung, den Dissens ins Zentrum der Freiheitsidee. Entscheidend ist dabei, dass ich mit meiner abweichenden Meinung zwar zu einer Minderheit gehöre – aber eben nur auf Zeit. Meine abweichende Meinung macht mich noch nicht zum Angehörigen einer kulturellen oder sozialen Minorität. Wer eine Minderheitenmeinung vertritt, gehört damit noch nicht permanent zur Minderheit. Erstaunlich – und symptomatisch – ist in diesem Zusammenhang eine begriffliche Neuprägung von Jürgen Habermas. Er hat im Blick auf den Medienkonsum von einem «Autopaternalismus» gesprochen. Wer sich eine eigene Meinung bildet, entscheidet sich nicht auf einem Markt der Informationen nach eigenen Vorlieben, sondern er setzt sich «einem Lernprozess mit unbestimmtem Ausgang» aus. Und hier habe der Staat die Aufgabe, die geistige Energieversorgung der Gesellschaft sicherzustellen. Einflussreiche Leute, wie eben beispielsweise Jürgen Habermas, können dabei starke Signale für angemessenes Verhalten setzen. In der bürgerlichen Diskussion löse sich Herrschaft selbst auf, und zwar in einem «leichtfüssigen Zwang, der nur mehr in der zwingenden Einsicht einer öffentlichen Meinung sich durchsetzt». Wer von diesem Zwang gezwungen wird, seine abweichende Meinung preiszugeben, werde ihn im nachhinein als Befreiung begrüssen. Wobei zu ergänzen wäre: und wer sich dennoch lernunwillig zeigt, kommt an den Medienpranger. So bildet sich in der Tat die öffentliche Meinung.

«Auch wenn nur ein einziger eine abweichende Meinung hat, gibt das der überwältigenden Mehrheit nicht das Recht, ihn zum Schweigen zu bringen.» Norbert Bolz

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Schweizer Monat 993 Februar 2012  Essay: freies Denken

In ihr dominieren «Faulheit» und «Feigheit» – für Immanuel Kant das zentrale Problem jeder Aufklärung. Unmündigkeit ist keine Frage mangelnder Intelligenz, sondern mangelnden Mutes. Es geht um den Mut zur Mündigkeit, den das schöne deutsche Wort «beherzt» meint. Dabei geht es Kant nicht primär um den Mut dessen, der gegen Zensur und Verfolgung an der eigenen Überzeugung festhält, sondern um den Mut des Selbstdenkens überhaupt. Aufklärung kämpft gegen die Versuchung, aus Bequemlichkeit andere für sich denken und entscheiden zu lassen. Wenn die Unmündigkeit aber erst einmal zur zweiten Natur geworden ist und die Menschen sie sogar liebgewonnen haben, wird es für die Aufklärung schwierig, überhaupt noch einen Ansatzpunkt für freies Denken zu finden. Die Leute empfinden den Gängelwagen des Paternalismus und die Fussschellen der Unmündigkeit nicht mehr als bedrängende Unfreiheit, sondern als Sicherheit und Bequemlichkeit. Oder zugespitzt formuliert: wenn die öffentliche Meinung in einer Massendemokratie gesprochen hat, bringt kaum mehr jemand den Mut zum Widerspruch auf. Ihr Druck ist so gross, dass gesetzlicher Zwang vielfach überflüssig wird. Und so breitet sich ein ewiger Friede des Intellekts aus. Auf den entscheidenden Grund für diese Verdunkelung der aufgeklärten Welt stossen wir in Alexis de Tocquevilles Darstellung der Versklavung des demokratischen Lebens durch die Tyrannei der öffentlichen Meinung. Er beschreibt in seinen beiden Bänden «Über die Demokratie in Amerika» (1835/1840), dass es in modernen Massendemokratien nicht um Argumente und Überzeugung gehe, sondern dass die öffentliche Meinung einen prägenden geistigen Konformitätsdruck ausübe. «Die Mehrheit», heisst es bei Tocqueville, «zieht einen drohenden Kreis um das Denken. Innerhalb dieser Grenzen ist der Schriftsteller frei; aber wehe, wenn er sie zu überschreiten wagt!» Massendemokratische Gesellschaften werden durch die Furcht vor der Meinung der anderen zusammengehalten. Je weniger sich die Meinungen der einzelnen in der massendemokratischen Öffentlichkeit zur Geltung bringen können, desto stärker wird der Druck der öffentlichen Meinung auf den einzelnen und sein Meinen. Man fürchtet nicht, eine falsche Meinung zu haben, sondern mit ihr allein zu stehen. Die Isolationsangst regiert die moderne Welt. Das grosse Totschweigen Die moderne Gesellschaft produziert, indem sie kommuniziert, immer auch Schweigen. Sie schliesst aus, was nicht anschlussfähig ist. Das Grundkonzept der aktuellen Schweigespirale, die Fortführung und Vervollkommnung von Mills «Silencing», lässt sich einfach darstellen. Wer den Zorn der anderen fürchtet, schliesst sich leicht der Meinung der angeblichen Mehrheit an, auch wenn er es eigentlich besser weiss. Er bringt sich selbst zum Schweigen, um seinen guten Ruf nicht aufs Spiel zu setzen. Man glaubt, was andere glauben, weil sie es glauben. Und wer zu einem Thema bisher eine andere Meinung hatte, kann sie ohne Gesichtsverlust ändern, wenn und solange er anonym bleibt, also schweigt.

Man beobachtet deshalb ständig, wie die anderen die Welt beobachten, und dadurch wird in jedem von uns ein quasistatistischer Sinn trainiert, mit dem man Beobachtungen über die Meinung der anderen anstellen kann: was man so sagt. Doch was man so sagt, stellt in Demokratien – und das ist entscheidend – zumeist die Meinung gut artikulierter Minderheiten dar. Niemand kann wissen, ob eine Meinungsäusserung der Ausdruck eines unabhängigen Urteils, einer Informationskaskade oder der Selbstzensur ist. Je besser die Massenmedien und die kämpferischen Minderheiten die öffentliche Meinung organisieren, desto wahrscheinlicher wird es, dass sich die meisten Menschen in ihrem Urteil über die Meinung der meisten Menschen irren. Dieser Irrtum potenziert sich dann in der öffentlichen Meinung über die öffentliche Meinung. Und deshalb bestätigt sich immer wieder das Gesetz der «Pluralistic Ignorance», das Elisabeth Noelle-Neumann so formuliert hat: «Die Bevölkerung täuscht sich über die Bevölkerung.» Öffentliche Meinung ist also nicht das, was die Leute meinen, sondern das, was die Leute meinen, «was die Leute meinen». Und die Massenmedien informieren uns vor allem darüber, dass die meisten der gleichen Meinung sind. Der Staat profiliert sich als Verführer, das heisst als Designer der Gefühle, Hauptkunde der Marktforschung und Warenanbieter auf dem Markt der öffentlichen Meinung. Das erklärt die Schlüsselrolle der Demoskopie in der modernen Demokratie. Die Demoskopie hilft den Leuten, ihre Wahl zu treffen, denn dazu müssen die Leute wissen, wie die anderen wählen; und sie hilft den Politikern, sich im Wahlkampf zu profilieren, denn dazu müssen die Politiker wissen, was die Leute hören möchten. Die Bedeutsamkeit der Demoskopie für die Demokratie erklärt sich zum einen sozialpsychologisch aus der Befriedigung, befragt zu werden, zum andern aus der Selbstbezüglichkeit der Meinungsumfragen. Das reine Dass der Befragung ist wichtiger als das Was. Meinungsumfragen produzieren Bedeutsamkeit für Themen, und der Befragte schliesst vom Faktum der Befragung auf die Bedeutsamkeit des Themas. So werden die Wähler schliesslich zu Zuschauern ihres eigenen vorausgesagten Verhaltens. In der Mediendemokratie werden die Menschen durch eine Sprache versklavt, die als die unwiderrufliche Sprache der Mehrheit auftritt, in Wahrheit aber von gut organisierten Minderheiten lanciert wird. Die öffentliche Meinung verhilft also immer häufiger nicht der Mehrheit, sondern der Orthodoxie zum Ausdruck. Diese Orthodoxie ist nichts anderes als das, was heute unter dem Begriff der politischen Korrektheit kursiert. Abweichende Meinung kritisieren statt verurteilen Der politischen Korrektheit geht es nicht darum, eine abweichende Meinung als falsch zu erweisen, sondern den abweichend Meinenden als unmoralisch zu verurteilen. Die beste Definition der politischen Korrektheit findet sich avant la lettre in Thomas Manns «Betrachtungen eines Unpolitischen: «die Auferstehung der Tugend in politischer Gestalt, das Wieder-möglich-Werden ei29


Essay: freies Denken Schweizer Monat 993 Februar 2012

nes Moralbonzentums sentimental-terroristisch-republikanischer Prägung, mit einem Worte: die Renaissance des Jakobiners». Den einzigen Begriff von Freiheit, den die politische Korrektheit akzeptieren kann, ist der Rousseausche. Nur wer moralisch gut ist, gilt auch als frei. Der politische Gegner ist dabei stets moralisch korrupt; deshalb muss man ihn mit Gewalt zu seinem wahren Willen befreien. Und wenn die Mehrheit der Bevölkerung korrupt ist, hat die tugendhafte Minorität das Recht zu einem «Despotismus der Freiheit». Man verwehrt dem einzelnen sein Recht auf Diskriminierung, zum Beispiel auf den freien Gebrauch des Eigentums, masst sich aber ganz selbstverständlich das Recht an, Gruppen zu diskriminieren, um die Diskriminierung anderer Gruppen zu bekämpfen. Es stellt sich die Frage, warum die politische Korrektheit sich so nahtlos in eine moderne, westliche Kultur einfügt, die doch stolz auf ihren Individualismus ist. Doch die Antwort liegt nach dem bisher Gesagten auf der Hand. Die Rückseite des Individualismus ist der Paternalismus. Seine ungewöhnliche Aggressivität hat John Stuart Mill auf den grossartigen, analog zu «Crusade» gebildeten Begriff des «Civilizade» gebracht – man kritisiert abweichende Meinungen nicht mehr, sondern hasst sie einfach. Politische Korrektheit ist in erster Linie Sprachdiktatur, die Versklavung der Menschen durch Sprachherrschaft, wobei gilt: die Grenzen meiner Sprache sind die Grenzen meiner Welt. Eine Gesellschaft, Die Aufklärung die sich weder an Religion noch an bürgerlicher Tratut gut daran, den Geist dition und gesundem der Konfrontation neu Menschenverstand orienzu entdecken. tieren kann, wird zum willenlosen Opfer eines Tugendterrors, der in Universitäten, Redaktionen und Antidiskriminierungsämtern ausgebrütet wird. Man darf ihn übrigens nicht offiziell als politische Korrektheit ansprechen – das wäre politisch unkorrekt. Alan Charles Kors und Harvey A. Silverglate haben in ihrem eindrucksvollen, beklemmenden Report «The Shadow University» die heutige Universität als den grössten Feind der freien Gesellschaft bezeichnet, weil sie die Studenten nicht mehr als Individuen, sondern als Verkörperungen von Gruppenidentitäten behandelt und sie entsprechend in Gruppenrechten unterrichtet. Die neuen Ingenieure der Seele arbeiten mit Sprachcodes, Gruppenidentitätszuschreibungen und Trainingscamps für «Sensitivity» und «Awareness». Wer das Wort «Individuum» benutzt, weckt den Verdacht, gegen den heiligen Geist der Gruppe zu sündigen. In dieser «Schattenuniversität» der politischen Korrektheit ist die offene Diskussion freier Individuen längst durch Zensur, Einschüchterung und Indoktrination ersetzt worden. In der Vergangenheit diskriminierte Gruppen sollen durch positive Gegendiskriminierung Wiedergutmachung erfahren. Wer widerspricht, wird nicht widerlegt, sondern zum Schweigen gebracht. Das ist der Sieg von Herbert Marcuse über John Stuart Mill. 30

Da es auf Dauer zu anstrengend ist, anders zu denken, als man redet, denken die meisten auch schon politisch korrekt. Heute dürfen die Bürger sagen und schreiben, was sie wollen, weil sie ohnehin dasselbe denken. Angesichts dessen muss man bezweifeln, ob das Recht auf Redefreiheit ein ausreichendes Fundament für die Freiheit darstellt. Wir haben die Pressefreiheit als Ersatz für Gedankenfreiheit. Der amerikanische Champion der politischen Korrektheit, Stanley Fish, hat deshalb ganz selbstbewusst dekretiert, freie Rede gebe es genauso wenig wie selbständiges Denken. Wenn wir diese Provokation als Problembestimmung ernst nehmen, gelangen wir zu einem wichtigen Ergebnis. Dass man die Freiheit hat, zu sagen, was man denkt, besagt nicht viel, wenn man nicht mehr zu denken wagt, was man nicht sagen darf. Dass die Gedanken frei sind, ist keine hinreichende Bedingung für freie Gedanken. Hannah Arendt hat diese Problematik reiner Gedankenfreiheit klar erkannt. Keine menschliche Fähigkeit ist verletzlicher als das Denken. Und unter Bedingungen der sozialen Tyrannei ist es immer noch leichter, frei zu handeln, als frei zu denken. Der Schutz der Freiheitsrechte kann nicht selbst dafür sorgen, dass es das, was geschützt wird, überhaupt gibt. Was nützt der Schutz der Meinungsfreiheit, wenn die Leute nicht diskutieren wollen und nicht urteilen können? Nichts tut heute, zu Beginn des 21. Jahrhunderts, mehr not als eine Kultur der freien Rede, die zum Dissens ermutigt. Das müsste zumindest denjenigen einleuchten, die ständig von «Innovation» reden und neuerdings auf die «Weisheit der vielen» setzen. Denn Innovation ist eine Gestalt des Dissenses. Und auch die Weisheit der vielen setzt die Freiheit der einzelnen voraus; sie ist das Gegenteil der öffentlichen Meinung. Es geht hier um Unabhängigkeit als die Kraft, in der Gruppe Freiheit zu bewahren. Ich stehe zu meinen Überzeugungen – im vollen Bewusstsein der Alternativen. Die Aufklärung tut gut daran, den Geist der Konfrontation neu zu entdecken. Sie tut sich allerdings von Haus aus heute schwer damit. Freiheit ist für sie ja das selbstverständliche Recht, anders zu sein, ohne dafür bestraft und an den Pranger gestellt zu werden. Aufgeklärt ist ein Mensch, der nicht dem Impuls nachgibt, denjenigen, der eine andere Meinung hat, zu massregeln oder zu bestrafen. Mit einem Wort: Feindschaft fällt dem Aufgeklärten schwer. Aber in der Konfrontation mit der politischen Korrektheit muss er erkennen, dass er in seiner Existenz in Frage gestellt wird. Der Preis des Schweigens ist längst viel zu hoch. Die aufgeklärten Dissidenten haben die Feinde der Freiheit oft in der falschen Richtung gesucht. Nicht nur der Staat bedroht die Freiheit des einzelnen, sondern vor allem die organisierten Interessen, die Gruppen, die die Gesellschaft im Griff haben. Gedanken- und Meinungsfreiheit setzen heute den Mut voraus, diesen Gruppen und den Medien zu trotzen. Die Frage ist: wie vielen ist die Freiheit genug wert, um dieses Wagnis einzugehen? � Der Text ist die überarbeitete und redigierte Fassung eines Vortrags, den Norbert Bolz im November 2011 an der Tagung des Vereins Zivilgesellschaft gehalten hat.


Schweizer Monat 993 Februar 2012  Unternehmergespräch I

Selfmadefrau Ihren ersten Kinderwagen hat Hanne Grieder in einer Garage verkauft, mit dem ersten Kind im Schlepptau. Heute hat sie acht Fachgeschäfte für Babyartikel – und das Business wächst weiter. Wie hat sie es geschafft, die Männerwelt zu überholen? René Scheu und Claudia Mäder treffen Hanne Grieder

Frau Grieder, die Garage scheint für Unternehmer ein mythischer Ort zu sein: wo Bill Gates und Steve Jobs ihre ersten Computer gebastelt haben, haben Sie vor über 40 Jahren einen Kinderwagenhandel aufgezogen. Was hat es in Ihrem Fall mit der Garage auf sich? Mythisch? In meinem Fall gaben praktische Überlegungen den Ausschlag. Ich war damals kaufmännisch tätig und bekam ein Baby, war aber keine speziell gute Hausfrau und wusste, dass ich noch ausserhalb des Haushalts aktiv sein wollte. Gleichzeitig wollte ich mein Kind weder alleinlassen noch abgeben. Zugegeben, keine einfache Situation. Als wir dann in einem kleinen Zürcher Wenn man etwas Laden unseren Kinderwagen kauften, dachte ich mit Leidenschaft macht, plötzlich: das kannst du wächst man auch, das ist die Lösung, über sich hinaus. um Familie, Baby und Geschäft unter einen Hut zu bringen! Ich mietete die Garage, die wir bei uns im Haus hatten, erkundigte mich auf der Deutschen Handelskammer, wo ich eine Vertretung für Kinderwagen aus Deutschland bekommen könne, und legte los – die Tochter mit einem Tragetuch befestigt immer im Schlepptau. Das klingt abenteuerlich. Haben Sie den Kinderwagenmarkt analysiert, bevor Sie ihn aus Ihrer Garage aufzumischen begannen? Das war nicht nötig. Ich konnte mir ausrechnen, dass ich mit monatlich 10 Kinderwagenverkäufen ein nettes Taschengeld verdienen würde – und um etwas anderes ging es anfänglich nicht. Mein Mann war Bauingenieur und verdiente gut. Ich hatte also das Glück, ohne Druck einen schönen Nebenjob auszuüben, etwas Kleines dazuzuverdienen und ab und zu dem Haushalt zu entfliehen. Wir machen uns offensichtlich ein falsches Bild der 1960er Jahre: anstatt mit der Schürze am Herd zu stehen, haben sich die Frauen die Kinder umgebunden und beherzt das Leben in die Hand genommen? Möglich war das für die Frau nur dann, wenn sie einen Mann hatte, der so etwas akzeptierte. In unserer Bekanntschaft waren die Männer gemeinhin stolz darauf, ihre Frauen und Kinder selbst zu

Hanne Grieder ist Unternehmerin. Sie ist Gründerin und Inhaberin von Pro Baby, einem Fachmarkt für Babyartikel mit acht Filialen in der Deutschschweiz.

ernähren, also mit ihrem Salär zu ermöglichen, dass die Frau nicht arbeiten muss. Mein Mann aber – das klingt jetzt blöd – hat nichts dagegen gehabt, dass ich einen eigenen Weg gehe. Aus diesem Grund konnte ich mich entfalten, was vielen anderen Frauen nicht vergönnt war. Wobei ich natürlich ohnehin eine Person bin, die weiss, was sie will… Wie hat denn Ihr Mann reagiert, als sich das Hobby zum geschäftlichen Erfolgsmodell entwickelte? Ich muss sagen: ich habe einen super Mann. Wenn wir expandierten, hat er immer nur gefragt, ob wir denn auch noch genug hätten. Für Geld interessierte er sich ansonsten nie. Die Finanzen habe immer ich verwaltet, denn in einer Ehe sollte doch jeder Teil diejenigen Aufgaben übernehmen, die ihm Freude bereiten. Und fürs Geldverwalten hatte ich immer schon ein gewisses Flair. Sie sind also gewissermassen per Zufall ins Unternehmertum gerutscht, verfügten aber über eine Art Geschäftsgen, das Ihren Aufstieg beförderte? Ich glaube nicht, dass man per Beschlussfassung Unternehmerin werden kann. Man hat das im Blut und lebt es dann aus – oder eben nicht. Wir haben später auch sehr viele Liegenschaften und Land gekauft, haben Eigentumswohnungen gebaut und verkauft – ich habe mich reingekniet, habe die Arbeit jedoch nie als Bürde empfunden. Wenn man etwas mit Leidenschaft macht, wächst man über sich hinaus. Für die ganze Verwaltung sass ich nach dem normalen Job gerne auch abends um zehn noch hin und arbeitete bis in die frühen Morgenstunden. Zwischen den Hobbyanfängen in der Garage und dem rentablen Betrieb, der die Verwaltung von Investitionen mit sich bringt, liegen einige Entwicklungsstufen. Wie ist das Unternehmen gewachsen? Zunächst expandierten wir innerhalb unseres Hauses: wir konnten sukzessive ein frei werdendes Büro und später eine 4-Zimmer31


Hanne Grieder, photographiert von Thomas Burla.

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Schweizer Monat 993 Februar 2012  Unternehmergespräch I

Wohnung übernehmen und für das Geschäft nutzen. So hat sich auch das Sortiment vergrössert; lange Zeit lief es aber noch immer so, dass die Kunden bei mir zu Hause klingeln mussten und ich sie dann quasi aus der Wohnung heraus bediente. Später, Mitte der 1970er Jahre, mieteten wir dann einen ersten Laden, der ganz in der Nähe unserer Wohnung lag. Auf drei Etagen verfügten wir dort über etwa 600 Quadratmeter Verkaufsfläche und waren damit für lange Zeit das grösste Babyfachgeschäft der Schweiz. Die Kunden kamen aus dem ganzen Land. Wie haben Sie Ihr Geschäft auf dem etablierten Markt positioniert? Na ja, von einem Markt kann man nicht wirklich sprechen: in Zürich gab es anfänglich höchstens zwei Läden à je etwa 100 Quadratmeter mit sehr beschränkter Auswahl. Das ist erstaunlich, schliesslich gab es doch damals eher mehr Kinder als heute? Ja, aber die Babyartikel hatten einen anderen Stellenwert. Ein Kinderwagen war früher ein Prestigeartikel, mit dem man sonntags stolz vorfuhr, um herzuzeigen, was man hatte. Mein Mann beispielsweise hat als Ingenieur damals 900 Franken verdient, und ein guter Kinderwagen kostete 600 Franken. Mit Zusatzausrüstungen kamen rasch weitere 450 Franken dazu, so dass ein Kinderwagen gut und gerne eineinhalb Monatslöhne von normalen Leuten verschlang. Das konnten sich die meisten schlicht nicht leisten. Das heisst: relativ gesehen fahren wir heute mit 1000fränkigen Kinderwagenmodellen ziemlich günstig. Der dekadente Anschein trügt! Absolut. Die ganze Ausstattung ist im Verlaufe der Zeit viel billiger geworden. Mit einem Fünftel eines Monatslohns bekommt man heute alles, was man braucht – während man früher damit nirgends hinkam. Wie viel Geld geben denn heutige Eltern im Schnitt für die Erstausstattung ihres Babys aus? Zwischen 3000 und 4000 Franken. Und dafür kriegt man dann nicht nur einen Kinderwagen, sondern auch den gesamten Inhalt plus die Möbel für ein Kinderzimmer. Als Sie mit dem Geschäften begonnen haben, sind Sie in Ihrer Garage aber eigentlich in einen Luxushandel eingestiegen? Damals, in den 1960er Jahren, haben wir effektiv das Luxussegment bedient. Ich begann aber sehr rasch, Waren aus Deutschland zu importieren. Dort gab es Modelle, die für rund 300 Franken zu haben waren – und erst noch einiges eleganter waren als die hiesigen. So konnten wir Produkte anbieten, die schöner und 50 Prozent billiger waren als jene der Konkurrenz. Ein relativ simpler Ansatz, um einen Markt mit einem riesigen Potential zu erschliessen. Wieso ist vor Ihnen niemand auf diese Idee gekommen?

Kinderwagenläden wurden üblicherweise von Männern geführt. Das waren Väter, die ihren Söhnen ein Geschäft übergaben, in dem fürs Durchkommen auch Nähmaschinen und sonstige Artikel verkauft wurden. Und solange die durchkamen, hatten sie keinen Anlass, sich zu überlegen, was man sonst noch machen könnte oder sollte. So ist es immer: in dem Moment, in dem man von etwas problemlos leben kann, ist man nicht mehr innovativ. Innovativ wird man immer erst, wenn Schwierigkeiten auftauchen. Inwiefern hat Ihnen die Frauenperspektive auf dem Männermarkt zum Erfolg verholfen? Der Mehrwert der Frauenperspektive ist in dem Geschäft riesig, denn als Frau und Mutter kenne ich die Bedürfnisse der Kundschaft aus eigener Erfahrung. Es gibt zahlreiche kleine Problemchen, die ich als Frau für eine Frau lösen kann – und unzählige Fragen, die eine Kundin einem Mann einfach nie stellen würde. Die frauliche Kompetenz war insofern sicher ein Schlüssel zum Erfolg: die Kunden hatten von Anfang an das Gefühl, dass wir etwas von der Materie verstanden, und haben uns deshalb weiterempfohlen. Ihre Kundschaft war und ist also vorwiegend weiblich? Nein! Eine Frau hat in den 1960er Jahren kaum alleine einen Kinderwagen gekauft, und sie tut das auch heute nicht. Üblicherweise haben die Paare Empfehlungen von verschiedenen Leuten, und bei der Beratung im Laden will der Mann dann fast immer dabei sein. Natürlich hat er andere Bedürfnisse als die Frau: während sie prüft, ob der Wagen schön und leicht handzuhaben ist, schaut er darauf, ob das Ding ins Auto passt. Solche Diskussionen laufen wohl nicht immer harmonisch ab. Eigentlich wird erstaunlich wenig gestritten. In vielleicht etwa fünf Prozent der Fälle kommt es zu Auseinandersetzungen, meist, wenn zwei starke Charaktere aufeinanderprallen. Da halten wir uns dann natürlich raus; in der Regel lassen sich die Männer mit etwas weiblichem Geschick aber gut zur Vernunft bringen. Was heisst das? Ich versuche schon mal, dem Mann einen Denkanstoss zu geben, ihm zu erklären, dass es sich vielleicht lohnt, auf ein Nachtessen auswärts zu verzichten und dafür einen Kinderwagen zu kaufen, der vielleicht etwas teurer ist, der Frau aber drei Jahre lang Freude und dem Manne eine zufriedene Frau beschert. Wenn sich die Leute aber wirklich wegen eines Kinderwagens in die Haare geraten, würde ich ihnen jeweils gerne sagen: freut euch doch lieber über euer grosses Glück, anstatt euch wegen solcher Lächerlichkeiten zu streiten. Aber das würde natürlich zu weit führen, schliesslich bin ich Geschäftsfrau und nicht Therapeutin. Das Gros Ihrer Kunden ist ja aber wohl in recht aufgeräumter Stimmung – beruht nicht eigentlich Ihr ganzes Geschäft auf der überglücklichen Vorfreude der werdenden Eltern, die in den Laden kommen, um den ersehnten Nachwuchs repräsentativ auszustatten? 33


Unternehmergespräch I Schweizer Monat 993 Februar 2012

In Baby-Boutiquen mag das so sein. Dort findet man Eltern, die mit dem Armani-Röcklein der kleinen Prinzessin zeigen wollen, wer sie sind. Bei uns ist das aber ganz anders. Unsere durchschnittlichen Kunden verklären und überhöhen die Kinder nicht – wo sollten die neben all ihren beruflichen und privaten Verpflichtungen überhaupt die Zeit hernehmen, auch noch ihre Kinder gesellschaftlich in den Himmel zu heben? Dennoch dürfte es den Sprösslingen einigermassen gleichgültig sein, ob sie in einem drei- oder vierrädrigen, sport- oder geländetauglichen Kinderwagen durch die Welt geschoben werden. Wenn nicht der Status, welche Kriterien sind denn dann bei den Einkäufen ausschlaggebend? Eine geringe Rolle spielt das Geld. Wenn jemand von einem Produkt überzeugt ist, kauft er es auch. Und wer von nichts überzeugt ist, nimmt das billigste. Die Leute, die nichts ausgeben wollen, kommen gar nicht erst zu uns, die kaufen bei Obi oder Migros. Entscheidend sind dann aber praktische Fragen; ein Kinderwagen muss in ersWir holen ter Linie den Bedürfnissen der Eltern entsprechen. die Leute dort ab, Wer viel Auto fährt, will wo sie ein Modell haben, das sich zu Hause sind. leicht zusammenlegen lässt, wer häufig im Wald ist, will stabile Räder am Kinderwagen haben – kurz, es werden jene Produkte nachgefragt, die sich am besten ins individuelle Leben der Eltern einfügen. Wenn Ihre Produkte den Zweck haben, die Effizienz des elterlichen Lebens zu steigern, müsste Ihr Geschäft sinnigerweise «pro Eltern» heissen… Tja, aber wenn man kein Baby hat, dann braucht es auch keine Eltern. Insofern bleibt das Baby doch die unbestrittene Number One. Früher, bis vor etwa 10 Jahren, ging man ja auch einfach zu «Grieders». Weil wir dann aber an immer mehr Standorten Geschäfte eröffneten, hatten wir das Gefühl, dass die lokal verankerte Bezeichnung nicht mehr passte. Deshalb jetzt also einfach «pro Baby». Ihr Unternehmen ist seit 1966 nicht nur kontinuierlich gewachsen, sondern Sie haben seit einigen Jahren auch in verschiedene Regionen der Schweiz expandiert und verfügen unterdessen über acht Filialen. Das Geschäft mit der Effizienz der Eltern scheint gut zu laufen. Unser Laden ist solide finanziert. Wir haben den Betrieb gestartet und 15 Jahre lang kein Geld rausgenommen; was wir neu angefangen haben, finanzierten wir immer mit dem, was wir hatten. Wir haben nie einen Bankkredit gehabt und nie ein Kontokorrent überzogen. Allerdings stellt sich uns permanent die Frage, wie wir in Zukunft überleben werden. Früher haben wir bis zu 80 Prozent unserer Kundschaft über Mund-zu-Mund-Propaganda gewonnen. 34

Das funktioniert heute, wo grosse Detailhändler massiv in die Werbung investieren, nicht mehr. Anderseits können wir es uns nicht leisten, so viel Reklame zu machen, wie unter diesen Umständen zum Überleben nötig wäre. Unser Hauptproblem besteht deshalb heute darin, unsere Produkte an den Mann respektive die Frau zu bringen. Und um dieses Problem zu lösen, bewegen Sie sich auf die Kunden zu: die Expansionsstrategie ist eine Tugend, die aus der Not erwachsen ist? Gewissermassen ja. Wir holen die Leute dort ab, wo sie zu Hause sind, denn lange Fahrten nimmt heute kaum mehr jemand auf sich; eher zahlt man ein bisschen mehr und kauft in der Nähe. Wenn man als Geschäft nicht in den einzelnen Regionen präsent ist, verliert man die Kunden, so einfach ist das. Die Expansionsstrategie hat mein Sohn entwickelt, der das Geschäft unterdessen führt. Natürlich sind da Risiken dabei, und wenn rasch eine neue Filiale entstehen muss, lässt sich das auch nicht immer über das Geschäft finanzieren. Dann stelle ich private Mittel zur Verfügung. Sie investieren also nach Abgabe der Geschäftsführung weiter in Ihr Lebenswerk. Wie wichtig ist Ihnen die Kontinuität, die Ihr Sohn ins Unternehmen bringt? Diesbezüglich schaue ich nur für mich. Ich, und nur ich, habe unendlich viel Herzblut in dieses Geschäft investiert – alle andern sollen machen, was sie wollen. Mein Sohn war natürlich anfänglich schwer für einen Kinderwagenladen zu begeistern … und wenn er nicht ins Geschäft eingestiegen wäre, wäre mir das auch egal gewesen: mein Herzblut muss doch nicht dasjenige meines Sohnes sein! Dass er dann trotzdem reingekommen ist, hat mich aber natürlich gefreut, und ich gebe auch gerne mein Geld in die Firma ein, denn: kann ich später irgendetwas davon mitnehmen? Zufrieden kann ich jetzt sein, und zwar nicht, indem ich Geld besitze und scheffle, sondern indem ich etwas damit zu erreichen und bewirken versuche. �


Schweizer Monat 993 Februar 2012  Unternehmergespräch II

Indienexpress Indische Unternehmer kennen nur permanente Veränderung. Und mögen sie. Nachdem sich Gautam Thapar innerhalb seiner eigenen Familie durchsetzte, leitet er heute eine der grössten indischen Firmengruppen. Dabei gilt sein Blick nicht Quartalsresultaten, sondern den nächsten 100 Jahren. Florian Rittmeyer trifft Gautam Thapar

Herr Thapar, gegenwärtig wird spekuliert, Indien könne Deutschland in weniger als 20 Jahren wirtschaftlich überholt haben. Können Sie verstehen, wenn Europäer Angst haben, von einer Generation Ihrer ehrgeizigen Landsleute überrannt zu werden? Die Frage ist, ob man von Indien als Einheit überhaupt sprechen kann – das ist eigentlich eine europäische Perspektive. Aber gut, Indien ist dynamisch und voller Energie. Ob das reicht, um in 20 Jahren Deutschland wirtschaftlich zu überholen? Aus makroökonomischer Perspektive lautet die Antwort ja. 1,4 Milliarden multipliziert mit 1000 Dollar pro Kopf ergibt ein BIP von 1,4 Trillionen Dollar. Ich glaube jedoch nicht, dass Grössen wie das BIP pro Kopf viel darüber aussagen, was ein Land erreicht hat und erreichen kann. Wie messen Sie Erfolg? Dynamik lässt sich nur bedingt in Zahlen abbilden. Wenn ich nach Europa komme, treffe ich auf eine Form der Ruhe und Selbst­ zufriedenheit, die auch unheimlich ist. Spreche ich dann mit Vertretern junger Generationen, spüre ich zugleich, wie sehr sie Veränderungen herbeisehnen. Doch wo der Anteil der älteren Bevölkerung überwiegt, bleibt es so, wie es ist. Dann komme ich wieder nach Indien, wo 60 Prozent der Bevölkerung jünger als 25 sind. Diese jungen Menschen sind optimistisch eingestellt – sie wollen Reformen, denn ihr Leben ist seit Jahren nichts als permanente Veränderung. Indien ist eine Gesellschaft im Aufbruch. Diese jungen Menschen kennen nur das neue unternehmerische Indien, das sich rasant entwickelt… …wer wie ich in den 1960er Jahren auf die Welt kam, weiss noch, dass Indien eine geschlossene, sozialistische Planwirtschaft war. Wer zehn Jahre vor mir geboren wurde und bereits 40 war, als sich Indien öffnete, hatte damals eine pessimistischere Sicht auf In­ diens Zukunft als ich. Aber mittlerweile haben auch sie erkannt: es tut sich was in diesem Land. Indien verändert sich seit 1991 rasant. Trotzdem finden sich immer noch Überbleibsel der Planwirtschaft und des «Licence Raj», des berühmt-berüchtigten Geflechts von Auflagen und Bürokratie. Welchen Einfluss hat dieses Erbe auf das heutige Indien?

Gautam Thapar ist Verwaltungsratspräsident und CEO der Avantha Group, zu der u.a. Indiens grösster Elektrotechnikproduzent und Papierhersteller gehören. Avantha beschäftigt rund 20 000 Mitarbeiter und operiert in mehr als 10 Ländern.

Mir persönlich half, dass ich in den USA der frühen 1980er Jahre einige Zeit in einem Umfeld gelebt habe, das mir viel persönlichen Freiraum bot. Ich erlebte damals einen grossen Wandel hautnah mit: das Silicon Valley kam auf, die Wall Street erlebte einen Schub, und man begann, die Effekte der WTO zu spüren. 1991 erlebte ich denselben Hauch von frischer Luft in Indien. Auch hier wurden neue Kräfte freigesetzt, als die meisten bürokratischen Hindernisse für Unternehmen abgeschafft wurden. In der Geschichte gibt es Generationen, die vom Wandel profitieren, und solche, die unter dem Stillstand leiden. Ich gehöre zu jenen, die zur richtigen Zeit am richtigen Ort waren. Zur richtigen Zeit am richtigen Ort – das klingt bestechend einfach. Aber Millionen von Indern Ihrer Generation haben eine andere Erfahrung gemacht. Das stimmt. Anderseits muss man das Zeitfenster für Veränderungen als solches erkennen und daraus entstehende Gelegenheiten auch zu nutzen verstehen. Als sich mir mit 31 die Chance bot, radikalen Wandel einzuleiten, war ich bereit, diese Möglichkeit zu ergreifen. Vielleicht war ich einfach auch nur naiv genug, zu sagen: wir können es tun. Und wir taten viel. In den darauffolgenden zehn Jahren stellte meine Generation praktisch ganze Unternehmen auf den Kopf. Wir richteten sie global aus und erteilten dem nationalen Protektionismus eine mutige Absage. Es war eine phantastische Reise! Ein Grossteil der Fähigkeit meiner Generation, Veränderungen voranzutreiben, ist das Resultat dieser Erfahrungen. Sunil Mittal, der Gründer von Bharti Enterprises, ist 53. Die Ambani-Brüder sind 54 und 53. Anand Mahindra, CEO der Mahindra Group, ist 56. Viele erfolgreiche indische Unternehmer sind in meinem Alter. Viele grosse indische Konglomerate sind in den Händen von Familien. Sie selbst stammen ebenfalls aus einer indischen Unternehmerfa35


Gautam Thapar, photographiert von Philipp Baer.

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Schweizer Monat 993 Februar 2012 Unternehmergespräch II

milie, waren aber wegen komplizierter Familienverhältnisse von einer aussichtsreichen Nachfolgeposition zur Übernahme der Leitung weit entfernt… …ich wurde nicht mit dem Silberlöffel im Mund geboren. Ich habe früh erkannt, dass ich nur durch Leistung vorwärtskomme. In meiner Kultur erbt der älteste Sohn – und das war nicht ich. Also musste ich mir stets die Frage stellen: wie kann ich meine Position verbessern? Mit geschickter Familiendiplomatie? Ich wurde Mitte der 1980er Jahre zurück nach Indien geholt, um malade Firmen zu reformieren. Ich wusste zwar, dass unternehmerische Topresultate nicht alle Hürden überwinden können. Doch ging ich davon aus, dass meine Turnarounds einen grossen Einfluss haben würden, wenn es um die Nachfolgeregelung ging. Mir kam zupass, dass sich mit der Öffnung Indiens die Umstände drastisch veränderten. Zuvor hätte niemand gefragt, ob es statt eines soliden Entscheidungsträgers und Verwalters nicht eher eine Person brauche, die radikalen Wandel durchsetzen kann. Als das Mutterhaus plötzlich mit Problemen konfrontiert war, wurde ich aufgefordert, das zu tun, was ich bereits bei einigen anderen Turn­ arounds gemacht hatte. Wenn Unternehmen wachsen, bewegen sie sich auf einen Wendepunkt zu. Nach jeweils fünf bis sieben Jahren sieht man sich mit der nächsten Stufe der Evolution des Unternehmens konfrontiert. Auf jeder dieser Stufen müssen neue Leute reinkommen, Leute, die erkennen, was es braucht, um das Unternehmen auf die nächste Stufe zu hieven. Dazu braucht es Entscheidungsträger, die bereit sind, aus gewohnten Denkmustern auszubrechen, und es braucht eine Führungsriege, die willens ist, die gewählte Strategie konsequent umzusetzen. Wie hat sich diese Entwicklung wiederum auf die Familie ausgewirkt? Sie brachte die interfamiliäre Rangordnung durcheinander. Das Familiensystem brach zuletzt unter diesem Druck zusammen, alle gingen ihre eigenen Wege. Ich konnte mich nur halten, weil ich mir meine Position hatte erarbeiten müssen. Und weil die Wachstumsraten stimmten. Welchen Einfluss haben die Marktkräfte auf ein börsenkotiertes Familienunternehmen? Es kann den langfristigen Fokus mit der Innovationsfähigkeit von Märkten kombinieren. Obwohl meine Unternehmen auf dem Ak­ tienmarkt sind, sage ich als Haupteigentümer meinen CEOs: wir bauen das Unternehmen für die nächsten 40 bis 100 Jahre aus. Die nächsten Quartalsresultate interessieren mich als Eigentümer nicht. Was mich jedoch interessiert, sind die Märkte – sie zwingen uns zu ständigen Verbesserungen. CEOs stehen unter deren Einfluss. Mit meinen Unternehmen gehe ich ausschliesslich in Märkte, in denen ich meine Wettbewerbsfähigkeit mit internationalen Konkurrenten messen kann. Wir sind erfolgreich in Europa, wir sind in Märkten, in denen wir im Wettbewerb mit Siemens, ABB, Alstom stehen – und wir gewinnen meist. Wir gewinnen dank unserer Technologie, dank unseren Dienstleistungen, und wir gewinnen dank unserem Hunger, der uns dazu bringt, Dinge anders zu tun.

Von den 100 profitabelsten Firmen Indiens liegen 41 Prozent in staatlich kontrollierter Hand. Befinden sich indische Unternehmer nach wie vor in einer Art Zwangsehe mit dem politischen System? Ich bin frei, meine Technologie zu entwickeln und sie an wen auch immer zu verkaufen. Ich kann auf der ganzen Welt tätig sein. Sehen Sie, eine Regierung sollte ihren Grossunternehmen Rahmenbedingungen bieten, die unternehmerische Leistungen zulassen. Und sie kann Türöffner spielen, mit Handels- und Wirtschaftsdiplomatie. Die Bedeutung grosser Unternehmen kann für die indische Volkswirtschaft kaum überschätzt werden. Indiens Aufstieg geschah, als die indischen Unternehmen aus dem indischen Markt ausbrachen und weltweit Firmen zu erwerben begannen. Indiens Wirtschaftskraft wuchs daraufhin um fast 9 Prozent. Das war 2004. Zuvor lag das Wachstum noch bei 4,5 bis 6 Prozent. Kann man sich aus der Ehe mit dem politischen System wieder scheiden lassen, wann immer es einem passt? Oder handelt es sich um ein ewiges Bündnis? (lacht) Wenn das Bündnis besteht, ist es schwer, sich daraus zu lösen. Aber man muss es ja erst gar nicht eingehen. Ich habe mich entschie­ den: ich will nicht auf Feldern tätig sein, wo ein Grossteil der Arbeitszeit dafür draufgeht, die Regierung zu managen. Wir brauchen unsere Leute, um Kunden, Märkte und Technologien zu managen. Sie sprechen von guten Rahmenbedingungen. Aber in Wirklichkeit geht es oft um marktverzerrende Privilegien und Subventionen, wenn Regierungen und Unternehmen zusammenspannen. Das motiviert andere Staaten, ihren Unternehmen ebenfalls ähnliche Privilegien zu gewähren. Klar, das führt zu Verzerrungen und für einen durchschnittlichen Bürger ist es schwierig, die damit verstrickten Interessen zu verstehen. Es gibt Stimmen, die sagen, dass die USA mit 20 Milliarden Dollar ihre Bauern unterstützen. Aber stimmt das wirklich? Profitieren davon nicht eher Cargill, Continental Grain, Archer Daniels Midland oder in Europa Delhaize? Zu den direkten Zahlungen kommt die Subventionierung von Düngemittelherstellern, Chemikalien etc. Das Argument für diese Unterstützung lautet, dass man Nahrungsmittelsicherheit brauche. Nahrungsmittelsicherheit ist ein Argument, um Protektionismus zu rechtfertigen. Das ist so. Je mehr der Staat eingreift, um ein Preisdach, einen Preis, eine Subvention durchzusetzen, desto mehr wird der Markt verzerrt – anders lautenden Verlautbarungen zum Trotz. Und der Staat verliert die Kontrolle, sobald diese Subventionen bzw. Verzerrungen einmal etabliert sind. Und niemand schafft existierende ab. Genau. Die Umstände können sich radikal ändern, aber die Subventionen bleiben. Damit wird es politisch fast unmöglich, sie rückgängig zu machen. Das trifft auf Indien genauso zu wie auf Europa und die USA. � 37


Nachruf Schweizer Monat 993 Februar 2012

Freund der Freiheit Zum Tod von Roland Baader von Robert Nef

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m 8. Januar 2012 ist der deutsche Ökonom und Publizist Roland Baader nach langer schwerer Krankheit verstorben. Für den «Schweizer Monat», der damals noch «Schweizer Monatshefte» hiess, hat Baader zahlreiche engagierte Beiträge verfasst. Er hat die Zeitschrift im Literaturverzeichnis seiner Bücher verschiedentlich als eine der wenigen wirklich verlässlichen liberalen Orientierungshilfen angeführt. «Eigentlich ist die Sache ganz einfach», so beginnt im Baader-Originalton einer seiner Kurzessays. Er beschreibt darin in der ihm eigenen deftigen Sprache, dass es letztlich bei der umverteilenden staatlichen Sozialpolitik darum geht, den einen das zu geben, was man den andern gegen ihren Willen genommen hat. «Aus dem friedlichen Marktprozess der leistungsgerechten (die Konsumentenwünsche spiegelnden) Verteilung wird ein politischer Machtkampf und ein Hauen und Stechen der Lobbies um eigene Privilegien und um Ausbeutung anderer.» Angesichts solcher Formulierungen wird auch klar, warum sich Roland Baader nicht nur im sozialistischen und sozialdemokratischen Lager Feinde gemacht hat, sondern auch bei jenen «Auch-Liberalen», die sich mit allem arrangieren – auch mit korporatistischen Strukturen, in denen die Abgrenzung von Politik und Wirtschaft für beide Seiten zu einer graduellen und nicht mehr zu einer prinzipiellen Angelegenheit wird. Wer die Entwicklung des liberalen Nachdenkens in den letzten 40 Jahren kritisch verfolgt hat, kommt kaum um die Feststellung herum, dass die konsequenten Freunde der Freiheit sich gegenüber mindestens drei gegnerischen Lagern behaupten müssen. Erstens gegen die schwindende Zahl der überzeugten Anhänger einer zentral verwalteten Kommandowirtschaft mit einem klaren Primat der Politik über die Wirtschaft. Das ist die einfachste Aufgabe, denn bei einer vorbehaltlosen Beobachtung der Realität bzw. der Geschichte entlarvt sich diese Vorstellung früher oder später selbst als ökonomisches und menschliches Horrorszenario. Zweitens, und das ist die anspruchsvollere Aufgabe, gegen die Gruppe der «Auch-Liberalen», die auf einer «zweitbesten Ebene» Kompromisse zwischen Staatswirtschaft und Privatwirtschaft anstreben, nach der wohlklingenden Allerweltsformel «So viel Staat wie nötig, so viel Freiheit wie möglich». Nach diesem graduellen Freiheitsverständnis wird es sehr schwierig, sich gegenüber allen 38

Robert Nef ist Jurist, Publizist und war langjähriger Herausgeber der «Schweizer Monatshefte».

Formen des gutgemeinten Zwangs zum Guten wirksam zur Wehr zu setzen. «Auch-Liberale» sind für konsequente Liberale die grössere Herausforderung als Etatisten. Die hartnäckigsten Gegner des Liberalismus, mit denen sich Roland Baader immer wieder auseinandergesetzt hat, sind aber, drittens, jene, die zunächst das Zerrbild einer zutiefst menschenfeindlichen Marktwirtschaft an die Wand malen, um dann als heroische Drachentöter einen vagen Softsozialismus als Heilmittel zu propagieren. Sie prägen zurzeit das markt- und freiheitsfeindliche Klima unter westlichen Intellektuellen. Exemplarisch für Baaders Entkräftung der Irrtümer dieser Kapitalismuskritik ist seine Rezension von Naomi Kleins Bestseller «Die Schock-Strategie. Der Aufstieg des Katastrophen-Kapitalismus» (2007).1 Seine Konklusion: «Naomi Klein setzt getreu der Irrtumstradition vieler Intellektueller den ‹real existierenden militärisch-industriellen Komplex› der Washingtoner Machteliten gleich mit dem Idealgehalt der Marktwirtschaft und des Kapitalismus, der in Wahrheit mit Gewaltanwendung unvereinbar ist.» «Hier steh ich und kann nicht anders.» Mit diesem Lutherzitat schliesst jene fiktive Bundestagsrede, die heute in Erinnerung an den überzeugten Katholiken und beharrlich protestierenden Freiheitsfreund Baader auf vielen Internetseiten wieder publiziert wird. «Viel Feind, viel Ehr» hab ich Roland Baader einmal zugerufen. Dass er nun mit seiner kantigen Botschaft zur wichtigen Inspirationsquelle einer jungen Generation überzeugter Staatsungläubigen wird, ist angesichts des vor allem in Deutschland grassierenden Freiheitspessimismus ein Zeichen der Hoffnung. �

1 Roland Baader: Sie geben falschen Alarm, Naomi Klein. In: Schweizer Monatshefte 962, 2008. S. 6.


Vorausschauen!

Sechs Antworten auf die Gegenwart Dossier

Bild: Fotolia / Gail Johnson

Neue Welt, neues Geld Jörg Guido Hülsmann 2 Zurück in die Zukunft Hans-Olaf Henkel 3 Europas Schuld Rich Mattione 4 Gewalten teilen Roland Vaubel 5 Mehr sozial, weniger Staat Christian P. Hoffmann 6 Märkte verschwinden Gunnar Heinsohn 1

Für die Unterstützung bei der Lancierung des Dossiers danken wir Reichmuth & Co Privatbankiers. 39


«Was es nun braucht, sind neue Ideen und Lösungen. Ein Denken nicht in Quartals­ zahlen, sondern in Jahrzehnten. Und den Mut, die Zukunft wirklich zu gestalten. Das Dossier liefert dafür konstruktive Ansätze.» Remy Reichmuth, Reichmuth & Co Privatbankiers

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IntroDossier

Vorausschauen! Sechs Antworten auf die Gegenwart

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eld. Euro. Markt. Eigentum. Staatsschulden. Sozialstaat. Das sind sechs Fragezeichen, die jeden einzelnen von uns in den nächsten zehn Jahren beschäftigen dürften, sechs Fragen, die wir sechs unserer Autoren gestellt haben.

Die Aufgabenstellung war so simpel wie anspruchsvoll. Wir haben die Autoren gebeten, die herrschende Lage zu analysieren, Probleme zu benennen und mögliche Lösungs­vorschläge für die Zukunft zu skizzieren. Klar ist: nicht alle Probleme sind für jedermann auf den ersten Blick ersichtlich. Und: DIE Lösung gibt es nicht. Aber: es ist Zeit, über Alternativen zum Status quo nachzudenken. Was ist die Krux mit dem

Geld, das seit dem Ende von Bretton Woods nach Belieben

aus dem Nichts geschaffen werden kann? Und wie sähe ein anderes, solideres Geld aus? Wird der

Euro die ökonomischen Verwerfungen innerhalb der Europäischen Union

überleben? Und wenn ja, in welcher Form? Werden Schuldner ihre Schulden weiterhin über noch mehr

Schulden finanzieren?

Und wie liesse sich die letztlich verhängnisvolle Schuldenspirale wieder bändigen? Wird der Zugriff der Staaten auf das

Eigentum ihrer Bürger und Steuerzahler zuneh-

men? Und welche Mechanismen bräuchte ein demokratisches System, das dies verhindert? Welche PIIGS-Staaten werden in den nächsten Jahren den

Bankrott anmelden? Und

welche Wachstumsquote müssten sie erzielen, um den Weg aus der Krise zu finden? Warum hat der umverteilende Sozialstaat zur Staatsüberschuldung beigetragen, in der wir heute stecken? Und wie sähe eine auf

Eigenverantwortung beruhende

Alternative zum heutigen Modell aus? Die Antworten unserer Autoren auf diese Fragen finden Sie auf den folgenden Seiten. Wir wünschen, wie immer, anregende Lektüre! Die Redaktion

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Dossier Schweizer Monat 993 Februar 2012

Neue Welt, neues Geld

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Billiges Geld führt zu billigen Krediten, mehr Kredite zu mehr Wirtschaftswachstum. Wäre die Welt so einfach! Mit den Krediten steigen auch die Schulden – von Staaten, Unternehmen, Privaten. Und es stellt sich die Frage: Ist das Billiggeld wirklich zukunftstauglich? von Jörg Guido Hülsmann

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er Kern der gegenwärtigen Finanzund Wirtschaftskrise ist die übermässige Verschuldung der Staaten, Firmen und Privathaushalte. Diese Schuldenkrise ist die Frucht einer sehr langfristigen Entwicklung, die seit Anfang der 1970er Jahre deutlich zu beobachten war, als es zu einem Wechsel des Währungssystems kam. Bis 1971 herrschte weltweit eine – wenn auch verwässerte – Goldwährung (BrettonWoods-System). Alle nationalen Papierwährungen, alle Banknoten und Sichtguthaben waren letztlich über die Anbindung an den Dollar, der teilweise mit Gold hinterlegt war, Platzhalter für Gold. Da sich die Goldmenge naturgemäss jedes Jahr nur wenig und nur unter hohen Kosten vergrössern lässt, konnten auch die von den Zentralbanken gewährten Kredite nur in vergleichsweise niedrigem Umfang wachsen. Die Refinanzierung der Geschäftsbanken war also begrenzt, und auch die Geschäftsbanken konnten mithin nur in relativ geringem Umfang neues Bankgeld schöpfen und damit Kredite erteilen. Die Goldwährung war der Anker der Wirtschaft. Genauer gesagt war sie ein Doppelanker, denn sie begrenzte nicht nur das Preisniveau, sondern auch den Umfang der Kreditwirtschaft. Die Dinge änderten sich radikal, als die amerikanische Federal Reserve Bank (Fed) im August 1971 die Goldeinlösung der amerikanischen Noten einstellte und somit das gesamte Währungssystem umkrempelte. Waren die von den Zentralbanken geschaffenen Noten und Sichtguthaben bislang nur Platzhalter für Gold, so traten sie nun an die Stelle des Goldes, indem sie in die Rolle des Grundgeldes schlüpften. Erst

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durch diesen Abschied von der Goldwährung und den Übergang zu immateriellem Grundgeld wurde eine Ausweitung der Geldmenge in grossem Stil möglich. Erst dadurch wuchs auch die öffentliche und private Verschuldung in einem Umfang, der bis dato nicht für möglich gehalten wurde. Es stellt sich somit die Frage, ob das gegenwärtige Währungssystem nicht eine Sackgasse ist, aus der man tunlichst und schnell wieder herausfinden sollte. Die Schulweisheit der heute tonangebenden monetaristischen Ökonomen verneint dies. Wir wollen daher im folgenden auf die wichtigsten einschlägigen Argumente eingehen. Die monetaristische Lehre Der Monetarismus geht auf den amerikanischen Ökonomen Irving Fisher (1867 bis 1947) zurück und wurde später von Milton Friedman, Allen Meltzer, David Laidler und anderen fortentwickelt. Bis zum heutigen Tage präsentieren sich die Monetaristen selber gerne als wirtschaftspolitische Antipoden der Keynesianer. Während die Keynesianer dem Markt misstrauen und stattdessen auf staatliches Handeln setzen, sehen sich die Monetaristen als Verfechter der Marktwirtschaft. Doch gerade im Bereich der Währungspolitik trifft dies nicht zu. Hier vertreten die Monetaristen – um einen passenden Ausdruck des kürzlich verschiedenen Roland Baader zu verwenden – einen ausgesprochenen «Geldsozialismus», wenn auch mit anderen Argumenten als die Keynesianer. Nach ihrem Dafürhalten hat das ideale Geld eine stabile Kaufkraft. Damit die Kaufkraft stabil bleibt, muss allerdings die

Jörg Guido Hülsmann ist Professor für Ökonomie an der Universität Angers in Frankreich und Autor von «Ethik der Geldproduktion» (2007) und «Mises. The Last Knight of Liberalism» (2007).

Geldmenge immer in genau dem Masse wachsen, in dem auch die Geldnachfrage wächst, und letztere steigt insbesondere bei wachsender Realwirtschaft. Daher die Faustformel, dass das Wachstum der Geldmenge dem erwarteten Wachstum der Real­ wirtschaft – bzw. dem sogenannten Produktivitätsfortschritt – entsprechen sollte. Nun ist die Goldwährung ganz offensichtlich weit von diesem Ideal entfernt, denn die Geldproduktion hängt nur sehr lose mit dem Wirtschaftswachstum zusammen. Es ist möglich, dass auch in Zeiten schrumpfender Wirtschaft die Goldproduktion fortgesetzt wird, und es ist keinesfalls wahrscheinlich, dass die Goldproduktion immer dem Produktivitätsfortschritt entspricht. Vielmehr besteht in einer wachsenden Wirtschaft mit Goldwährung eine ständige Tendenz zum Sinken der Güterpreise. Die wachsende Gütermenge wird im Tausch gegen eine Geldmenge umgesetzt, die nicht bzw. nicht im gleichen Masse wächst. Das ist nur möglich bei ständig sinkenden Geldpreisen pro Gütereinheit. Die Goldwährung fällt also beim monetaristischen Test durch. Dagegen lässt sich das Ziel des stabilen Preisniveaus mit einer immateriellen Währung verwirklichen, insbesondere wenn diese Währung nicht einfach verschenkt oder verkauft, sondern wenn sie durch Zentralbanken verliehen wird. Dann ist es nämlich möglich, durch


Jörg Guido Hülsmann (Bild: pd)

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Dossier Schweizer Monat 993 Februar 2012

Erleichterung der Kreditbedingungen die Geldmenge zu erhöhen, wenn die Wirtschaft wächst; und bei sinkender Geldnachfrage kann die Geldmenge prinzipiell ebenso leicht wieder verringert werden, um ein Steigen der Güterpreise zu verhindern. Auch wenn man nun von allen theoretischen Erwägungen erst einmal absieht, führt kein Weg an der Tatsache vorbei, dass der Monetarismus immer graue Theorie geblieben ist. In der Praxis haben die Zentralbanken keineswegs ein Geld stabiler Kaufkraft geschaffen, sondern ein Geld, das

Anfang Januar 2011 betrug die vom Eurosystem geschaffene Grundmenge 1961 Milliarden Euro. Ein Jahr später sind es 2688.

ständig an Kaufkraft verliert. Das gilt insbesondere auch für die sogenannten Hartwährungsländer. Ein Geld, dessen Kaufkraft jahraus, jahrein auch nur um 2 Prozent nachlässt, hat nach zwanzig Jahren rund die Hälfte seiner Kaufkraft eingebüsst. Entsprechend stärker ist die kumulierte Wirkung in den Weichwährungsländern. Gute Theorie? Hat aber der Monetarismus trotz dieser praktischen Erfahrungen nicht wenigstens eine gewisse theoretische Berechtigung? Die drei klassischen Argumente für die Preisniveaustabilisierung sind (1) die Verteilungsgerechtigkeit zwischen Schuldnern und Gläubigern, (2) der Kampf gegen die Deflation und (3) die sich aus der Preisniveaustabilisierung ergebende Stabilisierung der Wirtschaft insgesamt. Irving Fisher zufolge führten Änderungen des Preisniveaus zu einer unberechtigten Bereicherung. Ein steigendes Preisniveau bereichere die Schuldner auf Kosten der Gläubiger, ein fallendes Preisniveau die Gläubiger zu Lasten der Schuldner. Ludwig von Mises hat diese Argumentation bereits in den 1920er Jahren gründlich widerlegt. Er wies darauf hin, dass die Bereicherung 44

der einen oder anderen Partei keinesfalls eine notwendige Folge eines fallenden bzw. steigenden Preisniveaus ist. Solche Veränderungen können nämlich durchaus antizipiert und dann vertraglich entsprechend berücksichtigt werden. Ausserdem unterstrich Mises, dass die Stabilisierungspolitik selber eine Verteilungswirkung nach sich zieht. Jede Ausweitung der Geldmenge begünstigt frühe Verwender des neuen Geldes zu Lasten der späteren Verwender. Mit anderen Worten führt die Betätigung der Notenpresse zur Bekämpfung der (durchaus vermeidbaren) Umverteilung zwischen Gläubigern und Schuldnern zwangsläufig zu einer ungerechtfertigten Bereicherung der frühen Verwender zu Lasten der späteren Verwender des neuen Geldes. Selbst wenn nämlich diese Wirkung der Notenpresse antizipiert wird, können sich die Spätverwender des neuen Geldes nicht davor durch irgendwelche vertraglichen Vereinbarungen schützen. Zentralbanken operieren nicht verteilungsneutral. In unseren Tagen, in denen die Zentralbanken die Geldmenge jahraus, jahrein um hunderte Milliarden Euro bzw. Dollar erhöhen, erzeugen sie eine geradezu massive Bereicherung der öffentlichen Haushalte und der Geschäftsbanken, welche regelmässig zu den Erstverwendern des neuen Geldes zählen. Diese enorme Bereicherung der einen auf Kosten der anderen ist im Moment kaum sichtbar, da sich die Preisinflation noch in Grenzen hält. Dennoch sollte man nicht in den Irrtum verfallen, dass die ungerechtfertigte Bereicherung erst stattfindet, wenn die Preise steigen. Anfang Januar 2011 betrug die vom Eurosystem geschaffene Grundgeldmenge 1961 Milliarden Euro. Ein Jahr später liegt der Betrag bei 2688 Milliarden Euro. Die EZB hat die Grundgeldmenge somit in einem einzigen Jahr um 37 Prozent bzw. um 727 Milliarden Euro erhöht, und diese gesamte Summe, der Gegenwert von etwa 6 Prozent des Bruttoinlandsproduktes der EU, floss zuerst durch die Hände der Geschäftsbanken und der öffentlichen Haushalte. Selbst bei stabilem Preisniveau kann es somit zu einer massiven Umverteilung durch die Notenpresse kommen. Diese Tatsache

ist heute offensichtlich und hat in der Bevölkerung bereits zu breiter Entrüstung über die Politik der Zentralbanken geführt. Daher ist es nicht erstaunlich, dass die Monetaristen die Verteilungsproblematik zwischen Gläubigern und Schuldnern nicht allzu sehr in den Vordergrund stellen. Sie konzentrieren sich auf die beiden anderen klassischen Argumente für die Preisniveaustabilisierung: die Deflationsbekämpfung und die Stabilisierung der Wirtschaft insgesamt. Da wir das Argument der Deflationsbekämpfung an dieser Stelle erst vor kurzem behandelt haben, sollen hier nur die wesentlichen Punkte in Erinnerung gerufen werden.1 Ein deflationäres Absinken des Preisniveaus ist aus gesamtwirtschaftlicher Sicht mittel- bis langfristig nicht schädlich. Probleme ergeben sich in kurzer Sicht, insbesondere in einer Wirtschaft, in der es zahlreiche stark verschuldete Marktteilnehmer gibt. Die Schuldner sind nach einem deflationären Einbruch des Preisniveaus häufig ausserstande, die zuvor bei höherem Preis- und Einkommensniveau eingegangenen Schulden zu bedienen. Da die Schulden der einen häufig die Finanzaktiva der anderen sind, entwickelt sich dann leicht eine Eigendynamik. Auch leichte Deflationen führen zu Deflationsspiralen mit der Folge eines Massenkonkurses. Es kommt mithin zu einer grossflächigen Neuverteilung der realen Aktiva, wobei Gläubiger die Vermögensbestandteile ihrer Schuldner übernehmen. Überschuldete Unternehmer verlieren ihre Firma und müssen fortan an gleicher oder anderer Stelle eine Anstellung suchen. Hochverschuldete Familien verlieren Haus und Hof, und sie müssen diese Güter somit fortan für einige Zeit mieten, statt sie zu besitzen. Aus gesamtwirtschaftlicher Sicht ist dieser Vorgang in dem Masse schädlich, in dem es bei der Neuregelung der Vermögensverhältnisse zu Produktionsstockungen und starker Arbeitslosigkeit kommt. Mittel- und langfristig bietet eine solche Krise jedoch grosse Vorteile, zum Beispiel den Vorteil, dass sie die Schulden aus der Welt schafft und die Wirtschaft somit gesundet. 1 Jörg Guido Hülsmann: Schreckgespenst Deflation. In: Schweizer Monatshefte 975, 2010. S. 27 ff.


Schweizer Monat 993  Februar 2012  Dossier

Nun mag man einwenden, dass eine Deflationsspirale trotz aller mittel- und langfristigen Vorteile eine schreckliche Rosskur sei, die man einem Land doch lieber ersparen möchte. Aber auch dieser Einwand ist nicht stichhaltig. Denn gerade die Preisniveaustabilisierung ist es, die besondere Anreize zur Verschuldung schafft und somit die Deflationsanfälligkeit der Wirtschaft erhöht. Ohne Preisniveaustabilisierung – also beispielsweise unter einer Goldwährung – ist es nicht ratsam, sich hoch zu verschulden, da die Geldpreise und die Geldeinkommen tendenziell sinken, was wiederum den Schuldendienst erschwert. Die Finanzierung der Wirtschaft erfolgt unter solchen Umständen hauptsächlich in der Form von Eigenkapital, während Kredite nur eine untergeordnete Rolle spielen. Dies ändert sich, sobald die Preisniveaustabilisierung die Möglichkeit von Deflationen aus dem Wege räumt. Nun verschieben sich die Gewichte: Kredite treten zunehmend in den Vordergrund, während der Anteil der Eigenkapitalfinanzierung nachlässt. Dieser Umstand wird noch sehr verstärkt, sobald das Preisniveau nicht wirklich stabilisiert wird, sondern ständig – mal schleichend, mal galoppierend – steigt. Genau dies ist der Fall in der Eurozone. Ein definitorischer Kniff hilft dabei, dies nicht offen auszusprechen. Nach ihren Statuten soll die Europäische Zentralbank (EZB) nicht das Preisniveau, sondern die Veränderung des Preisniveaus (die Inflationsrate) stabilisieren. Wenn die Preise jedes Jahr um 2 Prozent wachsen, herrscht bei uns offiziell Preisniveaustabilität und die Zentralbankgouverneure klopfen sich auf die Schultern. Unter diesen Bedingungen wird der Anreiz zu hoher Verschuldung geradezu unwiderstehlich. Haushalte verschulden sich, weil sie damit rechnen können, dass ihre Geldeinkommen steigen und somit die relative Last des Schuldendienstes im Verlauf der Zeit immer erträglicher wird. Unternehmen verschulden sich aus dem gleichen Grund. Am stärksten wirkt dieser Anreiz natürlich auf die öffentlichen Haushalte. Sie können nicht nur ständig steigende Steuereinnahmen erwarten (häufig

verstärkt durch kalte Steuerprogression), sondern dürfen bei Schwierigkeiten auch mit der Unterstützung der Notenbanken rechnen. Einzelwirtschaftlich gesehen ist das völlig rational, aber die Gesamtwirtschaft verwandelt sich auf diese Weise in ein Pulverfass. Man kann es drehen und wenden, wie man will: eine Politik der Preisniveaustabilisierung wirkt letztlich nicht stabilisierend. Sie institutionalisiert vielmehr die Anreize zum Schuldenmachen. Das freut einen Teil der Finanzwirtschaft, zumindest kurz- bis mittelfristig, aber es schwächt die Wirtschaft insgesamt. Auf lange Sicht führt der Monetarismus in die Schuldenwirtschaft und somit auch in die Schuldenkrise der Gegenwart. Preisniveaustabilisierung ist langfristig destabilisierend, und die lange Frist ist heute da. Wir sind am Ende der Sackgasse des Monetarismus angekommen. Wie weiter? Was sind die Alternativen? Vor allen anderen Überlegungen muss der grössere Kontext im Auge behalten werden. Der Monetarismus ist eine technokratische Ideologie des ausgehenden 19. Jahrhunderts, die im Verlauf des 20. Jahrhunderts ihren Siegeszug antrat. Der praktische Kern- und Angelpunkt war und ist die erzwungene Abkehr von natürlichem Geld und die auf staatlichen Zwang gestützte Schaffung eines künstlichen Währungssystems. Der Triumph der künstlichen Währungen erklärt sich nicht aus ihren gesamtwirtschaftlichen Wohltaten, sondern aus ihrer Nützlichkeit für Einzelinteressen, insbesondere für den Staat. Anders gesagt wurde die Goldwährung nicht im eigentlichen Sinne aufgegeben als vielmehr zwangsweise unterdrückt; und zwar nicht, weil sie das goldene Kreuz war, auf das die Wirtschaft genagelt wurde, sondern weil sie der einzelwirtschaftlichen Willkür des Staates und seiner Alliierten goldene Fesseln anlegte. Aus moralischen und wirtschaftlichen Gründen ist es daher ratsam, Wege zur erneuten Einführung von Edelmetallwährungen auszuloten. Genau wie die amerikanischen Revolutionäre die in den bri­tischen Kolonien Nordamerikas vorherrschenden

Papierwährungen ablehnten und ihr Währungssystem auf Gold und Silber bauten; genau wie Österreich und Italien im 19. Jahrhundert eine Goldwährung an Stelle ihrer Papierwährungen einführten; genau wie unsere Grossväter und Urgrossväter nach dem 1. Weltkrieg und dem 2. Weltkrieg eine Rückkehr zu Formen der Goldwährung vollzogen haben – genau so liegt es auch in unserem heutigen Interesse, eine Revolution des Währungssystems zu vollziehen, und zwar aus den gleichen guten Gründen wie unsere Vorfahren.

Der Triumph der künstlichen Währungen erklärt sich nicht aus ihren gesamtwirtschaftlichen Wohltaten.

Es ist dabei nicht klug, sich an irgendein historisches Vorbild zu klammern. Die Goldstandards des 20. Jahrhunderts waren in vieler Hinsicht keine natürlichen Währungsordnungen, selbst wenn sie natürlicher waren als unser heutiges System. Es ist möglich und aus vielen Gründen empfehlenswert, die nötigen Reformen durch private Unternehmer vollziehen zu lassen, indem man einfach den Währungsmarkt öffnet. Es ist auch möglich, auf politischem Wege zu einer auf Edelmetallen basierten Währungsordnung zu gelangen. Zahlreiche Pläne dazu liegen sozusagen in der Schublade (siehe z.B. Huerta de Soto).2 Aber vor der Tat muss die Einsicht kommen. Solange breite Bevölkerungskreise von der Nützlichkeit unserer gegenwärtigen Währungsordnung überzeugt sind, wird kein Fortschritt zu erzielen sein. Solange nicht erkannt wird, dass wir uns am Ende einer Sackgasse befinden, werden wir immer nur ein paar Schritte zurückgehen und dann erneut gegen die Wand laufen. �

2 Jesus Huerta de Soto: Geld, Bankkredit und Konjunkturzyklen. Stuttgart: Lucius & Lucius, 2011.

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Dossier Schweizer Monat 993 Februar 2012

Zurück in die Zukunft

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Der Euro war von Anfang an ein politisches Projekt. Die Idee der neuen Währung: die Europäische Union näher zusammenführen. Nun zeichnet sich ab, dass genau das Gegenteil geschieht. Welche Zukunft hat der Euro? von Hans-Olaf Henkel

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er Ruf des Euro hat gelitten. Die Krise der Eurozone hat freilich auch ihr Gutes, weil sie zu einem neuen Nachdenken über die politische Gestaltung unseres Kontinents führt. Dies habe ich an mir selbst festgestellt. Im Verlauf der Krise habe ich nicht nur meine Meinung über den Euro geändert, sondern auch über die Richtung, die die Europäische Union einschlagen sollte. Einst war ich ein enthusiastischer Befürworter des Euro und romantischer Träumer von einem «Vaterland Europa» im Gegensatz zu Charles de Gaulles «Europa der

Einst war ich ein enthusiastischer Befürworter des Euro und romantischer Träumer von einem «Vaterland Europa».

Vaterländer». Ich erinnere mich noch gut an den Sommer 1956, als ich, 16jährig, meine erste Fahrradtour ins Ausland unternahm. Über Trier und Luxemburg und einen Schlenker über die belgische Grenze radelte ich nach Paris. Der Krieg war noch keine zehn Jahre vorbei, und doch stempelten die Beamten in ihren Grenzhäuschen dem deutschen Jungen seinen Reisepass (!) und liessen ihn auf seinem klapprigen Fahrrad passieren. Ich atmete Europa in vollen Zügen. Fast 40 Jahre später wurde ich Präsident von IBM Europa und bezog nun schon zum dritten Mal in meinem beruflichen Le46

ben eine Wohnung in Paris. Meine Vorgänger, u.a. der legendäre Schweizer Kaspar Cassani, hatten aus den nationalen Tochtergesellschaften der IBM längst ein durch und durch europäisches Unternehmen gemacht. Unsere Kunden wurden zwar noch auf nationaler Basis betreut, die Produktion war jedoch längst europäisiert. Wieder erlebte ich Europa als etwas Positives. Heute gibt es keine IBM Europa mehr. So wie IBM sind auch BMW, Nestlé und ABB längst global organisiert. Für unsere Unternehmen war Europa bestenfalls eine Episode auf dem Weg von nationaler zu globaler Orientierung. Sicher ist ein Verbund von Staaten nicht eins zu eins mit Töchtern eines Unternehmens gleichzusetzen, dennoch ist der Vergleich illustrativ: die Architekten des «Hauses Europa» (Michail Gorbatschow) machen sich etwas vor und halten an einer vergangenen Welt fest, wenn sie europäische Nabelschau betreiben. Europapolitiker sollten vielmehr die ganze Welt in den Blick nehmen – ohne dabei ihre Heimat aus den Augen zu verlieren. Heute werden wir Zeugen eines grotesken Vorgangs: Als Nebenprodukt von Euro-Rettungspaketen zeichnen unsere euromantischen Architekten eine zentralistische Eurozone («Fiskalunion») auf die Landkarte, die sich schon deshalb bald als anachronistisch herausstellen dürfte, weil sie die kulturelle und wirtschaftliche Realität völlig ignoriert. Anstatt ein Währungssystem den vorhandenen Kulturen anzupassen, soll ein ganzer Kontinent den Bedürfnissen einer Währungsunion untergeordnet werden. Das kann, nüchtern betrachtet, nicht gutgehen. Der Marsch in ei-

Hans-Olaf Henkel ist Autor und Honorarprofessor an der Universität Mannheim. Er war Chef der IBM Europa, Mittlerer Osten und Afrika sowie Präsident des Bundes­ verbandes der Deutschen Industrie (BDI).

nen europäischen Zentralstaat würde das Gegenteil dessen bewirken, was er bezweckt – er würde mithin den europäischen Zusammenhalt schwächen statt stärken. Welchen Weg also müsste Europa gehen? Dazu möchte ich drei Anregungen präsentieren. 1. Mehr Föderalismus, weniger Zentralismus Wenn grosse Organisationen an den Rand des Ruins oder in die Pleite geraten, so hängt dies zumeist mit ihrer Grösse und zunehmenden Unfähigkeit der Verwalter bzw. ihrer gewählten Vertreter zusammen, den Überblick zu behalten. Deshalb tut eine Grossorganisation, die der Logik einer Top-down-Organisation folgt, gut daran (oft gegen den Widerstand der Verwalter bzw. Vertreter), sich als Konglomerat aus vielen selbständigen Organisationen zu verstehen. Je grösser eine Organisation, desto mehr muss sie delegieren, eigenverantwortlich agierende Zentren gründen und die Möglichkeit schaffen, unten, also beim Kunden bzw. Bürger, optimale Lösungen zu finden. Für Staatenbünde gilt deshalb dasselbe wie für grosse Unternehmungen: mehr Dezentralisierung statt Zentralisierung! Wenn wegen Verletzung bisheriger Verträge nun alle Fäden Europas in Brüssel (oder Luxemburg) enden sollen, wird dieser Kontinent zu einem unbeherrschbaren


Hans-Olaf Henkel (Bild: pd)

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und schwerfälligen Koloss. Dieses politstrukturelle Szenario hat bereits viele historische Gesichter, das anschaulichste mag das der ehemaligen Sowjetunion gewesen sein. Das Schicksal der UdSSR wurde nicht nur durch eine versagende Ideologie, sondern auch durch den übermächtigen und bürokratischen Zentralstaat besiegelt. Alle Fäden liefen in Moskau zusammen. Selbst eine Jahrhundertkatastrophe, wie die im entfernten ukrainischen Tschernobyl, wurde in Moskau so lange unter dem Deckel gehalten, bis es für eine Evakuierung vieler zu spät war. Das Beispiel der Schweiz hingegen zeigt seit vielen Jahren, dass «small» eben «beautiful» ist. Eine föderale Organisa­

Keiner in den USA käme auf die Idee, Texas Rettungspakete für das überschuldete Kalifornien schnüren zu lassen.

tionsform ist einer zentralistischen auf lange Frist überlegen. Weil föderale Organisationen Probleme nur nach oben delegieren können, wenn keine andere Möglichkeit besteht, müssen sie schneller auf Missstände reagieren. Man denke an die Schweizer Schuldenbremse. Noch unmittelbar vor der «Eurokrise» führten die Europapolitiker immer gern den Begriff «Subsidiarität» im Munde. Jetzt ist dieser Begriff aus ihrem Vokabular verschwunden. Nun soll ein europäischer Zentralstaat her, aufgrund der durch nichts bewiesenen Begründung, dass die Probleme des Euro durch ein «zu wenig an Europa» entstanden seien. Besonders eifrige Euromantiker bemühen dabei die Idee der «Vereinigten Staaten von Europa», übersehen aber, dass ihr grosses Vorbild auf der anderen Seite des Atlantiks trotz Einheitswährung immer ein föderaler Staat geblieben ist. Keiner käme dort auf die Idee, Texas Rettungspakete für das überschuldete Kalifornien schnüren zu lassen. In der Eurozone, immer noch bestehend aus rechtlich völlig 48

unabhängigen Staaten, wird freilich genau das bereits heute über diverse «Rettungsschirme» praktiziert. Der zu rettende Euro ist eine «one-sizefits-all»-Währung, die sich für die Griechen und Franzosen als längst zu schwer und für Deutsche und Österreicher als viel zu leicht erwiesen hat. Die politische Klasse der Eurozone tritt nun unter dem Banner «mehr Europa» die Flucht nach vorn in den europäischen Zentralstaat an. Stattdessen sollte sie die Konsequenz aus der Fehlentwicklung ziehen. Ich habe vorgeschlagen, dass Deutschland, Holland, Finnland und Österreich gemeinsam aus dem Euro austreten und eine eigene gemeinsame Währung begründen, die genau so funktionieren soll, wie es ursprünglich einmal für den Euro vorgesehen war. Sicher würden Schweden, Dänemark, Tschechien beitreten. Der Euro bliebe den anderen Ländern erhalten und würde ihnen, in abgewerteter Form, wieder eine Wachstumsperspektive bieten. Zwar würden für die Austrittsländer Exporte teurer, aber der Aufwertungseffekt kann in Grenzen gehalten werden. Diese Idee wurde zuerst marginalisiert und ignoriert. Nun wird sie diskutiert und als denkbares Szenario behandelt. Denn angesichts der Alternativen – weitermachen wie bisher oder Rauswurf Griechenlands – ist eine Aufspaltung der bessere Weg. 2. Mehr echte Eigenverantwortung statt falsche Solidarität Ich habe beim Entwurf und bei der Einführung an vorderster Front für die Einheitswährung gekämpft. Inzwischen bereue ich diesen Einsatz aus drei Gründen. Erstens war ich naiv genug zu glauben, dass sich die Politik an die selbst gesetzten Stabilitätsauflagen hält. Schon mit der Aufnahme Griechenlands, gegen die ich damals öffentlich protestierte, wurde aber der Maastricht-Vertrag gebrochen. Sowohl Präsident Jacques Chirac als auch Kanzler Gerhard Schröder verletzten danach die Neuverschuldungsgrenzen ihrer Länder und schufen damit die Basis für über 60 weitere Vertragsverletzungen in der Eurozone. Keine zog die vertragsmässig festgelegten Konsequenzen nach sich. Auf Druck

von Präsident Nicolas Sarkozy brachte Kanzlerin Angela Merkel schliesslich die «no-bail-out»-Klausel zum Einsturz, die als Brandmauer zwischen dem deutschen Steuerzahler und ausgabefreudigen Politikern anderer Länder vom damaligen Finanzminister Theo Waigel aufgebaut worden war. Der jetzt verfolgte Plan, den «moral hazard» (den Anreiz zu weiterem Schuldenmachen) durch neue Verträge zu begrenzen, ist völlig unglaubwürdig. Wenn die Politik nicht einmal in der Lage war, die früheren, niedrigeren Hürden zu überspringen, warum sollte sie in der Zukunft gar noch höhere nehmen? Zweitens hatte ich nicht erkannt, dass sich in völlig unterschiedlichen Finanz-, Wirtschafts- und Sozialkulturen eine «onesize-fits-all»-Währung zu einer «one-sizefits-none»-Währung entwickeln musste. Nur mit niedrigen Euro-Zinssätzen konnten griechische Politiker gigantische Schulden aufhäufen. Die Immobilienblase in Spanien hätte mit «spanischen» Zinsen niemals entstehen können. Schlimmer noch: die meisten «Südländer» konnten ihre in der Vergangenheit geübte Praxis nicht mehr aufrechterhalten; stets konnten sie bisher durch moderate Reformen, aber auch durch Abwertungen ihre Wettbewerbsfähigkeit sichern. Das war einmal. Alle, einschliesslich Frankreichs, verloren seither – teilweise dramatisch – an Wettbewerbsfähigkeit. Drittens hat sich der Währungsverbund zu einer veritablen Ansteckungsmaschine entwickelt. Die Erkältung eines Landes führt sofort zur Grippe oder gar Lungenentzündung eines anderen. Dass die Frankfurter Börse auf Entwicklungen in Lissabon hektisch reagiert, dass im Gefolge von Herabstufungen Italiens und Belgiens die Ratingagenturen nun die Bonität Deutschlands in Frage stellen, ist ein Resultat der Einheitswährung. Statt Brände mit Brandmauern zu isolieren, wird im Euroraum für Funkenflug gesorgt. Statt diese Zusammenhänge zuzugeben und die Eigenverantwortlichkeit ihrer Mitglieder wieder herzustellen, marschiert die politische Klasse der Eurozone in die entgegengesetzte Richtung, die mit «Transferunion» beschildert ist und in der jeder


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Mitgliedstaat für die Schulden aller haftet. Dieses System organisierter Verantwortungslosigkeit führt die Eurozone unweigerlich über eine Schulden- in eine Infla­ tionsunion. Daran ändert auch der Etikettenschwindel nichts, diese nun ausgerechnet «Stabilitätsunion» zu nennen. Natürlich war die Europäische Union immer auch solidarisch. Strukturausgleichsfonds, Kohäsionsfonds, gemeinsame Forschungsprojekte wurden von den «Geberländern» finanziert, um in den «Nehmerländern» für mehr Wohlstand zu sorgen. Bisher war diese Umverteilung aber auf 1,2 Prozent des EU-Bruttoinlandsprodukts und auf klar definierte Projekte beschränkt. Und vor allem unterlag sie einem demokratisch legitimierten Prozess. Neuerdings hingegen ist die gemeinschaftliche Haftung für in den einzelnen Ländern bereits aufgetürmte und in der Zukunft weiter aufzunehmende Schulden vorgesehen, deren Höhe genauso wenig bekannt ist wie der Zweck, der zum Schuldenmachen führte. Zwar will man eine verfassungsmässig abgesicherte Schuldenbremse in allen Eurozonenländern einführen, aber schon in Frankreich, wo 2011 die Neuverschuldungsquote viermal so hoch war wie in Deutschland, haben die Sozialisten beschlossen, dass mit ihnen eine entsprechende Verfassungsänderung nicht zu machen sei. 3. Mehr Wettbewerb, weniger Harmonisierung «How do we Europeans get competitive?», fragte in den 1990er Jahren der damalige EU-Kommissar Leon Brittan und gab selbst die Antwort: «By competition!» Der Wettbewerb zwischen kleineren Einheiten führt, gute Rahmenbedingungen vorausgesetzt, zu einem stärkeren Ganzen. Dass der Wettbewerb zwischen kleineren Kantonen zu einer insgesamt stärkeren Schweiz führt, wissen nicht nur die Schweizer. Noch im Jahre 2000 hatten sich die Staats- und Regierungschefs der EU darauf geeinigt, die EU im Jahre 2010 zur «wettbewerbsfähigsten Region» der Welt zu machen. Die Vielfalt der einzelnen Länder wurde zum Markenzeichen der EU. Mit dem damit einhergehenden Wettbewerb

der Ideen wurde die zügige Aufnahme von immer mehr Ländern begründet. Ich meine zu Recht, denn mit einer Erweiterung des Binnenmarktes nahm der Wettbewerb unter den Ländern zu. Mit dem System des «Benchmarking», dem Vergleich mit dem jeweils Besten auf europäischer Ebene, wurde die Grundlage dafür geschaffen, voneinander zu lernen. Leider haben unsere Europapolitiker die Erkenntnis vernachlässigt, dass man nicht beides auf einmal haben konnte: erweitern und vertiefen. Durch den Reflex, auf die Eurokrise mit «mehr Europa» zu reagieren, wird dieser Wettbewerb nun abgewürgt. Stattdessen soll harmonisiert werden, beispielsweise die Steuersätze. Dass am Ende nicht das niedrigere Steuerniveau von Irland, sondern eher das höhere von Frankreich für alle herauskommt, ist abzusehen. Oder glaubt jemand ernsthaft, die Finanzminister der Höchststeuerländer würden jetzt die Steuern senken? Diese Angleichung – auch die anvisierte Harmonisierung der Sozialversicherungssysteme, der Arbeitszeiten, des Lohnniveaus usw. – ist politisch gewollt. Europas Sozialpolitiker und Gewerkschaftsführer ergreifen jetzt die Gelegenheit, den Wohlstand in Europa angeblich «gerechter» zu verteilen. In Wahrheit sinkt dadurch insgesamt der Wohlstand, so dass es weniger zu verteilen gibt – was ja kaum gerecht sein kann. Auch die Rhetorik von dem «grossen Währungsraum», der die Eurozone angeblich schon durch seine Grösse auf Augenhöhe mit den USA oder China bringen soll, ist nicht überzeugend. «Scheitert der Euro, scheitert Europa», meint Bundeskanzlerin Angela Merkel. Was für ein Trugschluss! Europa hat es schon lange vor dem Euro gegeben, selbst in der EU gibt es noch zehn Länder, von denen kaum eins noch Lust auf den Euro verspürt. Darüber hinaus gibt es weitere ca. 20 europäische Länder wie Norwegen oder die Schweiz, die nicht einmal in der EU sind. Da angesichts des angerichteten Chaos den Befürwortern der Einheitswährung die ökonomischen Argumente ausgegangen sind, werden vermehrt politische Begründungen ins Feld geführt. Wenn gar nichts

mehr hilft, wird sogar behauptet, der Euro sei notwendig zur Friedenssicherung. Einmal ganz davon abgesehen, dass wir auch zu D-Mark-Zeiten im Frieden lebten und seit der Einführung des Euro auch mit unseren Nicht-Euro-Nachbarn gut auskommen, ist dieses Argument auch historisch unsinnig. Der Friedensgarant heisst Demokratie und nicht Euro. Noch nie hat eine Demokratie eine andere angegriffen. In Einheitswährungsräumen (beispielsweise Dinar und Rubel) gab es durchaus blutige Auseinandersetzungen. Deshalb wird umgekehrt «ein Schuh daraus»: die zunehmend undemokratische Krisenbewältigung, das ständige Hineinreden deutscher Politiker in die Angelegenheiten anderer

Der Euro erreicht das genaue Gegenteil dessen, was er mal erreichen sollte.

Länder, die Einschränkung des Budgetrechts der Länderparlamente durch zentralistische Aufsichtsorgane führen zu einer gefährlichen Aushöhlung der Demokratie. Mehr noch, wir beobachten jetzt schon immer öfter Zwist und Zwietracht innerhalb der Eurozone und parallel dazu eine ständige Verbreiterung des Grabens zwischen Euro- und Nichteuroländern. Der Euro erreicht also das genaue Gegenteil dessen, was er mal erreichen sollte. Es steht zu befürchten, dass unsere Politiker jetzt nicht den Mut aufbringen, ihren kapitalen Fehler einzugestehen, und stattdessen weiter auf «Augen zu und durch» setzen werden. Erst wenn der Scherbenhaufen so gross ist, dass die Bürger ihn nicht mehr übersehen können und den für den Schaden Verantwortlichen das Vertrauen entziehen, wird der verhängnisvolle Marsch in einen europäischen Zentralstaat abgebrochen und wieder auf ein plurales Europa gesetzt. In der Unterschiedlichkeit, in der Mannigfaltigkeit liegt seine Kraft. Die Vorschläge dazu liegen vor. � 49


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Europas Schuld

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Die Euro-Staaten haben Schulden in furchteinflössender Höhe angehäuft. Damit haben sie sich von den Einschätzungen der Finanzmärkte abhängig gemacht, deren Macht sie nun beklagen. Wie kommen die Staaten aus dem Schulden-Teufelskreis wieder heraus? von Rich Mattione

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uss die deutsche Kanzlerin Angela Merkel bald einen Anruf aus Rom befürchten, in dem eine Stimme ängstlich erklärt, Italien werde wider Erwarten dem Weg Griechenlands folgen und seinen Zahlungsverpflichtungen nicht mehr nachkom­ men? Und würde sie sich dann wie Caesar fragen: «Et tu, Italia?» Die ausstehenden Staatsschulden in der Eurozone türmten sich per Ende 2010 auf schier unvorstellbare 9,3 Billionen Euro. Allein 3,1 Billionen davon stammen

Die Rechenaufgabe der Euro-Schuldenkrise ist gewaltig, aber wohl lösbar.

von den sogenannten PIIGS-Ländern Portugal, Irland, Italien, Griechenland und Spanien. Sogar die Kernländer Deutschland und Frankreich haben Verschuldungsquoten, welche die in den Maastricht-Stabilitätskriterien postulierten 60 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) bei weitem übersteigen. Die nackten Zahlen sind zweifellos furchteinflössend. Dennoch scheint es möglich, dass der Bankrott nur einzelne Staaten wie Griechenland trifft, die restlichen Problemländer sich aber noch ein paar Jahre durchhangeln können, bis das Weltwirtschaftswachstum wieder anzieht und sie aus den Schulden herauswachsen lässt. Während die Rekapitalisierung der Banken 50

einen langen Schatten auf die Märkte wirft, gibt es einen nicht besonders beliebten, aber gangbaren Weg für die Eurozone, die benötigten Staatsfinanzen zumindest mittelfristig aufzutreiben. Es bedürfte dazu der Schützenhilfe durch die Europäische Zentralbank (EZB), die, wie im Dezember bereits einmal vorgeführt, für längere Zeiträume mehr Liquidität zur Verfügung stellt. Das ist keine dauerhafte Lösung, aber sie gewährt jene Zeit, die die Staaten brauchen, um sich zu sanieren. Mit anderen Worten: die Rechenaufgabe der Euro-Schuldenkrise ist gewaltig, aber wohl lösbar. Das wollen wir auf den folgenden Seiten zeigen. Das 6-Faktor-Schuldenmodell Wir haben ein einfaches Modell aufgestellt, das zeigen soll, wie gut die Chancen einer Lösung der Verschuldungsprobleme in verschiedenen Szenarien sind. Explodierende Staatsschulden betrachten wir als untragbar, wenn der Verschuldungsgrad selbst bei positiven Wirtschaftsszenarien in den kommenden Jahren hoch bleibt. Hingegen gilt die Staatsschuld dann als tragbar, wenn der Verschuldungsgrad trotz sich verschlechternder Wirtschaftsaussichten schrittweise unter Kontrolle kommt. Entscheidend sind in diesem Zusammenhang die Solvenz und die Liquidität. Wenn Italien seine Staatsanleihen nicht mehr auf dem Refinanzierungsmarkt losbringt, wird das Land zunächst illiquid, bevor es zuletzt die Zinszahlungen einstellt. Dasselbe würde für die USA oder Japan gelten. Wir befassen uns in unserem Modell mit der Liquiditätssituation; die Frage des

Rich Mattione wurde in Harvard in Ökonomie promoviert. Er ist für die Vermögensverwaltungs­g esellschaft Grantham, Mayo, Van Otterloo & Co. LLC (GMO) zuständig für makroökonomisches Research sowie das Portfoliomanagement lateinamerikanischer und japanischer Aktienanlagen.

Zahlungswillens eines Staates lassen wir bewusst ausser Acht. Denn selbst das hoch verschuldete Griechenland kann jederzeit Staatsvermögen veräussern, um zahlungsfähig zu bleiben. Das stellt zwar im Vergleich zur Option Staatsbankrott einen hohen Preis in Form von Ressourcentransfers ins Ausland dar (zum Beispiel durch den Verkauf von griechischem Staatseigentum). Aber erst wenn Griechenland sich diesem weiteren Ressourcentransfer verweigert, ist das Spiel definitiv aus. Noch vor wenigen Jahren bestand die elegante Lösung der Länder für solche Fälle darin, einfach mehr Geld zu drucken, die Schulden also durch Entwertung zu verringern. Die USA, Japan und Grossbritannien können diesen Weg weiterhin beschreiten, für die Länder der Eurozone ist dieser Weg seit Einführung der gemeinsamen Währung hingegen verbaut. Sie haben die Geldsouveränität an die EZB abgetreten. Kein einzelnes Euroland kann daher in Eigenregie seine Schulden weginflationieren. Es bleibt nur ein Ausweg: die Märkte davon zu überzeugen, weiterhin Staatsanleihen zu einem tragbaren Zins zu zeichnen. Unser Modell berücksichtigt pro Land sechs Parameter, um die Wirksamkeit der Massnahmen gegen die Verschuldungsproblematik zu messen: die Nominalschuld, den Zinssatz auf die Staatsobligationen,



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das nominale BIP, die Wachstumsrate des BIP, die Inflationsrate und den Budgetüberschuss des Staatshaushalts. Diese sechs Parameter erlauben eine robuste Untersuchung der gängigen Entwicklungsszenarien und Vorschläge zur Lösung der Schuldenkrise.1 «Inflationslösung» wird durchschaut Beginnen wir mit der Frage: Lassen sich Schulden weginflationieren? Unter der Vor­ aussetzung der Stabilität aller anderen Faktoren bewirkt eine höhere Euro-Inflation eine Reduktion der Schuld im Verhältnis zum BIP. Es ist dann aber auch wahrscheinlich, dass der Markt die Situation durchschaut und die Zinsen steigen lässt, um die höhere Inflation zu reflektieren. Damit wäre der Vorteil eliminiert – ein in unserem Modell durchaus realistisches Szenario. Bei einem Verschuldungsgrad von über 100 Prozent des BIP sind höhere Zinsen jedoch Gift. Diese Situation ist heute bereits in Italien und Griechenland zu beobachten. Deshalb sind tiefe Zinsen bei solch hohen Verschuldungsgraden absolut zwingend, wenn sich ein Land aus der ungemütlichen Lage befreien können soll. Klar ist: es bedarf eines rigorosen Sparkurses. Ein rigoroser Sparkurs mit einhergehenden Budgetüberschüssen muss dafür sorgen, die Verschuldung innerhalb eines Zeitraums von sagen wir zehn Jahren wieder auf eine tragfähige Ebene zu bringen, so dass die Sparpolitik gelockert werden kann oder die Zinsen wieder auf ein erträgliches Niveau sinken. Ohne rigiden Sparkurs ist keine glaubwürdige Gesundung möglich, da sich sonst die Schulden schneller auftürmen, als das BIP wachsen kann. Nun sind wir an einem heiklen Punkt angelangt: Ein solcher Sparkurs ist politisch schwierig umzusetzen. Nach keynesianischer Lehre behindert ein Sparkurs das Wachstum der Wirtschaft, weil Investitionen ausbleiben. Dieser Einwand ist nicht ganz von der Hand zu weisen. Um die negativen Effekte der Sparprogramme zu kompensieren, verlangen die vorgeschlagenen Anpassungsprogramme deshalb den Ver1 Die ausführliche Studie auf Englisch ist unter www.gmo.com abrufbar.

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kauf von Staatsvermögen und Liberalisierungsschritte wie Subventionsabbau oder einen freieren Arbeitsmarkt. Solche Anpassungsprozesse sind freilich ebenfalls schwierig durchzuführen. Die Wahrscheinlichkeit, dass sie selbst bei hoch verschuldeten Staaten zielführend sind und am Ende aus ökonomischer Einsicht eben dennoch umgesetzt werden, ist gemäss unserer Modellrechnung hoch. Szenarien für Italien: Lösung ist möglich Zwei Staaten stehen besonders im Mittelpunkt: Griechenland und Italien. Die Schulden Italiens belaufen sich mittlerweile auf fast 2 Billionen Euro, was rund 115 Prozent des BIP ausmacht. Die Situation ist umso beängstigender, wenn man berücksichtigt, dass sich die italienische Wirtschaft einer Rezession nähert. Trotzdem ist noch immer eine Lösung möglich, sobald sich die globale Wirtschaft von der Wachstumsschwäche erholt und die Markt­ teilnehmer wieder willens sind, italienische Staatsanleihen zu zeichnen. Gehen wir von positiven Grundannahmen aus und rechnen für Italien mit einer Inflation von 1 Prozent und einem langfristigen jährlichen Wachstum des inflationsbereinigten BIP von 1,5 Prozent, was dem durchschnittlichen Wachstum Italiens in der Zeit von 1998 bis 2008 entspricht. Die durchschnittlichen Zinskosten betragen in unserem Hochzinsszenario 6 Prozent, im moderateren Fall 4 Prozent. Beide Annahmen beruhen auf langfristigen Werten aus der Vergangenheit, liegen aber klar unter den 7,11 Prozent, die Italien Anfang Januar für die Emission 10jähriger Anleihen zu bezahlen hatte. Selbst mit diesen generösen Annahmen zeigt sich: ohne jegliche Anpassung am fiskalpolitischen Programm – das heisst mit einem laufenden Defizit von 4 bis 5 Prozent des BIP – verschlimmert sich die Lage Italiens zusehends. Erst wenn Italien dank Sparmassnahmen einen Haushaltsüberschuss von 4 Prozent erzielen kann, sinkt die Verschuldung langsam. Die Hoffnung ist dann, dass in der zweiten Hälfte der Spardekade das Wachstum mit einer wachstumsfördernden Wirtschaftspolitik

wieder angekurbelt werden kann. Die Umsetzung verlangt sehr harte Massnahmen, die viel Geduld erfordern. Sie sollten Italien jedoch erlauben, sich ohne Staatsbankrott selbst aufzufangen – eine gewaltige, aber lösbare Aufgabe. Szenarien für Griechenland: Bankrott akzeptieren Noch schwieriger zu lösen ist der Fall Griechenlands. Das beste Szenario rechnet mittelfristig mit einem moderaten Anpassungsprogramm und mittelhohen Zinssätzen, was einen Budgetüberschuss von 3 Prozent und Zinssätze von 5 Prozent ergibt. Diese Zinssätze sind allerdings weit von dem entfernt, was der Markt aktuell verlangen würde. Trotz dieser Annahmen würde sich der Schuldenberg innerhalb einer Dekade nicht abbauen lassen, sondern lediglich stabilisieren. Unglücklicherweise lässt sich die kontinuierliche Zusatzverschuldung selbst mit einem Überschuss von 3 Prozent nicht stoppen, solange die Zinsen so hoch sind. Mit einem realistischeren Szenario von 7 Prozent Zinsen und einem Haushaltsüberschuss von 5 Prozent steigt die Verschuldung noch weiter. Letzteres würde Griechenland zwingen, grosse Teile seines Staatsvermögens zu verkaufen, was gesellschaftlich kaum akzeptabel erscheint. Gibt es noch einen Ausweg für Griechenland? Nehmen wir an, das reale BIPWachstum erhole sich für den Rest der Dekade schnell auf 3 Prozent pro Jahr und die Griechen könnten durch eine verschärfte Besteuerung und Verkäufe von Staatsvermögen während zwei aufeinanderfolgenden Jahren einen Haushaltsüberschuss von 10 Prozent erzielen. In diesem Falle würde die Verschuldung bis 2020 auf dasselbe Niveau fallen, das Italien heute hat – aber auch das nur unter der zusätzlichen Annahme, dass die Märkte wieder Vertrauen fassen und sich Griechenland neu mit 4 Prozent refinanzieren könnte. Wunder geschehen zwar, dieses hier aber wahrscheinlich nicht! Es gibt keinen vertrauens­ würdigen Ausweg für Griechenland ohne Bankrott und scharfen Schuldenschnitt. Ein oft zitiertes Beispiel eines Landes, das sich trotz schwieriger Wirtschaftsbe-


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dingungen aus der Schuldenfalle befreien konnte, ist Brasilien. So wird immer wieder eingewandt, Brasilien habe es im Jahre 2002 auch geschafft, sich vom Schuldenproblem zu befreien, also sei dies in Griechenland auch möglich. Die Verschuldung Brasiliens betrug aber nur einen Bruchteil derjenigen Griechenlands (oder auch Ita­ liens). Trotzdem dauerte Brasiliens Weg zurück zum Wachstum vier Jahre und Brasilien konnte lediglich 10 Prozent seiner Verschuldungsquote abbauen. Gleichzeitig mahnt das Beispiel Brasiliens auch zur Vorsicht: eine sich abschwächende Währung allein hilft nicht. Brasiliens Lage besserte sich vor allem, weil der Anteil ausländischer Schulden sich mit dem aufwertenden Real verkleinerte (ganz abgesehen davon, dass Brasilien ein ressourcenreiches Land mit einem grossen Binnenmarkt ist). Lösungen mit einer «neuen Drachme», die den Weg für mehr Wachstum freimachen soll, verkennen das Problem der in Euro festgesetzten Schulden Griechenlands sowie die grosse Herausforderung, beim EuroAustritt laufende Verträge zu ändern. Die Banken und der Privatsektor scheinen im Falle Griechenlands zu einem gewissen Schuldenschnitt bereit, der sowohl Kapitalabschreiber als auch eine Senkung des Couponzinses beinhaltet. Aber kann dies helfen? Alle Annahmen, die eine Verschuldung Griechenlands reduzieren würden, sind mit einem Schuldenschnitt von 60 Prozent viel grosszügiger gerechnet, als was die derzeitigen Gläubigerverhandlungen bisher hergaben. Die momentanen Bemühungen sind für Griechenland also auch in diesem Punkt ungenügend. Die weiteren Aussichten… Für die gefährdeten PIIGS-Länder ergeben sich aus unseren Modellrechnungen in der Kurzfassung folgende Perspektiven: Portugal hat grosse Teile seiner Textilund Schuhindustrie an China und andere Schwellenländer verloren. Die neue Regierung schreitet mit der Sparpolitik fort, die es dem Land ermöglichen sollte, seine Schul­ d en zurückzuzahlen. Sollten die Sparbemühungen trotzdem ungenügend sein, ist Portugal ein Kandidat für einen

tiefen Schuldenschnitt. Aufgrund seiner geringen Grösse ist das Land glücklicherweise kein systemisches Risiko für Gesamteuropa. Irlands Hauptproblem ist der Kollaps des Immobilienmarkts nach jahrelangem Boom. Der Staat hat die Banken zu einem geringen Schuldenschnitt verpflichtet und etliche vor dem Konkurs gerettet. Der finanzielle Aufwand des Staates war jedoch derart gross, dass sich eine moderate Verschuldung von nur 40 Prozent des BIP in untragbare Höhen verwandelte. Irland hat sich einem längeren und härteren Restrukturierungsprozess unterzogen als alle anderen Länder. Das Problem bleibt gravierend, jedoch nicht unlösbar. Zudem sind die Gesamtschulden vergleichsweise klein, also kein Systemproblem.

Weitere Reformen werden wahrscheinlich zu einer Art Fiskalunion in Europa führen.

Italien ist am Rande einer unkontrollierbaren Situation. Kleine Schuldenschnitte tragen ausser weiterem Schaden für das Rating wenig zur Lösung bei. Eine konsequente Restrukturierung muss nun bald einsetzen und sollte so lange von Verkäufen staatlicher Vermögen begleitet sein, bis die Märkte wieder genügend Vertrauen haben, Italiens Staatsanleihen im vollen Umfang zu zeichnen. Griechenland ist bankrott, doch glücklicherweise klein. Ein Austritt aus dem Euro würde die Situation nicht ändern. Ein Schuldenschnitt von 50 Prozent bei gleichzeitig weiterhin hohen Zinsen stellt das Land wahrscheinlich erneut vor ähnliche Probleme. Nur wenn gleichzeitig eine Schuldenrestrukturierung mit sehr langen Laufzeiten (beispielsweise 30 Jahre) versehen wird, gewinnt das Land Zeit, die Pro­ bleme langfristig lösen zu können. Spanien leidet unter seinem bis vor kurzem noch prosperierenden Immobi­

liensektor. Doch der negative Effekt von dessen Kollaps auf Immobilienpreise, Beschäftigung und Staatseinnahmen ist bereits eingetreten. Wenn die neue Regierung schnell vorwärts macht und möglicherweise eine Restrukturierung des Bankensektors anstrengt, kann die Lage stabilisiert werden. Gemessen am BIP ist die Verschuldung Spaniens viel besser unter Kontrolle als in vielen anderen Ländern. Der Verschuldungsgrad wird allerdings über die kommenden fünf Jahre steigen. Im Idealfall muss nur Griechenland restrukturiert werden. Doch selbst wenn es schlimmer kommt, lässt sich festhalten: solange das ausufernde Schuldenproblem auf Griechenland, Irland und Portugal beschränkt bleibt, sind die Beträge im gesamteuropäischen Rahmen und mit Hilfe des Internationalen Währungsfonds (IWF) verkraftbar. Dessen ungeachtet bleibt Vorsicht geboten, was die Situation der Banken anbelangt, die da und dort wahrscheinlich saniert werden müssen. Der Europäische Stabilitätsfonds verfügt insgesamt über Mittel von 440 Milliarden Euro, wovon einiges schon gebraucht wurde. Inklusive zusätzlicher Reserven aus dem Euroraum und mit den Mitteln des IWF stehen 750 Milliarden Euro bereit – im Vergleich zu den 3,1 Billionen ausstehender Schulden der PIIGSStaaten. Gesamthaft gesehen scheint demnach eine lockere Geldpolitik der EZB eine einfachere und darum realistische Lösung zu sein, um die notwendigen Mittel aufzubringen; ein Prozess, den die EZB im Dezember mit der Ausgabe länger laufender Mittel bereits eingeleitet hat. Weitere Reformen sind sicherlich notwendig und werden wahrscheinlich zu einer Art Fiskalunion in Europa führen. Unabhängig von der Frage, ob damit solche Schuldenkrisen zukünftig verhindert werden können, kommen diese Bemühungen aber für das aktuelle Schuldenproblem viel zu spät. Deshalb ist es höchste Zeit, nun die gravierenden, aber noch lösbaren Fälle von den unlösbaren zu trennen und Lösungen für die betroffenen Staaten zu überlegen. Je früher, desto besser! �

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Mit dem Wohlstand ist in europäischen Demokratien auch die Staatsquote gewachsen. Während der soziale Zusammenhalt abnimmt, nimmt die Umverteilung zu. Was bedeutet dies für den Schutz von Freiheit und Eigentum? von Roland Vaubel

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n ihrem neuen Buch «The Pillars of Prosperity» (Princeton University Press 2011) weisen die beiden Ökonomen Timothy Besley und Torsten Persson nach, dass zwischen dem Schutz des Eigentums und den Staatseinnahmen in Prozent des Bruttoinlandsprodukts international ein positiver Zusammenhang besteht, der statistisch hochsignifikant ist. Dieser Befund ist auf den ersten Blick erstaunlich, denn der Schutz des Eigentums ist ein klassisch liberales Anliegen, während eine hohe Staatsquote eher von sozialistischen oder sozialdemokratischen Parteien angestrebt wird. Besley und Persson zeigen weiterhin, dass ein weitreichender Eigentumsschutz und eine hohe Staatsquote für Länder mit hohem Pro-Kopf-Einkommen typisch sind. Sie schliessen daraus, dass Prosperität vor allem einen starken Zusammenhalt der politischen Institutionen voraussetzt: es muss Einigkeit bestehen, dass die Wirtschaftsordnung das Eigentumsrecht respektiert, zugleich aber der Staat in grossem Umfang umverteilt. Persson ist Schwede. Was er preist, ist das skandinavische Modell. Man kann die positive Korrelation zwischen Eigentumsschutz und Staatsquote jedoch auch ganz anders erklären: In der Geschichte war es so, dass der Schutz des Eigentums und der individuellen Freiheit, den der Wettbewerb zwischen den europäischen Herrschern hervorbrachte, dem einzelnen einen starken Anreiz gab, in sein Humankapital – seine Ausbildung – zu investieren. Denn er konnte davon ausgehen, dass die Erträge aus seiner Arbeit in erster Linie ihm selbst zufliessen würden. In dem Masse, in dem die Menschen dazulernten, 54

wollten sie auch in der Politik stärker mitbestimmen. Die Untertanen emanzipierten sich. Sie forderten politische Partizipation – Demokratie. Es setzten sich diejenigen – eine Mehrheit – durch, die die Demokratie – wie Rousseau – als Herrschaft der Mehrheit definierten. Diese Mehrheit verlangte staatliche Umverteilung zu Lasten der Minderheit – die Staatsquote stieg. Während also Besley und Persson Eigentumsschutz und staatliche Umverteilung auf eine gemeinsame Ursache – politischen Zusammenhalt – zurückzuführen versuchen, zeigt ein Blick in die Geschichte, dass zwischen Eigentumsschutz und staatlicher Umverteilung eine kausale Beziehung besteht: Eigentum und Freiheit haben auf dem Weg über das Humankapital und die Mehrheitsdemokratie zu einer höheren Staatsquote geführt. Diese historische Sichtweise macht zugleich deutlich, dass die zunehmende staatliche Umverteilung nicht eine Ursache der Prosperität ist, sondern sie gefährdet. Denn je mehr der Staat die Steuern und Abgaben erhöht, desto schwächer werden die Anreize, Humankapital zu bilden. Die Investitionsentscheidungen der Individuen werden ja nicht nur vom staatlichen Schutz der Eigentumsrechte im Markt bestimmt, sondern auch davon, was der Staat selbst seinen Bürgern übrig lässt. Das Eigentumsrecht muss nicht nur vor Übergriffen anderer Individuen, sondern auch vor Übergriffen des Staates geschützt werden. Das ist das klassische Freiheitsziel, wie wir es zum Beispiel bei Wilhelm von Humboldt finden: «Der Staat enthalte sich aller Sorgfalt für den positiven Wohlstand der Bürger

Roland Vaubel ist Professor für Volkswirtschaftslehre an der Universität Mannheim und Mitglied des Wissenschaftlichen Beirats beim Bundes­ ministerium für Wirtschaft und Technologie.

und gehe keinen Schritt weiter, als zu ihrer Sicherstellung gegen sich selbst und gegen auswärtige Feinde notwendig ist – zu keinem anderen Endzwecke beschränke er ihre Freiheit.»1 Explosiver Anstieg der Staatsquote Die hohen Staatsquoten der meisten Industrieländer sind demnach nicht «Pfeiler der Prosperität», sondern mögliche Auslöser eines Niedergangs. Was ist schiefgelaufen? Wo setzte die Fehlentwicklung ein? Wie kann sie korrigiert werden? Der explosive Anstieg der Staatsquote, der sich im 20. Jahrhundert vollzog, ist in geradezu prophetischer Weise von dem schwedischen Ökonomen Knut Wicksell vorhergesagt worden. Er schrieb Ende des 19. Jahrhunderts: «Wenn einmal die unteren Klassen definitiv in Besitz der gesetzgebenden und steuerbewilligenden Gewalt gelangt sind, wird allerdings die Gefahr vorliegen, dass sie ebenso wenig uneigennützig verfahren werden wie die Klassen, welche bisher die Macht in den Händen hatten, dass sie m.a.W. die Hauptmasse der Steuern den besitzenden Klassen auferlegen und dabei vielleicht in der Bewilligung der Ausgaben, zu deren Bestreitung sie selbst nunmehr 1 Wilhelm von Humboldt: Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen. Breslau: Eduard Trewendt, 1851.


ÂŤOb die direkte Demokratie gegen eine steigende Staatsquote hilft, ist eine offene Frage.Âť Roland Vaubel

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nur wenig beitragen, so sorglos und verschwenderisch verfahren, dass das bewegliche Kapital des Landes bald nutzlos vergeudet und damit die Hebel des Fortschritts zerbrochen sein werden.»2 Er hatte auch einen Lösungsvorschlag: «Gegen Missbräuche der erwähnten Art liegt aber zweifellos die beste, ja die einzig sichere Garantie im Prinzip der Einstimmigkeit und Freiwilligkeit der Steuerbewilligung.» Die Einstimmigkeit der Steuerbewilligung gibt es in keinem Land, aber in der Finanzierung der Europäischen Union (EU) hat sie sich bewährt. Dem mehrjährigen Finanzierungsrahmen, der die Beitragszahlungen der Mitgliedstaaten festlegt, müssen alle Mitgliedstaaten zustimmen. Die Ausgaben der EU sind infolgedessen bei etwa einem Prozent des Bruttoinlandsprodukts verharrt. Ganz anders ist die Entwicklung im Bereich der Regulierung. Die meisten Regulierungen können seit 1987 bzw. 1993 mit qualifizierter Mehrheit vom Ministerrat beschlossen werden. Die Folge ist eine Regulierungsspirale: die Mehrheit der hochregulierten Staaten zwingt der liberaleren Minderheit per Mehrheitsentscheidung ihr hohes Regulierungsniveau auf, um ihre eigene Wettbewerbsfähigkeit zu verbessern. Das ist die sogenannte «strategy of raising rivalsʼ costs». Weil der Wettbewerbsdruck von Seiten der liberaleren Länder verschwindet, steigt dann auch das Regulierungsniveau in den hochregulierten Ländern, das diese wiederum den liberaleren Ländern aufzwingen. Nach Wicksell ist nicht nur die einstimmige Entscheidung besser als die Mehrheitsentscheidung, sondern auch die qualifizierte Mehrheitsentscheidung (zum Beispiel Mehrheit von zwei Dritteln oder drei Vierteln) besser als die einfache Mehrheitsentscheidung. Diese Möglichkeit zeigen auch James Buchanan und Gordon Tullock in ihrem Klassiker «The Calculus of Consent» (1962). Sie verdeutlichen, dass das Prinzip der einfachen Mehrheit aus ökonomischer Sicht völlig willkürlich ist. «Demokratie» heisst «Herrschaft des Volkes» – nicht Herrschaft der einfachen Mehrheit. Eine qualifizierte Mehrheit ist nicht nur für die meisten gesetzgeberischen Ent56

scheidungen des EU-Ministerrats vorgeschrieben. In vielen Nationalstaaten kann die Verfassung nur mit qualifizierter Mehrheit geändert werden. Unterhalb der Verfassungsebene spielt das Prinzip der qualifizierten Mehrheit aber wohl nur in der schweizerischen Konkordanzdemokratie eine Rolle, wo alle grösseren Parteien – weit mehr als 50 Prozent der Wähler – in der Regierung vertreten sind. Je dezentraler, desto sicherer Wenn Beschränkungen der Freiheit nur mit einer hohen qualifizierten Mehrheit eingeführt werden dürfen, folgt daraus, dass eine qualifizierte Minderheit ausreicht, um sie wieder aufzuheben. Insofern ist es unsinnig, für alle Entscheidungen eine qualifizierte Mehrheit zu verlangen. Eine solche Entscheidungsregel zementiert den Status

Die hohen Staatsquoten vieler Industrieländer sind nicht «Pfeiler der Prosperität», sondern möglicher Auslöser eines Niedergangs.

quo, aber sie schützt nicht die Freiheit in der Demokratie. Es kommt ganz darauf an, ob die anstehende Entscheidung die Freiheit beschränken oder erweitern würde. Auch Besley und Persson fragen, wovon der Schutz des Eigentums im interna­ tionalen Vergleich abhängt. Sie zeigen, dass er positiv mit der Zahl der Kriegsjahre (seit 1816) und der Homogenität der Bevölkerung korreliert ist, und sehen darin eine Unterstützung für ihre These, dass der Schutz des Eigentums vor allem politische Kohäsion – einen kompakten, in sich geschlossenen Staat – voraussetzt. Das ist das genaue Gegenteil von dem, was die liberalen Föderalisten spätestens seit Johannes Althusius (1603) gelehrt haben, und die Schweiz ist das beste Gegenbeispiel. Korrelationen sind eben nicht dasselbe wie Kausalbeziehungen. Die Regierenden sind umso eher daran interessiert, das Privateigentum zu schüt-

zen, je schärfer sie mit den Regierenden anderer Länder um mobile Produktivkräfte und Steuerzahler konkurrieren, und das gilt auch zwischen den Provinzen und Städten innerhalb eines Landes. Je dezen­ tralisierter der Staat und je kleiner und offener seine Volkswirtschaft, desto sicherer sind die Eigentumsrechte. Besley und Persson kommen nicht auf die Idee, auch diese alternative Hypothese zu testen. Welche anderen Möglichkeiten gibt es, die Demokratie mit der Freiheit kompatibel zu machen? Freiheitsrechte können in einer Verfassung festgeschrieben, ihr Schutz einer unabhängigen Gerichtsbarkeit anvertraut werden. Aber die Richter werden von der politischen Mehrheit bestellt und teilen daher grundsätzlich deren Ziele. In vielen Verfassungsgerichten sitzen sogar ehemalige Politiker. Eigentum und Freiheit wären besser geschützt, wenn alle Verfassungsrichter richterliche Erfahrung hätten und von den anderen obersten Gerichten gewählt würden. In Bundesstaaten und Föderationen sind die Verfassungsrichter daran interessiert, die Kompetenzverteilung auf Bundesebene zu zentralisieren. Je grösser die Kompetenzen des Bundes, desto wichtiger und interessanter sind die Fälle, die die Bundesrichter zu entscheiden haben. Zwei meiner Untersuchungen ergaben, dass der Anteil der zentralstaatlichen Ebene an den gesamten Staatsausgaben umso grösser ist, je länger es in dem Land bereits ein voll ausgebautes Verfassungsgericht gegeben hat und je schwieriger es ist, dessen Urteile durch Verfassungsänderungen zu korrigieren.3 Dass das schweizerische Bundesgericht nicht zur Überprüfung der Bundesgesetzgebung befugt ist, scheint eines der Erfolgsgeheimnisse der Schweiz zu sein. Würde man dies ändern, wie ja gerade jetzt wieder vorgeschlagen wird, würden zentralisierende Bundesgesetze das Gütesiegel des Bundesgerichts erhalten und in Referenden nicht mehr so leicht abgelehnt werden. Wird aber der Steuer- und Regulierungswettbewerb zwischen den Kantonen durch Zentralisierung geschwächt, so erhält der Staat mehr Macht über die Bürger und schränkt ihre Freiheit stärker ein.


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Ob die direkte Demokratie gegen eine steigende Staatsquote hilft, scheint mir eine offene Frage zu sein. Soweit der Anstieg der Staatsausgaben auf die Machtgelüste der Politiker und den unheilvollen Einfluss von Interessengruppen zurückzuführen ist, lautet die Antwort zweifellos ja. Vor allem sind die Stimmbürger weit weniger an einer politischen Zentralisierung interessiert als die Bundespolitiker und Bundesrichter. Umverteilungswünsche der Wählermehrheit kommen in Referenden jedoch ungehindert zur Geltung. Viel erfolgversprechender ist in dieser Hinsicht die Gewaltenteilung. Die klassische Gewaltenteilung nach Montesquieu unterscheidet zwischen Legislative, Exekutive und Judikative. In den meisten Staaten werden die Mitglieder der Exekutive und Judikative jedoch von den Mitgliedern der Legislative bestimmt. Die Gewaltenteilung funktioniert besser, wenn zumindest der Chef der Exekutive direkt vom Volk gewählt wird – wie der amerikanische oder der französische Präsident. Eine neuere Analyse zeigt, dass es in den letzten 40 Jahren in den USA nur vier Jahre (2003 bis 2006) gegeben hat, in denen dieselbe Partei sowohl den Präsidenten als auch die Mehrheit in Senat, Repräsentantenhaus und Supreme Court stellte. Je mehr Vetospieler zustimmen müssen, desto schwieriger ist es, die Staatsquote in die Höhe zu treiben (und desto sicherer sind – wie Besley und Persson zeigen – die Eigentumsrechte). Die Kraft des Vetos Am wirksamsten ist eine mit Vetorechten ausgestattete zusätzliche Kammer, die die bedrohte Minderheit repräsentiert. Eine solche Kammer gab es in drei historisch höchst erfolgreichen Demokratien: im Athen der solonischen Verfassung, in der römischen Republik und im britischen Empire. Die Verfassung, die Solon Athen 593 v. Chr. gab, sah nicht nur eine von allen Bürgern gewählte Volksversammlung vor, sondern auch zwei «Räte»: den Rat der Vierhundert oder «unteren Rat», in dem jede der vier Vermögensklassen mit hundert Abgeordneten vertreten war, und den Areo­ pag oder «oberen Rat», der aus ehemaligen

Archonten – d.h. Regierungsmitgliedern – bestand. Da die Volksversammlung nur Mitglieder der obersten Vermögensklasse zu Archonten wählen durfte, war der Areopag ein Rat der Reichen. Die Herkunft spielte dabei – anders als vor Solon – keine Rolle. Plutarch beschreibt die Kompetenzen des Areopags wie folgt: «Den oberen Rat setzte Solon als Aufseher über alles und als Hüter der Gesetze – in dem Glauben, dass der Staat, wenn er auf diesen beiden Räten gleichsam fest verankert läge, geringeren Schwankungen ausgesetzt sei und das Volk leichter in Ruhe würde halten können.»4 Damit war der Areopag nicht nur das oberste Gericht («Hüter der Gesetze»), sondern ein mit einem allgemeinen Vetorecht ausgestattetes Oberhaus. Als der Areopag im Jahr 462 v. Chr. durch die Verfassungsre-

Diejenigen, die ein überdurchschnittliches Arbeitskommen erzielen, würden das Oberhaus wählen, die anderen das Unterhaus.

form des Ephialtes entmachtet wurde, ging es mit Athen bald bergab. In der römischen Republik war der Senat die Vertretung der Patrizier. Ausserdem wurden die Stimmen der Bürger in der Volksversammlung gleichzeitig auf zweierlei Weise gewichtet. Während in der «comitia tributa» jede Stimme das gleiche Gewicht hatte, hing das Gewicht der Stimme in der «comitia centuriata» vom Landbesitz und damit der Steuerbelastung ab. Denn in den Centuriones (Abteilungen) der Landbesitzer, die als erste ihre Stimme abgaben, waren viel weniger Wahlberechtigte als in den anderen Centuriones. Ein Vorschlag galt nur dann als angenommen, wenn er von der Mehrheit der Stimmbürger und von der Mehrheit der Centuriones befürwortet wurde. Die Geschichte vom Auszug der Plebejer (um 450 v. Chr.) verdeutlicht, wie wichtig den Römern der Konsens zwischen den verschiedenen sozialen Schichten war.

Das englische Parlament besteht seit der Mitte des 14. Jahrhunderts aus dem House of Commons und dem House of Lords. Im 16. Jahrhundert – nach dem Hundertjährigen Krieg (1337–1453) – begann der Aufstieg Englands. 1911 verlor das House of Lords sein Gesetzgebungsveto. Es stimmte seiner eigenen Entmachtung zu, nachdem Premierminister Asquith von der Liberal Party damit gedroht hatte, andernfalls so lange zusätzliche Lords zu ernennen, bis er auch im House of Lords die Mehrheit gehabt hätte. Der Schutz von Freiheit und Eigentum in der Mehrheitsdemokratie verlangt nach einer zusätzlichen parlamentarischen Kammer. Das galt schon, als noch – wie in den drei genannten Beispielen – nur eine Minderheit der Erwachsenen das Wahlrecht besass. Idealerweise sollte eine solche Kammer nicht einen Stand oder die Besitzenden, sondern die Leistungseliten repräsentieren, denn es geht um die Leistungsanreize. Man könnte zum Beispiel auf das Arbeitseinkommen abstellen. Diejenigen, die ein überdurchschnittliches Arbeitseinkommen erzielen oder erzielt haben, würden das Oberhaus wählen, die anderen das Unterhaus. In Bundesstaaten gäbe es weiterhin eine Kammer, in der die einzelnen Provinzen repräsentiert sind. So wären alle gesellschaftlichen Gruppen vertreten, und alle hätten ein Vetorecht – die einen könnten nicht einfach über die anderen entscheiden. In den meisten der etablierten Mehrheitsdemokratien würde sich für eine solche freiheitliche Reform wahrscheinlich keine Mehrheit finden. Aber weshalb sollte es in den Ländern, die jetzt an der Schwelle zur Demokratie stehen, nicht hin und wieder einen modernen Solon geben? �

2 Knut Wicksell: Über ein neues Prinzip der gerechten Besteuerung. Jena: Gustav Fischer, 1896. 3 Roland Vaubel: Constitutional Safeguards Against Centralization in Federal States. In: Constitutional Political Economy 7, 1996. Ders.: Constitutional Courts as Promoters of Political Centralization: Lessons for the European Court of Justice. In: European Journal of Law and Economics, Jg. 28, H. 3. 4 Plutarch: Solon. Übersetzt von Konrat Ziegler. In: Plutarch: Große Griechen und Römer. 6 Bände. Zürich: Artemis, 1954–1965.

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Mehr sozial, weniger Staat

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Der Sozialstaat nach westlichem Zuschnitt verspricht mehr, als er halten kann. Die Reformbedürftigkeit versucht er mit immer weiteren Versprechungen zu kaschieren. Nun machen sich ernstzunehmende Finanzierungslücken bemerkbar. Wie sehen Alternativen zum sozialstaatlichen Status quo aus? von Christian P. Hoffmann

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uch wenn gegenwärtige Zustände unbefriedigend sind, bleiben bessere Alternativen oft unbeachtet. Denn wir messen die denkbare Alternative nicht an ihren tatsächlichen Vorteilen, sondern an der idealisierten Vorstellung einer perfekten Lösung. Das Bessere ist dann nie gut genug. Weil sie sich an einem angenommenen Idealzustand orientiert, nannte der amerikanische Ökonom Harold Demsetz diese Neigung «Nirwana Fallacy». Wer sich Gedanken zu den Sicherungssystemen des heutigen Sozialstaats macht, trifft unweigerlich auf die Nirvana Fallacy: während

Der Sozialstaat wurzelt in der frühen Industrialisierung und geht darum von statischen, geschlossenen Wirtschaftsräumen aus.

Alternativen zum herrschenden Status quo unterschätzt werden, wird dessen Leistung ständig überschätzt. Das ist eine ebenso provokative wie unangenehme These, die der Rechtfertigung bedarf. Der Sozialstaat ist nicht sozial Zuerst: was ist überhaupt ein Sozialstaat? Unter «Sozialstaat» werden heute, vor allem in den entwickelten Staaten des Westens, kollektive Umverteilungssysteme verstanden, die der zwangsweisen Absicherung aller Bürger gegen Risiken und Lebensereignisse wie Alter, Arbeitslosig58

keit oder Krankheit dienen. Diese Systeme zeichnen sich dadurch aus, dass Berufstäti­ge auf staatliches Geheiss einen gewissen Anteil ihres Einkommens in Form von Steuern oder Abgaben, fälschlicherweise oft «Beiträge» genannt, in den Staatshaushalt einzahlen, von wo aus diese Mittel umgehend an unterschiedliche Kategorien von Empfängern ausgeschüttet werden. Je stärker der Staat dabei sozialpolitische Um­ vertei­ lungsziele verfolgt, desto weniger steht die Höhe der Ausschüttung in einem Ver­hältnis zur Höhe vorheriger Einzahlungen. Diese kollektiven Umverteilungssysteme des Sozialstaats – auch die berufliche Vorsorge wird zunehmend zu einem solchen – sind weder Instrumente der Vorsorge noch Versicherung. Da Mittel schlicht umverteilt werden, wird wenig bis nichts gespart, es wird nicht investiert, und damit werden auch keine Zinsen erwirtschaftet. Die «Kunden» des Sozialstaats sichern sich nicht gegen spezifische Zufallsereignisse ab, wie dies bei einer Versicherung der Fall wäre. Sozialstaatliche «Beiträge» sind tatsächlich einfach nur Steuern, die umgehend dem Konsum anderer Menschen zufliessen. Damit wird auch deutlich: die sozialstaatliche Umverteilung macht eine Gesellschaft nicht wohlhabender, sie führt lediglich zu einer politisch determinierten Verlagerung des Konsums von A zu B. Dabei wäre Sparen, also Konsumverzicht, die Voraussetzung für die Akkumulation von Kapital, welches wiederum investiert werden kann. Aus Investitionen erwächst ein Wohlstandsgewinn. Sparen, Investition, Wachstum – so lautet seit je die Formel für gesellschaftlichen Wohlstand

Christian P. Hoffmann ist Assistenzprofessor für Kommunikations­ management an der Universität St. Gallen, Forschungsleiter am Liberalen Institut und Mitherausgeber des Buches «Sackgasse Sozialstaat» (2011).

und Fortschritt. Wo Sparen jedoch behindert wird, wird Wohlstand vernichtet – inklusive Zins und Zinseszins. Das systematische Verdrängen von Sparen und Investition durch den Konsum ist eine Eigenschaft des Sozialstaats, die zu dessen Scheitern beiträgt. Sie schwächt langfristig die Ressourcenbasis einer Gesellschaft und reduziert ihr Wachstumspotential. Dieser Geburtsfehler des herrschenden Sozialstaates wäre an sich schon gewichtig genug, um Zweifel an ihm zu nähren. Doch dazu kommt sein unvermeidliches Versagen angesichts aktueller Herausforderungen. Der Sozialstaat wurzelt in der frühen Industrialisierung und geht darum von statischen, geschlossenen Wirtschaftsräumen aus. Er ist nicht darauf angelegt, der dynamischen Veränderung einer auf Innovation basierenden internationalen, arbeitsteiligen und eben oft auch mobilen Marktwirtschaft zu genügen. Überfordert werden die kollektiven Umverteilungssysteme auch durch die im 19. Jahrhundert noch unvorhersehbare demographische Entwicklung. Sieht die Altersstruktur einer Gesellschaft zunehmend aus wie eine auf den Kopf gekehrte Pyramide, sind die Berufstätigen schlicht nicht mehr in der Lage, die Bedürfnisse der Transferempfänger zu finanzieren. Spätestens dann erweist sich das staatliche Verdrängen der Vorsorge durch Konsum als verhängnisvoller Irrtum.


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Es ergibt sich ein trostloses Bild: die kollektiven Umverteilungssysteme des Sozialstaats sind einer zunehmenden Unterfinanzierung ebenso ausgesetzt wie einem chronischen Überkonsum. Ökonomische Fehlsteuerungen verbinden sich mit schädlichen und moralisch fragwürdigen Fehlanreizen. Jeder zur Einzahlung gezwungene Bürger ist letztlich einem handfesten Anreiz ausgesetzt, möglichst hohe Auszahlungen zu erhalten, da geleistete Einzahlungen andernfalls verloren sind. Ebenso auf Seiten der Umverteiler: versagt ein auf Umverteilung gepoltes Sozialsystem, so reagiert die Politik mit einer Erhöhung der Ausgaben – so etwa im Gesundheitswesen, das dennoch längst auf Leistungsrationierungen zusteuert. Die schon seit Jahren beobachtbaren ständigen Krisen und die endlose Reformbedürftigkeit des Sozialstaats sind somit kein Zufall. Sie lassen sich auch durch das Drehen an der einen oder anderen regulatorischen Schraube (am Ende ist es meist die Steuerschraube) nicht beheben. Erfolgsmodelle aus Chile und Singapur Erstaunlicherweise sind diese Analysen in Fachkreisen ebenso bekannt und verbreitet wie die möglichen Alternativen zum sozialstaatlichen Status quo. Allein, sie haben aufgrund einer weitverbreiteten Realitätsverweigerung kaum eine Chance, in der öffentlichen Debatte Anerkennung zu finden. Sozialpopulistische Tabus und sozialdemokratische Traumtänzereien ver­ hindern noch immer eine nüchterne Bewer­ tung der Lage. Nur vereinzelt finden sich darum heute Beispiele zivilgesellschaftlicher Alternativen zum Sozialstaat – dort jedoch mit durchschlagendem Erfolg. Chile führte bereits vor 30 Jahren ein Rentensystem ein, das den Umverteilungsmechanismus durch tatsächliche Vorsorge ersetzt. Arbeitnehmer zahlen etwa 10 Prozent ihrer Einkommen auf individuelle Sparkonten ein. Die Konten sind persönliches Eigentum des Arbeitnehmers und können bei Berufswechseln beliebig transferiert werden. Jeder Sparer kann unter verschiedenen Investitions- und Anlageoptionen auswählen, die

Verwaltungsgesellschaften haben sich im Wettbewerb zu bewähren. Ein obligatorisches Rentenalter gibt es nicht mehr. Jeder Bürger kann sein gewünschtes Rentenalter angeben und die notwendige Höhe und Dauer der Sparleistungen berechnen lassen. Die Ergebnisse sprechen für sich: im Vergleich zum umlagefinanzierten Rentensystem, das noch Einzahlungen in Höhe von 25 Prozent erforderte, sind die Rentenzahlungen deutlich gestiegen. Durchschnittlich bezieht jeder chilenische Rentner 78 Prozent seines bisherigen Einkommens. Das Vorsorgevermögen der Chilenen ist bis heute auf 180 Milliarden Dollar angewachsen, das chilenische Wirtschaftswachstum erzielt seither Spitzenwerte. Kann es da verwundern, dass sich bis heute 99 Prozent der chilenischen Arbeitnehmer freiwillig dem neuen System angeschlossen haben? Die Rente wurde so der politischen Schacherei effektiv entzogen. Ein ähnliches Modell der Gesundheitsvorsorge wird heute in Singapur praktiziert. Arbeitnehmer zahlen hier 6 bis 8 Prozent ihres Einkommens in individuelle Gesundheitssparkonten ein, die kapitalisiert werden und Zinsen erwirtschaften. Bedeutende Behandlungs- und Pflegekosten werden im Bedarfsfall aus diesen Konten bezahlt. Das Vermögen bleibt jedoch in jedem Fall im Besitz des Sparers und kann auch vererbt werden. Hinzu kommen freiwillige Hochrisikoversicherungen, welche Entschädigungsleistungen im Falle unvorhersehbarer schwerer Krankheiten garantieren. Das Einkommensniveau und die Lebenserwartung des asiatischenKleinstaates entsprechen heute jenen der Schweiz. Singapurs Gesundheitsausgaben belaufen sich auf 3,5 Prozent des BIP, jene der Schweiz auf 10,7 Prozent. Jedes Jahr lassen sich hunderttausende ausländische Patienten im ausgezeichneten Gesundheitssystem Singapurs behandeln. Ein systematisches Infragestellen des Sozialstaats ist somit nicht nur notwendig, sondern auch möglich. Die Chancen eines Neuanfangs überwiegen Individuelle und nachhaltige Vorsorge führt zu Sparen und Investition, sie fördert

Innovation und Wachstum und beschränkt dabei die Kosten. Private, profitorientierte oder auch genossenschaftliche Versicherungskonzepte ermöglichen zudem massgeschneiderte Absicherungen und fördern echte Solidarität. Ein Ende der kollektiven Zwangsumverteilung macht auch Raum und Ressourcen frei für zivilgesellschaftliches Engagement zugunsten der Mitmenschen. Die Übernahme von Eigenverantwortung – individuell oder gemeinschaftlich – für jene Risiken, die schlicht nicht versichert werden können, macht die Menschen mündig, selbständig und selbstbewusst, statt sie zu überforderten und masslosen Kleinkindern zu degradieren. Im Zeitalter weltweiter Kommunika­ tionsnetze und Handelsströme, in dem Produkte wie Smartphones, Hybridautos, Solarpanels oder Flachbildfernseher die Leis­ t ungen von Arbeitskräften in der Schweiz, China, Kanada, Brasilien, Indien und Deutschland kombinieren, um dann an jedem Ort der Erde erhältlich zu sein, hat sich das nationale Umverteilungsinstru­ mentarium des Sozialstaats überlebt. Dessen absehbares Scheitern birgt die Chance

Die Chancen eines Neuanfangs überwiegen die Gefahren um ein Vielfaches.

für den Durchbruch zivilgesellschaftlicher Alternativen. Ein System echter Vorsorge verbunden mit nachhaltigen Versicherungslösungen und freiwilliger Solidarität kann auch einen fortschreitenden demographischen Wandel absorbieren und abfedern. Nur ein solches System kann das Ziel sozialer Sicherheit tatsächlich erreichen und dabei Investition, Wachstum, Innovation und Wohlfahrt fördern. Die Chancen eines Neuanfangs überwiegen damit die Gefahren um ein Vielfaches. Der NirwanaFehlschluss hebt sich auf. Was fehlt, ist nur der Mut, vielversprechende Alternativen beherzt anzupacken. � 59


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Märkte verschwinden

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Staatstitel verkaufen, kaufen, bunkern, garantieren: Regierungen, Zentralbanken und Geschäftsbanken spannen zusammen, um den Markt auszuhebeln. Sie tun dies seit Jahren ziemlich erfolgreich. Wie kommt der Markt wieder zu seinem Recht? von Gunnar Heinsohn

I. Einstieg beim Schlussakt, dessen Nachspiel noch offen ist Das Trio aus Regierungen, Zentralbanken und Geschäftsbanken probt das grosse Finale. Denn für Schuldpapiere vieler EUStaaten gibt es auf freien Märkten keine Käufer mehr. Bliebe Markt erlaubt, würden für 10 000-Euro-Papiere halt nur 5000 oder 3000 geboten. Schliesslich wissen potentielle Käufer, dass vergreisende Bevölkerungen die Schulden im Namen ihrer staatsbürgerlichen Seite niemals verzinsen oder tilgen können. Das breite Publikum mag glauben, dass Griechen und andere Wackelkandidaten nach erfolgter Entschuldung ihre Staatstitel wieder loswerden, weil durch «Strukturreformen» und strenge EU-Auflagen ihre Konkurrenzfähigkeit wiederkehre. Die Beteiligten wissen, dass Hellas selbst im reichsten Jahr seiner Geschichte, nämlich 2007, mit 11 Millionen Einwohnern nur 800 internationale Patente schaffte – gegen die rund 25 000 der 7,8 Millionen Schweizer. Damals hatten die Hellenen ein Durchschnittsalter von 40 Jahren, 2025 werden es noch rentennähere 46 sein – allerdings nur unter der Bedingung, dass die gerade auswandernde Elite zurückkehrt. Niemand wird diesen sympathischen Landstrich als Wettbewerber fürchten müssen. Für das Umgehen des Marktes entwickelt unser Trio zwei Hauptlinien. Erstens kauft die Europäische Zentralbank (EZB) seit Mai 2010 auf dem Sekundärmarkt Staatstitel von Irland bis Griechenland, damit die Papiere nicht zu weit unter Nennwert fallen. Europas Geschäftsbanken verkaufen ihr deshalb bis Ende 2011 für insgesamt 200 Milliarden Euro solche Titel – nicht immer zum Nennwert, aber weit über 60

den 25 bis 45 Prozent, die es auf dem Markt gäbe. Wer sich nun empört, dass die Banken Milliardenverluste bei der Zentralbank «abladen», verkennt, dass nicht die EZB, sondern am Ende der Staatsbürger diesen Segen beschert. Denn auch die EZB ist eine Bank und keine Behörde, die grenzenlos Geld drucken kann. Sie schöpft für die Geschäftsbanken frisches Geld gegen hinterlegte Sicherheiten als Pfand. Kann nun eine Geschäftsbank nicht tilgen und erweist sich auch ihr Pfand als wertlos, dann hat die Zen­ tralbank nichts, womit sie die weiter zirkulierenden Noten aus dem Umlauf zurückkaufen könnte. Sie muss die nicht getilgte Summe dann mit Eigenkapital ausgleichen. Davon aber hat die EZB als Tochter der nationalen Zentralbanken nur 11 Milliarden Euro, die nach einem 50-Prozent-Preisverfall der Papiere über 200 Milliarden einen Verlust von 100 Milliarden bringen. Ersatz für das ausgelöschte Kapital müssen als Eigentümer der EZB die nationalen Zentralbanken bzw. die dazugehörigen Regierungen aufbringen. Beschafft wird es von ihren Finanzministern durch den Verkauf zusätzlicher Schuldpapiere. Da die mehrheitlich aber nicht 1:1 absetzbar sind, muss die dadurch zu rettende EZB selbstrettend eingreifen und im Effekt den Preis ihres neuen Eigenkapitals mit unbegrenztem Ankauf solcher Papiere künstlich hochhalten. Damit wären wir bei der zweiten Hauptlinie angelangt. Die EZB verleiht seit Dezember 2011 an die Geschäftsbanken Geld zu einem Minizins von 1 Prozent. Statt der üblichen Tilgungsfristen von einigen Wochen müssen die Bankeigentümer diesmal erst nach 36 Monaten tilgen, so dass sie mehrere

Gunnar Heinsohn ist emeritierter Professor für Sozialwissenschaften an der Universität Bremen. Er hat zahlreiche wirtschaftswissenschaftliche Publikationen verfasst. Die Kerngedanken des 1996 mit Otto Steiger vorgelegten Buches «Eigentum, Zins und Geld» werden seit 2000 im Geldmuseum der Deutschen Bundesbank (Frankfurt am Main) mit den Geldtheorien von Aristoteles, Adam Smith, Bernhard Laum und John Maynard Keynes konfrontiert.

Jahresgewinne einfahren können, bevor sie selber zahlungspflichtig werden. Frei nicht mehr 1:1 verkäufliche Staatstitel, deren Erträge dabei weiter an sie fliessen, dürfen sie bei der EZB als Pfand fürs neue Geld hinterlegen. Nun bringen frisch gekaufte Staatstitel für das Dreijahresgeld zwei bis fünf Prozent, in der Spitze also das Fünffache der Zentralbankforderung. Allein am 21. Dezember 2011 borgen sich Geschäftsbanken von der EZB fast eine halbe Billion Euro, die zur Hauptwaffe gegen den Preisverfall der Staatstitel werden sollen. Die Zinsen für die Geschäftsbanken haben die Regierungen aber nicht bar parat. Deshalb werden auch sie durch Verkauf zusätzlicher Papiere aufgebracht. Jede Gewinnmilliarde der Banken aus Staatspapierhandel erscheint also zeitgleich als zusätzliche Schuldenmilliarde bei den Staatsbürgern. Zinsüberweisungen für die von der EZB und ihren nationalen Zentralbankmüttern (EZB-System) auf dem Sekundärmarkt angekauften Staatstitel werden ebenfalls so aufgebracht. Was diese ihren Finanzministern an Gewinnen überweisen, stammt aus zusätzlichen Schulden, die von denselben Ministern im Namen der Bürger aufgenommen werden. All dies spielt sich in den luftigen Sphären der Politik- und Finanzbranche ab. Dem


Gunnar Heinsohn, photographiert von Philipp Baer.

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Firmensektor, der allein Gewinne und Löhne für Steuern zur Bedienung der Staatsschulden erarbeitet, kommt unser Trio Infernale bei diesen Operationen nicht einmal nahe. Und doch landen alle neuen Bürden auf den Staatsbürgerschultern eben dieser privaten Unternehmer und Arbeitskräfte. Die Geschäftsbanken des Trios wissen genau, dass sie ihre Gewinne nicht durch Kredite für Produktions- und Effizienzsteigerungen von Unternehmen erlangen sollen, sondern durch reine Preissteigerungen. Sie begreifen mithin, dass sie gegen den alles niederreissenden Preisverfall der Staatstitel eingespannt werden. Das funktioniert streng nach Lehrbuch: Wir Regierungen liefern die Staatstitel als Luftpfand fürs Gelddrucken, und ihr Geschäftsbanken pumpt durch fleissigen Zukauf die Preise dieser Papiere immer wieder auf. Anders geht es nicht. Schliesslich müssen allein die Euro-Politiker im Stagna­ tionsjahr 2012 für 800 Milliarden Euro frische Titel losschlagen – nicht fürs Tilgen, sondern fürs Um- und Hochschulden. Die Banken, die all das kaufen sollen, können das jedoch nur, wenn sie gleichzeitig Titel über 570 Milliarden für frisches Eigenkapital und alte Umschuldungen an Anleger in aller Welt verkaufen können. Das wiederum gelingt – nicht mehr nur in der EU-Südschiene – nur noch dadurch, dass die überschuldeten Staaten, deren Titel die dabei noch wackliger werdenden Banken kaufen sollen, ihrerseits die von den Banken im eigenen Namen verkauften Schuldtitel garantieren und das EZBSystem diese doppelt faul besicherten Papiere als Pfand für frisches Geld akzeptiert. Die genaue Kenntnis all dieser Tricksereien hält die Bankeigentümer nicht ab vom Mitwirbeln bei einer Tarantella, die nur durch Kollaps verlassen werden kann. Denn die Konkurrenz untereinander zwingt sie ins «Billig»-Geld. Sollte ein Bankhaus Züchtig das Geld für ein Prozent verschmähen und auf fünf Prozent warten, während die anderen mit dem Wundersegen Geschäfte machen, geht es mit Anstand unter. Unter dem Eindruck der zweiten Nullzinsgeldwelle von 2002 aus der US-Fed – nach der uns gleich beschäftigenden 1995er aus Tokio – bringt Citigroup-Chef «Chuck» Prince die neue Geschäftspraxis im Juli 2007 auf den Punkt: 62

«Wenn die Musik der Hyperliquidität verstummt, wird es kompliziert. Aber solange die [Zentralbank-]Kapelle spielt, muss man aufstehen und tanzen. Noch tanzen wir.»1 Die unwiderstehliche Verlockung durch das zentrale Nullzinsgeld treibt die Geschäftsbanken erst in all die Machenschaften, die nun mit immer neuen Regeln bekämpft werden. Ihr Hauptdelikt wird die Nichterhöhung des Eigenkapitals, das parallel zu den neuen Engagements wachsen müsste, aber eben niemals für null zu haben ist. Verwegen ist auch die Zweitverwendung des Pfandes guter Kunden für das Eingehen eigener Kredite. Bis 2007 werden so von Geschäftsbanken weltweit 4,5 Billionen Dollar aufgenommen.2 Während die Regierungen also mit der einen Hand immer mehr Gesetze für immer bessere Feuerlöscher gegen solche windigen Praktiken erlassen, schleudern sie mit der anderen immer mehr Brandbeschleuniger in Form von Nullzinsgeld in die Märkte. Man züchtigt die gefallenen Mädchen, erlaubt den Verführern aber immer schamlosere Angebote. Im aktuellen Schlussakt seit 2008 wird der – 1995 in Japan einsetzende und 2002 in New York beschleunigte – Rhythmus noch heisser. Die grössten Zentralbanken der Welt in Tokio, New York, London, der EU und auch in Bern spielen seitdem ohne Pause in einer globalen Bigband, weil der Preisverfall der Staatstitel immer lauter übertönt werden muss. Nie soll durchdringen, dass es allein überschuldete Staaten sind, die neue Schulden eben dieser Staaten garantieren. Denn bei Entweichen der Luft aus ihren Titeln gibt es kein Halten mehr. Sie stecken in den Eigenkapitalen von Unternehmen, Banken und Zentralbanken und besichern als Pfänder die meisten Schulden. Sie füllen also die Töpfe für das Glattstellen von Verlusten und sind die DNA des Wirtschaftens. Wenn nach Aussteigen irgendeines Grosskäufers der künstliche Wert eines 10 000er-Papiers dann doch auf einen Marktpreis von 5000 sinkt, bleiben immer noch die vollen 10 000 für seinen Ankauf von Geschäftsbanken und Anlegern geschuldet. Niemand aber kann in der Anlage verlorene 5000 durch im selben Moment beim Eigenkapital verlorene 5000 glattstellen. Das Wirtschaften zerbricht, und die Su-

che nach unbelastetem Eigentum für das Betreiben neuer Zentral- und Geschäftsbanken beginnt von vorn. Doch der Reihe nach. II. Die noch nicht ruch-, aber schon unerlaubt ahnungslosen Eröffnungsakte von 1995 und 2002 Von 1970 bis 1989 springt Tokios Nikkei bis auf 39 000, um bis 1995 auf 15 000 abzusacken. Erst geht es hoch, weil Japans intelligente Menschen Waren produzierten, die man in der ganzen Welt begierig kauft, was einen gewaltigen Cashflow nach Nippon spült, der vor allem in Aktien und Grundstücke geht. Nach deren Preissteigerungen verpfändet man sie für höhere Schulden. Die setzt man für weitere Preissteigerungen ein, bis die Erträge der gekauften Vermögen unter den Zins der für sie aufgewendeten Kredite sinken. Während das als Slow Crash abläuft, reisst die Bank of Japan als zweitgrösste Zen­ tralbank der Welt den Zins in hektischen Schritten von sechs auf ein Prozent herunter. Anders als gewöhnliche Bürger, die den Wechselkurs als Preis des Geldes erfahren, halten die Japaner und ihre westlichen Kollegen den Zins für den Preis des Geldes. Durch seine Absenkung könne man die Unternehmen mit Geld regelrecht fluten und so wieder funktionsfähig machen. Doch Zins ist der Preis, den ein Schuldner einem Gläubiger dafür bezahlt, dass dieser sein Eigentum für die Besicherung von Geld belastet, also unfrei macht. Deshalb bekommt nicht derjenige mit dem höchsten Zinsangebot das Geld, sondern derjenige mit dem sichersten Eigentumspfand. Je besser das Pfand, desto leichter kann man mit ihm das ausgeliehene Geld aus dem Umlauf ziehen und das für seine Besicherung belastete Eigentum wieder frei machen. Die mit dem besten Pfand machen solche Belastungen also am wenigsten riskant und zahlen deshalb auch den geringsten Zins (prime rate). In einem Crash nun sinken mit den Eigentumspreisen automatisch auch die Pfandmassen. Die japanischen Zentralbanker erschrecken nach 1995 über ihre Wirkungslosigkeit, weil sie den crasherzeugten Pfand1 Financial Times, 10. Juli 2007. 2 Manmohan Singh / James Aitken: The (Sizable) Role of Rehypothecation in the Shadow Banking System. IMF Working Paper, Juli 2010.


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verlust nicht auf dem Radar haben. Deshalb bringt auch das noch panischere Zinssenken von 1 auf 0,1 Prozent zwischen 1995 und 2002 dem Firmensektor nichts. Erst bei einem Sechzigstel der Ausgangsgrösse (6 auf 0,1 Prozent) treten sie mit einem Geständnis vor die Menschheit: Ungeachtet 30 Prozent höherer Ausleihungen an die Geschäftsbanken im Jahre 2002 wachsen deren Kredite an Firmen nur um rund 3 Prozent. Zugleich zahlen Weltfirmen bei Tokioter Kredithaien mit 20 Prozent das 200fache des Zentralbankzinses. Das können sie, weil im Crash ihre Verpfändungsfähigkeit absinkt, ihr Cashflow für Zinszahlungen aber Weltspitze bleibt. Bei Banken daheim oder im Ausland sind sie deshalb nicht kreditwürdig, während Haie per definitionem das grössere Risiko durch Wucherzins ausgleichen. Während die Pfandpreise der Unternehmen im Crash fallen, bleiben ihre Schulden so hoch wie zuvor. Schuldsummen sind immer fix, während das Eigentum für die Besicherung von Geld sowie für die Besicherung der Kredite für sein Weiterverleihen im Preis immer schwankt. Doch von etwas Ab­ straktem wie Eigentum versteht man gemeinhin wenig, obwohl es die Grundlage unseres Wirtschaftens ist. Mir sei deshalb ein kleiner Abstecher in die ökonomische Theorie erlaubt. Viele Bankbeamte und ihre Ökonomielehrer kennen nur Besitz und nennen ihn fälschlich Eigentum, das sie wie das Geld für ein physisches Gut halten. Nur die Eigentumsgesellschaft aber hat – anders als Stammesgemeinschaften und Feudalherrschaften – neben dem Güterbesitz auch unphysische Eigentumsrechte. Mit beidem wird gleichzeitig operiert. Während man die Eigentumstitel für die Geldbesicherung aktiviert, werden unbeeinträchtigt davon ihre physischen Besitzseiten genutzt. Ist das Vermögen ein Getreideacker, kann man seine erdige Besitzseite einsäen und abernten, aber gleichzeitig mit seiner Eigentumsseite Geld besichern. Geld ist mithin kein Ding, sondern ein Eingriffs- oder Einlöserecht in die undingliche Eigentumsseite des Ackervermögens. Besichertes Eigentum darf nicht weitere Besicherungen leisten und auch nicht verkauft oder verschenkt werden. Es ist vorzuhalten für

den Fall, dass Geld in Eigentum eingelöst wird oder nicht zurückgezahltes Geld mit ihm aus dem Umlauf gekauft werden muss. Der Eigentümer verliert also vorübergehend die Dispositionsfreiheit über das so aktivierte Eigentum. Und es ist dieser wesentliche, aber unphysische Verfügungsverlust der geldschaffenden Gläubiger, den die Schuldner mit Zins ausgleichen müssen. Weder beim Schaffen noch beim Weiterverleihen von Geld werden Güter herumgereicht. Betrachtet man an unserem Acker den Zaun als Eigentumstitel, dann wird nur mit dem Zaun gewirtschaftet, also verpfändet, besichert, verkauft und vollstreckt. Mit der Besitzerde wird lediglich und ewiglich produziert. Geht es um eine Viehweide, verlässt beim Blockieren ihrer Eigentumsseite für die Geldbesicherung nicht eine einzige Kuh die Wiese des Bankiers. Er verleiht ein Stück Metall mit einer eingeprägten Kuh – wie beim römischen aes rude. Seine lebendigen Tiere jedoch fressen bei ihm und werden weiter bei ihm gemolken. Ein Milch- bzw. Güterverlust, aus dem die Nobelpreisökonomie den Zins erklärt und den sein Schuldner bei Rückerstattung der Kuh durch einen Käsezins auszugleichen hätte, fällt überhaupt nicht an. Verzichtet nun eine Zentralbank auf Zins, erreicht sie für pfandlose Unternehmen im Leistungssektor gar nichts, belastet aber ihr für die Geldbesicherung unverzichtbares Eigentum ohne Entgelt. Wie kann dieser Zinsverzicht den Banken nützen, obwohl sie das so geliehene Geld nicht an den Leistungssektor weiterleihen? Beim Normalgeschäft findet eine Geschäftsbank einen Unternehmer als Schuldner, der zur Modernisierung gezwungen wird oder selbst zum Typus kreativer Zerstörer gehört. Kredit erhält er für seine Umrüstung nur, wenn er Pfand stellt, Zins zusagt und seine Bank sich – wiederum gegen Pfand und Zins – Zentralbankgeld zum Weiterverleihen an ihn besorgen kann. Steht zentraler Nullzins am Beginn des Geschäfts, müssen Banken Anlagemöglichkeiten erst einmal suchen. Die Schuldner aus dem Leistungssektor verschulden sich wegen plötzlich fallender Zinsen nicht ein zweites Mal. Sie verschulden sich, wenn sie es müssen, weil der Firmenpreis durch Innovationen der Konkurrenz gefährdet ist. Liegt dieser

bei einer Milliarde und der Modernisierungskredit bei 100 Millionen, dann machen drei oder fünf Prozent Zins eine Differenz von zwei Millionen. Fällt eine Zinsminderung zufällig genau in den Zeitpunkt des Umrüstungszwanges, dann freut man sich selbstredend über zwei gesparte Millionen. Aber regiert gerade ein höherer Zins, dann zahlt man auch ihn, weil er gegen die zu rettende Milliarde zweitrangig ist. Ein zu hoher Zins dagegen kann schnell und hart zerstören wie im Schlussgalopp zur Weltwirtschaftskrise 1929. Politiker lassen ihn damals hochsetzen, um einige hunderttausend Spekulanten vom Leihen für Aktien­

Wenn Staatstitel so gut wie Geld werden sollen, müssen Eigentümer für die Verluste geradestehen.

kauf durch Verpfändung soeben teurer gewordener Aktien abzubringen. Für alle Firmen der USA steigen dabei die Zinsen so hoch, dass viele selbst dann nicht mehr investieren können, wenn die Konkurrenz sie treibt. Zugleich fahren Regierungen ihre Ausgaben zurück, so dass über Gebühr zinsbelastete Unternehmen auch noch Aufträge verlieren. Hätte man stattdessen den Aktienkauf auf Kredit verboten und die Staats­ausgaben konstant gehalten, wäre die Ver­schlimm­besserung der Krise zu einer Hyperkrise unterblieben. Gelernt wird aber nur, dass man in Krisen mit dem glatten Gegenteil von 1929 – also diesmal Zinsen runter und Staatsschulden hoch – schon alles richtig mache. Eben diese Gewissheit bringt uns zurück in das Jahr 1995, als Japans Zentralbanker den Zins von 6 auf 0,1 Prozent sacken lassen und doch nur Blasenmärkte bewirken. Alle Investitionen nämlich, deren Erträge von – sagen wir 4 Prozent – bei einem Zentralbankzins von ebenfalls 4 Prozent sich nicht lohnen, werden bei 0,1 Prozent eine Goldgrube, obwohl sich an ihnen qualitativ nichts ändert. Die Banken investieren so lange in Preissteigerungen, wie der Ertrag über dem 63


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Die Europ채ische Zentralbank in Frankfurt am Main (Bild: Caro/Trappe)


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Minizins bleibt. Was eine Million kostet und 4 Prozent bzw. 40 000 bringt, hat nach Preisverdopplung auf zwei Millionen zwar immer noch einen Ertrag von 40 000, die jetzt aber nur noch zwei Prozent ausmachen. Doch auch die liegen satte zwanzigmal höher als die 0,1 Prozent der Zentralbank. Bis zum Platzen der Blase wird das als Bullenmarkt bejubelt. Dann aber müssen alle verkaufen, bevor selbst ihre «billigen» Schulden höher liegen als die Preise des damit Gekauften. Das Billiggeld ab 1995 aus Japan bewirkt lediglich eine ungebührliche Überhitzung des 2000/01 crashenden Booms, der mit dem Internet immerhin eine innovative Basis hat. Hingegen wird der 2008 crashende Boom fast nur durch eine Billiggeldwelle getrieben, die ab 2002 von der Fed erst richtig hochgepeitscht wird. Fängt die Zentralbank eines Landes mit dem Nullzins an, erleiden ausländische Geschäftsbanken Wettbewerbsnachteile. Etliche können sich aber durch Filialen in Tokio ab 1995 ebenfalls mit Yen vollsaugen, die in andere Währungen wechseln (carry trade) und nun ebenfalls durch Mitwirken bei Preissteigerungen aller Vermögensklassen einen Reibach machen. Das dadurch erzeugte Kursgewitter wird im Dezember 1996 – also 18 Monate nach dem 1-Prozent-Zins in Tokio – durch Fed-Chef Alan Greenspan bemerkt, aber nicht verstanden: «Wie können wir erkennen, dass irrationale Übertreibung [exuberance] zur ungebührlichen Aufblähung von Vermögenspreisen führt, die dann unerwartet und langfristig abrutschen?» Was sind nun Krisen der gewöhnlichen Art im Unterschied zu staatlich verschärften? Sie erwachsen daraus, dass Unternehmer immer den Preis ihres Eigentums verteidigen. Deshalb sind immer alle Mitglieder einer Branche gezwungen, die Innovationen nachzuvollziehen, die ein Konkurrent vorlegt, wenn er zum Beispiel von Schreibmaschinen auf Computer wechselt. Nicht die Beachtung von Angebot und Nachfrage steht dann im Vordergrund, sondern das Überleben des Unternehmens. Der Computer senkt nämlich mit dem Preis der Schreibmaschinen auch den Preis ihrer Herstellerfirmen und zwingt sie in die Umrüstung. Während ihre Preise schon fallen und so ihre Verpfändungsmasse schwindet, hasten sie zu den

Banken, bevor ihre Kreditwürdigkeit auf null ist. Die Modernisierer sehen durchaus, dass nach Abschluss der Umrüstung alle Konkurrenten zusammen schneller und mehr produ­zieren, als verkauft werden kann. Sie müssen also sehenden Auges an der Über­ produktion von morgen mitwirken oder gleich Eigentum einbüssen. Ein Dittes gibt es nicht. Sie haben nur die Wahl zwischen umgehendem Verschwinden und der blossen Chance, morgen zu den acht von zehn Computerfirmen zu gehören, die überleben, also die Preissenkungen für das Auslöschen der Überkapazitäten aushalten können. Für ihre Banken gilt dasselbe. Auch sie können nur ahnen, ob ihre Schuldner beim Abbau der Überproduktion untergehen oder die Schuldner der Konkurrenzbank dann keine Computer verkaufen, obwohl auch sie hochmodern sind. Anders als in Branchenkrisen verschulden sich vor grossen Crashs fast alle Wirtschaftszweige gleichzeitig für die Eigentumsverteidigung. Dabei entsteht eine mit Pfand unterlegte und für Produktivität einzusetzende, also keine leistungsferne Geldschwemme. Auch sie führt zu Steigerungen der Preise für all die heiss umkämpften Anlagen und Arbeiten, die für die Modernisierung unumgänglich sind, nach ihrem Abschluss aber wieder herunter müssen und damit die Krise einleiten. Solche Langbooms folgen auf Neuerungen im Transport, der Informationsübertragung, bei Werkstoffen und Energieträgern. Das gleichzeitige Auftreten mehrerer solcher Durchbrüche charakterisiert den Beginn eines Superbooms, der dann in einer Grosskrise endet. Der Internetboom ab 1989, der Millionen Firmen und Milliarden Menschen online bringt, liefert dafür mit seinem Crash 2000/01 ein Lehrbuchbeispiel. Auch der Boom von 1922 bis 1929, als für Radios, Telephone und fliessbandproduzierte Autos quer über alle Branchen und Konsumenten Geld geliehen werden muss, steht für eine echte Innova­tionskrise. Während nun Japans Regierung durch Billiggeld im eigenen Land und die Möglichkeit von globalem Carrytrade bis 2000/01 den Internetboom über angemessene Preissteigerungen hinaustreibt, wird an einem anderen Ort eine weitere staatliche Bombe der

Marktzerstörung gezündet, von der in Tokio allerdings niemand etwas ahnen kann. Im Bau war diese Monsterwaffe seit 1977, als die Carter-Regierung mit dem Community Reinvestment Act die US-Geschäftsbanken mit Ausschluss von der Einlagenversicherung bedroht, wenn sie Bürgern ohne Pfand nichts leihen. 19 Millionen Familien mit 60 Millionen Menschen sollen sich damals auch ohne Sicherheiten für Wohneigentum verschulden dürfen, um dem Mieterdasein zu entkommen. Diese Axt an der Wurzel des halben amerikanischen Kreditgeschäfts wird 1994 durch Bill Clintons National Homeownership Strategy noch einmal geschärft, weil immer

Viele Bankbeamte kennen nur Besitz und nennen ihn fälschlich Eigentum, das sie wie das Geld für ein physisches Gut halten.

wieder Banken beim Einhalten der Kreditvorschriften erwischt werden und deshalb feste Quoten für das Akzeptieren fauler Schuldner aufgebrummt bekommen. Das Erhöhen der Ausleihungen erhöht aber das Eigenkapital nicht. Und aus der Not dieser Bilanzverschlechterung soll das globale Weiterverkaufen der Hauskredite als Hypothekenpakete befreien. Diese famose Idee für saubere Bücher bekommt Flügel jedoch erst mit Japans 1-Prozent-Zins ab 1995. Die aus gegenseitiger Konkurrenz mit Zentralbankgeld vollgesaugten Geschäfts­banken nehmen die Subprime-Pakete als Anlagegeschenk des Himmels. Die Käufer gewinnen Vier- oder Fünfprozenter, obwohl sie selbst nur ein Prozent zahlen müssen. Naiv ist dabei niemand. Alle wissen, dass bei Subprimern im Ernstfall nichts zu holen ist. Also versicherten alle ihre nagelneue Anlage­klasse für einen Bruchteil der Gewinnmarge gegen deren Ausfall. Aber beim gleichzeitigen Brand aller Häuser nach US-Zinserhöhungen zwischen 2004 und 2007 nebst Nachforderungen an die eigentumslosen Subprimer verbrennen eben auch die Versicherungen einschliesslich des Weltführers American International Group (AIG). 65


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Richtig heiss aber wird der SubprimeMarkt erst 2002, als die Fed den Realzins auf minus 0,75 Prozent (nominal 1 bis 1,25 Prozent) drückt. Wieder will man nach einem Crash Unternehmen mit Geld fluten, um – so Greenspan – «eine befriedigende Wirtschafts­ leistung zu fördern». Was in Japan scheitert, funktioniert freilich auch in Amerika nicht. Zentralbanken können Firmen nicht helfen. Sie können «Ausleiher letzter Hand» sein, wenn cash-knappe, aber noch eigentumsversehene Geschäftsbanken über Nacht zu kollabieren drohen. Zentralbanken kaufen dann in einer Blitzaktion ihr Vermögen oder akzep­ tieren es als Pfand. Dafür fordern sie einen erhöhten Zins, damit nicht auch Geschäftsbanken anklopfen, die gar keine neuen Kreditnehmer haben. Eben diese Sorge führt Walter Bagehot in Lombard Street [1873] zur Grundregel der Zentralbank: «Für die Kredite ist ein sehr hoher Zinssatz zu verlangen. Das wird die Mehrzahl der Anträge von Häusern verhindern, die sie gar nicht brauchen.» Dass man Geld nicht für null ausleihen darf, muss man damals niemandem einbleuen. Schliesslich sind billige Metallplättchen und Scheine nur wertvoll, solange sie durch preisstabiles Eigentum der Emissionsbank besichert sind. Erst diese Eigentumsbesicherung befähigt Bares zum Eigentumskauf. Und da eine Zen­ tralbank beim Geldbesichern Eigentum unfrei macht, steht ihr für diesen Dispo­si­tions­ verlust nun einmal Zins zu. Verzichtet sie dar­auf, befürchtet Bagehot schon 135 Jahre vor Chuck Prince eine Preisblähungs-Tarantella der Banken, die es «gar nicht brauchen». Und genau so kommt es in den USA. Vier Dollar aus der Fed-Zinsnullung für die Geschäftsbanken bringen nur einen Dollar neues Bruttoinlandsprodukt. Dafür steigt bis 2007 die Verschuldung der Geschäftsbanken auf 50 Prozent aller Schulden von US-Unternehmen – gegen normale zehn Prozent im Jahre 1980. Die Schulden dieser Banken stehen 2007 bei 116 Prozent des US-Brutto­ inlandsprodukts – gegen 21 Prozent 1980. Mit nur 5 Prozent der US-Beschäf­tigten von 2007 kassierten US-Banken 40 Prozent der Gewinne börsennotierter Unternehmen – durch Preissteigerungen von Aktien, Rohstoffen, Immobilien, Kunstwerken etc. Zwischen 2002 und 2004 und dann wieder 66

von 2008 bis 2011 leiht die Fed 29 Billionen Nullzinsdollar an Bankeigentümer. Deshalb entfallen bereits im Juni 2009 von 100 Dollar US-Nettovermögenszuwachs 98 auf blosse Preisblähungen. Der Carrytrade wird noch voluminöser, weil etwa in Indonesien, Brasilien oder China die Zentralbanken immer noch korrekte Zinsen fordern und ihre Geschäftsbanken mit Ingrimm sehen, wie die ferne Konkurrenz bei ihnen mit Billiggeld Vermögen aufkauft und Wechselkurse treibt. Schon im Januar 2010 klagt die Bank of China, dass der Westen «durch einen Dollar-Carrytrade von 1,5 Billionen Riesenprobleme schafft»3 und global die Märkte verfälsche. Die Carrytrader gehören zwar zu Banken, wollen aber wie jeder Händler nur aus ihrem Einsatz mehr rausholen, dürfen anders als diese jedoch an den Zentralbankschalter. Deshalb wächst etwa bei GoldmanSachs zwischen 1998 und 2009 der Ge­­ winnanteil durch Handel von 28 auf 76 Prozent. Nur Greenspans «befriedigende Wirtschaftsleistung» bleibt aus. Da Nullzinsgeld aber auch in die Steigerung von Rohstoffpreisen fliesst, wird es für die Unternehmen sogar teurer. Dasselbe passierte den soliden Häusleschuldnern. Von allen US-Hypothekennehmern sind Ende 2011 nicht nur die Subprimer aus dem Crash von 2008, sondern rund 50 Prozent effektiv unter Wasser, können mit den erzielbaren Preisen also die Eigenanteile und Gebühren für den Kauf neuer Häuser nicht aufbringen.4 Während das Billiggeld den Subprimern keine Kreditwürdigkeit verschaffen kann, zerstört es sie in der Mittelschicht, die wegen der zwangsverkauften Pleitehäuser einen wuchtigen Preisabschlag auf ihr wichtigstes Vermögen erleidet. Es ist nun mal so: Zentralbanken können nach einem Crash für eine «befriedigende Wirtschaftsleistung» mit Zinsnullung nichts ausrichten. Denn sie haben für die nicht mehr verpfändungsfähigen Unternehmen kein Eigentum zur Besicherung frischer Kredite, keine Innovationspatente für Siege gegen die Konkurrenz und keine Spitzenköpfe für das Umsetzen solcher Neuerungen. Sie können den Crash – die notwendige Preis-

senkung zur Auslöschung der Überkapazitäten – durch Zinssenkungen nicht verhindern. Selbst die zwei Prozent reichsten Firmen, die sich über eigene Anleihen dank des Fed-Minizinses mit geringeren Zinsangeboten rund zwei Billionen Dollar besorgen, sparen nur 0,5 Prozent, die übrigen Amerikaner gar nichts.5 Präsident Barack Obama greift die Firmen für das blosse Parken dieser gewaltigen Summe am 7. Februar 2011 als «In­ vestitionsvermeider» an. Er begreift nicht, dass die Firmen mit dem günstigen Zins eine Reserve für den Fall schaffen, dass sie durch Innovationen aus irgendeiner Ecke der Welt in die Umrüstung gezwungen werden. III. Was kommt nach dem Schlussakt? Armut heisst fehlende Verschuldungsfähigkeit von Individuen oder ganzen Nationen, bei denen Eigentumsstrukturen fehlen. Der Politikerfehler im Jahre 2008 besteht im Kern darin, für die Crashverluste nicht sämtliche Vermögen der Eigentümer der Geschäftsbanken und Versicherer durch schlichten Hilfeverzicht über formale Haftungsgrenzen hinaus in Bewegung zu setzen. Stattdessen überwälzt man ihre Forderungen auf den Staatsbürger. Was bei den Grossen zu holen gewesen wäre, legt nur das Haus Goldman-Sachs offen. Allein seine 860 Partner melden vor dem Crash ein Vermögen von 30 Milliarden Dollar. Goldman verliert an Subprime-Krediten 12,9 Milliarden Dollar, die seine Versicherung AIG nicht aufbringen kann. Ihren Bankrott verhindert die US-Regierung mit 180 Milliarden Dollar für die durch Subprime-Verluste ausgelöschten Bankkapitale. Goldman erhält volle 12,9 Milliarden Dollar. Seine 860 Partner müssen nicht von 30 auf 17,1 Milliarden abspecken. Die Deutsche Bank bekommt 11,8 Milliarden, die Schweizer UBS 3,8 Milliarden Dollar. Was man dort gegen die Drohung einer Totalauslöschung gestemmt hätte, wird gar nicht erst getestet. Wie 1995 in Tokio oder 2002 in New York verstehen die Politiker auch 2008 das ökonomische System nicht. Das hätte verlangt, dem Leistungssektor aus Unternehmen und Arbeitern auch nach Auslöschung ihrer Banken Kredit zu ermöglichen. Dafür hätte man ihnen für einen fixen Zeitraum direkten Zugang


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zum Zentralbanktresen einräumen können, wo sie für Zins und gute Sicherheiten Geld bekommen hätten – das wäre historisch nichts Neues gewesen. Während dieser Frist hätten überlebende Banken ihr Geschäft ausgeweitet. Vermögende und auch leistende Unternehmen selbst – wie 2010 Siemens und lange davor die grossen Autofirmen – hätten neue Banken aufgebaut. Die grossen Eigentümergruppen hätten Verluste realisiert, wären aber nicht klein geworden. Überwiegend in Staatspapiere und Bankanleihen investierte Lebensversicherungen hätte man sortieren müssen, um ihren Kunden die Pensionen zu sichern. Selbst Ankäufe mit Fristansage von Staatsanleihen auf Sekundärmärkten hätten weniger verheerend gewirkt als ihr jetzt grenzenloser Erwerb. Zugleich hätten diese Anleihen besser abgeschnitten als nach der Neuverschuldung seit 2008. Denn während 2007 Bankeigentümer 50 Prozent aller Schulden machen, sind es 2009 Regierungen, die weltweit sogar 62 Prozent erreichen und die Staatsbürger vieler Nationen über das aus Steuern bedienungsfähige Limit stossen. Gleichwohl wird versprochen, dass die Manipulation der Märkte und Belastungen der Bürger am Ende die Budgets sanieren, der Markt für Staatstitel also wieder frei werde. Und doch gehen zum 2011er Weihnachtswochenende allein in Euroland 412 Milliarden Euro nicht in Aktien, Staatspapiere oder Firmenkredite, sondern parken über Nacht als jederzeit verfügbare Liquidität für Minizins bei der EZB. Gewiss, der Deutsche Rentenindex (RexP) zur Messung der Gewinne aus dem Kauf deutscher Staatstitel legt zwischen 1990 und 2011 um 320 Prozent zu. Doch der deutsche Staatsbürger als vermeintlich bester Schuldner der Welt tilgt niemals. Zwischen 1970 und 2011 steigen seine Schulden von 800 auf 22 000 Euro pro Kopf, während das Durchschnittsalter gleichzeitig von 34 auf 44 Jahre springt. Der US-Staatsbürger als Zweitbester schuldet im selben Zeitraum von 1700 auf 43 000 Dollar hoch und altert dabei von 28 auf 37 Jahre. In Deutschland wird ein Fünftel des Nachwuchses nicht ausbildungsreif und braucht Bares von der Wiege bis zur Bahre. In Amerika haben 2011 erstmals Africans und Hispanics aus überwiegend bildungsfernen Milieus über 50 Prozent der

Neu­geborenen. Schon heute schaffen ihre Siebzehnjährigen nur das Schulniveau dreizehnjähriger Weisser und zwölfjähriger Jachincos. Strömt die globale Elite nicht mehr in die Neue Welt, wird sie nie wieder schuldenbedienungsfähig. Wenn Staatstitel von neuem so gut wie Geld werden sollen, müssen die Regierungen dafür sorgen, dass die Eigentümer für die Verluste geradestehen. 2008 übernehmen sie die Verluste der Grosseigentümer durch weitere Anleihen im Namen der Staatsbürger. Immer nur mehr elegant gestempeltes Papier ohne Besicherung wird jedoch irgendwann als Betrug erkannt. Alles, was ein Anleger – gross oder klein – für sein Geld will, ist Eigentum, das im Preis wenigstens nicht fällt. Wer ihn ob dieses Be­­ gehrens als «Diktator des Marktes» schmäht, zeigt nur, wie gerne er ihm wertloses Papier tatsächlich mit Gewalt aufzwingen würde. Verbessern wollen die Politiker die Besicherung ihrer Schuldtitel vor allem durch Zugriff auf die Mittelschicht und die kleinen und mittleren Unternehmen (KMU), da in der Unterschicht Substanz fehlt und die Grossen schwer zu greifen sind. Doch die Leister in der Mitte bräuchten für eine «befriedigende Wirtschaftsleistung» gerade Ausgabenkürzungen, damit ihr Eigentum nicht weiterhin an den leistungslosen Transfersektor geht. Wird ihnen durch Steuern noch mehr Eigentum genommen, vermindert das nur die «Selbstheilungskraft» der Wirtschaft. Der ersehnte «sich selbst tragende Aufschwung» kann ja nur durch Verpfändung für Neuverschuldungen zur Eigentumsverteidigung erfolgen. Dieser Innova­ tionszwang wird in der Krise nur stärker und der einzige Weg aus ihr heraus. Die Hälfte der 500 «Fortune»-Spitzenfirmen des Jahres 2009 sind Rezessionsgründungen. Ein Ruf nach höheren Steuern für die Sanierung der Staatsschulden bleibt deshalb immer ein Irrweg. Allerdings kann auch ihre Senkung niemanden zur Verschuldung zwingen, aber doch den von der Konkurrenz in die Innovation Gezwungenen die Kreditaufnahme erleichtern. Ausgabenkürzungen treffen den Hilfesektor, weshalb seine Politiker protestieren.

Da Sozialpolitik zumeist als Stimmenkauf und nicht als Nächstenliebe praktiziert wird, kommen schnell Mehrheiten gegen Kürzungen und für eine höhere Belastung der ganz starken Eigentümer zusammen. Eine durchdachte Politik wird diese aber nicht verfolgen oder ihr Eigentum Unfähigen übergeben. Doch wenn es nach dem Preissturz der Staatspapiere darum geht, unbelastetes Vermögen als Eigenkapital für die Besicherung einer neuen Währung zu finden, schlägt auch den grossen Eigentümern die Stunde,

Zentralbanken können nach einem Crash für eine «befriedigende Wirtschaftsleistung» mit Zinsnullung nichts ausrichten.

wenn sie ihr Vermögen retten wollen. Dasselbe gilt für das beim Staatstitelcrash verdampfende Eigenkapital der Banken. Da garantiert nur schon das Ausbleiben staatsbürgerlicher Hilfe, dass deren Eigentümer zur Vermeidung von Totalverlusten die grossen Löcher aus ihren noch grösseren Vermögen stopfen. Dazu bedarf es nicht der Gewalt, sondern der Einsicht. Ein Teil des unbelasteten Eigentums der Bürger und auch des Staates wird als Kapital einer neuen Zentralbank zugewiesen und bleibt so lange unverzinslich und unverfügbar, bis diese aus ihren Gewinnen unabhängiges Eigenkapital gebildet hat. Neu wäre das nicht.6 Umgehend stabilisiert das die Lage. Denn der Kreditkontrakt über gutes Geld ist nun mal der Vater des Marktkontraktes. Deshalb verschwinden bei staatlicher Geldzerstörung auch die Märkte. Sichern kann man sie für die Zukunft nur, wenn den neuen Zentralbanken das Ausleihen allein gegen Zins und gute Sicherheiten erlaubt wird. � 3 Financial Times, 29. Januar 2010. 4 Diana Olick: Half of US Mortgages Are Effectively Underwater. Auf: CNBC.com, 8. November 2011. 5 Binyamin Appelbaum: Stimulus by Fed Is Disappointing, Economists Say. In: New York Times, 24. April 2011. 6 Vgl. beispielsweise die deutsche Rentenmark nach der Hyperinflation von 1923.

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An Grenzen von Claudia Mäder

Grenzen sind da, um überschritten zu werden, sagte der

Fenster auf die monsundurchweichte Passstrasse blickte,

Reisende seiner Zurückhaltung und ging nach Burma.

und wünschte, seine Sicht wäre begrenzt wie jene des barfüssigen Chauffeurs, der die Welt durch eine mit goldenen

Klebestreifen und Bostitch seien gerade ausgegangen, meldete

Pagoden zusammengeklebte Windschutzscheibe erfuhr.

am Zoll die Dame, die mit der Herstellung landesüblicher Reisedokumente betraut war, und kratzte Reste von Flüssigleim

Grenzerfahrungen machen einen stark fürs Leben, sagte

aus einem Töpfchen, um eine Photographie des Reisenden auf

der Reisende seiner Todesangst und musste lachen über so

einer Pappkarte haften zu machen. Ausreichend gestempelt

viel Pathos.

und bezahlt, sei dieser handgefertigte Ausweis alles, was er hier brauche, erklärte ein Uniformierter dem Begriffsstutzigen,

Was ihn über die Grenze geführt habe, fragten die Militärs,

zog einen Schlüssel aus der Brusttasche und sperrte seinen

die den Bus nach zwei Tagen aus einem Erdrutsch zogen.

roten Pass in einen Wandschrank.

Erlebnishunger, sagte der Reisende und senkte ob der frechen Dummheit seiner Antwort den Blick, bis er am Boden auf

Identität ist immer Bastelei, sagte der Reisende seiner Skepsis

ein Heer ausgelatschter Flipflops fiel. Die Grenze zur Groteske

und bestieg einen Bus ins Landesinnere.

ist fliessend, dachte er, als eine Uniform mit ihrem Maschinen­ gewehr auf ein ungestempeltes Feld seines Papppasses wies,

Kulturgrenzen lassen sich überwinden, sagte der Reisende

den Finger auf seinen unzulässig langen Aufenthalt auf

seiner Abscheu und biss in eine frittierte Heuschrecke.

der Landstrasse legte und einen Sonderkarton für die sofortige

Mehr?, fragten die schwarzen Äuglein seiner Sitznachbarin.

Rückfahrt an den Zoll zurechtschnitt.

Danke, nein, wogte der Kopf des Reisenden im Takt der burmesischen Karaoke, die im Bus den Ton angab, und begann

Das ist grenzenloses Glück, sagte der Reisende dort dem

zu schwindeln auf dem Grat zwischen Weltoffenheit und

Feldgrünen, der sein rotes Büchlein aus dem Schrank zurück-

Voyeurismus. Abgründe überall, merkte er, wie er aus dem

holte, und verliess Burma. �

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von Philipp Baer

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Was macht die Kunst? Schweizer Monat 993 Februar 2012

Thesen zur nächsten Kunst Kultursoziologen verpacken einfache Zusammenhänge in kompliziertes Vokabular – so will es das populäre Vorurteil. Luhmann-Schüler und Zukunftsdenker Dirk Baecker tritt im Gespräch den Gegenbeweis an. Und zeigt damit: wer von der Gesellschaft sprechen will, darf von ihren Kulturen nicht schweigen. Johannes M. Hedinger trifft Dirk Baecker

Dirk, was macht die Kunst? Wo bist du ihr zuletzt begegnet? Die beiden jüngsten nachhaltigen Eindrücke waren die BasquiatAusstellung in der Fondation Beyeler in Riehen und die KonradWitz-Ausstellung im Kunstmuseum Basel. Das waren unterschiedliche Ausstellungen, aber bei beiden ging es um eine kräftige, ironische, farbenfrohe und respektlose Auseinandersetzung mit ihrer jeweiligen Gesellschaft. Dein Interesse für die Gesellschaft ist naheliegend, schliesslich erfolgt dein Zugriff auf die Kunst über deine Stammdisziplin, die Soziologie. Wer hat dich zu ihr geführt? Adorno! Das war in den frühen 1970er Jahren, wo man sowieso an Marxismus interessiert war, wobei mich der pure Marxismus, sprich die ideologischen Texte, nicht interessierten, Theodor W. Adorno hingegen sehr, vor allem wegen seiner wunderbar ineinandergeschachtelten Sätze. Als mir jemand sagte, der sei Soziologe, wusste ich, was ich gerne studieren wollte. Später dann hat mir Jean Baudrillard, mein nächster Held, den Blick geschärft für den Witz sozialer Phänomene und mich damit gewissermassen aus der moralischen Falle befreit, in der ich mit Adorno sass: immer kritisch auf eine verwaltete Welt schauen zu müssen. Zwei Jahre später kamen noch Walter Benjamin und Niklas Luhmann dazu; damit war das Setting an Texten und Autoren erst einmal komplett. War es die marxistische Basis, die dich dazu bewogen hat, auch noch Ökonomie zu studieren? Weil der Marxismus als theoretisches Unterfangen wichtig war, war es unerlässlich, auch etwas von der Wirtschaft zu verstehen; gleiches galt für die Geschichte, weshalb ich nebenbei auch Wirtschaftsgeschichte belegte. Nicht zuletzt aber beruhigte die Entscheidung für ein paralleles Ökonomiestudium meinen Vater, der sich natürlich fragte, was ich denn als Soziologe nach dem Studium machen würde. Was hast du in den verschiedenen Disziplinen über den Stellenwert des Künstlers in der Gesellschaft herausgefunden? Der Künstler unterbricht mit seinen Arbeiten die routinierten Prozesse der Wahrnehmung in der Gesellschaft. Er konterkariert, un74

Dirk Baecker ist Professor für Kulturtheorie und Kulturanalyse an der Zeppelin-Universität in Friedrichshafen. Er hat in Köln und Paris Soziologie und Nationalökonomie studiert und in Bielefeld bei Niklas Luhmann promoviert und habilitiert.

terläuft, übertreibt, wie Menschen auf Farben, Gesten, Formen, Töne und Empfindungen reagieren, und macht mit dieser Rahmung von Wahrnehmung die Wahrnehmung selber sichtbar, hörbar, erlebbar, spürbar. Ein Maler zeigt einem Betrachter, was es heisst, etwas zu betrachten. Ein Komponist führt einem Zuhörer vor, was es heisst zuzuhören. Kunst irritiert die in anderen Fällen so unglaublich routinierte, also gar nicht mehr bemerkte Wahrnehmung. Wir sehen, hören, empfinden, spüren meist doch eher passiv als aktiv: wir nehmen auf und merken nicht, wie sehr wir selber Produzenten unserer Wahrnehmung sind. Eine Hauptfunktion von Kunst liegt für dich in der Schärfung der Selbstreflexion? Der Künstler macht Wahrnehmung reflexiv, ja. Ob dies bestätigend oder kritisch, ironisch oder tragisch geschieht, spielt keine Rolle, solange nur die Wahrnehmung selber mit wahrgenommen werden kann. Kunst, die die Wahrnehmung nicht wahrnehmbar macht, ist in Wirklichkeit Unterhaltung und damit zwar nicht uninteressant, aber eben nicht künstlerisch interessant. Wenn du mich nach der Funktion der Kunst fragst, dann antworte ich: Irritation von Wahrnehmung durch ungewohnte Formen, die sich in dieser Weise immer auf die Gesellschaft bezieht, auf die Eigentümlichkeiten des Miteinanderlebens der Leute. Daneben kann man natürlich auch nach den Leistungen der Kunst fragen, und zwar in ihrem Verhältnis zu anderen Bereichen der Gesellschaft. Etwa liesse sich fragen, was Kunst für Erziehung, Politik oder Wirtschaft bedeutet oder was ein Unternehmen von der Kunst lernen kann. Und was können diese Bereiche voneinander lernen? Ich finde es wichtig, sich gegenseitig auch in Ruhe lassen zu können. Jeder Bereich hat seine spezifischen Probleme und für diese auch seine spezifischen Lösungen. Bei aller Lust an der Vernetzung muss man auch zur Kenntnis nehmen, dass man oft keine Ahnung


Dirk Baecker, photographiert von Ilja Mess.

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Was macht die Kunst? Schweizer Monat 993 Februar 2012

hat, worum es dem anderen geht. Zum anderen kann es aber nirgendwo schaden, auf die aktive Rolle von Wahrnehmung hingewiesen zu werden, etwa bei der Inszenierung von Schulunterricht, in der Rhetorik von Politikern, in der enormen Rolle ästhetischer Gestaltung von Waren: Wie muss sich eine Autotüre anhören, die ins Schloss fällt? Wie darf und kann ein Kleid riechen? Wie glatt oder rauh sollte eine Herdplatte sein? Vor allem jedoch: Welche Rolle spielt die Wahrnehmung bei der Produktion von Gütern, bei der Herstellung von Dienstleistungen, beim Umgang mit dem Kunden, bei der Überwachung der Produktion? Funktion und Leistung betreffen grössere gesellschaftliche Einheiten. Was erwartest du ganz persönlich von Kunst? Ich erwarte nichts, lasse mich aber gerne überraschen.

Der Künstler unterbricht mit seinen Arbeiten die routi- Wenn nicht erwarten, was nierten Prozesse der Wahrneh- würdest du dir denn von der Kunst wünschen? mung in der Gesellschaft.

Ich gehe oft ins Theater und würde mir wünschen, dass man dort etwas neugieriger auf zahllose gesellschaftliche Phänomene reagieren würde. Was geschieht im Sicherheitsraum eines Kernkraftwerks? Wie funktioniert ein Gerichtsverfahren? Wie wird ein Investmentdeal eingefädelt? Es gibt das sogenannte Recherchetheater, das sich dafür interessiert, aber zu selten werden Sprachstile, Verhaltensweisen, Gesten in ihrer oft enormen Raffinesse aufs Korn genommen und so ausserhalb der einschlägigen Kreise bekanntgemacht und reflektiert. Gerhard Falkner, den ich vor Jahren in einer Rundfunksendung über seine Gedichte sprechen hörte, hat mich beispielsweise mit seinen zeitgenössischen Beobachtungen überrascht. Seither lese ich wieder Gedichte. Kunst als vielfältig verflochtener Teil eines grösseren Systems, das du als Soziologe untersuchst: als Teil der «Kultur». Richtig. Seit Jean-Jacques Rousseau verstehen wir unter einer Kultur die Frage, ob und wie eine Gesellschaft die Menschen, die in ihr leben, eher glücklich oder unglücklich macht. Ich halte es in diesem Punkt aber am liebsten mit Bronislaw Malinowski, der die Kultur als eine funktionale Balance von Körper, Geist und Gesellschaft beschrieben hat. Wenn man in diese Balance auch Spannung, Stress, Ungleichgewichte und Konflikte einbezieht, die ja letztlich das Verhältnis von Körper, Geist und Gesellschaft immer wieder neu auspendeln, trifft das die Sache ganz gut. Kunst hat mit alldem erst einmal nichts zu tun. Da aber die Kunst zur Gesellschaft gehört, stellt sich auch dort die kulturelle Frage, ob die Kunst die Menschen eher glücklich oder unglücklich macht. Immerhin fällt auf, dass viele Menschen von der Kunst erwarten, dass sie sie glücklicher macht, und sei es dadurch, dass sie sie in ihrem Unglück bestätigt. Aber Künstler verstehen sich nicht als 76

Kulturarbeiter. Sie interessieren sich nicht für Glück und Unglück, sondern allenfalls dafür, welche Formen die Menschen ihrem Glück und ihrem Unglück geben. Dabei gehen Künstler oft sehr weit, streifen die Grenze zur schmerzhaften Beobachtung. Die Kultur greift dann gerne ein und zähmt die Kunst zu dem, was die Menschen ertragen können. Wo zum Beispiel? Nimm die aktuelle Theaterarbeit «Ländler wollen mitreden» von der «Kapelle Eidg. Moos»: Die drei Musiker leisten sich immer wieder schärfste Kommentare zur Schweiz als Schweiz, fangen ihre Schärfe aber immer wieder in der herrlichsten Aufführung der Musik selber auf. Einerseits gibt es die wirklich spannende Volksmusik, andererseits ihre soziale Rolle für das Selbstverständnis der Schweiz. Jede Szene kippt von der Parodie in die Liebeserklärung und wieder zurück in die Parodie, bis man eine künstlerische Arbeit vor sich hat, deren Thema die kulturelle Zähmung der Kunst zur Unterhaltung ist. Hier passiert auf der Bühne, was sonst in verteilten Rollen zwischen Regisseur, Dramaturg und Intendant oder Produzent passiert. Die einen übertreiben gerne und die anderen müssen dafür dann zivile Formen finden. Wie würde eine Gesellschaft ohne diese kulturelle Zähmung aussehen? Wenn man von heute auf morgen alle Kulturarbeit und jedes künstlerische Schaffen einstellen würde, würde übermorgen irgend­ ein Hobbymaler in einer Ecke seines Wohnzimmers schon wieder zum Pinsel greifen, würde ein Verkäufer auf dem Markt anfangen, Theater zu spielen, und würde sich irgendjemand nach der Lektüre eines Reiseberichts über fremde Länder und Völker über die seltsamen Sitten zuhause wundern. Die moderne Gesellschaft braucht die Kultur, um ihre Sitten und Bräuche vergleichend und kritisch beobachten zu können. Und sie braucht die Kunst, um ihrer Zurichtung auf bestimmte Formen der Wahrnehmung zu misstrauen. Kultur und Kunst sind sogenannte Einmalerfindungen der Menschheit. Man kann sie nicht abschaffen, man kann sie nur durch Varianten ihrer selbst ersetzen. Und sie können immer wieder neu gestartet werden, ohne jeden betrieblichen Aufwand. Wie hat man sich diese Varianten vorzustellen? Es gibt Varianten in der Abhängigkeit von lokalen Usanzen, von historischen Zeiten und von sozialen Schichten und Milieus. Schau dir zum Beispiel an, welche Varianten von Bildern es in den sogenannten Medienepochen der menschlichen Gesellschaft gibt. Die Stammesgesellschaft kannte Bilder vor allem als Masken, die antike Schriftgesellschaft vor allem in der Form der nachahmenden Auseinandersetzung mit Göttern und Menschen, die moderne Buchdruckgesellschaft als Ausdruck oder Einprägung individueller Befindlichkeit und Perspektive. Die nächste Gesellschaft, die Computergesellschaft, in der wir uns jetzt bewegen, kennt Bilder hingegen fast nur noch in der Form des Designs, des Interfaces. Wir interessieren uns für bewegte Bilder, für ihr Flirren und Zit-


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tern, ihr Scharf- und wieder Undeutlichwerden und für die Schnittstellen, die alle diese Eindrücke organisieren. Diese historischen Varianten von Bildern haben auf den ersten Blick nichts miteinander gemeinsam, arbeiten jedoch meines Erachtens allesamt an den Formen der Wahrnehmung, die für ihre jeweilige Gesellschaft typisch und auch kritisch sind. Dieses Flirren und Zittern sprichst du auch in deinen 2011 veröffentlichten 16 Thesen zur nächsten Gesellschaft an. These 7 zur Kunst der nächsten Gesellschaft lautet: «Die Kunst der nächsten Gesellschaft ist wild und dekorativ. Sie zittert im Netzwerk, vibriert in den Medien, faltet sich in Kontroversen und versagt vor ihrer Notwendigkeit. Wer künstlerisch tätig ist, sucht für seinen WahnSinn ein Publikum.» Mir war hier der Hinweis darauf wichtig, dass es auch für die sogenannte Autonomie der Kunst neue Formen geben wird. Was für die einen wild ist, ist für die anderen vielleicht dekorativ, und umgekehrt. Zugleich jedoch ist der Ort der Kunst nicht mehr die Beschaulichkeit der Bücher, die Genauigkeit der Kritik und die Konzentration des Publikums, sondern die Zerstreuung in die Netzwerke, von der schon Walter Benjamin gesprochen hat. Das muss man nicht bedauern, das muss man künstlerisch bewältigen. Und nach wie vor sucht die Kunst die Kontroverse, lässt sich also nicht von Politik oder Wirtschaft, Pädagogik oder Ästhetik für deren Zwecke einspannen.

ter nötig haben, und zwar einer Kunst, die im Medium des Computers diesem seine Grenzen aufzeigt. Und wie wird sie das erreichen? Wo wird Kunst künftig stattfinden? Die Kunst wird sich neue Orte, neue Zeiten und ein neues Publikum suchen. Sie wird mit Formaten experimentieren, in denen die gewohnten Institutionen zu Variablen werden. Denk an Walid Raad und seine Atlas Group, der aus dem Theater eine Universität oder vielleicht auch eine Installation des Nachdenkens über nicht so ganz fiktive Ereignisse macht. Denk an Matthias Lilienthals Theaterprojekt «X Wohnungen», das Privatwohnungen zu Bühnen werden lässt. Oder die berühmten Audio-Walks von Janet Cardiff und anderen, die eine Art begehbare Buchlandschaft schaffen, in der wir so verträumt und wach herumlaufen wie sonst nur in unseren Lektüren. Orte und Gattungsformen werden durchlässiger. Wird die Kunst erlebbarer? Ja, sie sprengt ihre hochkulturellen Fesseln und verlässt das Gefängnis ihrer Autonomie. Für sie gilt, was für alle Funktionssysteme gilt, die Niklas Luhmann so hervorragend beschrieben hat. Sie verlieren ihre eindeutige Ordnung, vernetzen sich untereinander und entwickeln Formen der Macht, des Geldes, des Rechts, der Erziehung und eben auch der Kunst, die es uns erlauben werden, das Potential des Computers auszunutzen, ohne uns von ihm an die Wand spielen zu lassen. �

Das gefällt mir recht gut. Nur, kurz nach der ersten Veröffentlichung hast du diese These zur nächsten Kunst komplett überarbeitet. Neu lautet sie: «Die Kunst der nächsten Gesellschaft ist leicht und klug, laut und unerträglich. Sie weicht aus und bindet mit Witz; sie bedrängt und verführt. Ihre Bilder, Geschichten und Töne greifen an und sind es nicht gewesen.» Wieso diese signifikante Änderung? Die Thesen spielen mit der Flüchtigkeit, obwohl und weil es ihnen um durchaus strukturelle Fragen geht. Sie sind eine Spekulation auf die Zukunft, die dementsprechend dauernd korrigiert werden muss. Und sie sind für einen Anschlag, für ein Flugblatt, also für flüchtige Leser gedacht. Aber gerade deswegen wurde es mir irgendwann wichtig, der Kunst eine leisere Rolle zuzuschreiben, eine Rolle, die es verlangt, dass man mehrfach hinschaut und nicht zu schnell mit ihr fertig wird. Mich sprach ja die erste Fassung zunächst mehr an, da aktiver, riskanter, weniger ausweichend. Wenn die Kunst es am Ende doch nicht gewesen ist, was ist dann das Neue daran und rechtfertigt die Rede von der «next society»? Welchen Einfluss hat die Kunst in der nächsten Gesellschaft, den sie so heute bzw. gestern nicht hatte? Stell dir vor, du malst ein Bild, komponierst ein Lied, planst eine Performance – und das Netz weiss bereits, mit welchen Tags es dich einfängt, also in welcher Schublade du landest. Das kann es nicht sein. Ich denke die nächste Gesellschaft ja vor allem als eine Auseinandersetzung der Gesellschaft mit dem Computer, die diesem seine Grenzen aufzeigt. Da werden wir die Hilfe der Kunst bit-

Dirk Baecker: 16 Thesen zur nächsten Gesellschaft. In: Revue für postheroisches Management. Heft 9. Berlin: Stiftung Management-Zentrum – X, 2011. S. 8. Dirk Baecker: Studien zur nächsten Gesellschaft. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2007. Dirk Baecker: Wozu Kultur? Berlin: Kadmos, 2011.

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Einwurf Schweizer Monat 993 Februar 2012

Das Buch ist eine Ware Das «Kulturgut Buch» ist zum Gegenstand ideologischer Grabenkämpfe geworden. Stirbt das Buch, wenn wir es politisch nicht beschützen? Ganz im Gegenteil.* von Markus Schneider

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as Buch ist keine Ware», behaupten fleissige Buchhändler und stolze Verleger mit vereinten Kräften seit Jahr und Tag. Um ihre These kühn und laut abzuschliessen: «Sondern ein Kulturgut!» Was edel klingt, ist scheinheilig, wenn nicht gar verlogen, von vorn bis zum Nachsatz. Das Buch sei ein Kulturgut? Ja, ist es tatsächlich. Aber wem haben wir es zu verdanken? Etwa uns stolzen Verlegern? Oder gar den fleissigen Buchhändlerinnen und Buchhändlern? Nein. Sondern den Autorinnen und Autoren allein, die in der stillen Kammer ein Produkt erschaffen, das im besten Fall – wenn ein Verleger mitmacht – als klassisches Buch auf dem Markt landet. Damit ist die Kultur bereits «am Ende». Jetzt beginnt das Feilschen um Margen und Prozente. Und dieses Feilschen läuft ganz ähnlich Sie möchten die Preise ab wie bei der Vermarktung von Shampoos, Äpfeln mehr oder weniger fixieren. oder Glühbirnen. Es gibt Abkarten. Grossisten, ZwischenAlso ein Kartell bilden. händler und viele Endverkäufer, vom kleinen Laden um die Ecke bis zum Discounter. Alle diese Händler wollen auf ihre Rechnung kommen. Und das schaffen sie alle am leichtesten, wenn der Wettbewerb nicht allzu schweisstreibend wird. Genauso hätten es Buchhändler gern, die mit diesem Wunsch seltsamerweise von den meisten Verlegern unterstützt werden. Sie möchten die Preise mehr oder weniger fixieren. Abkarten. Im gegenseitigen Einvernehmen. Also ein Kartell bilden. Zurzeit spielt (noch) ein richtig freier Markt. Wir Verleger empfehlen einen Preis, daran halten muss sich niemand. Der kleine Buchladen um die Ecke, Orell Füssli im Zentrum, der Discounter Ex Libris im Internet: alle dürfen ihre Preise frei bestimmen. Es herrscht Wettbewerb. Konkurrenz. Derweil brütet der Autor das Kulturgut aus. Zum Beispiel Rolf Holenstein. Fünf Jahre lang werkte er an einer umfassenden Bio*Die Abstimmung über die Wiedereinführung der Buchpreisbindung findet am 11. März 2012 statt.

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Markus Schneider ist Ökonom, Publizist und einer der drei Verleger des Echtzeit-Verlags aus Basel. www.echtzeit.ch

graphie über den «Erfinder der modernen Schweiz»: Ulrich Ochsenbein, erster Bundesrat, der bei der Ausformulierung der Bundesverfassung von 1848 die Feder führte. Später wurde er abgewählt, verfemt, verleumdet. Er verliess die Schweiz und wurde in Frankreich Brigade- und Divisionsgeneral. Holensteins umfassende Biographie ist 650 Seiten stark und erschien in unserem Echtzeit-Verlag, verkauft wird sie in jeder guten Buchhandlung. Zum Glück zu unterschiedlichen Preisen, wie das vorderhand noch möglich ist. Bei Ex Libris kostet das Buch 38.40 Franken, inklusive Porto und Verpackung. Damit ist Ex Libris mit Abstand der billigste Anbieter der Schweiz, noch günstiger als ein Direktimport via Amazon aus Deutschland. Im Laden von Marianne Sax in Frauenfeld dagegen kostet die Ochsenbein-Biographie 48 Franken. Damit hält sich Marianne Sax strikt an die Preisempfehlung unseres Verlags. Man könnte auch sagen: Frau Sax will mit gutem Beispiel vorangehen. Schliesslich ist sie Präsidentin des Schweizerischen Buchhändler- und Verlegerverbands (SBVV). Wie eine Löwin kämpft sie dafür, dass sich alle Buchhändler wie früher auch in Zukunft an die Vorgaben der Verlage halten müssen. Zwingend. Wir vom Echtzeit-Verlag sehen das nicht so eng. Wir haben nichts dagegen, wenn unsere Bücher mal hier, mal dort etwas teurer oder billiger feilgeboten werden. Im Gegenteil: wir halten uns selber nicht an den von uns empfohlenen Preis. Auf unserer Internetseite und via Facebook offerieren wir die Ochsenbein-Biographie unseren vielen Freunden für 44 Franken, liefern das Buch portofrei mit der A-Post in einer eleganten schwarzen Verpackung, die dem Empfänger hoffentlich Freude bereitet. Und was hat dieser Preiskampf für den Autor zu bedeuten? Nichts. Wir vom Echtzeit-Verlag geben uns alle Mühe, mit unseren Autorinnen und Autoren so fair wie möglich umzugehen. Denn wir wissen: ohne Autor kein Kulturgut, ohne Buch kein Verlag. Rolf Holenstein erhält für seine Ochsenbein-Biographie – wie alle unsere Autoren – zehn Prozent des Ladenpreises, den wir vom Echtzeit-Verlag dem Schweizer Buchhandel empfehlen. Pro verkauftes


Schweizer Monat 993 Februar 2012  Einwurf

Buch ergibt das 4.80 Franken. Und zwar unabhängig davon, über welchen Kanal das Buch verkauft wird. Ob bei Ex Libris, via Amazon, im Laden von Marianne Sax oder direkt bei uns – Rolf Holenstein verdient überall gleich viel. Oder um es deutsch und deutlich zu sagen: Rolf Holenstein verdient überall gleich wenig: 4.80 Franken pro verkauftes Buch? Das ist ein mieser Lohn, selbst wenn die erste Auflage von «Ochsenbein», 3000 gedruckte Exemplare, nahezu ausverkauft ist – was für die Biographie eines bis dahin «Unbekannten» ein sensationeller Erfolg ist. Aber man rechne: 3000mal 4.80 Franken sind 14 400 Franken Lohn für eine fünfjährige Leistung des Autors. Schuld an diesem miesen Gehalt ist aber nicht etwa der freie Buchpreis. Im Gegenteil. Gelingt es Ex Libris, dank den günstigsten Preisen in der Schweiz mehr Ochsenbein-Biographien zu verkaufen, profitiert davon nicht zuletzt sogar der Autor. Und wie präsentiert sich die Rechnung aus Sicht des EchtzeitVerlags? Genau gleich. Für uns gilt dieselbe Devise wie für unsern Autor Rolf Holenstein: das Buch muss verkauft werden, je öfter, desto besser. Unsere Marge nämlich ist überall gleich hoch. Oder um es deutsch und deutlich zu sagen: überall gleich tief. Von jedem in der Schweiz verkauften Exemplar bleibt nur der kleinere Teil des Verkaufspreises bei uns. Der grössere Rest versickert in der Handelskette: beim Grossisten, der die Bücher ausliefert, beim Zwischenhändler, der sie an die Läden verteilt, und am Ende bei den Buchhändlerinnen und Buchhändlern. Konkret bleiben uns ziemlich genau 46,5 Prozent des von uns empfohlenen Ladenpreises. Davon geben wir vom Echtzeit-Verlag 10 Prozent an den Autor ab, womit wir bei 36,5 Prozent angelangt sind. Mit diesem Anteil müssen wir den Druck bezahlen, den Transport, den Zoll, das Lektorat, das Korrektorat, die Illustration, die Gestaltung der Bücher, unseren Internet-Auftritt, die iPad-Applikation, etwas Werbung, die Mehrwertsteuer und vieles mehr. Aber wir vom Echtzeit-Verlag wollen nicht jammern. Wir möchten einfach glaubhaft machen, dass es eine «kritische Menge» gibt, die wir verkaufen müssen. Das schaffen wir nur, wenn Discounter dafür sorgen, dass sie mit günstigeren Preisen grössere Mengen absetzen als zum Beispiel die Buchhändlerin Marianne Sax in Frauenfeld, obschon die sich alle Mühe gibt und fachkundig berät. Aber uns ist eben auch ein Billigversandhaus wie Ex Libris willkommen. Das ist doch gleichzeitig der einzige Sinn und Zweck der Kulturförderung: dass so viele Waren wie möglich den Weg zum Publikum finden. So viel zum Kommerziellen. Und jetzt zum Inhaltlichen. Zum Politischen. Zum Kulturellen. Unser Autor Rolf Holenstein hat mit seiner Ochsenbein-Biographie etwas erreicht, was selten vorkommt: er hat der Person Ulrich Ochsenbein, die längst vergessen, die insbesondere in seinem Heimatkanton Bern sogar verpönt war, zu jener Bedeutung verholfen, die sie verdient hat. Endlich wird er sogar offiziell gefeiert. Am 11. November 2011 wurde in Nidau, seiner Heimatstadt, ein Denkmal für Ochsenbein enthüllt – von niemand geringerem als Bundesrat Johann Schneider-Ammann. An die Feier in der Kirche von Nidau, wo Ochsenbein einst viele

seiner politischen Versammlungen abgehalten hatte, waren geladen: die sieben amtierenden Berner Regierungsräte, die beiden Ständeräte, alle Nationalräte des Kantons, der Stadtammann von Nidau, Altbundesrat Samuel Schmid und ein paar hundert andere Gäste. Ohne den Autor Rolf Holenstein wäre Ochsenbein nie rehabilitiert worden. Ohne den Autor Rolf Holenstein hätte unser Echtzeit-Verlag nie einen solchen Erfolg feiern dürfen. Ohne den Autor Rolf Holenstein hätte der Buchhändler von Nidau nie so viele Ochsenbein-Biographien verkaufen können. Und ohne Rolf Holenstein hätte Der einzige Sinn und Zweck auch Ex Libris nicht so viele Ochsenbein-Biograder Kulturförderung: dass so viele Waren wie möglich den phien abgesetzt. Daraus dürfen ruhig auch die Weg zum Publikum finden. heutigen Politikerinnen und Politiker ihre Lehren ziehen. Zum Beispiel indem sie, wenn sie schon das Kulturgut Buch fördern wollen, am besten einen Autor wie Rolf Holenstein direkt unterstützen. Das ist auf jeden Fall gescheiter, als der ganzen Branche eine kartellistische Preisbindung zu erlauben. Und falls Sie, liebe Leserin, lieber Leser, die Ochsenbein-Biographie noch nicht besitzen: kaufen Sie das Buch dort, wo Sie Ihre Bücher kaufen wollen: Gut beraten in der fein sortierten Buchhandlung in Ihrer Nähe, beim Discounter, wo es am billigsten ist, oder direkt beim Verlag, womit Sie das Kulturgut Buch am wirkungsvollsten fördern. �

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Literarischer Essay  Schweizer Monat 993  Februar 2012

Kapitalismus und Moral Während die hochentwickelten Länder von der «Krise des Kapitalismus» sprechen, zeigt sich die freie Marktwirtschaft in anderen Teilen der Welt weiterhin als ökonomisches Erfolgsmodell. Der Verweis auf wirtschaftliche Potenz allein reicht als Verteidigung des Kapitalismus aber nicht. Sein wirklicher Wettbewerbsvorteil ist moralischer Natur.

von Mario Vargas Llosa

I

n unseren Tagen, da die Wirtschafts- und Finanzkrise die gesamte westliche Welt erschüttert, Pessimismus sät und düstere Vorhersagen für die Zukunft der freiheitlichen Gesellschaft schürt, gerade in diesen Tagen ist wieder daran zu erinnern, dass der Kommunismus auch weiterhin keine ernstzunehmende Alternative zu Demokratie und freier Marktwirtschaft darstellt. Noch vor kaum fünfundzwanzig Jahren schien er auf nahezu der halben Welt fest etabliert zu sein, nach dem Verschwinden der UdSSR und Chinas Wandel in ein autoritäres kapitalistisches Regime ist von ihm nicht mehr viel übrig. Seit dem Fall der Berliner Mauer, Symbol für das Ende des Sowjetimperiums, der schwersten Bedrohung, derer sich die Kultur der Freiheit in den wenigen Jahrhunderten ihres Bestehens hat erwehren müssen, konnte der Kommunismus lediglich in zwei Enklaven als antiquiertes Relikt überdauern: in Kuba und Nordkorea, die durch Kollektivismus, Etatismus und Despotismus gleichsam in der Vergangenheit und in bitterer Armut erstarrt sind. Das Ende des Kommunismus war nicht etwa das Ergebnis eines Krieges oder einer entscheidenden ideologischen Konfrontation mit der freien Welt. Im Gegenteil, letztere schien sich mit der Koexistenz bereits abgefunden zu haben, und kein Geringerer als Friedensnobelpreisträger Henry Kissinger glaubte, dass der Kommunismus auf der Welt sei, um zu bleiben. Gott sei Dank sollte sich das nicht bewahrheiten. Der Sieg über ihren bedrohlichsten ideologischen Feind bescherte der freien Welt jedoch keineswegs eine Fortsetzung ihrer wirtschaftlichen und sozialen Erfolgsgeschichte auf der Grundlage einer Politik der offenen Märkte und der Wettbewerbsfreiheit oder der Stärkung der Demokratie durch mehr Bürgerbeteiligung am politischen Leben. Im Gegenteil, seit über drei Jahren leiden die demokratischen Gesellschaften unter einer verheerenden Wirtschafts- und Finanzkrise, die die Arbeitslosigkeit in die Höhe und Tausende von Unternehmen in den Bankrott getrieben sowie erschreckende Fälle von Korruption und durch und durch unlautere Geschäftspraktiken zutage gefördert hat. All das hat die Öffentlichkeit alarmiert und Misstrauen gegenüber den Banken und den internationalen Finanzinstitutionen gesät. Daher ist es kaum verwunderlich, dass die grossen Städte der westlichen Länder zum Mario Vargas Llosa Schauplatz der jungen Occupy-Protestbewegung werden und wir wieder ist einer der einflussreichsten Schriftsteller Lateinamerikas einmal die alten Hetzreden gegen die kapitalistische Ausbeutung und die und liberaler Politiker. Der gebürtige Peruaner erhielt 2010 Märkte hören, die angeblich Egoismus und Ungleichheit schüren und den Nobelpreis für Literatur und lebt heute in Madrid und Londen. Zuletzt von ihm erschienen: «Der Traum des Gräben zwischen Arm und Reich aufreissen. Es ist erstaunlich, dass unter Kelten» (Suhrkamp). den «Empörten» wieder diejenigen Stimmen laut werden, die die alten populistischen und sozialistischen Formeln als Allheilmittel gegen die kränkelnde Wirtschaft der freien Welt heraufbeschwören: Nationalisierung, Planwirtschaft und Ausbau des öffentlichen sowie Beschränkung des privaten Sektors. 80


Mario Vargas Llosa, photographiert von Michael Wiederstein.

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Literarischer Essay Schweizer Monat 993 Februar 2012

Auf zahlreichen Reisen bin ich letztes Jahr in Madrid, Paris, Berlin und zuletzt auch an der Wall Street den zornigen «Empörten» begegnet. Käme man nie über die Grenzen der hochentwickelten Länder der westlichen Welt hinaus – das heisst: Europa und die USA –, könnte man fast glauben, das Mekka des Kapitalismus sehe unaufhaltsam seinem Ende entgegen und laufe infolge seiner inneren Widersprüche ähnlich wie zuvor der Kommunismus Gefahr, einer Implosion zum Opfer zu fallen. Glücklicherweise führten meine Reisen mich bis weit jenseits der Ozeane nach Asien und Südamerika. Und siehe da, dort traf ich auf ein völlig anderes Szenario als jenes, das Arthur Rimbaud noch das Europa «aux anciennes parapets» (der alten Bollwerke) nannte. In Asien und Lateinamerika scheint der Kapitalismus ganz und gar nicht ausgedient zu haben. Im Gegenteil: in jenen Regionen der Welt präsentiert er sich kraftstrotzender und zuversichtlicher denn je. Indien, Südkorea, Taiwan, die Volksrepublik China, Singapur, Indonesien, Malaysia und Südafrika glänzen mit boomenden Wirtschaften, tatkräftigen Privatunternehmen und zahlreichen Investitionen aus aller Welt, die dort Arbeitsplätze schaffen und im Nu eine Mittelschicht heranwachsen lassen. Diese Länder öffnen ihr politisches Spektrum, verzichten auf alte autoritäre Praktiken und übernehmen demokratische Gepflogenheiten, denn sie haben erkannt, dass Freiheit nicht teilbar ist, anders gesagt, dass es keine wirtschaftliche Freiheit ohne politische Freiheit gibt und dass materieller Fortschritt, wenn er allein auf wirtschaftlichem Liberalismus beruht und den politischen und gesellschaftlichen Sektor ausspart, bedroht ist, dass er sozusagen ein Fortschritt mit Bleifüssen bleibt. Selbst die Volksrepublik China, die sich mit dem Betreiben einer Wirtschaftspolitik des offenen Marktes innerhalb einer Einparteiendiktatur an der Quadratur des Kreises versucht, muss der nach Teilhabe gierenden neuen Gesellschaftsschicht, der die ökonomische Öffnung den Aufstieg aus der Armut, eine bessere Schulbildung und einen höheren Lebensstandard beschert hat, tagtäglich kleine Zugeständnisse machen. Für mich besteht kein Zweifel, dass China, wenn es weiterhin so rasant prosperieren will wie bisher, sich politisch ebenso wird öffnen müssen wie zuvor schon in wirtschaftlicher Hinsicht. Das Panorama in Lateinamerika stellt sich nicht minder vielversprechend dar für jemanden, der wie ich daran glaubt, dass nur ein System der freien Unternehmen, des privaten Eigentums, offener Märkte und politischer Freiheit befähigt ist, Elend, Hunger und Ausbeutung ein Ende zu setzen und Gesellschaften zu schaffen, die echten Wohlstand bieten – und gleiche Chancen für alle. Unterdessen verkommt die kubanische Diktatur im Elend, populistische und pseudodemokratische Regime wie diejenigen in Venezuela, Bolivien und Nicaragua lassen ihre Länder verarmen und in Korruption und Gewalt ersticken. Diejenigen aber, die wie Brasilien, Mexiko, Kolumbien, Chile, Uruguay, Peru und andere entschlossen den Weg der Demokratie und einer liberalen Wirtschaft beschritten haben, erleben nun, jeder auf seine Weise, eine aussergewöhnliche Phase wirtschaftlichen Aufschwungs. Welch ein Paradox! Länder, die bis vor kurzem noch als Vorbilder für den Weg aus der Rückständigkeit galten, stecken heute in einer Krise, die sie schlimmstenfalls in ihrer Entwicklung zurückzuwerfen droht, so wie jüngst Argentinien und nun auch Griechenland, während Länder, denen man vor nicht allzu langer Zeit die Lösung ihrer Probleme noch nicht zutraute, sich inzwischen auf dem wirtschaftlichen Vormarsch befinden, ohne dass das grosse Erdbeben, das Europa und die Vereinigten Staaten erschüttert, ihnen etwas anzuhaben scheint. Was aber ist geschehen, dass sich das Blatt – oder die Tortilla, wie der Spanier sagt – so rasch gewendet hat? Ganz einfach: Die gelehrigen Schüler haben die Lektionen gelernt, die ihre Lehrer ihnen zwar predigten, daheim aber zu befolgen vergassen, wo sie häufig genau das Gegenteil von dem taten, was sie den Ländern auf ihrer Suche nach einem Ausweg aus Unterentwicklung und Armut rieten: Weisheiten wie die, dass ein Land nicht mehr ausgeben darf, als es produzieren kann, mit anderen Worten nicht über seine Verhältnisse leben darf, weil es sonst riskiert, Schulden anzuhäufen, die es am Ende ruinieren werden; dass Haushaltsdisziplin und Kontrolle der öffentlichen Ausgaben zwingende Voraussetzungen sind für eine gesunde Wirtschaft und eine stabile Währung. Dass verantwortungsvolle Banken und Finanzinstitute ihren Gewinn machen, indem sie ihren Kunden dienen, anstatt sich bei ihnen zu bedienen oder mit dem ihnen 82


Schweizer Monat 993 Februar 2012  Literarischer Essay

anvertrauten Geld zu spekulieren, damit ihre Direktoren und Manager ordentlich daran verdienen; und dass es mit den Worten Milton Friedmans nichts umsonst gibt («There is no such thing as a free lunch»), denn jede verantwortungslose Verschwendung kommt einen früher oder später teuer zu stehen, dann nämlich, wenn Verschwendungen Länder, Unternehmen, Individuen in den Bankrott oder in die Katastrophe treiben.

Die Krise, die Westeuropa und die Vereinigten Staaten zurzeit erleiden, ist gewiss weder die erste noch die letzte, die der Kapitalismus zu meistern hat. Aber möglicherweise hat sie grösseren moralischen Schaden angerichtet als alle, die er bisher erlebt und überwunden hat. Denn sie hat einen eklatanten Verlust an ethischen Grundwerten in ihrem Innersten aufgedeckt und einen von Egoismus geprägten Geist, bei dem die Profitgier grosse Manager und Unternehmer, angesehene Bankiers und Finanziers derart blind gemacht hat, dass sie ohne jede Weitsicht oder Skrupel Entscheidungen zum Schaden ihrer Kunden und eben jenes Systems trafen, dem sie ihre Macht und ihren Reichtum verdanken. Das ist das grösste Problem, das zu beheben mit Sicherheit am längsten dauern wird. Denn unter schwersten Opfern, die mehrheitlich die Leidtragenden der Krise, nicht aber ihre Verursacher zu schultern haben, werden sich die betroffenen Länder allmählich erholen, sich die erforderlichen Kredite zur Gesundung der Unternehmen und der gesamten Maschinerie gewähren, die für neuen Reichtum, Arbeitsplätze und Beschäftigung sorgen, und früher oder später wird der Kapitalismus in der westlichen Welt seine kreative, fortschrittliche Kraft zurückgewinnen. Sollte der in der Krise hervorgetretene moralische Verfall im System des freien Unternehmertums und der offenen Märkte jedoch nicht an der Wurzel gepackt werden, wird sich der Zerfall im Innern weiter ausbreiten, seine Stützpfeiler untergraben und den gesellschaftlichen Konsens – das Vertrauen und die Solidarität der Mehrheit der Bürger – zerstören, ohne den auf lange Sicht keine Institution überleben kann. Für viele Philosophen und Theoretiker des Liberalismus – von Adam Smith über Sir Karl Popper bis Friedrich August von Hayek – ist die solideste Basis der Kultur der Freiheit eher moralischer als materieller Natur und beruht mehr auf ethischen und spirituellen Prinzipien und Taten als auf politischen oder ideologischen. Eine vom wirtschaftlichen Liberalismus und dem Recht auf Privateigentum geprägte Gesellschaft ohne ethische Dimension wäre demnach ein seelenloses Wesen, ein Roboter, anfällig für den geringsten mechanischen Fehler. Ihnen zufolge sind also die tieferen Ursachen für die verheerende Krise, die Westeuropa und die Vereinigten Staaten zurzeit im Griff hat, in der Missachtung der ethischen und spirituellen Grundlagen des Kapitalismus zu suchen, in der Missachtung der moralischen Werte, die ihn stützen. Es ist, so auch mein Eindruck, ein grosser Irrtum, das System des freien Marktes und unabhängiger Betriebe ausschliesslich mit wirtschaftlichen Argumenten zu verteidigen. Unbestritten hat der Kapitalismus auf spektakuläre Weise immer mehr Reichtum und damit Wohlstand und materiellen Fortschritt über die Welt gebracht. Doch das sind Folgen, nicht Ursachen. Der Kapitalismus hat die Gesellschaft von der Sklaverei und Unterdrückung des feudalen Systems befreit, das die Mehrheit der Menschheit zu von morgens bis abends schuftenden Arbeitstieren erniedrigte, ohne Rechte, Würde oder Lohn, von ihren Feudalherren oft unbarmherziger behandelt als ihre Pferde oder Hunde. Das Leben wurde humaner mit dem Aufkommen von unabhängigen Betrieben, privaten Händlern, der Entwicklung moderner Städte, einem System von privatem Eigentum, Freihandel und offenen Märkten. Ohne all das wären die Ideen vom selbstbestimmten Individuum, vom Recht eines jeden einzelnen und der Gleichheit aller Menschen vor dem Gesetz nie entstanden. Errungenschaften, die sich in diesem einzigen Wort Freiheit erfassen lassen – ein Begriff, der politische, wirtschaftliche, gesellschaftliche und kulturelle Chancen eröffnete, Veränderungen bewirkte und Werte schuf, die der Menschheit einen Fortschritt bescherten, wie ihn sich unsere Vorfahren niemals hätten träumen lassen.

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Schweizer Monat 993 Februar 2012  Literarischer Essay

Trotz der misstrauischen, bisweilen gar feindlichen Haltung der Kirche gegenüber dem Kapitalismus (eigentlich gegen den Reichtum) muss man als historische Tatsache anerkennen, dass die Marktwirtschaft mit ihrer ungeheuren Fähigkeit, Wohlstand zu schaffen und den wissenschaftlichen und technischen Fortschritt voranzutreiben, mehr als alles andere dazu beitrug, die Menschheit aus ihrem «animalischen Zustand» zu befreien, wie Marx es nannte. Der Kapitalismus schuf also eine wesentliche Voraussetzung dafür, um religiöse Gebote wie Gutes tun und dem Nächsten gegen alle Widerstände ein würdevolles Leben ermöglichen im realen Leben zu verankern. Das System des Kapitalismus war in seinen Anfängen wie zu seinen Hochzeiten durchtränkt von ethischen und spirituellen Werten. Auf dem Gebiet der Wissenschaft hat das System des freien Unternehmertums und offener Märkte zu Forschungen und Entdeckungen geführt, mit deren Hilfe die schlimmsten, zuweilen gar die gesamte menschliche Existenz bedrohenden Krankheiten besiegt werden konnten – und tut es immer noch. Es hat Erfindungen und Systeme hervorgebracht, die unsere Lebensqualität in einer Weise verbessert haben, wie sie unsere Urgrosseltern noch vor ein paar Jahrzehnten für undenkbar gehalten hätten. Das ist auch der Grund, warum Millionen Menschen – vor allem junge Leute – weltweit den Tod jenes grossen Visionärs und Unternehmers namens Steve Jobs beklagten, dessen Ideen und Erneuerungen im Bereich des Kommunikationswesens revolutionär waren. Diese Ehrung galt nicht nur dem genialen Menschen und Apple-Mitbegründer, sondern auch dem System, das ihn hervorbrachte und seinen aussergewöhnlichen Lebensweg erst möglich machte. Die Demokratie an sich – das heisst das politische System, das der Gesellschaft erwiesenermassen ihre grössten Errungenschaften beschert hat: Unterdrückung von Gewalt, friedliche Regierungswechsel, Zusammenleben in Vielfalt und die besten Kontrollmechanismen gegen Machtmissbrauch – ist untrennbar verbunden mit dem auf Werten wie Privateigentum beruhenden Kapitalismus. All das verleiht diesem System eher eine moralische und spirituelle Berechtigung als eine materialistische, was den Gründungsvätern der amerikanischen Unabhängigkeit zutiefst bewusst war, als sie das Streben nach Glück als unveräusserliches Grundrecht eines jeden Amerikaners in ihrer Verfassung verankerten. Indem sie aber vom Streben nach Glück sprachen und nicht vom Glück selbst, gaben sie zum Ausdruck, dass sie das Glück als ein rein persönliches und privates Gut betrachteten, dessen Auslegung von jedem einzelnen sowie vom kulturellen Umfeld abhängt und nicht von Staaten oder von Regierungen verordnet werden sollte, die folglich lediglich den Rahmen für Freiheit und Chancengleichheit zu sichern haben, damit jeder einzelne nach seinem Glück streben (oder besser: es sich erschaffen) kann. Die altruistische, philanthropische Idee vom Kapitalismus der amerikanischen Urväter entspricht in nichts dem Schauspiel, das dieses System mit der schweren Krise, in der die westlichen Demokratien momentan stecken, der Welt in letzter Zeit bietet. Man möchte vielmehr meinen, dass seine höchsten Repräsentanten alles getan haben, um den klassischen Karikaturen nachzueifern, die ihre Verleumder gerne von ihnen verbreiten. Urheber der Krise waren nicht die vorbildlichen Grossunternehmer, die Arbeitsplätze und Wohlstand schaffen und sich wie Steve Jobs gegen Armut und alle Widerstände behaupten, sondern die selbstsüchtigen Spekulanten, die, geblendet von ihrer Profitgier, ihre Geschäftspartner, Anleger und sogar ihr eigenes Unternehmen in den finanziellen Ruin trieben. Nicht jene, die nachhaltige Projekte entwickeln, angetrieben vom Wunsch nach Fortschritt für sich und ihre Angehörigen wie zum Wohle ihrer Mitarbeiter, ihrer Stadt, ihres Landes und ihrer Zeit. Sondern jene, die in ihrem Streben nach dem leichten und raschen Gewinn die Zukunft für eine flüchtige Gegenwart opferten und in ihrer Ungeduld den Boden unter den eigenen Füssen zerstörten, das heisst die Fabrik, die Bank oder das Unternehmen, die sie leiteten, ohne zu bedenken, dass sie im Fall eines Scheiterns alle mitrissen, die ihnen vertrauten, und obendrein das System und die Gesellschaft, denen sie ihren rasanten Aufstieg erst verdankten. So sind wir in eine nie da gewesene Lage geraten, die sich folgendermassen darstellt: ausgerechnet als der Kommunismus, der erbittertste Feind der westlichen Demokratien, seinen inne85


Literarischer Essay Schweizer Monat 993 Februar 2012

ren Widersprüchen und Misserfolgen erliegt und untergeht, schöpft das kapitalistische System nicht etwa Kraft aus diesem historischen Beweis seiner Überlegenheit als Garant jener unteilbaren Dreieinigkeit – Recht, Freiheit und Eigentum –, die Hayek als den Motor der Zivilisation bezeichnete, sondern gerät ebenfalls ins Wanken, als Opfer jenes Gifts, das der Organismus des Kapitalismus sich ausbreiten lassen hat, anstatt es abzuwehren und auszurotten. So wurde der Aspekt seiner Natur vernachlässigt, den auch grosse Unternehmergeister unserer Zeit – wie Bill Gates und Warren Buffett –, die einen Grossteil ihres gigantischen Vermögens in humanitäre Hilfsprojekte investiert haben, als vorrangig erachteten: die moralische und spirituelle Dimension des Kapitalismus.

Es gibt eine Tatsache, welche wir, die wir an das kapitalistische System glauben und es verteidigen, nicht leugnen können. Während der Kapitalismus sich hinsichtlich der Ressourcenverteilung sowie beim Erkennen und der Befriedigung potentieller Bedürfnisse bzw. Nachfragen einer Gesellschaft als unschlagbar erwiesen hat, als das System mit dem gerechtesten Lohn für jene, die mit ihrer Arbeit der Mehrheit dienen, schürt er auch ein Streben nach materiellen Gütern – Konsum – und Anhäufung von Vermögen, was im Rahmen einer geltenden und sich Geltung verschaffenden Rechtsordnung nicht schlecht sein muss. Im Gegenteil, solange keine Gesetze übertreten werden, erhält sich das System aufrecht, indem es Anreize für Erfindungsgeist und die Entwicklung neuer Produkte schafft, den Wettbewerb stimuliert und Vorbilder und Paradigmen hervorbringt, denen die junge Generation nacheifern wird. Doch die Grenzen zwischen Tugend und Laster, zwischen dem legitimen Wunsch nach redlich erarbeitetem Erfolg und Wohlstand einerseits und reiner Gier oder Profitsucht andererseits sind fliessend, denn letztere können so beherrschend werden, dass sie blind machen und unter Missachtung von Anstand und Gesetzen zu Handlungen verleiten, die anderen und dem System selbst schaden. Es reicht nicht zu meinen, das Problem sei gelöst und das System gerettet, wenn die Regierung auf die Einhaltung der Gesetze achtet und unmittelbar auf derlei kriminelle Überschreitungen reagiert, indem sie Schuldige vor Gericht stellt und einer gerechten Strafe zuführt. Dem wäre nur so, wenn solche Fälle selten vorkämen, sozusagen als Ausnahme von der Regel, nicht aber sobald sie wie eine Seuche grassieren, die das System in seinen Grundfesten bedroht. Leider ist genau das der Eindruck, den die jüngste Krise der Banken und Finanzinstitutionen hinterlässt, deren Manager sich selbst mit ungeheuren Privilegien ausgestattet haben, während ihre Unternehmen ihr Kapital verschleuderten und in den Bankrott gingen und die Einlagen der Kunden, die ihnen vertraut hatten, zunichte machten – um anschliessend nach Rettung durch die Steuerzahler zu rufen. Damit das überhaupt in diesem Ausmass geschehen konnte, muss es zu Schludereien oder Mittäterschaft innerhalb der Kontrollorgane gekommen sein, die über korrekte Abläufe innerhalb des Systems zu wachen haben. Doch es wäre weit gefehlt, wollte man allein die Inkompetenz und Unehrlichkeit einiger weniger für die Krise verantwortlich machen, die Millionen von Menschen in die Arbeitslosigkeit und eine Menge kleiner und mittlerer Unternehmen in den Bankrott getrieben hat. Denn nicht nur die Wächter des Systems haben versagt, sondern auch das System selbst, indem es bestimmte Missstände wuchern liess, die es von innen aushöhlten und an den Rand einer allgemeinen Rezession brachten. Versagt haben nicht nur die systemimmanenten Mechanismen der Selbstkorrektur – die Institutionen, deren Aufgabe es war, die Warnzeichen zu erkennen und die notwendigen Gegenmassnahmen einzuleiten –, sondern auch jene damit verbundenen ethischen und spirituellen Grundwerte, die Grossunternehmer wie öffentliche Bedienstete, Techniker wie Angestellte die Grenzen zwischen dem erkennen lassen, was legitim ist, und dem, was denjenigen, der sie überschreitet, diskreditiert und anderen Menschen schweren Schaden zufügt. Das ist weder ein wirtschaftliches noch ein politisches, sondern vor allem ein kulturelles Problem. Unsere Kultur akzeptiert zunehmend, dass Menschen, angetrieben von blinder Profitgier, Gesetze übertreten und dafür nicht zur Rechenschaft gezogen werden, sondern ungestraft 86


Schweizer Monat 993 Februar 2012  Literarischer Essay

davonkommen und oft vom Staat sogar noch belohnt werden, wenn dieser Unternehmen vor der selbstverschuldeten Pleite rettet. Der Urheber dieser Verwerfungen ist jedoch nicht das kapitalistische System, sondern eine tiefe Verzerrung dessen, was es einmal war – und wieder sein sollte, wenn wir nicht aus der Zivilisation in die Barbarei zurückfallen wollen.

Im Laufe seiner Geschichte hat das System des freien Unternehmertums seine aussergewöhnliche Fähigkeit bewiesen, sich zu erneuern und neu zu erfinden. Es ist der Moment gekommen, diese Fähigkeit erneut unter Beweis zu stellen, und zwar in den bekannten Schritten: Erstens: es bedarf einer radikalen, aber konstruktiven Selbstkritik hinsichtlich der Ursachen dessen, was schiefläuft. In diesem Fall handelt es sich dabei um das Wohlwollen und die Toleranz gegenüber jenen, welche die vom Gesetz des freien Marktes und Wettbewerbs festgelegten Spielregeln missachten. Sie müssen deshalb verurteilt und einer Strafe zugeführt werden. Zweitens: es bedarf der Zielsetzung und nie nachlassenden Anstrengung, das System wieder auf die ethischen Prinzipien zurückzuführen, die allein ihm seine Rechtfertigung verleihen. Das heisst, wir sollten die Idee hochhalten, dass der Kapitalismus mehr noch als ein Wirtschaftssystem mit bestimmten Regeln eine auf Werte begründete Kultur ist – bestehend aus Freiheit, Recht und Gesetz –, die das Leben der Menschen sowohl auf materieller Ebene als auch in puncto Würde, Mitgefühl, Chancen, Achtung vor dem Nächsten, Solidarität und Barmherzigkeit vorangebracht haben. Es ist dabei nicht ganz von der Hand zu weisen, wenn behauptet wird, Freiheit und Gerechtigkeit – letztere vor allem in sozialer Hinsicht – schlössen einander aus. Im Laufe ihrer Geschichte bestand die grosse Herausforderung der klassisch liberalen Doktrin aber darin, diese Unvereinbarkeit durch Harmonie zwischen beiden Werten aufzuheben, denn was wir Zivilisation nennen, hängt von ihrer Versöhnung und Koexistenz ab. Wir stehen vor einer schwierigen, aber nicht unlösbaren Aufgabe. Die Erkenntnis, dass das System, für das wir eintreten, trotz seiner Unzulänglichkeiten immer noch besser ist als alle, die bisher versucht haben, es zu ersetzen mit dem Versprechen, das Paradies auf Erden zu schaffen, während sie den Gesellschaften, die sie in ihren Bann zogen, eher die Hölle auf Erden bescherten, sollte uns ermutigen, diese Aufgabe in Angriff zu nehmen. Geben wir der politischen Demokratie und der wirtschaftlichen Freiheit ihr moralisches Gewissen zurück, das sie in den besten Momenten ihrer Geschichte besassen. Zu jenen Zeiten nämlich, als Fortschritt und Kultur ihre grössten Erfolge feierten. Der vorliegende Essay Mario Vargas Llosas wurde aus dem Spanischen übersetzt von Petra Strien. Gegenüber dem spanischen Original erscheint er in leicht gekürzter Fassung.

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Nacht des Monats Schweizer Monat 993 Februar 2012

Nacht des Monats Michael Wiederstein trifft Erica Hänssler und Peter Doppelfeld

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nde der Vorstellung, es muss gegen 22 Uhr sein. Peter Doppelfeld und Erica Hänssler tischen im begehbaren Theatermuseum am Sihlquai, das bei Türöffnung automatisch Klavierperlen von Grock, dem weltberühmten Clown, spielt und auch ihr Zuhause ist, griechische Oliven, schweizerischen Käse und deutsches Brot auf. Zwischen Puppen, Kleidern – eines gehörte der Lebenspartnerin Erich Kästners – und Masken diskutieren wir über Anspruch und Wirklichkeit des zeitgenössischen Theaters. Ist das Treiben um Lachsschnittchen, Champagner und die Anwesenheit von Moritz Leuenberger im Foyer der grossen Häuser eine Art eigenes Schauspiel? Das Drumherum habe sicher seine Berechtigung, sagen die beiden Theaterleute vom Theater Stok, aber in ihrem Haus stehe die Bühne im Zentrum. Buchstäblich. Es hat kein Foyer. Drei Stunden zuvor. So habe ich mir das Betreten des «Magischen Theaters» vorgestellt, das Hermann Hesse im «Steppenwolf» erdichtet: verborgen hinter einer unscheinbaren Wand, die Werbetafel mit der Warnung «Eintritt nicht für jedermann» nur sichtbar für «Bitte schalten Sie jene, die sich dieses Abenteuers annehmen wollen. Ihr Handy aus Sicher, das Theater Stok und Verstand, Gefühl ist auch für alle anderen und Phantasie ein.» sichtbar. Und ganz so anarchisch wie in Hesses psychedelischem Selbstfindungstraum kann es kaum sein. Öffnet man aber die schwere Holztür und nimmt die wenigen Stufen hinab in den barocken Gewölbekeller am Hirschengraben in Zürich, so befindet man sich plötzlich in einer Welt, die mit der nüchternen Rationalität des Bankenplatzes an der Limmat nichts gemein hat. Der polnische Theatermacher Zbigniew Stok nahm diese Stufen zum ersten Mal im Jahr 1971. Das heutige Theater war damals noch ein vor sich hin schimmelnder Gewölbekeller mit hunderten Velos, die von der städtischen Polizei dort gelagert wurden. Stok, überzeugt von Lage und Räumlichkeit, erklärte der Stapo, er wolle hier ein Theater gründen. «Mit welchem Kapital?» «Mit meinem Talent», antwortete Stok. Die Realisierung seines Traumes kostete ihn eine Anzahlung von 500 Franken. Er restaurierte den Keller. 88

Unterstützt wurde Stok von Studenten, die sich freuten, mit ihm den Putz von den Wänden zu schlagen. Jeden Abend stand der hochverschuldete Theatermacher selbst am unteren Ende besagter Treppe und begrüsste die Gäste zur Vorstellung. An der golden glänzenden Theaterkasse steht heute nicht mehr Zbigniew Stok, sondern Peter Doppelfeld. Er nahm die magischen Stufen erstmals 1976. Seit dem Tod Stoks im Jahr 1990 führt er das Theater gemeinsam mit Erica Hänssler, die schon im zarten Alter von 22 durch das nächtlich-lüsterne Niederdorf streifte, um Rosen für Zbigniew Stoks finanziell defizitären Theatertraum zu verkaufen. Später wurde sie seine Lebenspartnerin. «Not macht erfinderisch», glauben die beiden. Das muss sie auch, denn Angestellte haben Peter und Erica nicht: vom ersten Buch­ staben der Stücke bis zum letzten Satz auf der Bühne, vom ersten Plakatieren vor der Tür bis zum Entkorken des Rotweins nach der Vorstellung und vom telefonischen Vorverkauf bis zur Jahresabrechnung liegt der komplette Betrieb in ihren Köpfen und Händen. Auch die Kostüme, die Masken, eigentlich das gesamte Inventar besteht aus selbst hergestellten oder zumindest für die Bühne «verwandelten» Gegenständen. Es riecht wie in einer alten Kirche, der Zuschauerraum besteht aus aufeinandergestapelten und schwarz gestrichenen SBB-Paletten, auf denen Stühle stehen – sogar deren Sitz­ kissen wurden von Erica selbst genäht. Und noch etwas fällt mir auf, bevor Peter auf die Bühne tritt: Studenten sitzen darauf keine mehr. «Verehrtes Publikum. Bitte schalten Sie Ihr Handy aus und Verstand, Gefühl und Phantasie ein.» Das Licht geht aus. Schwarz. Geräuschlos, weil barfuss, betritt Erica die Bühne. Als sie im langsam heller werdenden Schein­ werferlicht für das Publikum sichtbar wird, ist sie nicht mehr die Thea­terunternehmerin Erica Hänssler. Hier, in der Halbwelt des Theaters Stok, tauscht sie den Beruf mit der Berufung. Sie spricht mit Masken, wirft Wasserlichtspiele an die unverputzten Wände und destilliert in intimer Runde Weltliteratur zu eindrücklichen Bildern. Das Konzept ist das gleiche wie vor 40 Jahren: Weltliteratur als Welttheater, irgendwo zwischen Liturgie und Puppenspiel. Von Hesses «Magischem Theater» unterscheidet sich das Theater Stok noch in einem weiteren Punkt fundamental: ein Besuch ist nicht den «Verrückten» vorbehalten, sondern all jenen, die intimes Theaterhandwerk dem Sehen & Gesehenwerden vorziehen. �


Erica H채nssler und Peter Doppelfeld, photographiert von Michael Wiederstein.

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ausblick

Schweizer Monat 993 Februar 2012

Im nächsten «Schweizer Monat» Goldene Zukunft Matt Ridley & Deirdre McCloskey über schöne Perspektiven

Impressum «Schweizer Monat», Nr. 993 91. Jahr, Ausgabe Februar 2012 ISSN 0036-7400 Die Zeitschrift wurde 1921 als «Schweizerische Monatshefte» gegründet und erschien ab 1931 als «Schweizer Monatshefte». Seit 2011 heisst sie «Schweizer Monat». VERLAG SMH Verlag AG

Schweizer Hotellerie Hans & Hitsch Leu über ein hartes Geschäft

HERAUSGEBER & CHEFREDAKTOR René Scheu rene.scheu@schweizermonat.ch RESSORT POLITIK & WIRTSCHAFT Florian Rittmeyer florian.rittmeyer@schweizermonat.ch

Nobelpreisträger in Cowboystiefeln Vernon Smith über verhaltensökonomische Experimente

Ethnologische Spurensuche David Signer über Geschichten aus Geschichte

RESSORT KULTUR Michael Wiederstein michael.wiederstein@schweizermonat.ch DOSSIER Jede Ausgabe enthält einen eigenen Themenschwerpunkt, den wir zusammen mit einem Partner lancieren. Wir leisten die unabhängige redaktionelle Aufbereitung des Themas. Der Dossierpartner ermöglicht uns durch seine Unterstützung dessen Realisierung. KORREKTORAT Roger Gaston Sutter Der «Schweizer Monat» folgt den Vorschlägen zur Rechtschreibung der Schweizer Orthographischen Konferenz (SOK), www.sok.ch.

Literarischer Monat # 05 Das lyrische Ich Nora Gomringer über Gedichte und Gedächtnis

«Glas, Metall und Fleisch» Claudia Quadri über eine, die unter die Räder kam

Insel der Kokovoren Michael Wiederstein liest Christian Krachts «Imperium»

GESTALTUNG & PRODUKTION Pascal Zgraggen pascal.zgraggen@aformat.ch MARKETING & VERKAUF Urs Arnold urs.arnold@schweizermonat.ch ADMINISTRATION/LESERSERVICE Anneliese Klingler (Leitung) anneliese.klingler@schweizermonat.ch Rita Winiger rita.winiger@schweizermonat.ch FREUNDESKREIS Franz Albers, Georges Bindschedler, Elisabeth Buhofer, Peter Forstmoser, Titus Gebel, Annelies Haecki-Buhofer, Manfred Halter, Creed Künzle, Fredy Lienhard, Heinz Müller-Merz, Daniel Model, Ullin Streiff ADRESSE «Schweizer Monat» SMH Verlag AG Vogelsangstrasse 52 8006 Zürich +41 (0)44 361 26 06 www.schweizermonat.ch ANZEIGEN anzeigen@schweizermonat.ch PREISE Jahresabo Fr. 165.– / Euro 118.– 2-Jahres-Abo Fr. 297.– / Euro 212.– Abo auf Lebenszeit / auf Anfrage Einzelheft Fr. 19.50 / Euro 16.50.– Studenten und Auszubildende erhalten 50% Ermässigung auf das Jahresabonnement. DRUCK pmc Print Media Corporation, Oetwil am See www.pmcoetwil.ch BESTELLUNGEN www.schweizermonat.ch

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