994 (März 2012)

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D o s s i e r J e d e r m i t j e d e m . Vo m N u t z e n d e s g l o ba l e n M a r k t p l at z e s

Ausgabe 994 März 2012 CHF 19.50 / Euro 16.50

D i e Au t o r e n z e i t s c h r i f t f ü r P o l i t i k , W i r t s c h a f t u n d K u lt u r

Händler und Diebe

Karen Horn, Matt Ridley und Vernon L. Smith über geschaffenen und gestohlenen Reichtum

Kursverlust in Brüssel at »

Dieter Freiburghaus und Filippo Leutenegger über die Irrfahrt der EU

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BSE, H5N1, FSME und ESM! Piet Klocke spricht Klartext

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Andreas Thiel zeichnet das Finanzloch


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Schweizer Monat 994 märz 2012  Editorial

Editorial

A

René Scheu Herausgeber

uf den Marktplätzen dieser Welt wird leidenschaftlich geschrien, geworben, gefeilscht, getauscht. Das Treiben wirkt chaotisch, doch bekommt am Ende jeder, was er will. Darum mögen wir die bekannten Marktplätze vor unserer Haustür. Getauscht und gefeilscht wird auch auf den grossen globalen Märkten. Dennoch trauen viele Zeitgenossen diesen grossen Brüdern nicht. Warum ist das so? Antworten von Karen Horn, Matt Ridley, Vernon Smith, Rolf Puster und Wolf von Laer finden Sie im Dossier ab S. 39. Neuerdings publizieren wir in jeder Ausgabe einen längeren Literaturessay. Nachdem Mario Vargas Llosa in der Februarausgabe den Anfang machte, geht der Staffelstab nun weiter an den Ethnologen David Signer. In seinem Plädoyer für das Lesen fiktiver Geschichten ab S. 72 erfahren wir, dass Literatur nicht nur besser bildet als die «Tagesschau», sondern auch Leben rettet. Die «Bücher des Monats» sind für dieses neue Gefäss übrigens nicht verschwunden, sondern bloss in den «Literarischen Monat» abgewandert.

Deirdre McCloskey gehört zu den führenden Ökonominnen der USA. Sie begann als Marxistin, bis sie merkte: die moderne Welt wird nicht durch Revolutionen angetrieben, sondern durch Innovationen. Und die Welt wird nicht schlechter, sondern seit 200 Jahren immer besser. Der tiefere Grund dafür liegt in der Entdeckung und Kodifizierung der bürgerlichen Tugenden. Das ist die Chance für die neue Welt. Wem nach Deirdre McCloskey das 21. Jahrhundert gehören wird, lesen Sie im grossen Gespräch ab S. 14. Die EU beschäftigt uns weiter – lesen Sie mehr zu europäischen Zeitläuften von und Filippo Leutenegger auf S. 33. Trotz unterschied­l icher Sicht auf die Union sind sich beide Autoren einig: weiterwursteln geht lange. Aber nicht ewig.

Dieter Freiburghaus

Gedanken zum Lauf der Welt macht sich auch Piet Klocke auf S. 77. Der deutsche Kabarettist rudert auf der Bühne gerne mit den Armen und zelebriert die Kunst der unvollendeten Sätze. Für einmal gibt er sich grammatikalisch korrekt und formuliert philosophische Sätze wie: «Für medial geschürten Katastrophismus habe ich kein Verständnis, da kriege ich einen Hals. Deswegen mache ich auch kein politisches Kabarett, glaube ich.» Darüber muss ich erst einmal länger nachdenken. Austauschen können wir uns am Denkpunkt. Wir treffen uns jeweils am ersten Mittwoch des Monats im Hotel Storchen in Zürich. Kommen Sie auch? René Scheu 3


Inhalt Schweizer Monat 994  märz 2012

Inhalt

Anstossen

Vertiefen

7 Von helvetischem Wohlfühlen und brasilianischer Dynamik René Scheu

39 Jeder mit jedem. Vom Nutzen des globalen Marktplatzes

8 Lasst uns ein Steuerparadies werden! Christian P. Hoffmann 9 Sternegucker sind keine Himmelsstürmer Xenia Tchoumitcheva 10 Zaungäste Wolfgang Sofsky 12 Berner Gehirne, wollt ihr ewig leben? Andreas Kley 13 Das Finanzloch Andreas Thiel

42 1_Tausch oder Raub René Scheu trifft Matt Ridley 48

2_(M)eine Entdeckungsreise Vernon L. Smith

53 3_Das Wunder des Bleistifts Karen Horn 56 4_Warum wir tauschen Rolf W. Puster 60 5_Kein «Versager» Wolf von Laer

Erzählen Weiterdenken 14 Eine Frage der Ehre Florian Rittmeyer und Michael Wiederstein treffen Deirdre McCloskey

62 Eiszeiten Claudia Mäder 63 Bildessay: Eiszeiten Hanspeter Schiess

21 Die Ménage à trois des Geldes Hans Geiger

68 Dem Künstler gibt’s der Herr im Schlaf Johannes M. Hedinger trifft San Keller

24 Wie uns der Staat reich macht Eric Lütenegger

72 Zur Kenntlichkeit entstellt David Signer

26 Safari, Zirkus, Plüsch und Plausch Florian Rittmeyer und Michael Wiederstein treffen Hans C. und Hitsch Leu

77 Nachts istʼs kälter als draussen Michael Wiederstein trifft Piet Klocke

33 Durchwursteln Dieter Freiburghaus 37 Europäische Machtspiele Filippo Leutenegger

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80 Nacht des Monats mit Francesco Micieli Michael Wiederstein


Schweizer Monat 994  märz 2012  Inhalt

48 Der Ruf des Marktes litt. Derweil fuhr die überwiegende Mehrheit von Märkten fort, zuverlässig, lautlos und täglich Wohlstand zu schaffen. Vernon L. Smith

Die meisten Menschen glauben, dass Handel eine Gewinner- und eine Verliererseite habe. «Ich gewinne, du verlierst!» In Wahrheit trifft dieses Schema einzig auf Raub und Diebstahl zu. Matt Ridley auf Seite

42

So gesehen, steht es sehr schlecht um die klassische Schweizer Hotellerie, sie ist zu einem Aussterbemodell geworden. Hans C. Leu und Hitsch Leu auf Seite

26

Das Rezept in der finanziellen Ménage à trois lautet «Mehr Geld, mehr Schulden, mehr Garantien». Allein: das Rezept funktioniert auf Dauer nicht. Hans Geiger auf Seite

21

77 In meinem Keller habe ich noch drei Disketten, da steht drauf: Liebe, Tod, Hass. Könnt ihr haben, kopiert euch was runter! Piet Klocke

Titelbild: Karen Horn, photographiert von Philipp Baer.

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Schweizer Monat 994  märz 2012  Notizbuch

Ohne Scheuklappen

Von helvetischem Wohlfühlen und brasilianischer Dynamik

H

errn Schweizers Weltzentrum ist Europa. Die mentale Orientierung an den Zuständen in den benachbarten EUStaaten ist angenehm für ihn. EU-Vergleiche geben die negative Folie ab, vor deren Hintergrund Herr Schweizer das eigene Land in umso schönerem Glanz erstrahlen lassen kann. Kritisiert er die Schuldenwirtschaft der EU-Staaten, lobt er eigentlich sich selbst: wir waren so klug, eine Schuldenbremse einzuführen, als die anderen das nicht vorhandene Geld noch im grossen Stil zum Fenster hinauswarfen! Und man schaue sich einmal den Arbeitsmarkt der EU-Staaten an. Weltfremde Politiker machen Gesetze im Namen der Arbeitnehmer, die dazu führen, dass immer weniger Arbeitnehmer eingestellt werden, weil die Unternehmen bloss noch die Wahl zwischen Anstellung auf Lebenszeit und keiner Festanstellung haben. Kein Wunder, sagt sich der Schweizer, steigt die Arbeitslosigkeit, in einzelnen Ländern wie Spanien und Griechenland gar so sehr, dass sich soziale Unrast ankündigt. Und erst die Arbeitsmoral! In Frankreich ist die Arbeit mit der 35-Stunden-Woche zur Freizeitbeschäftigung geworden. Da haben wir es in der Schweiz besser. Wir arbeiten mehr als unsere Nachbarn. Wir sind produktiver. Wir haben mehr ökonomischen Sachverstand. Wir haben liberalere Gesetze. Und so weiter. Und so fort. Das alles ist richtig. Und dennoch ist es falsch, weil Europa nicht die Welt ist. Der helvetische Eurozentrismus entspringt letztlich einem etablierten Willen zum Wohlfühlen. Wir rufen uns zu: schaut mal, wie schlecht es die anderen machen. Und fühlen uns gut dabei, weil dies für uns bedeutet: uns geht es gut, jedenfalls viel besser als den anderen. Aber eben, Europa ist nicht die Welt. Und so merken wir nicht, dass wir uns, gemessen an nichteuropäischen Standards, längst auf dem Weg der Europäisierung befinden. Ich habe jüngst drei Wochen in Brasilien verbracht, in den beiden Millionenmetropolen Belo Horizonte und São Paolo. Seit nun schon fast zehn Jahren bereise ich dieses faszinierende Land. Und ich bin von seiner Dynamik jedes Mal aufs neue beeindruckt. Erklären Sie einmal einem Bewohner von São Paolo – egal ob arm oder reich, ob gut oder schlecht ausgebildet –, dass wir im Ernst (im Ernst!) darüber abstimmen, die Ladenöffnungszeiten zu liberalisieren. Er wird freundlich lächeln und erstaunt fragen:

René Scheu Herausgeber und Chefredaktor

Wie meinen Sie das? Sie werden ihm selbst unter Aufbietung aller rhetorischen Kunst nicht verständlich machen können, dass in der Schweiz viele Leute Öffnungszeiten von 9 bis 19 Uhr unter der Woche (Sonntag geschlossen!) als soziale Errungenschaft betrachten. Er wird Ihnen sagen: mit solchen Gesetzen schaden Sie den Arbeitnehmern. Sie enthalten ihnen Arbeit vor. Und die Arbeit ist der Weg zum Erfolg. Und der Erfolg ist das einzige, was den Paulista interessiert. Oder erklären Sie dem Paulista, dass das Volk eine Initiative lanciert hat, um die Ferien von vier auf sechs Wochen im Jahr zu erhöhen. Er wird freundlich lächeln und erstaunt fragen: Warum tun Sie das? Haben Sie nicht genug Arbeit für alle? Der Paulista würde am liebsten 365 Tage im Jahr arbeiten. Natürlich haben wir uns in der Schweiz auch Abwehrreflexe gegen diese Art von Rückmeldungen aus der Neuen Welt antrainiert. Wir sagen dann zum Beispiel, dass die Armut in Brasilien stossend sei, dass es keinen Mittelstand gebe, dass die Schere zwischen Arm und Reich immer weiter auseinanderklaffe. Das Problem ist nur, dass dies alles nicht stimmt. Die Armut in Brasilien schwindet rasant; es hat sich in den letzten Jahren ein solider Mittelstand herausgebildet, der echtes Arbeitsethos hochhält; die jungen Leute sind gut, und immer besser, ausgebildet und unternehmerisch orientiert; die soziale Kohäsion wächst. Die Brasilianer wissen das alles und sind mittlerweile ziemlich selbstbewusst geworden. Ein Paulista sagte mir freundlich lächelnd, dass er den Glauben an die Wirtschaftskraft des früher bewunderten Europa verloren habe. Aber die Europäer verfügten ja über reiche kulturelle Ressourcen, die sie bewirtschaften könnten. Sie, die Brasilianer, würden künftig investieren, wären mithin Eigentümer und Besucher des alten Kontinents. Und wir wären die Museumswärter. Ich frage mich noch immer: Hat er das ernst gemeint? � 7


KOLUMNE Schweizer Monat 994  märz 2012

Freie Sicht

Lasst uns ein Steuerparadies werden!

A

ussenpolitisch scheint es ein ungemütliches Jahr zu werden für die Schweiz. Die USA setzen im grossen Steuerstreit sichtbar nicht auf Deeskalation. Und auch die EU tut alles, um den Abschluss neuer Steuerabkommen mit der Alpenrepublik zu torpedieren. Hier wie dort wittern die politischen Umverteiler: mit etwas mehr Dreistigkeit und Druck lässt sich noch mehr Geld herausholen. Längst ist die Bekämpfung der sogenannten «Steuerflucht» international Programm. EU und OECD entwickeln sich zu politischen Kartellen, die dem Steuerwettbewerb den Garaus machen wollen. Kein Steuerbürger soll sich den Forderungen seiner Regierung entziehen können. Ein hehres Ziel? Ein legitimes Anliegen? Schon die Sprache verrät uns viel: «Steueroasen» werden jene Standorte genannt, die den Bürger weniger schröpfen als andere. Im Englischen spricht man vom «tax haven» – einem Zufluchtsort. Der Bundesrat liess 2009 mit dem nötigen Schuss Empörung verlauten: «Die Schweiz ist kein Steuerparadies!» Das ist wahr. Aber auch bedauer- «Die Schweiz ist kein Steuer­ lich. Ein Paradies ist schliessparadies!» Das ist wahr. lich ein Ort, an dem es den Aber auch bedauerlich. Menschen gut geht. Eine Oase spendet Leben in einem wüstenartigen Umfeld. Der Zufluchtsort bietet Schutz und Sicherheit, wo sonst Gefahr droht. All dies sind äusserst positive Eigenschaften – ausser wenn es um Steuern geht? Auch «Steuerflüchtling» ist ein interessanter Begriff. Nach Genfer Konvention ist der «Flüchtling» ein Mensch, der aus begründeter Furcht vor Verfolgung den Rechtsschutz des Heimatlandes nicht mehr in Anspruch nehmen kann. Doch hier endet auch schon die Klarheit, und die Spitzfindigkeiten der Political Correctness beginnen. Ein «guter» Flüchtling bringt nur seine Person in Sicherheit, ein «schlechter» Flüchtling dagegen sein Eigentum. Eine unsinnige Unterscheidung! Souveräne Menschen bringen sich, ihre Zeit, ihre Energie und ihr Können in freiwillige Tauschprozesse ein. So entsteht Eigentum. Eigentum ist also nur eine Verlängerung der persönlichen Freiheit. Wer Eigentum vernichtet oder entwendet, bedroht Menschen in ihrer ganzen Rechtspersön8

Christian P. Hoffmann ist Assistenzprofessor für Kommunikationsmanagement an der Universität St. Gallen und Forschungs­leiter am Liberalen Institut.

lichkeit. Das Zerstören des Eigentumsrechts ist letztlich eine Form der Sklaverei: wer die Früchte seiner Leistung nicht behalten kann, ist nicht mehr Herr seiner selbst. Konfiskatorische Steuersysteme, die Menschen über die Hälfte ihres Einkommens oder mehr nicht mehr frei verfügen lassen, zerstören die Freiheit der Betroffenen in einem Ausmass, das an die Substanz ihrer Persönlichkeit geht. Auch ein Teilzeitsklave ist letztlich ein Sklave – gleich ob eines Tyrannen oder einer Stimmenmehrheit. Die Demokratietheorie postuliert darum ein Recht auf «Exit». Die Universalität des Rechts erfordert, dass dies für Person wie Eigentum gleichermassen gilt. Kurzum, jeder Mensch sollte sich konfiskatorischen Steuersystemen durch Flucht entziehen können – in Person und Eigentum. Denn klar ist: ein Rechtsschutz durch das Heimatland ist in diesen Fällen nicht zu erwarten. Doch während Kommentatoren aller politischer Couleur das Recht auf physische Flucht hochhalten, brandmarken sie die Steuerflucht als eine Art staatsbürgerlichen Sündenfall. Wenn es um den Zugriff auf das persönliche Eigentum geht, dann legitimieren offensichtlich abgegriffene Floskeln, von «Pflicht» bis «Solidarität», jeden Übergriff. Es braucht wieder mehr Klarheit in der Steuerdiskussion: die Freiheit des Menschen und sein Eigentum lassen sich nicht voneinander trennen. Der Übergriff auf das eine gefährdet stets auch das andere. Nicht die Steuerflucht stellt daher ein politisches Vergehen dar, sondern die Steuerhölle. Wo Menschen in Massen ihr Eigentum vor dem Zugriff des Staates zu retten suchen, versagt nicht der Mensch, sondern der Staat. Wo die Steueroase bekämpft wird und nicht die Steuerwüste, sind die Dinge durcheinandergeraten. Statt vor den internationalen Fiskalkartellen zu erzittern, sollte der Bundesrat daher versichern: «Die Schweiz ist kein Steuerparadies – aber wir werden alles tun, sie zu einem solchen zu machen!» �


Schweizer Monat 994  märz 2012  Kolumne

Kultur leben

Sternegucker sind keine Himmelsstürmer

I

ch sitze im Flieger von Los Angeles nach New York und habe gerade eine anstrengende Pressekonferenz hinter mir. Zwei Sitze weiter liest ein junger Mann ein Buch: «Überflieger: Warum manche Menschen erfolgreich sind – und andere nicht». Der Autor ist Malcolm Gladwell. Tonnenweise Bücher wurden geschrieben über das, was Menschen angeblich erfolgreich macht, darunter viele Bestseller. Vor allem im Heimatland des pursuit of happiness, des «Strebens nach Glück», den USA, erfreut sich das Thema enormer Beliebtheit. Auf dem alten Kontinent, wo Ehrgeiz zu einer Auswanderermentalität geworden ist, steht der Erfolgreiche hingegen unter Rechtfertigungsdruck: hier werden Erfolgsratgeber weiterhin mehrheitlich übersetzt statt selbst verfasst. So kam auch ich zu Gladwells Buch. Ich habe es importiert – und verschlungen. Die wichtigsten Punkte, die die vielen verschiedenen «Erfolgs»-Autoren gemeinsam propagieren, lassen sich so zusammenfassen: um erfolgreich zu sein, musst du hart arbeiten, eine Gewinneratti- Das Glück ist keine blinde tüde haben und allzeit bereit Dame, die irgendwann un­ sein. Und zur richtigen Zeit am richtigen Ort sein, ver- gefragt an deine Tür klopft. steht sich, also dort, wo das Glück gerade zuschlägt. Gladwell fügt in seinem «Überflieger»-Bestseller den vorgenannten erforderlichen Qualitäten einen weiteren Faktor hinzu. Er behauptet, Erfolg sei massgeblich abhängig vom Zufall. Dieser gehe den anderen Qualitäten sogar voraus: es ist reiner Zufall, welches Geschlecht wir haben, in welche Gesellschaft wir geboren, wie wir erzogen werden und welche Gegebenheiten sich uns bieten. Überspitzt gesagt, könnte seine Botschaft auch so verstanden werden: lehn dich zurück, entspann dich, schliesslich sind wir alle Kinder des Schicksals – egal wie sehr wir versuchen, die Spitze zu erreichen. Wir können die gegebenen Faktoren, die sich unserer Kontrolle entziehen, nicht ändern. Unser eigener Spielraum ist extrem begrenzt. Solch fatalistischen Interpretationen darf widersprochen werden! Das Glück ist keine blinde Dame, die irgendwann ungefragt an deine Tür klopft. Das zentrale Kriterium für persönli-

Xenia Tchoumitcheva ist Unternehmerin und Model.

chen Erfolg ist Durchhaltevermögen. Denn alles, was eine Ursache hat, hat auch eine Wirkung. Ich sehe es wie ein Rad, das zu rollen beginnt: je mehr Energie man zuführt, desto schneller rollt es. Der schwierige Teil besteht also bloss darin, den ersten Impuls zur Fortbewegung zu geben. Bedeutet: herauszufinden, was wir im Innersten wirklich wollen und uns antreibt. Je mehr Impulse wir aussenden, je mehr wir also das Rad antreiben, desto mehr Möglichkeiten schaffen wir uns auch. Und das Schöne dabei: dies gilt für die schlechte Ausgangslage wie für die gute. Grant Cardone, ein anderer Erfolgsprophet, sieht das ähnlich. In seinem Buch «The 10x Rule: The Only Difference Between Success and Failure» legt er dar, wie die eigene Mobilisierung es einem ermöglicht, die Chance des Erreichens eigener Ziele um Faktor zehn zu erhöhen. Zusammengefasst besteht der Trick darin, das Unmögliche zu wollen, es zu wagen, nach den Sternen zu schiessen – wer diese verfehlt, trifft mit hoher Wahrscheinlichkeit zumindest nämlich den Mond. Wer sich hingegen damit begnügt, bloss den Sternenhimmel anzuschauen, trifft gar nichts. Das ist sein gutes Recht. Nur gibt es viele Fälle, in denen die Himmelgucker unzufrieden oder gar lethargisch werden. Ich bin überzeugt: enthusiastische Optimisten kommen weiter. Schauen Sie sich einmal um! Wie viele Leute in Ihrem Umfeld bewundern den Erfolg anderer und lesen Bücher, um herauszufinden, wie sie selbst ähnlich erfolgreich sein können? Ich glaube, die wenigsten brauchen tatsächlich den importierten Bestseller, wenn sie drei einfache Regeln befolgen: in sich selbst schauen, die eigenen Überzeugungen ausfindig machen und dann deren schlimmstem Feind einen trotzig-herausfordernden Blick zuwerfen: dem eigenen trägen Ego. �

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Bild: KEYSTONE / The Washington Times / Landov / Andrew Harnik


Schweizer Monat 994  märz 2012  Analyse

Sofskys Welt

Zaungäste

machen sich ihr eigenes Bild, finden ihre Meinung jenseits der Propaganda. Oder sind sie nur anwesend, weil die Universitäts­ leitung allen Angestellten zwei Stunden freigegeben hat und sie die warme Wintersonne geniessen wollen? Gehören sie zu der grossen Partei der Nichtwähler, die ohnehin nur bestätigt sehen wollen, dass das Spektakel die Mühe nicht lohnt? Zaungäste gibt es überall, wo etwas los ist. Sie sitzen auf Balustra­ den, Dächern oder Balkonen, sie stehen auf Mauern, Tischen oder Stühlen. Sie halten sich im Hintergrund, bevorzugen jedoch

S

Standorte mit freiem Blickfeld, Sonderplätze mit territorialen ie erkennen keine Gesichter, nur Rücken, Schultern, Hinter­

und sozialen Vorteilen. Abseits der Menge braucht sich der

köpfe. Die Plakate sind fern, und manche Worte des Redners

Zaungast nicht an die offizielle Sitz- oder Stehordnung zu halten.

verhallen im Rauschen der Bäume. Doch bietet sich von oben

Er kann seinen Körper, auch wenn es mitunter unbequem ist,

die beste Sicht. Niemand kann die Szenerie so gut überblicken wie

frei plazieren, kann niederknien, die Beine übereinanderschlagen,

die beiden Zuschauerinnen von ihrem Ausguck. Farbtupfer

die Arme verschränken, die Hände in den Hosentaschen verste­

in Grün, Blau und Rot sehen sie unter sich, Studenten, Dozenten

cken oder mit Nebentätigkeiten beauftragen. Utensilien wie

und einige Einwohner der Stadt. Auf der anderen Seite steht

Handtasche, Schlüssel, Telephon oder Zigarettenschachtel legt

der Redner im Hemd, die Leibwächter tragen gedeckte Anzüge,

der Zaungast griffbereit ab, ohne fremde Hände fürchten

und als markantes Requisit grüsst die Flagge der Nation.

zu müssen. Er lässt den Blick frei schweifen, entzieht sich jedoch selbst der Beobachtung. Die Asymmetrie der Blicke weiss er

Es ist kein bedeutsames Drama, das auf dem Campus des Wofford

wohl zu schätzen. Ohne Aufsehen kann er verschwinden, wie

College in Spartanburg, South Carolina, gegeben wird. Für den

es ihm beliebt. Zaungäste kommen und gehen. Was sie denken,

Kandidaten Mitt Romney samt seinem Tross ist es nur ein kurzer

ist ungewiss. Aber häufig beurteilen sie Veranstaltungen

Zwischenstopp, ein Termin unter tausend anderen. Monate dauert

nach ihrem Unterhaltungswert. Sie haben einen ausgeprägten

die Werbekampagne während der US-Vorwahlen. Aber die beiden

Sinn für den Sinnesreiz der Politik. Als Kritiker der Langeweile

Zaungäste wollen die Gelegenheit nicht versäumen. Sollte der

sind sie gefürchtet. Während die Zuschauer im Parkett oft bis zum

Redner tatsächlich zum Herausforderer des Präsidenten gekürt

bitteren Ende aushalten und harte Geduldsproben absolvieren

werden und wider Erwarten im Herbst den Amtsinhaber besiegen,

müssen, macht sich der Zaungast frühzeitig davon. Seine Geduld

dann könnten sie stolz berichten, ihn damals mit eigenen

ist rasch erschöpft, sein Fluchtweg immer kurz. Lange vor der

Augen gesehen zu haben. Medien können Personen der Zeitge­

Wahl stimmt er mit den Füssen ab und geht. Um ihn zu gewinnen,

schichte nur im Bild zeigen, leibhaftig erlebt sie der Bürger

muss die politische Show vor allem Abwechslung bieten.

selten. Trotzdem verzichten die Zuschauerinnen auf den direkten

Zaungäste wollen weniger überzeugt als gefesselt werden.

Kontakt. Sie suchen keinen Handschlag, kein Lächeln, kein

Sie nehmen Politik als das, was sie zu sein scheint: als Wechsel­

freundliches Wort. Gekleidet in neutrales Schwarz, Weiss

spiel von Tragödien und Komödien, Zirkus und Kammerspiel,

und Grau heben sie sich ab von der bunten Menge. Als Individuen

Oper und Scharteke. �

wirken sie neutral, kühl, auf Abstand bedacht. In dem Publikum, welches das Theater der Politik frequentiert, nehmen sie eine Sonderstellung ein. Sie sind Zuschauer der Zuschauer. Weder gehören sie zu den Anhängern, Gefolgsleuten oder Claqueuren noch zu den Gegnern oder gleichgültigen Zufallsbesuchern. Sie sind Zaungäste in der letzten Reihe. Keiner Partei rechnen sie sich zu, Neugier und Interesse sind begrenzt, und dennoch sind sie da. Entrüstung oder Begeisterung sind ihnen fremd. Sie

Wolfgang Sofsky ist Soziologe und Autor.

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KOLUMNE Schweizer Monat 994  märz 2012

Zumutungen von oben

Berner Gehirne, wollt ihr ewig leben?

D

er Wissenschafts- und Forschungsstandort Schweiz muss weiter vorankommen. Das Fördern von Bildungsexport und Talentimport gehört zum erklärten Ziel des Bundes. Das Anliegen firmiert neudeutsch unter «brain circulation». Zu diesem Zweck hat das Staatssekretariat für Bildung und Forschung neunzehn Wissenschaftsräte rund um den Globus stationiert und beauftragt, Informationen über die Strategien des Talentimports und des Exports von Hochschulbildung ihrer Gastländer bereitzustellen. Altdeutsch ausgedrückt: das Staatssekretariat lässt die Gehirne kreisen. Man kann sich das wie ein Riesenrad vorstellen, auf dem nicht Sitze, sondern Hirne befestigt sind, die einfach nur kreisen, kreisen, kreisen. Gehirne braucht das Land! Und Gehirnjäger, die nach ihnen Ausschau halten. Das erinnert mich an eine Formulierung Max Frischs. In den 1970er Jahren notierte er den bekannten Satz: «Wir riefen Arbeitskräfte, und es kamen Menschen.» Dem Staatssekretariat müsste man daher Wir importieren Hirne, entgegenhalten: Wir imporund es kommen auch tieren Gehirne, und es komnur Hirne. men Menschen. Die Menschen wollen wir aber anscheinend gar nicht, sondern nur die Gehirne. Aber stimmt das wirklich? Ist es wirklich das, was wir wollen? Das Staatssekretariat hat sich dazu keine Gedanken gemacht, denn noch fehlt es in Bern an Brain. Im globalen «war for talents» ist der «brain drain» die grosse Furcht der Staaten. Sie gieren nach «brain gain», der im allgemeinen freilich nicht dadurch erfolgt, dass man inländische Hirne sucht oder fördert, vielmehr will man Hirne aus dem Ausland importieren. Besonders beliebt ist bei unserem Staatssekretariat der «brain return»: die Repatriierung nationaler Hirne, die im Ausland Erfolg hatten. Dabei arbeitet das im Ausland hirnjagende Staatssekretariat mit dem Schweizerischen Nationalfonds Hand in Hand: der Nationalfonds (be)fördert Gehirne gezielt in das Ausland, die dann aber vom Staatssekretariat wieder repatriiert werden können. Viel Hirn, viel Verwirrung. 12

Andreas Kley ist ordentlicher Professor für öffentliches Recht, Verfassungsgeschichte sowie Staats- und Rechtsphilosophie an der Universität Zürich.

Der Brain-Abteilung des Staatssekretariats würde die Lektüre der Kurzgeschichte «Mary and William» des norwegischwalisischen Autors Roald Dahl guttun. Sie dreht sich um das Ehepaar Mary und William, wobei der Mann krebskrank ist und bald sterben wird. Der Philosoph Landy rät William zu folgender Prozedur: Neue Methoden erlauben es, das Gehirn auch nach dem Tod in einer Nährlösung und mit einer Kreislaufmaschine funktionieren zu lassen. Auf diese Weise kann William noch 200 Jahre weiterleben und an der Welt teilhaben. Auch ein Auge kann man an das Gehirn anschliessen. William will damit Mary zwingen, dass sie ihm nach seinem Tod endlich die gebührende Aufmerksamkeit zuwendet. Tatsächlich geschieht das auch so, und Mary nimmt das Glas mit dem Hirn und dem Auge zu sich. Jetzt kann sie endlich mit Lust tun, was ihr Ehemann William verboten hat, nämlich rauchen und fernsehen. William schaut aus seinem Glas heraus zu und kann nur noch das Auge rollen. Die Kurzgeschichte ist für das Staatssekretariat und seine neunzehn Hirnjäger im Ausland äusserst lehrreich. Die moderne (Hirn-)Forschung macht es vielleicht bald möglich, dass das Staatssekretariat ebenso wie Mary zu seinen Hirnen kommt. Am einfachsten wäre es für das Staatssekretariat in der Tat, mit Hirnen in einer Nährflüssigkeit zu arbeiten. So liesse sich auch ein augenrollendes Hirn im Eingangsbereich des Verwaltungsgebäudes aufstellen, wo das Staatssekretariat residiert. Es müsste ein stark und böse augenrollendes Hirn sein, eben eine Art tyrannischer William, denn jeder Besucher des Staatssekretariats soll sich fragen: Denke ich genug? Hab ich Hirn? Diese neue Einrichtung würde auch den Satz Max Frischs falsifizieren. Die ultimative Maxime der Forschungsbürokraten lautet: Wir importieren Hirne, und es kommen auch nur Hirne. Schliesslich wäre das ein konstruktiver Beitrag zur Überwindung des Ausländerproblems. �


Schweizer Monat 994  märz 2012  karikatur

von Andreas Thiel

Das Finanzloch

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Unser Jahrhundert wird das afrikanische Jahrhundert sein. Deirdre McCloskey


Schweizer Monat 994  märz 2012  Neue alte Bürgerlichkeit

Eine Frage der Ehre Die Menschheitsgeschichte ist eine Armutsgeschichte. Erst vor 200 Jahren änderte sich das. Warum eigentlich? Wirtschaftshistorikerin Deirdre McCloskey über die entscheidende Ablösung des Kriegers durch den Erfinder. Florian Rittmeyer und Michael Wiederstein treffen Deirdre McCloskey

Frau McCloskey, wir sitzen in einem Weimarer Restaurant, umgeben von modernster Technologie, die unser Leben erleichtert. Weshalb sind wir in den entwickelten Industrieländern heute so reich und wohlhabend? Bevor ich Ihnen erkläre, warum es so ist, wie es ist, sollten wir uns vergegenwärtigen, was eigentlich passiert ist. Wir alle stammen von furchtbar armen Leuten ab. Das durchschnittliche Welteinkommen eines Menschen stieg seit der Erfindung der Sprache bis etwa 1800 nach Angus Maddisons Berechnungen von einem auf drei Dollar pro Tag – das ist bloss eine Verdreifachung innerhalb von Jahrtausenden. Jetzt liegt das tägliche Einkommen in Ländern wie der Schweiz oder den USA bei ungefähr 110, 120 Dollar. Global, also inklusive der ärmsten Länder, ist es in 200 Jahren von 3 Dollar auf etwa 30 Dollar gestiegen, was eine Verbesserung um Faktor 10 ist! Das ist einzigartig in der Geschichte der Menschheit. Eine einfache Erklärung hierfür wäre: die Menschen begannen, intensiver untereinander zu handeln. Klingt gut, ist aber falsch. Der alte Mittelmeerraum war eine enorme Freihandelszone, ebenso das alte China. Der Indische Ozean war während eines Jahrtausends ein enormer Warenumschlagplatz: man findet chinesische Porzellantassen in «Gross­ simbabwe», einem früheren afrikanischen Königreich. Die Händler hatten 6000 Meilen überquert, das ist enorm! Kurz: der Handel kann es nicht sein, da es ihn schon vor 1800 gab. Waren es die neu gewährten Eigentumsrechte? Der Nobelpreisträger Douglass North wäre in diesem Punkt Ihrer Meinung: «Eigentumsrechte. Ah, Eigentumsrechte! Einst sehr dürftig, wurden die Eigentumsrechte im späten 17. Jahrhundert plötzlich gut.» – Das ist Quatsch! Eigentumsrechte sind Folge des Prozesses, nicht aber dessen Ursprung. Von politisch linker Seite erklärt man Reichtum gern mit Kolonialisierung und Versklavung. Sklaverei? Das klingt nach einem Ansatz – nur: Sklaverei hat es auch schon immer gegeben. Alle nun von Ihnen vorgetragenen, populären Ansätze erklären das Phänomen des exponentiell anwachsenden Wohlstandes ab 1800 nicht. Fundamentaler ist: Inno-

Deirdre McCloskey ist Professorin für Ökonomie, Geschichte, Englisch und Kommunikation an der University of Illinois in Chicago und Professorin für Wirtschaftsgeschichte an der Gothenburg University. Sie hat zahlreiche Bücher zur modernen Wirtschaftsgeschichte verfasst, u.a. «The Bourgeois Virtues: Ethics for an Age of Commerce» (2006).

vation und Ideen. Ideen von neuen Organisationen, Ideen, um Dinge auf neue Arten und Weisen zu tun, Ideen für neue Maschinen. Mit Verlaub: das klingt nun nicht besonders fundamental. Ideen hat der Mensch ebenfalls schon immer gehabt. Stimmt. Aber nicht in dem Ausmass, wie wir es seit 200 Jahren kennen. Hätten wir dieses Interview vor 30 Jahren geführt, hätten Sie eine grosse Maschine mitgebracht. Die hätten Sie ans Stromnetz anschliessen müssen, dann wäre das Gespräch auf Kassette aufgenommen worden, die Bänder hätten sich verwickelt... jetzt haben Sie dieses kleine Ding. Wie lange läuft das? Das Diktiergerät? Etwa 24 Stunden lang. Sehen Sie! Vor 30 Jahren hätten Sie vielleicht genug Band für eine Stunde gehabt, und auch der Kellner hätte deutlich länger gebraucht, müsste er unseren Espresso weiterhin mit der antiquierten Kanne aufbrühen statt mit der neuen Maschine. Der Grund für unseren Wohlstand ist, wie Alfred North Whitehead, der grosse englische Philosoph, gesagt hat: die Erfindung der Erfindung! Ab 1800 ändert sich der gesellschaftliche Status des «Bürgers». Zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit war es möglich, als Händler, Handwerker oder Erfinder zu Ehre zu kommen. Zuvor kam Ehre allein vom Schlachtfeld, vom Gerichtshof oder von der Kirche. Punkt. Die entdeckte Freiheit und die entdeckte Würde der Bürger änderten das fundamental. Wie können Sie das nachweisen? Der Bedeutungswandel lässt sich am besten in der Literatur aufzeigen. Die einzige Ehre in den Werken William Shakespeares kommt vom Schlachtfeld. Wenn man ein Wörterbuch aus Shakespeares Zeiten konsultiert oder den Text anschaut, dann findet man, dass «ehrlich» «ehrenvoll» oder «ehrenhaft» bedeutet. Zu Jane Austens Zeit, ein paar hundert Jahre später, gebührt Ehre dem Ehrlichen. 15


Deirdre McCloskey, photographiert von Johan Wingborg.

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Schweizer Monat 994  märz 2012  Neue alte Bürgerlichkeit

Bemerkenswerterweise passierte in den germanischen und in den romanischen Sprachen dasselbe.1 Ich habe diesen Wandel in meinen Büchern en détail analysiert. Gibt es eine Auslöserinnovation, die Sie gefunden haben? Einen Erfinder, der geehrt wurde, weil er seine Erfindung gemacht hatte? James Watt ist ein sehr schönes Beispiel. James Watt ist der Erfinder des separaten Kondensators für die Dampfmaschine, der es erlaubte, viel effizienter viel mehr Energie aus demselben Rohstoff zu gewinnen. Er stirbt um 1825, und da entstand die Initiative, eine Statue von Watt in Westminster Abbey zu errichten – also dort, wo die Könige und Dichter waren. Einige Leute beklagten sich und fragten: Was, ein Erfinder in der Westminster Abbey? Die meisten Leute aber sagten: ja, weshalb kein Erfinder? Kann man sich eine ehrenvollere Sache vorstellen, als das Leben von Millionen und Milliarden von Leuten einfacher zu machen? Die Statue kam zuletzt in der St. Paul’s Cathedral zu stehen, was fast so gut ist. Um 1600 wäre kein Erfinder auf diese Weise geehrt worden. Es geht also um die soziale Anerkennung einer Leistung, die allen dient. Genau. Überall findet man ab etwa 1800 das Modell des Bürgers, der die Dinge führt und dafür gewürdigt wird. In Holland hatte diese Entwicklung begonnen. Echte Kraft entfaltete sie, als sie sich – durch Handel und Emigration – auf ein wirklich grosses Land ausbreitete, nämlich Grossbritannien, mit Schottland und den Kolonien in der Neuen Welt. Ein perfektes Beispiel für diesen historischen Umbruch ist auch Benjamin Franklin, einer der Gründerväter der USA. Er beginnt als armer Junge, träumt aber davon, ein Gentleman zu sein. Und er schafft das, was kurze Zeit vorher undenkbar war: er arbeitet sich hoch, kann schliesslich teure Kleidung tragen und hört bereits mit 41 zu arbeiten auf – denn er kann es sich leisten. Er lebt in einer Gesellschaft, die solche Emporkömmlinge bewundert. Und die es ihnen erlaubt, den Reichtum auch auszuleben, wann immer sie wollen. Dies zeigt sich in einem Sinneswandel hin zu bürgerlichen Tugenden: Vorsicht, Mässigung, Gerechtigkeit, Mut, Liebe, Vertrauen und Hoffnung. Aus diesen Tugenden entstand eine Wertschätzung der Innovation, die zum Glück unserer Vorfahren wurde. Technikskeptiker wie Günther Anders meinten, dass es keine Originale mehr gebe, die Qualität der Innovationen abnehme und nur noch das Bestehende verbessert werde. Das ist totaler Unsinn. Was ist denn beispielsweise mit dem Internet? Der PC, das Internet – aber was folgt? Wenn wir so klug wären, zu wissen, was einzelne Innovationen künftig werden könnten, so wären wir reich. Es gibt keinen Grund anzunehmen, dass unsere besten Tage hinter uns liegen. Weshalb sollte man das annehmen? 1 Ben Crystal, David Crystal: Shakespeare’s Words: A Glossary and Language Companion. London: Penguin, 2002.

Es gibt Preistheorien, wie jene des amerikanischen Census Bureau, die nahelegen, dass das Pro-Kopf-Realeinkommen der normalen Personen in den USA in den letzten 30 Jahren nicht wirklich gestiegen sei. Die Theorien vom stagnierenden Realeinkommen sind falsch. Die Kommission unter der Leitung des Stanford-Ökonomen Michael Boskin kam in den 1990ern zum Schluss, dass die existierenden Lebenskostenindizes der USA Qualitätsverbesserungen nicht adäquat zu messen vermögen. Die Warenqualität wird besser, was die Stillstand-Theoretiker geflissentlich ignorieren. Eine Frage, die das illustriert: wissen Sie, wie man an einem Auto einen Reifenwechsel macht? Ja. Wir sind gesetzlich dazu gezwungen, Sommer- und Winterreifen zu benutzen. Was Sie vermutlich nicht mehr wissen: In den 1960ern und 1970ern platzten die Reifen dauernd, mindestens dreimal jährlich! Das passiert mit einem modernen Auto nie. Warum? Weil die Reifen viel besser geworden sind. Und zwar für alle, auch für die ganz normalen Leute wie du und ich. Ich will damit nicht sagen, dass es in unseren Gesellschaften keine Gleichheitsprobleme gibt, um die wir uns sorgen müssen. Aber es stimmt nicht, dass die Menge dessen, was sich der durchschnittliche Mensch kaufen kann, nicht zugenommen hat. Die Warenqualität wird besser, die Lebensdauer von Produkten ist im Schnitt sehr viel länger geworden, die Konsumenten leben übrigens auch immer länger, dies lässt sich jedoch nur schwer in die jeweiligen Indizes miteinberechnen. Und wir sagen deshalb weiterhin gerne: Früher war alles besser! Dabei ist das völliger Unsinn. Einverstanden, doch Sie müssen umgekehrt zugestehen, dass wir uns trotz extremer Wohlstandsmehrung noch immer mit den alten, fossilen Brennstoffen herumschlagen. Wo bleibt hier die Innovation? Das ist ein vergleichsweise neues Problem. Ich erinnere mich, wie ich 1959 mit 16 zum ersten Mal nach England ging. Da gab es Rauch aus Schloten, so dicht, dass man die eigenen Füsse nicht mehr sehen konnte. Man ging nicht raus, weil man sonst umgekommen wäre. Ein Kollege von mir, der im Zweiten Weltkrieg als Offizier in London stationiert war, hat diese wahnsinnige Geschichte erlebt: Er ging spätabends in ein Pub, und draussen wurde es so dunstig, dass er beim Verlassen des Pubs die eigenen Füsse nicht mehr sehen konnte. So ist er zurück ins Hotel gekrochen! An den Kreuzungen ist er auf andere kriechende Leute getroffen, mit denen er Richtungsangaben austauschte, um den Weg zu finden. So etwas passiert heute nicht mehr. Deshalb bin ich auch hinsichtlich der Umwelt zuversichtlich. Mit unseren Einkommen steigt auch unsere Umsicht. Die vielgescholtenen Chinesen sind übrigens den Europäern weit voraus: denn die Europäer haben sich erst um die Umwelt zu kümmern begonnen, als sie sehr reich waren, während die Chinesen schon heute, mit nur 20 Dollar Durchschnittseinkommen pro Tag, um sie besorgt sind. Das wollen die endzeitgestimmten Europäer aber einfach nicht wahrhaben. 17


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Am anderen Ende der Welt wird vom «Ende des Kapitalismus» gesprochen. Oh, gäben Sie mir doch bloss einen Dollar für jedes «Ende des Kapitalismus», das seit dem amerikanischen «Bankrun» von 1857 prophezeit wurde! (lacht) Seit 1800 gab es etwa 40 grössere Wirtschaftskrisen, und rund 10 davon waren so ernst wie die jetzige. Natürlich waren die 1930er schlimmer, aber auch die 1890er waren schrecklich, die 1840er ebenso. Richtig ist: wir erleben die schwerste wirtschaftliche Krise seit dem Zweiten Weltkrieg. Das allein hat aber noch nichts zu bedeuten. Betrachten wir den grösseren historischen Kontext, so haben wir es höchstens mit einem kleinen Knick zu tun, die Einkommen sind davon langfristig nicht betroffen. Nehmen wir ein von der Finanzkrise stark betroffenes Land: in Irland gingen die Einkommen seit 2007 um etwa 6 Prozent zurück. Aber 6 Prozent Rückgang gegenüber Tausenden von Prozenten Wachstum seit 1800 bedeuten nicht das Ende der Welt. In den meisten betroffenen Ländern wird man bis zum Sommer zurück beim früheren Durchschnittseinkommen sein. Auch hier wieder dieser nagende Pessimismus. Die Welt wird stets besser, aber es gibt eben ab und an auch wieder kleinere Rückschläge. Sagen Sie das mal den Jugendlichen Südeuropas, die einen Job suchen. Es gibt vor allem in Südeuropa ein Beschäftigungsproblem wegen schlechten Arbeitsgesetzen, staatlich verordneten Mindestlöhnen. Es waren die jungen Spanier, die sich zuerst über die Arbeitslosenraten von über 40 Prozent beklagten. Als ich in Salamanca war, ass ich mit einigen der Studenten, die als «Indignados» die Proteste organisierten. Ich sagte ihnen: an eurer Stelle wäre ich auch dort draussen auf die Barrikaden gestiegen. Viele dieser jungen Leute machen aber einen Fehler und sagen: Lasst uns die Gans töten! Die Gans, die das goldene Ei legt. Damit meinen sie die Marktwirtschaft. Das ist nicht klug. In schwierigen Zeiten sind einfache Antworten gefragt. Das stimmt. Aber die Angst ist unbegründet: schaut man sich die Teile unserer Geschichte an, die halbwegs verlässlich dokumentiert sind, so kann man sagen: es ging rauf, rauf, rauf. Und so, das kann ich Ihnen versprechen, wird es dank der Marktwirtschaft auch weitergehen. Das klingt nach naivem Heilsversprechen. Nach Ihrer Theorie funktioniert der Markt ja nur, weil wir die bürgerlichen Tugenden verinnerlicht haben. Was macht Sie so sicher, dass dem tatsächlich so ist? Als Steve Jobs kürzlich gestorben ist, hat jeder seinen Tod beklagt, als ob er der König des Universums gewesen wäre. Ich sage Ihnen: das ist ein gutes Zeichen! Es braucht diese positiven Beispiele für die nächste Generation, damit auch sie sich ihrer Möglichkeiten bewusst ist. Anschauungsunterricht liefern auch China und Indien: die Entdeckung der Freiheit und der bürgerlichen Würde ist ein Hauptgrund für den gegenwärtigen wirtschaftlichen Aufbruch der beiden Länder. Meine historische Position wäre sehr viel schwieriger zu verteidigen, wenn nicht die ziemlich offensichtli18

che Tatsache dafür spräche, dass ein Wechsel in der Wertschätzung der beschriebenen bürgerlichen Ideale die Zunahmen in den Wachstumsraten von China und Indien erklärt. Und wieso bleibt die Mehrheit der Menschen auf dem afrikanischen Kontinent arm? Ich glaube, dass unser Jahrhundert das «afrikanische Jahrhundert» sein wird – und nicht das chinesische oder das amerikanische. Wenn Afrika die Innovation bejaht und die Mittelklasse ehrt – nicht die Mittelklasse, die sich durch Soldaten und Bürokraten definiert, nicht jene Mittelklasse, die Dinge von anderen an sich reisst –, nein, vielmehr diejenige, die Dinge schafft, die Geschäfte aufbaut und Sachen erfindet… …einzig: bürgerliche Tugenden scheinen nicht universal anschlussfähig zu sein. Kann man sie afrikakompatibel machen? Gute Frage. Max Webers Idee war, dass sich dazu die innere Psychologie der Menschen verändern müsse. Das klingt nach einer sehr schwierigen Aufgabe. Wie ändert man die innere Psychologie der Menschen? Nein, mein Ansatz ist oberflächlicher: Man ändert die Politik und auch das Verhalten der Menschen. Letzteres ist etwas schwieriger. Die Politik lässt sich per Gesetz ändern, aber um das Verhalten zu ändern, müssen die Leute einfach von guten Beispielen lernen. Und das werden sie tun, denn die Afrikaner haben dafür eine viel bessere Ausgangslage als unsere Vorfahren vor 200 Jahren! Das müssen Sie erklären. Sie, ich, die Chinesen, die amerikanischen Ureinwohner, die Italiener – wir stammen alle von einer winzig kleinen Gruppe ab: von 1000 subsaharischen Afrikanern. Das sagt uns die Genetik. Nur diese verschwindend kleine Minderheit hat sich irgendwann aus Afrika wegbewegt – in die ganze Welt. Die meisten blieben in Afrika. Es gibt also im subsaharischen Afrika einen reicheren Genpool, mehr genetische Variation als im ganzen Rest der Welt. Das ist nicht irgendeine verrückte Theorie von mir, sondern eine sehr einfache, sehr gut gestützte Beobachtung. Wenn man die DNA von Afrikanern erfasst, findet man all diese anderen Linien: es finden sich etwa sowohl die grössten wie die kleinsten Leute der Welt im subsaharischen Afrika. Das bedeutet, dass die Streuung breiter ist und dass es folglich in 100 Jahren, wenn Afrika das gleiche Durchschnittseinkommen wie Deutschland erreicht hat, dort dank bürgerlichen Tugenden 100 Goethes und Einsteins geben wird.2 Hier in Weimar, wo sowohl Goethe als auch Honecker gewirkt haben, hat man lange nicht viel von bürgerlichen Werten gehalten. Wieso gibt es diese «Brüche» mit der bürgerlichen Gesellschaft? Ein Grund ist, dass vielen Menschen seit dem 18. Jahrhundert von Professoren beigebracht wurde, in Phasen zu denken. Das europäische Denken ist seit dem 18. Jahrhundert von der Annahme geprägt, 2 Sarah Tishkoff [u.a.]: The Genetic Structure and History of Africans and African Americans. In: Science 324, 2009. S. 1035–1044. http://www.sciencemag.org/cgi/ data/1172257/DC1/1


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dass es gesellschaftliche Stufen oder Stadien gebe. Sogar Adam Smith sagte das. Nehmen wir aber Karl Marx, das ist ein einfacherer Fall: Wenn es die kapitalistische Stufe gibt, dann muss es auch eine andere Stufe geben, auf der sich die Gegensätze aufheben, sagt er, bis am Ende das Paradies der klassenlosen Gesellschaft herrscht. Das ist der Reiz des Utopismus. Er ist das intellektuelle Fundament des europäischen Denkens.

Geschäftssituation zu helfen. Das schafft ein Problem. Weil es dann nicht als würdevoll gilt, jemandem zu helfen. Man strebt danach, Lord oder Lady zu sein, und die anderen Leute haben einem zu helfen, und nicht umgekehrt. Im bürgerlichen Leben, im Leben des Handels, gibt es einen Egalitarismus. Denn dieses Leben beruht nicht auf Abhängigkeit, nicht darauf, dass Sie von mir etwas erbetteln oder Sie mich befehligen – sondern auf Tausch...

Und es war Ihr eigenes. Ich begann als Marxistin, richtig. Dann wurde ich so etwas wie Wirtschaftsingenieurin, Ökonomin der Chicagoer Schule und endete als historische Wirtschaftswissenschafterin. Die erste Hälfte meiner Karriere verwandte ich darauf, die Wichtigkeit des Unternehmertums zu dementieren und die Dummheit der Soziologen aufzuzeigen. Ich scheine dazu verdammt zu sein, in der zweiten Hälfte die Wichtigkeit des Unternehmertums zu betonen und die Soziologen als die Weisen darzustellen. 1 minus 1 ergibt 0. Ich habe mich selbst widerlegt.

…und der bringt allen nur das Beste. Hier widersprechen jene, die mit einer anderen Realität konfrontiert sind, vehement. Ganz unrecht haben sie nicht mit diesem Einwand. Viele meiner Kollegen und auch die meisten liberalen Politiker sind gut darin, die positiven Aspekte freien Handels zu propagieren. Dabei wurde allerdings häufig der Fehler gemacht, die Schattenseiten unter den Tisch zu kehren. Das nimmt man ihnen nun übel. Wir Leute des freien Markts müssen anerkennen, dass es in der Gesellschaft arme Leute gibt. Und wir müssen anerkennen, dass einige Leute kurzfristig unter Innovationen leiden, die aber letztlich allen das Leben verbessern. Der Soziologe Werner Sombart spricht von «kreativer Zerstörung» – und diese destruktive Seite kann man nicht leugnen. Und diese destruktive Seite lässt jene, die kurzfristig von ökonomischen Umbrüchen negativ betroffen sind, glauben, dass das System als Ganzes versage. Hier tut ökonomische Aufklärung not. Ein Beispiel: Einst gab es viele Schmiede, um die Pferde zu behufen. Jetzt gibt es so gut wie keine mehr. Der Kapitalismuskritiker sagt: wie schrecklich, die armen Schmiede!

Das entspricht dem Ethos der Wissenschaft, auch wenn viele Wissen­ schafter ihre liebe Mühe damit bekunden. Wie Keynes sagte, als sich in den 1930er Jahren jemand bei ihm darüber beklagte, dass er sich vom Freihandel ab- und dem Protektionismus zugewandt hatte: «Wenn ich neue Informationen erhalte, ändere ich meine Meinung.» Wie kamen Sie zum Sozialismus? Am Anfang stand wohl ein Denkfehler. Leute sagen zum Beispiel: «Ich komme aus einer Familie, in der alles sehr ausgewogen abläuft. Wenn wir essen, teilen wir die Pizza in gleich grosse Stücke auf, jeder ist geliebt, und alles ist wunderbar.» So habe man sich nun auch den Staat vorzustellen, damit es allen Menschen gut gehe. Aufgrund dieses Gedankens werden junge Leute Sozialisten! Deshalb wurde ich Sozialistin, als ich jung war. Weil ich wollte, dass jeder geliebt wird und alle gleich sind. Wir wollen auch, dass alle geliebt werden. Nur: das Modell Familie ist für die «ausgedehnte Ordnung», für den Staat, untauglich. Stimmt. Es funktioniert im Kleinen: innerhalb der Familie, innerhalb der Firma, im Büro – ich hoffe, dass es dort Liebe gibt, denn andernfalls gibt es keine Solidarität, man macht keinen guten Job, kurz: man wird ein elendes Leben führen. Fruchtbare menschliche Interaktion fusst auf Respekt und Anerkennung. Produziert die Marktwirtschaft diese menschlichen Tugenden oder hängt sie von Institutionen ab, die diese Tugenden bereitstellen? Salopp gesagt: beides. Es gibt Leute, die darauf insistieren, dass, wenn jeder an sich selbst denkt, an alle gedacht ist. Aber die meisten Theoretiker werden eingestehen, dass man noch andere Tugenden braucht, die irgendwo in der Familie, in der Kirche oder in der Schule entstanden sind, um die Marktwirtschaft zu stützen. Es gibt Länder, in denen es als Sklaverei angesehen wird, jemandem in einer

Der Ökonom sagt: die Leute kommen woanders unter. So ist es. Und er kann es beweisen: unsere Vorfahren waren ein Haufen von Bauern! Heute sind nur noch wenige Menschen als Bauern tätig. Sind alle anderen arbeitslos? Nein. Eigentlich war die Prämisse in vielen, wahrscheinlich allen Gesellschaften jene, dass es sich beim Leben um ein Nullsummenspiel handelt: wenn jemand reich wird, dann muss es auf Kosten von jemand anderem passieren. Diese Zeiten sind vorbei. Die Nullsummenspiellogik ist aber geblieben. Letztlich geht es um die Frage: In was für einer Gesellschaft wollen wir leben? In einer Gesellschaft, die erfindet, in der es dem durchschnittlichen Menschen viel, viel, viel besser geht – oder in einer, die gesamthaft arm bleibt. Wenn es nur um eine kleine Verbesserung ginge, wenn der Hockeyschläger flacher wäre, dann wäre es ziemlich schwierig, gute Argumente für den freien Markt zu finden. Tatsächlich ist es aber ziemlich einfach. � Das Gespräch fand anlässlich eines Treffens des Publizistikkreises der Hayek-Gesellschaft in Weimar statt. Deirdre McCloskey spricht am 21. März 2012 am Collegium Helveticum in Zürich über «The Cult of Statistical Significance» und am 22. März über «Bourgeois Values/ Virtues». Mehr Informationen unter www.collegium.ethz.ch.

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Schweizer Monat 994  märz 2012  Geldpolitik

Die Ménage à trois des Geldes Wie sich unser Geldsystem selbst ad absurdum führt von Hans Geiger

E

s war einmal ein fernes Land, in dem es zu einer Hypothekenkrise kam. Das war 2007 und hiess Subprimekrise. Der finanzielle Schaden war begrenzt. Daraus ergab sich im Herbst 2008 eine globale Bankenkrise. Weltweit wurden für Tausende von Milliarden Franken grosse Banken von den Staaten und Zentralbanken über Wasser gehalten. Der nächste Schritt waren Staatsfinanzkri­ sen, die seit Frühling 2010 zu einer Währungssystemkrise geführt haben. Und heute? Heute haben wir alle vier Krisen gleichzeitig. Was geht hier vor? Wie konnte es so weit kommen? Klar ist: die zentralen Eckwerte der Krise sind zu viel Geld, zu viele Schulden und Staatsgarantien: – Ausgelöst wurde die Krise durch die Versorgung der amerikanischen Wirtschaft (über Geschäftsbanken) mit zu viel Geld durch die amerikanische Notenbank. Dadurch ergaben sich an den Finanzmärkten zu tiefe Zinssätze. Der Markt wurde getäuscht. – Diese Krise ist eine Schuldenkrise. Es geht immer um eine Kreditbeziehung zwischen einem Schuldner und einem Gläubiger. – Kompliziert wird die Krise durch die Tatsache, dass Schuldner und Gläubiger mit Staatsgarantien rechnen, die Staaten gar nicht erfüllen können. Heute von einer Finanzkrise zu sprechen, ist eine Untertreibung. Die Wirtschaft steckt in einer Geldkrise, was viel schlimmer ist, denn Geld ist das zentrale Medium einer marktwirtschaftlichen Gesellschaft. Ohne Geld als universelles Tauschmittel, als Recheneinheit und als Mittel der Wertaufbewahrung gibt es keine moderne Marktwirtschaft. Staaten, Banken, Notenbanken Die drei Hauptakteure der Krise sind die Staaten, die Geschäftsbanken und die Notenbanken. Alle drei verfügen heute in den entwickelten Ländern über zu hohe Schulden und wacklige Bilanzen. Sie finanzieren, garantieren und unterstützen sich gegenseitig auf mannigfach verschlungene Weise. In der finanziellen Ménage à trois wäscht eine Hand die andere. Die Industriestaaten haben bereits vor der Bankenkrise ihre Verschuldung massiv erhöht. Betrug sie Anfang der 1980er Jahre durchschnittlich noch 40 Prozent, belief sie sich 2008 auf 80 Prozent des Bruttoinlandsproduktes (BIP). Mit den Schulden wurde das Wachstum finanziert. In der Rolle der Stimmbürger und Wäh-

Hans Geiger ist emeritierter Professor am Institut für Banking und Finance an der Universität Zürich. Von 1970 bis 1996 war er tätig bei der SKA, der heutigen Credit Suisse.

ler erteilte die Bevölkerung demokratische Legitimation. In der Rolle als Anleger und Steuerzahler wollen die gleichen Leute die Konsequenzen heute jedoch nicht tragen. Die Staatsschulden wachsen ungebremst weiter. Ende 2012 werden sie für die Industrieländer durchschnittlich über 100 Prozent der Wirtschaftsleistung betragen, also ein ganzes Jahr Arbeit. Grund sind einerseits die Rettungskosten für die Banken, andererseits und deutlich einschneidender sind es jedoch die einbrechenden Steuererträge, die sich aus dem Konjunktureinbruch im Gefolge der Bankenkrise ergeben haben. Diese Erfahrung ist nicht neu, das ist seit 200 Jahren der Fall. Heute kommen jedoch die in Krisenzeiten steigenden Kosten der Sozialsysteme dazu. Die grossen internationalen Geschäftsbanken haben seit Ende der 1990er Jahre ihre Bilanzen massiv verlängert, ohne zusätzliches Eigenkapital aufzunehmen. Dank «grosszügiger» staatlicher Eigenkapitalvorschriften haben diese Banken den Schuldenhebel rücksichtsDie zentralen Eckwerte los eingesetzt. Mit ihren grossen Bilanzen waren sie der Krise sind zu viel Geld, nicht in der Lage, die Verzu viele Schulden luste aus der Subprimeund Staatsgarantien. krise und dem Konjunktureinbruch zu verkraften. Zudem misstrauen sich die Banken seit dem Krisenausbruch gegenseitig, wodurch das internationale Finanzsystem und damit der Handel zu kollabieren drohen. Abgewendet wurde und wird der Kollaps des Bankensystems durch die Notenbanken, die den Geschäftsbanken Geld billig zur Verfügung stellen und staatliche Schrottpapiere als Sicherheit akzeptieren. Im Gegenzug verhindern oder verzögern die Banken mit dem Kauf maroder Staatsanleihen den Zusammenbruch der Staatsfinanzen. Damit ist es nicht verwunderlich, dass die Banken von schuldengeplagten Regierungen ausdrücklich zum Kauf von 21


Geldpolitik Schweizer Monat 994  märz 2012

Staatsanleihen aufgefordert werden und dass neue Liquiditätsvorschriften diesen fast schon erzwingen. Die Banken ihrerseits lassen sich nicht lange bitten – das Geschäft ist hochprofitabel. Beispielsweise können italienische Staatspapiere mit einer Rendite von 7 Prozent mit langfristigem Geld der Notenbanken fast gratis refinanziert werden. Sollte doch etwas schiefgehen, dürfen die Geschäftsbanken mit dem Wohlwollen der Politik rechnen, denn ein Staatsbankrott wäre beim Untergang der Banken nicht mehr abzuwenden. So wäscht eine Hand die andere. Als Dritte im Bunde spielen die Notenbanken eine zentrale Rolle. Auch sie haben ihre Bilanzen und Schulden massiv ausgebaut. Die Schweizerische Nationalbank (SNB) hat die Bilanzsumme seit Ausbruch der Krise verdreifacht, das Eigenkapital hat sich zeitweise um 70 Prozent reduziert. Euphemistisch spricht man bei den Zentralbanken aber nicht von Schuldenmachen, sonGeld dient der dern von «Geld schaffen». Das ist freilich ökonoVerschleierung der realen misch das gleiche. Das wirtschaftlichen Fremdkapital der SNB beTatsachen durch den Staat. steht hauptsächlich aus den in Verkehr gesetzten Banknoten und den Sichtguthaben der Banken. Weltweit haben die Notenbanken ihre Schulden in der Form von Geld dramatisch erhöht. Das Geld steht den Geschäftsbanken zur Verfügung. Mit dem Geld kaufen die Geschäftsbanken Staatspapiere. Diese Staatspapiere hinterlegen sie bei der Notenbank wiederum als Sicherheit für günstige Kredite. Die amerikanischen Notenbanker sind etwas salopper als ihre europäischen Kollegen. Statt via Geschäftsbanken kaufen sie direkt amerikanische Staatspapiere und weisen darauf hohe Gewinne aus. Die amerikanische Notenbank ist der grösste Gläubiger der USA, noch vor China. Hinter jeder Dollarnote stehen als Deckung 68 Cents amerikanischer Staatspapiere, für die restliche Deckung sorgen Hypothekarpapiere, die wiederum mit staatlicher Garantie versehen sind. Wenn wir Staat und Notenbank konsolidiert betrachten, entpuppen sich Dollarnoten als zinslose, ungedeckte Staatsschulden. Kreditgeber sind die Noteninhaber. Das Rezept in der Ménage à trois lautet «Mehr Geld, mehr Schulden, mehr Garantien». Allein: das Rezept funktioniert auf Dauer nicht. Der Schleier des Geldes Die Rolle der Zentralbanken in der Ménage à trois bringt das Geld und damit das zentrale Medium einer marktwirtschaftlichen Ordnung ins Spiel. Die Notenbanken besitzen das staatliche Monopol zur Umwandlung von wertlosem Papier in wertvolles gesetzliches Zahlungsmittel, in Geld. Geld steht als Kreditbeziehung auf der Passivseite der Bilanz der Notenbank und als Gut22

haben auf der Aktivseite der Bilanzen der Geldbesitzer. Die Notenbank, also letztlich der Staat, ist der Schuldner, der Geldbesitzer ist der Kreditgeber und trägt die entsprechenden Risiken. Das war nicht immer so und muss nicht immer so bleiben. Seit dem Altertum existierte Geld in der Form von Münzen, deren Wert durch den Silber- und Goldgehalt bestimmt war. Geld war ein werthaltiges Tauschgut, es hatte keine Gegenpartei. Ab dem 16. Jahrhundert nahmen Geldwechsler und Juweliere Münzgeld gegen Quittung in Verwahrung. Diese Quittungen wurden als Zahlungsmittel verwendet und bildeten eine Frühform der Banknote. Ab dem 19. Jahrhundert fand die Banknote in Europa als Zahlungsmittel breite Verwendung. Sie blieb jedoch eine Quittung oder eine Depotbestätigung, die bei der Bank jederzeit wieder in das deponierte Gut umgetauscht werden konnte. Um die Zeit des ersten Weltkrieges waren nicht mehr alle Banknoten durch Edelmetalle und Münzen gedeckt, und die Golddeckung wurde aufgegeben. Eine unvorstellbare Hyperinflation in Deutschland war die Folge. Den definitiven Todesstoss erhielt die gedeckte Banknote 1971 mit der Aufkündigung der Verpflichtung zur Goldeinlösung der Dollarnoten durch den amerikanischen Präsidenten Richard Nixon. Seither ist Notengeld eine reine Kreditbeziehung. Die Konsequenzen werden jetzt nach 40 Jahren sichtbar. In der Wirtschaftstheorie wurde Geld von Adam Smith und anderen Klassikern als neutraler Schleier betrachtet, der über der Realwirtschaft liegt. Die Zwischenschaltung des Geldes dient in dieser Sicht der Erleichterung des Tausches von Gütern und Leistungen und der Abbildung von Schuldverhältnissen. Geld hat keine eigenständige wirtschaftliche Gestaltungskraft. Der Geldschleier verbirgt den dahinter liegenden Kern der Sache, den man erkennen kann, wenn man den Schleier entfernt. Das war für diese Periode des Münzgeldes ein zutreffendes Bild. Geld war ein werthaltiges Tauschgut. Heute sieht die Wissenschaft im Geld das Gestaltungsmittel schlechthin. Mehr Geld soll die Wirtschaft aus der Krise führen, einen nächsten Konjunktureinbruch verhindern, Banken stabilisieren, das Wachstum sicherstellen. So betrachten viele Experten den unbeschränkten Kauf von Obligationen der verschuldeten europäischen Länder durch die Europäische Zentralbank (EZB) als einzig mögliche Lösung der Eurokrise. Finanzieren soll die EZB die Käufe durch die Notenpresse. Geld ist aber eine Schuld der Notenbank und des Staates, Kreditgeber sind die Geldbesitzer, und sie tragen die Kredit- und anderen Risiken. Wie weiter? Zwei Prognosen und eine Feststellung seien jedoch gewagt: (1) Längerfristig wird das Schuldenproblem durch Inflation gelöst, wie das die Staaten seit der Entstehung des Geldes immer getan haben. (2) Ein Schuldenabbau wird zwangsläufig mit einem stark reduzierten Wachstum, wahrscheinlicher mit einer Schrumpfung der Wirtschaft verbunden sein. Und als Feststellung gilt: der Geldschleier hat eine neue Bedeutung erhalten. Geld dient der Verschleierung der realen wirtschaftlichen Tatsachen durch den Staat. �


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KMU Schweizer Monat 994  märz 2012

Wie uns der Staat reich macht Wie viel ist ein nichtbörsenkotiertes Unternehmen wert? Dies bestimmt die Verwaltung. Der Clou dabei: sie macht die Unternehmer virtuell reich, um sie reell zur Kasse zu bitten. von Eric Lütenegger

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ünktlich zur Weihnachtszeit hat mich der Staat, genauer der Kanton Zürich, scheinbar einfach so beschenkt. Mit reichlich mitgeliefertem Zahlenmaterial hat er mir vorgerechnet, dass sich der Wert meiner Unternehmensbeteiligung innerhalb zweier Jahre vervierfacht habe. Trotz eines nicht zu unterdrückenden leichten Stolzes über die vollbrachte Leistung war ich ein wenig überrascht über die famose Wertsteigerung, zumal sie in einer Zeitperiode erfolgte, in der andere viel Geld an den Aktienmärkten verloren haben. Weil Geschenke bekanntlich nicht einfach so vom Himmel fallen und mich meine Lebenserfahrung lehrt, dass man vom Staat nichts bekommt, ohne dass man dafür früher oder später auf die eine oder andere Weise bezahlt, ging ich der Sache auf den Grund. Nach genauer Analyse der Zahlen und (steuer) rechtlichen Grundlagen Die Wertsteigerung war kam ich zu folgendem, ernüchterndem Resultat: Die leider zurückzuführen auf Wertsteigerung war leider steuertechnische Tricks der weniger auf meine Leiskantonalen Steuerbehörden. tung als Unternehmer zurückzuführen, was meinem Gemüt entschieden besser getan hätte, als vielmehr auf steuertechnische Tricks der kantonalen Steuerbehörden. Notabene ohne (steuer)gesetzliche Grundlage, frei nach dem Motto: «Man nehme von denen, die haben.» In Übereinstimmung mit dem herrschenden konfiskatorischen Zeitgeist wurde von Behördenseite die Wegleitung «zur Bewertung von Wertpapieren ohne Kurswert für die Vermögenssteuer» angepasst. Behörden: mehr Wert, mehr Steuern! Ich möchte die wichtigsten Änderungen kurz zusammenfassen und mein Erstaunen über das Vorgehen einerseits und dessen Konsequenzen andererseits dokumentieren. Dabei komme ich nicht umhin, dem Leser einige Details aus dem Fachgebiet der Unternehmensbewertung zuzumuten. Beginnen wir mit der Faktenlage. Bei Handels-, Industrie- und Dienstleistungsunternehmen wird der Unternehmens- bzw. Verkehrswert aus dem Mittel des doppelt gewichteten Ertragswerts 24

Eric Lütenegger ist geschäftsführender Partner der PMG Fonds Management AG und Verwaltungsrat der SMH Verlag AG.

und des Substanzwerts berechnet. Der Ertragswert beurteilt das Unternehmen aus Sicht einer Investition, deren Wert auf dem erzielbaren Ertrag und der erwarteten Rendite basiert. Bei der Ermittlung des Ertragswerts kommt dem sogenannten Kapitalisierungssatz, der die erwartete Rendite reflektieren soll, eine besondere Bedeutung zu. Mit diesem werden entweder die Reingewinne der letzten beiden Geschäftsjahre, wobei der letzte verfügbare Gewinn doppelt gewichtet wird, oder aber die jeweils einfach gewichteten Reingewinne der letzten drei Jahre kapitalisiert. Für den Kapitalisierungssatz werden der nach oben gerundete risikofreie Zinssatz (derzeit circa 1,5 Prozent) und eine pauschale Risikoprämie von 7 Prozent hinzugezogen. Dies ergibt aktuell einen Kapitalisierungssatz von 8,5 Prozent. Was ist der Clou der ganzen Rechnerei? Ein hoher Kapitalisierungssatz bedeutet einen tiefen Ertragswert und umgekehrt: ein tiefer Kapitalisierungssatz bedeutet einen hohen Ertragswert, somit einen hohen Unternehmenswert, somit einen hohen Steuerwert für die Vermögenssteuern. Was ist die Problematik dieses Vorgehens? Erstens verändert sich der Ertrags- und somit der Unternehmenswert ständig in Abhängigkeit von der Entwicklung an den internationalen Zinsund Kapitalmärkten (wie bei den börsenkotierten Unternehmen). Zweitens wird für alle Unternehmen, ungeachtet ihres Lebenszyklus und ihrer Branchenzugehörigkeit, dieselbe Risikoprämie verwendet. Dies führt zu sich ständig ändernden Unternehmenswerten bloss aufgrund des geldpolitischen Umfelds, obwohl sich an der Ertragskraft des Unternehmens nichts geändert hat. Im Extremfall kann der Unternehmenswert bei gleichbleibenden oder gar fallenden Reingewinnen und nicht risikogerechten, zu tiefen Kapitalisierungssätzen in risikoreicheren Branchen sogar steigen. Das ist gut für die Steuerbehörde, aber unsinnig für Unternehmer. Als wäre dies noch nicht genug, haben die Behörden auf den Unternehmenswert auch den «Pauschalabzug für vermögensrechtliche Beschränkungen» von 30 Prozent kurzerhand gestrichen. Dieser Abzug ist bisher Inhabern von Minderheitsanteilen aufgrund von deren «beschränktem Einfluss auf die Geschäfts-


Schweizer Monat 994  märz 2012  KMU

führung und auf die Beschlüsse der Generalversammlung» gewährt worden. Neu entfällt dieser Pauschalabzug, sofern der Steuerpflichtige eine «angemessene Dividende» erhält. Gemäss freiem Ermessen, d.h. willkürlicher Bestimmung des Staates, liegt die angemessene Rendite bei derzeit circa 2,5 Prozent, berechnet nach dem Verkehrswert wie oben beschrieben. Dies wiederum bedeutet, dass erfolgreiche Unternehmer bestraft werden, ganz zu schweigen davon, dass sie schon zuvor über die Unternehmenssteuern einen nicht unerheblichen Beitrag in die Staatskasse (im Kanton Zürich über 21 Prozent) leisten durften und als Aktionäre bei der Dividendenzahlung ein weiteres Mal zur Kasse gebeten werden. Rein finanzmathematisch gesehen mag das Vorgehen halbwegs vernünftig erscheinen – de facto führt es aber zu sich ständig verändernden Unternehmenswerten und in Tiefzinsphasen wie heute konsequenterweise zu höheren Unternehmenswerten. Anders gesagt: die Steuerverwaltung hat die Unternehmer auf dem Papier reicher gemacht, auf dass sie mehr von ihrem virtuellen Reichtum über Vermögens- und vielleicht bald auch Erbschaftssteuern real an den Staat abliefern dürfen. «Man fühlt die Absicht, und man ist verstimmt», liesse sich mit Goethe sagen. Konkret: durch die Hintertür wird hier auf rechtlich fragwürdigem Weg eine Steuererhöhung vollzogen, um Ausfälle aufgrund des teilweisen Wegfalls der Doppelbesteuerung bei Dividendeneinkommen zu kompensieren. Will die Schweiz als Wirtschaftsstandort konkurrenzfähig bleiben – und das liegt ja im ureigenen Interesse eines klug agierenden und in die Zukunft investierenden Staates –, muss sie darum besorgt sein, die Rahmenbedingungen gerade für KMU attraktiv zu gestalten. Dazu zählen nicht nur, aber eben auch die steuerlichen Grundlagen. Das ist keine Rhetorik, das ist die wirtschaftliche Realität. Es sind nicht grosse, international ausgerichtete, von Managern geführte Konzerne, die den Werkplatz Schweiz am Leben erhalten und einen wesentlichen Beitrag für die Finanzierung unseres Sozialstaates leisten, sondern kleinere und mittlere, von Unternehmern geführte Firmen. Es muss sich für diese lohnen, den beträchtlichen zeitlichen Mehraufwand auf sich zu nehmen und die damit verbundenen finanziellen Risiken einzugehen – sonst lassen sie es lieber. Unternehmer sind keine Idealisten. Unternehmer sind Risikonehmer – wenn Aussicht besteht, dass sich Engagement und Risiko lohnen. Das ist der Geist des freien Unternehmertums, der die Schweiz seit dem 19. Jahrhundert stark gemacht hat.

men werden, ohne dass sich unter den angeblichen Interessenvertreter der Unternehmer auch nur ein Hauch von Widerstand regt? Der Staat macht den echten, eigentumsinvestierten, haftenden Unternehmern das Leben schwer, und niemanden scheint es zu stören. Mir fallen dazu zwei Erklärungen ein. Erstens: der neue Zeitgeist. Unternehmer scheinen den Ball flach halten zu wollen, als würden sie sich schämen, unter grossem persönlichem Einsatz Gewinn zu erwirtschaften. Zweitens: die Unternehmer haben keine Lobby, die sie wirksam vertritt. Politiker halten zwar die KMU-Rhetorik hoch, aber sie haben sich von ihnen längst schon so weit entfernt, dass sie KMU nur noch vom Hörensagen kennen und deren Anliegen nicht mehr verstehen. So können Finanzdirektoren und Beamte von Überwachungsbehörden frei schalten und walten, die demokratische Kontrolle bleibt aussen vor, die Wettbewerbsfähigkeit sinkt langsam, aber sicher. Das Problem ist nur: geht es den KMU an den Kragen, geht es dem Mittelstand an den Kragen – und damit der gesamten helvetischen Volkswirtschaft. Es ist deshalb ein Gebot der Klugheit: hören wir auf damit, den leistungsbereiten Miteidgenossen das Leben mit einer stetig wachsenden Anzahl von Gesetzen und Regulatorien schwerer zu machen, als es aufgrund des stetig steigenden Wettbewerbsdrucks ohnehin schon ist. Die Übertragung der Verantwortung auf risikoaverse Beamte führt bloss zur weiteren Erlahmung einer Wirtschaft, die gegenüber aufstrebenden Ländern ohnehin ständig an Dynamik und Wachstumspotential einbüsst. Eine alte Hausfrauenregel besagt, dass wir jeHören wir auf damit, leistungs­ den Franken, den wir ausgeben können, zuerst bereiten Miteidgenossen das Leben schwerer zu machen, verdienen müssen. Verdienen wir nichts mehr bezieals es ohnehin schon ist. hungsweise laufend weniger, können wir auch nichts beziehungsweise immer weniger ausgeben. Ich frage: macht es Sinn, den Gewinn von Unternehmen, Aktionären und den Investoren durch ständig neue, auf den ersten Blick oft kaum sichtbare, aber mittelfristig fühlbare Steuern und Auflagen zu schmälern, um die staatlichen Mehreinnahmen im Gegenzug für den Ausbau von Bürokratie und Kontrolle zu verwenden? Das ist eine Logik, die dem gesunden Menschenverstand jeder tüchtigen Hausfrau widerspricht. �

Und die Politik? Zum Schluss möchte ich das oben beschriebene Beispiel, das sich problemlos um weitere ergänzen liesse, in einen etwas grösseren Kontext stellen. Abbau der Bürokratie, Förderung der KMU und des Mittelstands: das ist die allseits beliebte Rhetorik vieler Verbände, Politiker und Parteien. Ich frage mich allerdings – und darum habe ich in die Tasten gegriffen: Wie kommt es, dass diese Vorgehensweisen von Steuerbehörden brav zur Kenntnis genom25


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Safari, Zirkus, Plüsch und Plausch Starker Franken, wenig Schnee und kalte Betten: beim Besuch in Arosa blicken die Hoteliers Hans C. und Hitsch Leu zurück auf vier Jahrzehnte bewegter Hotelleriegeschichte. Stillstand ist für sie auch in Zukunft keine Option. Florian Rittmeyer und Michael Wiederstein treffen Hans C. und Hitsch Leu

Die Herren Leu: wie gut kennen Sie sich aus in Schweizer Hotelleriegeschichte? Hans C. Leu: Finden Sie es heraus!

Hans C. Leu ist ehemaliger Hotelier und baute u.a. das «Giardino» in Ascona. Die Luxusherberge wurde zum besten Ferienhotel und er zum besten Hotelier der Schweiz gekürt.

Wo steht das erste schriftlich erwähnte Hotel der Schweiz? Hans C. Leu: Das ist die «Blume» in Zürich – oder das «Trois Rois»? Hitsch Leu: Nein. Das Hotel «Süsswinkel» in Chur. Es ist das Grimselhospiz auf dem Grimselpass. Erwähnt wird es erstmals 1142. Hans C. Leu: Gut, die erste Niete. (lacht) Vor 870 Jahren tat sich die Reise durch die Schweiz nur an, wer wirklich musste – das hat sich geändert. Heute werden jährlich 30 Milliarden Franken durch die Hotelbranche eingefahren. Damit steht sie auf Rang 4 unserer Exportwirtschaft… Hans C. Leu: Eigentlich steht die Hotellerie sogar noch besser da! Die einzelne Übernachtung im Hotel ist schliesslich nur ein Bruchteil dessen, was ein Tourist in seinen Ferien ausgibt. Die mit der Hotellerie verbundenen Käufe von Schweizer Uhren, Lebens- und Genussmitteln und auch die Transporteinnahmen fehlen in dieser Statistik. Einverstanden. Trotzdem: die Bettenzahl in der Schweiz stagniert seit Jahrzenten. Weshalb? Hitsch Leu: Viele kleine Hotels müssen schliessen, weil sie wirtschaftlich nicht überlebensfähig sind. Deshalb gibt es weniger Hotels, diese aber verfügen über eine grössere Bettenzahl. Hans C. Leu: Und die Situation wird sich weiter akzentuieren. Zurzeit kämpfen die Hoteliers vor allem mit einem schlechten Währungsverhältnis. Hinzu kommt der schlechte Winter. Gut möglich, dass im Frühling einige Hotelbetriebe Konkurs anmelden müssen. Diese Entwicklung ist gewollt. Zu folgendem Zweck: damit jene, die übrigbleiben, die guten, sich füllen lassen. Wie gehen die betroffenen Hoteliers damit um? Hans C. Leu: Viele sehen die Solvenzprobleme kommen, hoffen aber, dass sie sich über die Runden bringen mit der Hotelleriekreditgesellschaft. Die will aber keine Halbtoten am Leben erhalten: 26

Hitsch Leu leitete bis 2011 gemeinsam mit seiner Frau das «Eden» in Arosa. Im Dezember 2011 eröffneten sie dort das Restaurant «Lamm & Leu».

sie vergibt ihre Kredite an jene Betriebe, die noch eine Chance haben und sich neu positionieren. Hitsch Leu: Stopp. Da muss man ganz grundsätzlich differenzieren zwischen den neuen Häusern, die oft einer Kette angehören, und der klassischen Schweizer Hotellerie. Jene, die schliessen müssen, sind meistens die kleinen Schweizer Hotels. Und die Grossen, die entstehen, sind meistens Kettenhotels. Letztere sind nicht so krisenanfällig, haben andere Marketingmöglichkeiten und sind besser finanziert. Die gegenwärtig schlechten Bedingungen, von denen mein Vater spricht, verkürzen diesen eigentlich langfristigen Prozess, der letztlich zu Verhältnissen wie in Amerika führen wird. Das heisst: es wird irgendwann keine kleinen Privatbetriebe mehr geben in der Schweiz. Weg vom KMU, hin zum Franchising im grossen Stil? Hitsch Leu: Zum Beispiel. So gesehen, steht es sehr schlecht um die klassische Schweizer Hotellerie, sie ist zu einem Aussterbemodell geworden. Das ist tragisch. Denn in Österreich können die Familien ihre Hotels behalten. Zwei Schweizer Hotelpioniere orientieren sich an Österreich? Hans C. Leu: Der Schweizer Tourismus hat relativ bescheidene Mittel im Gegensatz zum österreichischen Tourismus. Dort arbeitet man mit staatlichen Unterstützungen oder Vergünstigungen… …staatliche Töpfe für wirtschaftliche Sentimentalitäten – das kann nicht das Ziel sein. Hitsch Leu: Ich rede nicht von Geschenken. Sondern von anständigen Bedingungen und gezielter Wirtschaftsförderung, wie sie in ganz vielen Branchen üblich ist. Ein Beispiel: Der Schweizer Hotelier zahlt für vierjährige Kredite 5 bis 7 Prozent Zinsen. Normal


Hans C. & Hitsch Leu, photographiert von Florian Rittmeyer.

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r g ua ta br ers Fe n 9. on b A nD de je

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wäre ein Zinssatz von 2,5 bis 3 Prozent. Hier wird ein Wirtschaftszweig benachteiligt. Hans C. Leu: Absolut. Investitionen aus privater Hand werden behindert, während öffentliche Investitionen in die falschen Kanäle fliessen. Österreich fördert sein Ferien-Image, die Schweiz pflegt ihre Bauern. In diesem Punkt sind wir noch ein Entwicklungsland. Wir selbst können aber dagegenhalten und sagen: «Wir sind letztlich preiswert, weil die Qualität bei uns viel höher ist.» Das wird angestrebt. Die Freundlichkeit erhöht den Preis? Jene, die seit Jahren zum Skifahren nach Österreich fahren, behaupten: der Unterschied beim Service ist gar nicht so gross. Dafür aber der Preis. Hitsch Leu: Wenn man es wirklich vergleicht, sind die Österreicher nicht viel billiger, sondern praktisch gleich teuer. Das «günstige Österreich» ist ein Mythos. In der Luxushotellerie sind sie sogar oft teurer. Die Schweiz wird auch nie ein wirklich günstiges, sondern immer ein teures Land sein. In der Exportwirtschaft wie in der Hotellerie setzt die Schweiz zunehmend auf die Premium-Class. Muss Arosa, ähnlich wie St. Moritz, in diese Premium-Class aufsteigen? Hitsch Leu: Es gibt einfach zwei Klassen. Wenn heute Hotels entstehen, dann sind das keine Ein- oder Zweisternehäuser mehr. Die Zeiten sind vorbei. Hans C. Leu: Das ist zu teuer. Hitsch Leu: Genau, es braucht niemand mehr ein Hotelzimmer ohne Badezimmer, das ist heute undenkbar. Das heisst: jedes Hotel, das entsteht, ist mindestens ein Dreisternehaus. Somit ist dieses untere Segment Vergangenheit. Es gibt das Premium-Segment und die Loserklasse: das Viersternehotel. Mit den Orten ist es dasselbe. Und wenn man es genau anschaut, zum Beispiel so ein 3-Sterne-Designhotel, dann sieht das zum Teil genau gleich gut aus wie ein Luxushotel, es hat einfach keinen Service. Hans C. Leu: Und was den von Ihnen angesprochenen, oft mangelhaften Service darüber hinaus angeht: das ist eindeutig ein Führungsproblem. Wenn der Patron unfreundlich ist, dann sind es die Mitarbeiter selbstverständlich auch. Freundlichkeit muss vom Chef her kommen. Die Nähe zum Gast findet man übers Herz und nicht über ein aufgesetztes Lächeln. Mich haben die Gäste oft gefragt: «Wie kommt es, dass Ihre Mitarbeiter so freundlich sind?» Viele Kunden sagen, das sei nicht überall so. Bedauerlich, dass sie recht haben. «Mit gutem Beispiel vorangehen» – mit Verlaub, das ist eine Floskel. Hans C. Leu: Sie haben zum Teil recht: Betriebe, die von sich behaupten, sie seien besonders freundlich und sich das auf die Fahne schreiben, haben schon verloren. Denn Freundlichkeit ist eine Voraussetzung, kein Marketing-Alleinstellungsmerkmal! Im Gegenteil, wenn man nicht freundlich ist bei uns, dann muss man gar nicht erst antreten. Wenn ich Freundlichkeit aber als Selbstverständlichkeit in den Raum werfe, dann verstehen das die Angestellten und zelebrieren es auch so.

Wie war es in Ihrer Familie? War der Papa auch der Patron, der gesagt hat, wie man das Glas hinstellt? Hans C. Leu: Ich war immer einer, der alles delegiert hat… Hitsch Leu: …und wir Kinder haben dann genau das Gegenteil gemacht. (lacht) Hans C., Sie sind in der Familie nicht nach Ihren berühmten 5 C.s vorgegangen? Hans C. Leu: Charme, Charakter, Calme, Cuisine und Courtoisie, meinen Sie? Nein, die haben eine andere Geschichte: Ich plante den Bau des «Giardino» in Ascona, um in das Relais Château zu kommen, in diesen Club mit der prestigegeladenen Marke und dem Credo der 5 C.s. Das ist mir, mit einigem Glück, auch gelungen. Glück allein reicht selten – heute scheint alles eine Frage guter Werbung zu sein. Hans C. Leu: Wenn man Werbung macht, muss sie so innovativ sein wie der beworbene Betrieb. Mir ist es damals gelungen, schon nach kurzer Zeit, die Marke Giardino bekanntzumachen. Ich habe auf die Heckscheibe der bei uns parkierten Autos das «Giardino»Logo geklebt, um Fremdparker zu entlarven! Das hat sich dann verselbständigt: alle wollten plötzlich so einen Kleber haben. Leute, die sich ein neues Auto gekauft haben, fragten mich: «Herr Leu, können Sie mir nicht noch einen Kleber schicken?» Das ging dann so weit, dass sich eine «Giardino»-Community auf den Parkplätzen getroffen hat. Sobald einer sah, dass da ein anderer den «Giardino»-Kleber auf der Heckscheibe hatte, haben die beiden zusammen über das «Giardino» geredet. Das war ein Selbstläufer! Der Schweizer Tourismus lebt vom Charme der Gastgeber, aber hauptsächlich vom Charme und der Authentizität der Landschaft. Ist diese «unique selling position» in Gefahr, wenn die Berge mehr und mehr erschlossen werden, die Landschaft zersiedelt wird? Hans C. Leu: Der Touristikforscher Jost Krippendorf hat einmal gesagt, der Tourismus zerstöre den Tourismus. Bauen auf Teufel komm raus, erschliessen, planieren. Ganz von der Hand weisen kann man das nicht: wir müssen wahnsinnig aufpassen, was mit der Landschaft geschieht. Der Tourismus ist eine jener Branchen, die auch räumlich enorm wachsen. Die Touristen haben sich zu einem Gutteil aber längst daran gewöhnt, dass heute nicht mehr nur ein einzelnes Chalet im Tal steht, sondern mehrere. Das geht Hand in Hand. Hitsch Leu: Ich stelle fest, dass die Gäste im Schnitt positiv auf neue Infrastrukturmassnahmen reagieren. Wenn eine neue Brücke gebaut wird oder eine neue Bahnstrecke, dann finden sie das toll, schliesslich dienen solche Projekte letztlich ihrem Komfort. Sie gelten beide als sogenannte Event-Hoteliers. Welche Rolle spielt der Unterhaltungsfaktor in der modernen Hotellerie? Hans C. Leu: Ich hatte ja anfangs im «Dolder» in Zürich einen Schoggijob als Rezeptionschef: morgens um neun antreten, abends um fünf nach Hause gehen und viel mit meinen Kollegen 29


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in der Umgebung telefonieren, um herauszufinden, wer noch freie Zimmer hat – weil der Andrang so gross war. Ich habe die Leute manchmal bis nach Luzern oder Basel ausquartiert, so schlimm war es. Und dann bin ich an die Spitze des «Kulms» in Arosa gewählt worden, dieses ständig ausgebuchten Hotels mit riesigem Namen – aber eigentlich war auch das eine verlotterte alte Bude, wie alle Hotels damals in Arosa. Damit kann man auf Dauer nicht viel anfangen. Wenn das Hotel ausgebucht war, musste man das ja auch nicht. Klingt nicht unbedingt nach Stimulus für revolutionäre Hotelentwicklungen… Hans C. Leu: Die Hotels engagierten jede Wintersaison zwei, drei grosse Künstler und machten eine Gala. Das war dann das Highlight der Saison. Ich fand das unfair gegenüber den Leuten, die auch da waren – aber nicht zur Gala. Ich habe mir also gesagt: ich mache selber Theater. Ich mit den Mitarbeitern! Das machten wir dann jedes Jahr und es hat sich sehr bald herumgesprochen. Bald hat man dann in den einschlägigen Hotellierkreisen gesagt: der Leu, das ist doch kein Hotel-, sondern ein Zirkusdirektor. Gut, dachte ich, das ist mein nächstes Programm, ich mache Zirkus! Und das war der absolute Durchbruch bei den Journalisten. Die Journalisten lieben Zirkus. Sie waren auch der erste, der ein Frühstücksbuffet gemacht hat in der Luxushotellerie. Hans C. Leu: Stimmt. Und wieder dachten alle: spinnt der Leu? Ich habe mit den Gästen Sachen unternommen, zum Beispiel habe ich die Langlaufsafari erfunden. Ich war der erste, der Mountainbikes hatte. Ich habe Mountainbikesafaris gemacht und vieles mehr. Das ist sehr gut angekommen, auch bei mir, weil ich so die Bedürfnisse der Gäste immer eins zu eins vernommen habe. Ich habe im Prinzip die Luxushotellerei vom Plüsch zum Plausch geführt. Bei mir musste man auch keine Krawatte mehr tragen, bei uns herrschte ein lockerer Betrieb. Hitsch, Sie haben die «Arosa Gay Ski Week» ins Leben gerufen und sind Mitgründer des Arosa Humorfestivals. Haben Sie sich dabei von Ihres Vaters Erfahrungen leiten lassen – oder bewusst einen radikal anderen Weg eingeschlagen? Hitsch Leu: Ich nahm natürlich viel Know-how aus meiner Familie mit. Mit dem «Eden» hier in Arosa hatten wir aber eine andere Ausgangslage. Wir – meine Frau Valerie und ich – haben hier mit den Gästen prinzipiell genau das Gegenteil gemacht wie mein Vater: nämlich genau nichts. Dafür haben wir einen Spielplatz geschaffen, auf dem sich unsere Gäste selbständig vergnügen konnten, ohne Animator oder so. Ich bin nämlich kein Animator, eher ein Regisseur. Wir haben gesagt: wir wollen gar keine Sterne und kein Relais Château und überhaupt nichts von diesen Dingen. Damit haben Sie sich den Ruf als «Enfant terrible» der Schweizer Hotellerie erarbeitet. Ein nützlicher Titel? 30

Hitsch Leu: Manch kreatives Konzept kommt dem Etablierten sicher etwas absurd vor. Das Humor Festival zum Beispiel war am Anfang ja ein gewagtes Unterfangen von vier Hoteliers. Es war gedacht für einen Fall, wie wir ihn 2011 wieder erlebt haben: für einen schlechten Dezember. Damit man etwas bieten kann, wofür die Leute trotz Schneeflaute kommen. Hatten Sie Angst vor den Fussstapfen Ihres Vaters? Ich habe erfahren, dass Sie zuerst vorhatten, etwas anderes zu machen; ganz am Anfang haben Sie ja einen Piratensender betrieben. Hitsch Leu: (lacht) Stimmt, ich wollte nicht von Anfang an Hotelier werden. Viele, die in einem Hotelbetrieb aufgewachsen sind, sagen sich: Im Leben nie mehr! Auch meine beiden Schwestern sind nicht so begeistert von der Hotellerie. Ich denke, es hat nicht nur mit der Zeit zu tun, sondern auch noch damit, dass die Ferienhotellerie während der Saison zu einer Lebensform wird, an der die Familie genauso teilnimmt: ohne Feierabend, kontinuierlich, nichts anderes. Die Frage ist, ob man diese Art von Lebensform mag oder nicht. Ist die Luxushotellerie hierzulande zukunftsfähig? Hans C. Leu: Sie ist gut aufgestellt, denn sie lebt von reichen Leuten, die sagen: «Wir wollen das Geld in ein Hotel investieren, damit wir als grosse Gastgeber auftreten können.» Zum Glück! Das bedeutet umgekehrt: es gibt kaum einen Markt für Luxushotels, sonst würden auch jenseits des Mäzenatentums Unternehmer Hotels bauen. Prunk und kalte Zimmer? Sprechen wir hier von einer Blase? Hans C. Leu: Nein, vielmehr von einem finanziell gut abgestützten Prestigegegenstand. Ein Beispiel: das neue «Bürgenstock». Niemand wollte den alten Kasten kaufen. Viele haben den Bau für ein Fass ohne Boden gehalten, obwohl er da oben auf dem Berg sehr gut gelegen ist. Und dann kam ein Investor aus Katar und steckte etwa eine halbe Milliarde in den Bau! Das ist phantastisch, weil das «Bürgenstock» eines der Schweizer Hotels ist, die etwas ganz Spezielles darstellen, ähnlich dem «Palace» in St. Moritz oder dem «Lenkerhof» im Berner Oberland. Dort wurde der Philippe Frutiger, mein Nachfolger im «Kulm», engagiert von einem Mäzen, der wiederum dort viel Geld investiert hat. Es ist ihm gelungen, den «Lenkerhof» innerhalb eines Jahres zum Hotel des Jahres zu machen. Ihr Argument lässt sich aber auch umkehren: es entstehen vermehrt Luxushotels, die zunächst die lokale Konkurrenz verdrängen und dann – wenn es beim Mäzen einmal nicht so gut läuft – abgestossen werden, weil sie viel kosten, aber mit ihnen kein Geld zu verdienen ist. Hitsch Leu: Das hört man oft, es geschieht aber selten. Und: der Familienurlaub findet ja auch weiterhin nicht im «Bürgenstock» statt, sondern im Gasthof oder Familienhotel am Fuss des Berges. Die Spitzenhotels sind letztlich also bloss ein Plus, von dem alle profitieren. �


Zentrum für Stiftungsrecht

Tagung 2. Zürcher Stiftungsrechtstag: Stiften und Gestalten - Anforderungen an ein zeitgemässes rechtliches Umfeld Freitag, 15. Juni 2012 9.00 bis 17.45 Uhr Universität Zürich-Zentrum Tagungs- und Diskussionsleitung: Prof. Dr. Dominique Jakob Am 15. Juni 2012 findet der 2. Zürcher Stiftungsrechtstag zum Thema «Stiften und Gestalten – Anforderungen an ein zeitgemässes rechtliches Umfeld» an der Universität Zürich statt. Die Veranstaltung präsentiert folgende Themenblöcke: • Stiftungsstandort Schweiz – heute und morgen: Nach einer Bestandsaufnahme der aktuellen Entwicklungen im schweizerischen und europäischen Stiftungswesen wird es um die Frage gehen, inwieweit sich innovative Formen der Philanthropie im heutigen Stiftungs- und Gemeinnützigkeitsrecht umsetzen lassen. Ein Impulsreferat aus Unternehmersicht leitet über zu einer Podiumsdiskussion über die Zukunft der Rahmenbedingungen für Stiftungstätigkeit in der Schweiz. • Vertragsgestaltung im Stiftungsrecht: Ausgehend von der Erkenntnis, dass es nicht immer «die eigenen Stiftung» sein muss und Kooperationen an Bedeutung erlangen, wird der Blick auf die bisher kaum thematisierte Problematik der Ausgestaltung von Zuwendungesverträgen, unselbständigen Stiftungen und Kooperationsvereinbarungen gelegt. • Asset Protection und Rechte Dritter: Gemeinnützige wie auch privatnützige Vermögensperpetuierung stehen in einem Spannungsverhältnis zu Rechten Dritter. Insbesondere das Pflichtteilsrecht ist in die wissenschaftliche und politische Diskussion geraten. Zudem werden Rechte Dritter gegenüber internationalen Truststrukturen sowie (schieds-) verfahrensrechtliche Aspekte im Zusammenhang mit internationaler «Asset Protection» thematisiert. Hierbei wird der Fokus jeweils auch auf den Finanzplatz Liechtenstein gelegt. Die Tagung wird organisiert und geleitet von Prof. Dr. Dominique Jakob, Zentrum für Stiftungsrecht an der Universität Zürich, unter Mitwirkung von: lic. phil. I, MScom Beate Eckhardt, Dr. Harold Grüninger, Ständerat Prof. Dr. Felix Gutzwiller, Dr. Joh. Christian Jacobs, Prof. Dr. Dominique Jakob, Dr. Manuel Liatowitsch, Dr. Florian Marxer, Dipl. pol. Carolina Müller-Möhl, Dr. Peter Picht, Prof. Dr. Anne Röthel, Prof. Dr. Anton K. Schnyder, Dr. Dr. Thomas Sprecher. In Kooperation mit dem Europainstitut der Universität Zürich und mit freundlicher Unterstützung von Swissfoundations und der Notenstein Privatbank. Anmeldung und weitere Informationen unter www.zentrum-stiftungsrecht.uzh.ch.


er 1992 in Maastricht D eingeschlagene Weg der Europäischen Union ist ein «Irrläufer der Evolution». Dieter Freiburghaus

ie Einführung des D Euro war ein Schritt auf dem Weg zu einer europäischen Zentral­ regierung unter französischer Führung. Filippo Leutenegger

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Durchwursteln Alles lief gut: der europäische Binnenmarkt wurde zum Erfolgsprogramm, der Frieden in Europa eine Realität. Doch seit 1992 hat sich die Europäische Union verrannt. Ist sie ein «Irrläufer der Evolution»? von Dieter Freiburghaus

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ie Staatsschuldenkrise, die zu einer Krise der Europäischen Währungsunion geworden ist, war absehbar. Die Eurozone erfüllt die Bedingungen nicht, die Ökonomen an einen optimalen Währungsraum stellen. Selbst wenn die Konvergenzkriterien eingehalten worden wären und selbst wenn künftig strengere Finanzregeln gelten: das realwirtschaftliche Auseinanderdriften von Nord und Süd bleibt ein Sprengsatz für die Eurozone. Die Verarmung des italienischen Südens nach der nationalen Einigung im 19. Jahrhundert ist dafür ein Menetekel. Der Euro ist 10 Jahre alt, doch das Ziel einer Währungsunion ist bereits vor 20 Jahren in den Vertrag von Maastricht geschrieben worden. Und mit ihm vieles andere mehr: gemeinsame Aussenund Sicherheitspolitik, Polizei und Justiz, Unionsbürgerschaft – kurz, man hat damals den grossen Schritt vom gemeinsamen Markt zur politischen Union tun wollen. Ist dies gelungen? Ist diese Union – unabhängig von der Schuldenkrise – eine gute Sache, ist sie funktionsfähig und zukunftsträchtig? Meine Antwort ist: Nein. Der damals eingeschlagene Weg ist ein «Irrläufer der Evolution»1, und zwar deswegen, weil die Institutionen der EU gar nicht in der Lage sind, die ihr zugedachten Aufgaben zu erfüllen. Die Krise der Eurozone ist nur der gegenwärtig sichtbarste Ausdruck tiefer liegender struktureller Probleme. Dies werde ich im folgenden zeigen.

Der Binnenmarkt als Erfolgsprogramm Es gibt Leute, die die europäische Integration per se für eine Fehlentwicklung halten. Ich gehöre nicht dazu. Ich bin der Meinung, dass die Herstellung eines gemeinsamen Marktes für Waren, Dienstleistungen, Arbeitskräfte und Kapital eine gute Sache sei. Gewiss, er hat auch Schattenseiten. Dazu gehören etwa die Agrarpolitik und eine Tendenz zur Überregulierung bzw. Überharmonisierung, die das freie Spiel der Marktkräfte behindern kann. Aber gesamthaft betrachtet führt der gemeinsame Markt zu einer positiven Bilanz für Europa. Er geht in der Tat weit über das hin1 «Der Mensch – Irrläufer der Evolution» hiess ein Buch von Arthur Koestler von 1978. Der Autor war der Meinung, dass eine schlechte «Verdrahtung» älterer menschlicher Gehirnteile mit der Grosshirnrinde dazu führt, dass der Mensch und seine Gesellschaft höchst unstabil sei und wohl nicht lange überleben werde. Wir brauchen dies hier als Metapher für ein fehlerhaftes Zusammenspiel zwischen der alten Marktintegration und den neueren politischen Ambitionen.

Dieter Freiburghaus ist emeritierter Professor für europäische Studien am Institut de hautes études en administration publique in Lausanne und Autor des Buches «Königsweg oder Sackgasse? Sechzig Jahre schweizerische Europapolitik» (2009).

aus, was andere wirtschaftliche Verbände bisher erreicht haben (EFTA, WTO etc.). Die Zölle und Mengenbeschränkungen zwischen den Mitgliedstaaten wurden in der EU komplett abgeschafft. Auch die nichttarifären Schranken sind fast gänzlich verschwunden – durch Harmonisierung und gegenseitige Anerkennung von Vorschriften. Die Menschen können leben und arbeiten, wo und wie sie wollen. Das ist im Kern ein liberales Projekt, das zu einer effizienteren Allokation der Ressourcen und damit zu Wachstum und Wohlstand beigetragen hat. Blicken wir kurz zurück. Dass das Integrationsziel eines funktionierenden Binnenmarkts realisiert werden konnte, ist vor allem jenen Institutionen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) zu verdanken, deren Grundlagen schon in den 1950er Jahren gelegt worden waren. Im Gegensatz zu internationalen Organisationen hat man hier Organe geschaffen, die sich den Staaten gegenüber durch eine gewisse Unabhängigkeit auszeichnen. Man spricht in diesem Zusammenhang von Supranationalität. Die Kommission hat ein umfassendes Vorschlagsrecht und überwacht die Einhaltung der Verträge und des Sekundärrechts. Der Ministerrat kann in der Regel mit qualifizierter Mehrheit beschliessen, und das Parlament spielt in der Gesetzgebung eine immer wichtigere Rolle. Die Gesetze richten sich nicht nur an die Staaten, sondern oft direkt an Bürger und Unternehmen. Und der Gerichtshof hat umfassende Kompetenzen der Rechtsauslegung, der Überwachung und der Sanktion. Es ist also ein neuartiges politisches System entstanden, das stärker in die nationalen Kompetenzen eingreift, als dies bisher staatenübergreifend üblich war. Aber das war notwendig, um den gemeinsamen Markt durchzusetzen. Skeptiker mögen dies anders sehen. Aber schauen wir uns etwa die WTO an, die noch nicht einmal eine Freihandelszone ist und seit längerem stagniert, dann wird deutlich, dass klassisch intergouvernementale Mechanismen nicht ausreichen, um Märkte umfassend gegenseitig zu öffnen. Den Staaten ist eine protektionistische Tendenz eigen, der nur durch supranationale Institutio33


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nen entgegengewirkt werden kann. Und genau so geschah es in der Europäischen Gemeinschaft: mit der qualifizierten Mehrheit im Rat auf Vorschlag der Kommission ist es möglich, Regeln gegen die Sonderinteressen der einzelnen Staaten aufzustellen. Mit einer kräftigen Vollzugsbehörde kann die Umsetzung in den Staaten sichergestellt werden. Und mit einem machtvollen juristischen Organ ist gewährleistet, dass ein sicheres Rechtssystem entsteht. Die heiklere Frage ist, ob die dazu notwendige Übertragung von Kompetenzen – und also eine gewisse Beschränkung der mitgliedstaatlichen Souveränität – legitim sind. In der Regel wird dies bejaht, und zwar mit folgender Argumentation: Zwar fehlen der Union die klassische Gewaltenteilung und eine voll ausgebaute Demokratie, allerdings sind ihr auch keine der schwergewichtigen, hoch legitimationsbedürftigen Staatsaufgaben übertragen worden (Sicherung von Ruhe und Ordnung, Verteidigung, Aussenpolitik, Das wahrscheinlichste Steuermonopol, OrganisaSzenarium ist weitermachen, tionshoheit). Ausserdem gibt es nicht nur eine Legidurchwursteln, reparieren timität durch Teilnahme und aussitzen. (Demokratie), sondern auch Legitimität durch Teilhabe, nämlich Teilhabe am Wohlstand, den die Gemeinschaft ermöglicht hat. Es ist deswegen nicht erstaunlich, dass bis 1992 der grosse Teil der Bürgerinnen und Bürger der Integration gegenüber positiv eingestellt war. Selbst die Briten hatten 1975 mit 67 Prozent Ja zum Verbleib in der EWG gesagt. Alle nach 1989 im Osten Europas neu oder wieder entstandenen Staaten wollten der EU so rasch als möglich beitreten. Es ist hier also ein neuartiges supranationales System mit beschränkten Aufgaben entstanden, das alle Voraussetzungen erfüllte, um längerfristig nützlich und stabil zu sein. Die europäische Marktintegration hat sich zu einem Erfolgsmodell entwickelt, das auch anfängliche Skeptiker zu überzeugen vermochte. So weit das Widerlager für unsere These, nun sie selbst. Maastricht und die Folgen des Übermuts Was geschah in Maastricht? Seit Beginn der europäischen Integration sprach man von der «politischen Finalität» und einer «immer engeren Union der Völker Europas». Wohlweislich hatte man diese Ziele nie genauer definiert, denn so hatten alle die Möglichkeit, ihre Phantasien an einen fernen Himmel zu projizieren. Nach dem Erfolg des Binnenmarktprogramms und dem Zerfall der Sowjetunion hiess nun aber 1992 in Maastricht die Parole: «jetzt oder nie». Nun kamen alle Wünsche aufs Tapet – von der Währungs- bis zur Wirtschaftsunion, von der gemeinsamen Aussen- bis zur Verteidigungspolitik, von Europol bis zur Unionsbürgerschaft. Während für die Währungsunion schon seit langem Blaupausen bestanden, blieb die «politische Union» umstritten und konturlos. Im Vertrag von Maastricht nun taufte man erst einmal die «Gemeinschaft» in «Union» um und stülpte über die bestehenden Ver34

träge einen neuen. Der alte EG-Vertrag blieb bestehen, wurde aber vielfach modifiziert und um einige Politiken ergänzt. Man sprach nun von der «ersten Säule», in der wie bisher nach der supranationalen Methode nach Muster der EWG gearbeitet wurde. Die Regeln über die Währungsunion wurden ebenfalls in den Gemeinschaftsvertrag gepackt, inklusive der dafür notwendigen Institutionen. Der neue Unionsvertrag dagegen enthielt Bestimmungen über eine gemeinsame Aussen- und Sicherheitspolitik sowie über eine verstärkte Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres. Diese heiklen Bereiche wollten die Architekten von Maastricht nicht den Gemeinschaftsorganen überlassen, sondern bauten dafür zwei «intergouvernementale Säulen», in denen der Ministerrat und der Europäische Rat die Hauptrollen spielen. Damit vervielfachten sich die Entscheidungsverfahren. Zu einer umfassenden Neuordnung der Grundlagen der Union kam es also in Maastricht nicht, das Vertragswerk glich einem übervollen, schlecht gepackten Koffer, der nur mit Mühe geschlossen werden konnte. Durchwursteln, reparieren und aussitzen Natürlich war niemand mit diesem Konglomerat von Verträgen, Protokollen, Säulen und Ausnahmeregelungen glücklich. Die Dänen lehnten in einer Volksabstimmung das Vertragswerk ab, stimmten dann aber, nach minimalen Zugeständnissen und heftiger Seelenmassage, doch noch zu. Ausserdem machten Dänemark und Grossbritannien bei der Währungsunion nicht mit. Um die Mängel des Maastricht-Vertragswerks zu beheben, stolperte man im nächsten Jahrzehnt von einer Revision zur nächsten. Der Vertrag von Amsterdam trat 1999 in Kraft. Ziel dieser Revision war es, die Union für die Osterweiterung fit zu machen, das heisst die Entscheidungsmechanismen zu straffen und die Stimmengewichte neu zu verteilen. Dies gelang im Vertrag von Amsterdam nicht, weshalb schon für das Jahr 2000 eine neue Regierungskonferenz einberufen wurde. Sie führte zum Vertrag von Nizza, der 2003 in Kraft trat. Diesmal legten sich die Iren quer und mussten eines Besseren belehrt werden. Da die institutionellen Hausaufgaben noch immer unerledigt blieben und die Osterweiterung vor der Türe stand, fügte man dem Vertrag eine «Erklärung über die Zukunft der Union» bei, die ein Programm künftiger notwendiger institutioneller Veränderungen enthielt. Einen ernsthaften Versuch, Remedur zu schaffen, unternahm man 2002 mit dem sogenannten Verfassungskonvent. Dies war eine grosse Versammlung, die den Auftrag hatte, ein neues Grundgesetz auszuarbeiten. Ihr Resultat war der «Vertrag über eine Verfassung für Europa», also ein Hybrid: materiell war es eine neue Verfassung – die allerdings stark den bisherigen Verträgen glich –, formell war es aber weiterhin ein völkerrechtlicher Vertrag, der von allen Staaten ratifiziert werden musste. Diesmal sagten die Franzosen und die Niederländer Nein. Da es sich um zwei Gründungsmitglieder der Gemeinschaft handelte, wurde vom Versuch abgesehen, sie zu überzeugen. Die «Verfassung» wurde versenkt. Aus diesem Fiasko ging der Vertrag von Lissabon hervor, mit dem man einige wichtige Bestimmungen des Verfassungsvertrags im


Dieter Freiburghaus, photographiert von Ursula H채ne.

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Europäische Union I Schweizer Monat 994  märz 2012

herkömmlichen Revisionsverfahren in die bisherigen Verträge integriert hat. Wiederum sagten die Iren Nein, wiederum machte die EU einige Zugeständnisse, wiederum sagten sie letztlich Ja. Die Regierungen in Frankreich und den Niederlanden verzichteten vorsichtigerweise auf Referenden. Am 1. Dezember 2009 trat der Vertrag von Lissabon in Kraft – genauer gesagt, die beiden Verträge: ein «Vertrag über die Europäische Union» und ein «Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union». Dazu kommt noch eine Charta der Grundrechte. Zusammengenommen etwa 500 Seiten Text. So weit also die etwas verwirrende Geschichte seit 1992. Was genau ist schiefgelaufen? Man kann diese Frage von verschiedenen Seiten her angehen. Einmal beruht die EU bis heute auf völkerrechtlichen Verträgen, die der Zustimmung aller Mitgliedstaaten bedürfen – nach deren eigenen Regeln. Oft genehmigt das Parlament, in einigen Ländern ist eine Volksabstimmung erforderlich, und gelegentlich steht es den Regierungen frei, das Volk zu konsultieren. Um die Zustimmung aller Staaten zu erlangen, müssen in den Vertragsverhandlungen weitreichende Kompromisse gemacht und Ausnahmen zugelassen werden. Das System wird dadurch immer komplizierter und uneinheitlicher, die Entscheidungsverfahren werden undurchsichtiger, die Vertragstexte umfangreicher und unverständlicher. Nur Spezialisten ist es noch möglich, sich zurechtzufinden. Das ist nicht gut, denn «eine immer engere Union der Völker» bräuchte Klarheit, Einheitlichkeit und Gleichstellung der Mitgliedstaaten. In der Sackgasse der immer fortschreitenden Integration 1992 wollte man in Maastricht aus den erwähnten Gründen über eine Wirtschaftsunion hinausgehen und sich stärker der politischen Integration zuwenden. Notwendigerweise gerieten die Institutionen der EU hier auf das Feld der schwergewichtigen, souveränitätsbezogenen Staatsaufgaben, die wir oben erwähnt haben. Die EU betrat «die Innenhöfe der Souveränität». Um die Staaten zu schonen, hat man auf die supranationale Gemeinschaftsmethode verzichtet und ist stattdessen wieder zu intergouvernementalen Verfahren zurückgekehrt. Doch diese sind wegen der Einstimmigkeit meist nicht in der Lage, eine wirksame Politik zu betreiben. Ausserdem verzichtet man auf die Legitimationsquelle des Europäischen Parlaments. Dazu kommt, dass verschiedene Staaten Ausnahmen und Optouts verlangten, also Recht auf «Nichtmitmachen». Das führte dazu, dass zwar vollmundig von einer gemeinsamen Aussen- und Sicherheitspolitik gesprochen wurde, eine solche jedoch bis heute nicht über Ansätze hinausgekommen ist. Von der angekündigten gemeinsamen Verteidigung ist auch nichts zu hören. Nicht einmal eine gemeinsame Einwanderungs- und Asylpolitik vermochte man auf die Beine zu stellen. In die Währungsunion wurden Staaten aufgenommen, die keinesfalls hineingehören, dafür machen andere, die die Bedingungen erfüllen, nicht mit. Die nun offenbar notwendige Fiskalunion wollen einige Staaten gar ausserhalb der Verträge verwirklichen – weil das Vereinigte Königreich nicht mit36

macht. Das ist alles sehr verwirrend und nicht dazu angetan, das Vertrauen der Bürger in diesen Pseudostaat zu stärken, geschweige denn eine unionsweite Solidarität zu schaffen. Ohne ein solches Fundament gibt es aber keinen «Demos», kein die Union tragendes Volk, und damit auch keine eigentliche Demokratie. Kurz und schlecht, die gegenwärtigen Institutionen der EU sind nicht in der Lage, die ihr übertragenen Aufgaben in effizienter und legitimer Weise zu erfüllen. Gleichzeitig ist das System der fehlenden Vertragsgrundlage wegen nicht mehr in der Lage, sich institutionell weiterzuentwickeln. Die Integration ist an einem Punkt angelangt, an dem sich grundsätzliche Fragen stellen: Staatenbund oder Bundesstaat? Verträge oder Verfassung? Supranational oder intergouvernemental? Gleiche Rechte und Pflichten für alle oder variable Geometrie? Fiskalische Eigenverantwortung der Staaten oder Solidarhaftung? Gemeinsame Aussenpolitik oder 27 Sonderzüge? Bisher hat man solche Fragen immer offengelassen, Mittelwege und Kompromisse gesucht, auf eine alles lösende Verfassungsgebung gewartet. Damit aber hat man die Legitimationsgrundlagen zunehmend untergraben, anstelle einer «immer engeren Union» ist ein Flickenteppich entstanden, der an das Heilige Römische Reich deutscher Nation erinnert. Es gibt kein Quentchen Souveränität Der eigentliche Konstruktionsfehler besteht darin, dass man in Europa annimmt, Souveränität wäre beliebig teil- und wieder zusammensetzbar, ein Quentchen in Berlin, ein Quentchen in Brüssel. Doch dem ist nicht so, ein Staat ist entweder souverän oder er ist es nicht. Darauf beruht die internationale Ordnung. Diese Staaten können freiwillig völkerrechtliche Verpflichtungen eingehen, diese aber müssen grundsätzlich kündbar sein. Wenn sie ihre Souveränität partiell und auf Dauer an eine supranationale Autorität abgeben, dann sind sie streng genommen gar nicht mehr in der Lage, für die Verträge geradezustehen, auf denen diese Autorität beruht! Mit Entmündigten macht man keine Geschäfte. Wenn sich Staaten immer enger zusammenschliessen wollen, dann gelangen sie eines Tages an einen Ort mit dem Hinweisschild «Hic Rhodus, hic salta». Die Eidgenossen haben ihren Bund souveräner Staaten 1848 in einen souveränen föderalen Bundesstaat umgewandelt. Offenbar sind die meisten Mitgliedstaaten der Union nicht bereit, einen solchen Sprung zu machen. Und wohl nur weit schwerere Krisen und Bedrohungen als die heutigen könnten daran etwas ändern. Eine zweite Möglichkeit wäre der «Rückbau» auf die Gemeinschaft und den Binnenmarkt. Doch die heutige Generation von Politikern ist noch derart von der Ideologie einer immer fortschreitenden Integration erfüllt, dass sie dazu nicht Hand bieten wird. Das wahrscheinlichste Szenarium ist deswegen weitermachen, durchwursteln, reparieren und aussitzen. Man kann auch lange in die Irre laufen! �


Schweizer Monat 994  märz 2012  Europäische Union II

Europäische Machtspiele Madame Merkel und Herr Sarkozy führen die EU durch die bisher grösste Krise ihrer Geschichte. So weit die offizielle Version. Die inoffizielle: Deutschland und Frankreich ringen gerade um die Vormachtstellung in Europa – auf Kosten der EU. von Filippo Leutenegger

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er Euro ist eine ökonomische Fehlkonstruktion. Unabhängige Regierungen können dank der gemeinsamen Währung ein einziges (Zentral-)Bankensystem benutzen, um ihre Defizite ohne Sanktionen zu finanzieren. Das war schon bei der Einführung des Euro bekannt, aber vor wenigen Jahren wurde man mit dieser Aussage noch als rückwärtsgewandter Nörgler verspottet, der die grosse Chance der europäischen Einigungs- und Friedensidee nicht verstanden hat. Heute geben sogar Eurokraten kleinlaut zu, dass die Konstruktion des Euro nicht zu Ende gedacht war. Die Einführung des Euro hatte freilich nicht nur die Schaffung eines gemeinsamen Währungs- und Wirtschaftsraumes zum Ziel, sondern war in erster Linie ein politisches Projekt. Im Zentrum stand und steht die Geschichte des alten Kampfes zwischen Frankreich und Deutschland um die Vormachtstellung in Europa. Beide Länder demonstrieren zwar bei jeder sich bietenden Gelegenheit einen gemeinsamen Führungsanspruch – in Wahrheit verfolgen sie jedoch unterschiedliche Interessen. Dies erklärt auch, weshalb sie in der Dauerkrise ausser operativer Hektik nicht viel zu bieten hatten. Es fehlen eine klare Lagebeurteilung und eine gemeinsame Strategie. Franzosen wollen Zentralstaat Die Differenzen zwischen den beiden Ländern sind grundlegender Natur. Während die Deutschen wenigstens auf ein Minimum an Haushaltsdisziplin pochen, wollen die Franzosen, dass sich die Europäische Zentralbank (EZB) in den Dienst der Politik stellt und Eurobonds einführt, also direkt und unbeschränkt Staatsanleihen bankrotter Staaten kauft. Die Folgen eines solchen Vorgehens wären eine gewaltige Umverteilung zwischen Ländern mit höheren Defiziten zulasten der Staaten mit weniger verantwortungslosem Haushaltsgebaren, eine Ausweitung der Geldmenge mit zusätzlichem Inflationspotential, die faktische Beseitigung des Steuerwettbewerbs und das Ende des gesunden Druckes auf die Sparpolitik defizitärer Länder. Die Motivation hinter diesen Vorschlägen ist einfach. Frankreich, das wirtschaftlich selber angeschlagen ist, will seine Stellung als erste Geige in Europa politisch retten, indem es eine Vergemeinschaftung der Schulden in einer Fiskalunion mit harmonisierten Steuern und letztlich eine Zentralregierung Europas mit

Filippo Leutenegger ist Ökonom, Nationalrat, Medienunternehmer und Publizist.

weitgehenden Fiskalkompetenzen anstrebt – natürlich unter Führung der Franzosen. Die Zeche dafür zahlen müssten vor allem die Deutschen und die Länder in Nordeuropa, denen es wirtschaftlich weniger schlecht geht. Die Einführung des Euro war zweifellos ein entscheidender Schritt auf dem Weg zu einer europäischen Zentralregierung unter französischer Führung, wie sie Frankreich vorschwebt. Die Franzosen hatten sich schon die ganze Zeit daran gestört, dass die DMark in der Nachkriegszeit faktisch zur Leitwährung Europas avancierte, und fühlten sich gleichsam gedemütigt, weil sie den Wert des kränkelnden Franc dauernd gegen die kraftstrotzende D-Mark verteiFrankreich, das wirtschaftlich digen mussten. Als Helmut Kohl nach dem Fall der selber angeschlagen ist, will Berliner Mauer mit aller seine Stellung als erste Geige Kraft die Wiedervereiniin Europa politisch retten. gung Deutschlands durchboxte, brauchte er für sein Projekt auch die Unterstützung Frankreichs. Für François Mitterrand war dies der Moment für das «historische Gegengeschäft». Die Einführung des Euro war der politische Preis, den die Deutschen für die Wiedervereinigung zu zahlen hatten. Die neue Währungsgemeinschaft war zwar mit den von Deutschland gewünschten Stabilitätskriterien ausgestattet, aber diese funktionierte ohne echte Sanktionsmechanismen und Ausstiegsszenarien, wie von den Franzosen durchgesetzt. Damit hatten die Franzosen, was sie haben wollten, die politische Kontrolle über die deutsche Wirtschaftsmaschine und die Vorherrschaft über die europäische Währung, ohne dass sie dafür die wirtschaftliche Verantwortung übernehmen mussten. Nun rächt sich, dass keine Sanktionen und keine Ausstiegsszenarien für die schwachen Länder durchgesetzt wurden – dies ist der tiefere Grund für die Destabilisierung des gesamten Euroraums. 37


Europäische Union II Schweizer Monat 994  märz 2012

Deutschland unter Führung Angela Merkels sitzt in der Klemme, weil es sich zu lange und unter Zugzwang mit immer neuen Rettungsoperationen durchgewurstelt hat und weder den grundlegenden Um- bzw. Rückbau der Währungsunion anpackt, noch einen EU-Zentralstaat nach französischem Muster haben will. Dafür verkündet Merkel bei jeder Gelegenheit den Durchbruch der Stabilitätsunion: man habe die säumigen Länder Griechenland, Portugal, Irland mit den neuesten Sparvorgaben im Griff. Wobei sie dann jeweils zugleich durch die Blume zu verstehen gibt, dass Deutschland keiner Transferunion zustimmen könne, in der es zur Milchkuh der Bankrotteure werde. Die neuen Defizite der EU-Länder türmen sich auf den schon bestehenden Schuldenbergen, was bloss dazu führt, dass die Spannungen in den bankrotten Staaten zunehmen und Deutschland zunehmend als mächtig und arrogant empfunden wird. Dies sind die Vorboten einer gefährlichen innereuropäischen Entfremdung und emotionalen Eskalation. Den eigenen Handlungsspielraum beschränkt hat Bundeskanzlerin Merkel höchstselbst mit apodiktischen Aussagen wie «Scheitert der Euro, scheitert Europa». Solche Sätze bringen, recht bedacht, Ländern wie Griechenland das historische Dilemma auf den Punkt. Wegen des und Portugal ist kaum schlechten kollektiven Gezu helfen, solange sie in der wissens aus der Kriegszeit Eurozone verbleiben. wollen die Deutschen nicht als schlechte Europäer gelten und halten sich mit aussichtslosen Durchhalteparolen selbst bei Laune. Zugleich ist die deutsche Elite in Angst davor erstarrt, das «Friedensprojekt Europa» zu gefährden, indem sie den deplorablen Zustand des Euro offen anspricht. Rettungsaktion – ein Fiasko Was hat die EU unter Führung Frankreichs und Deutschlands in der Krisenbewältigung bisher zustande gebracht? Abgesehen von einem Beitrag zum Vertrauensschwund nicht viel. Obwohl Griechenland 2009 die EU angelogen und statt des effektiven Defizits von 15 nur 5 Prozent gemeldet hatte, kam es nicht zu einer Klage vor dem Europäischen Gerichtshof. Vielmehr spannte die EU stattdessen einen Rettungsschirm auf, gewährte den Griechen 2011 Rettungskredite, und obendrein wurde den privaten Gläubigern ein Schuldenschnitt von bis zu 50 Prozent verordnet. Athen wurden als Privatisierungszusage nur gerade einmal 50 Milliarden Euro abverlangt, etwa ein Achtel der Nettoschulden – das ist im Vergleich zu dem, was von den osteuropäischen Ländern in den 1990er Jahren verlangt wurde, geradezu lächerlich. Mit dem unseligen «Schuldenschnitt» wollte man den Griechen helfen, erreichte aber das genaue Gegenteil. Man zerstörte das Vertrauen bei privaten Anlegern und damit die Refinanzierungsmöglichkeiten Italiens, Spaniens und Portugals. Die Finanz38

märkte interpretierten nämlich dieses Vorgehen als Muster der künftigen Sanierungen für Länder mit Zahlungsschwierigkeiten. Was bei Griechenland rund 40 Milliarden Euro kostete, würde alleine bei Italien mit einem Verlust von 360 Milliarden zu Buche schlagen. Die unmittelbare Folge davon war ein Streik des Anleihekäufermarktes. Als einzige Käuferin bleibt die EZB übrig, im Sinne des Lender of Last Resort. Damit wird auch klar, wie verzweifelt und festgefahren die Lage ist und wie stark sich die EZB schon unter der Fuchtel der Politik befindet, allen Beteuerungen ihrer Unabhängigkeit zum Trotz. Exit als Chance Aber selbst wenn wie von Zauberhand die Schuldentürme bankrotter Länder getilgt würden, ist Ländern wie Griechenland und Portugal kaum zu helfen, solange sie in der Eurozone verbleiben. Zu sehr stecken sie in einer tiefen Strukturkrise. Ihre industrielle und Dienst-leistungs-Wettbewerbsfähigkeit ist im teuren Euroraum schlicht nicht mehr gegeben. Das Verbleiben in der Währungsunion ist somit mit sehr hohen Kosten und unabsehbaren Risiken verbunden. Deshalb gibt es für sie keine andere Rettung, als aus dem Euro auszusteigen. Das ist im übrigen kein Weltuntergang. Der Exit sollte vielmehr als einzigartige Chance der bankrotten Länder angesehen werden, nicht mehr unter der Fuchtel der EU, der EZB oder des IWF zu stehen und ihr Schicksal wieder in die eigenen Hände zu nehmen. Ein Ausstieg würde die EU durch einen massiven Schuldenschnitt ohnehin mittelfristig erleichtern (auch wenn natürlich einige Gläubiger kurzfristig eine hohe Zeche zu bezahlen hätten), und auch die verbleibenden Euroländer könnten so ihre Belastung reduzieren (auch wenn ihnen zweifelsohne eine schwere Zeit bevorstünde). Die EU hätte darüber hinaus die einmalige Chance, neue Regeln für die übrigen Eurostaaten zu definieren und die Maastrichter Stabilitätskriterien mit griffigen Sanktionen zu versehen. Ob dies aber in der blockierten Machtkonstellation zwischen Frankreich und Deutschland möglich ist, bleibt fraglich. Wahrscheinlich ist vielmehr, dass die EU wegen fehlender Führung und Strategie weiterwursteln wird und die Spannungen zwischen den Krisenstaaten, Deutschland und der EU-Führung weiter zunehmen. Das würde irgendwann auch die Gefährdung des vielgelobten europäischen Friedensprojekts bedeuten. �


Jeder mit jedem.

Vom Nutzen des globalen Marktplatzes Dossier

Bild: Keystone/Peter Klaunzer

Tausch oder Raub René Scheu trifft Matt Ridley 2 (M)eine Entdeckungsreise Vernon L. Smith 3 Das Wunder des Bleistifts Karen Horn 4 Warum wir tauschen Rolf W. Puster 5 Kein «Versager» Wolf von Laer 1

Für die Unterstützung bei der Lancierung des Dossiers danken wir Holcim Ltd. 39


Wieso werden jene, die den Wohlstand erarbeiten, weniger bewundert als jene, die ihn stehlen? Matt Ridley

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IntroDossier

Jeder mit jedem. Vom Nutzen des globalen Marktplatzes

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rzählt Ihre Nachbarin vom begeisterten Stöbern und Feilschen auf dem Bücherflohmarkt, so wird sie bei Ihnen wahrscheinlich Sympathiepunkte sammeln. Erzählt die gleiche Person mit der gleichen Begeisterung, dass sie das gleiche

Buch kürzlich nach einer Online-Recherche bestellte, ist der Sympathiebonus wohl dahin. Warum ist das so? Die Interaktion auf dem

Bücherflohmarkt ist das letzte Glied einer

langen Kette. Ein Autor schreibt ein Buch; ein Verlag lektoriert und gibt es heraus; ein Drucker bringt es in eine materiell und ästhetisch ansprechende Form; ein Zwischen-

händler verkauft es einem Erstbesitzer, der es dann zum Flohmarkthändler bringt; dieser verkauft das Buch unserer Nachbarin zu einem Preis, den sie zu zahlen bereit ist. Im Falle der anonymen Vertriebskette ist der Gang der Dinge bis zum Erstbesitzer derselbe. Danach kommen aber noch viel mehr Menschen ins Spiel: der Erstbesitzer verkauft sein Buch einem Online-Flohmarkt wie momox; dieser verkauft es dann beispielsweise über Amazon an unsere Nachbarin weiter. Abgesehen davon, dass Tausende von Menschen daran beteiligt waren, diese Online-Dienste zu entwickeln, die Server täglich zu warten und die Klimaanlage für den Serverraum einzubauen, wird letztlich das Buch von einer Person eingepackt und versendet; in einem Vertriebszentrum der Post wird es sortiert und zuletzt von einem Pöstler zu Ihrer Nachbarin gebracht. Die menschliche Interaktionskette ist zwar

für den Endverbraucher anonymer, aber

zugleich vielgestaltiger – und sie ist durchaus menschlich. Wieso wird also dem Bücherflohmarkt der Charme menschlicher Wärme attestiert, während globale Märkte als kalt und erbarmungslos gelten? Warum funktioniert der Markt für Konsumgüter mit den heutigen Regeln besser als jener für Immobilien? Und warum glauben viele Menschen, dass

bei einem Tausch der eine gewinnt,

was der andere verliert? Die Skepsis gegenüber abstrakten und weniger fassbaren Tauschplätzen dieser Welt ist anthropologisch verankert, wenn auch nicht wissenschaftlich fundiert. Wir haben dieser Skepsis nachgespürt und besonnene Antworten gefunden, die zu einem Überdenken vieler kursierender Vorstellungen über die Mechanismen globaler Märkte anregen sollen. Die Redaktion 41


Dossier Schweizer Monat 994  märz 2012

Tausch oder Raub

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Ich gewinne, du verlierst. Wer hat, der hat es anderen genommen. Klingt vertraut, oder? Es ist die Räuberlogik. Matt Ridley erklärt im Gespräch, wie die Welt wirklich funktioniert. Und warum wir immer reicher werden, auch wenn wir es nicht merken. René Scheu trifft Matt Ridley

Herr Ridley, auf den Flohmarkt zu gehen und um vergilbte Bücher zu feilschen, ist für die meisten ein tolles Wochenenderlebnis. Dieselben Menschen fürchten sich am Montag vor dem global wirkenden Markt, der in den Medien als grosse anonyme Macht beschworen wird. Warum ist das so? Der Mensch ist schizophren, das ist eine seiner Stärken. Wie sollte er sonst die Wirklichkeit ertragen? Nein, Sie haben natürlich recht: Märkte für kommerzielle Güter, für Hamburger und Frisuren, funktionieren wunderbar. Sie funktionieren nach dem Prinzip des Marktplatzes – es wird

Der Mensch ist schizophren, das ist eine seiner Stärken. Wie sollte er sonst die Wirklichkeit ertragen?

kommuniziert, getauscht, gelacht, alles auf der Basis der Freiwilligkeit. Nur, es gibt da eine verflixte Ausnahme… Einen Markt, der nicht wie ein Markt funktioniert? Genau, einen Pseudomarkt. Mein Kollege Vernon Smith, der ja auch für Sie schreibt, hat in Laborversuchen nachgewiesen, dass ein grosser Unterschied besteht zwischen einem Marktplatz, auf dem man Gemüse oder Antiquitäten kaufen kann, und den Vermögensmärkten. Auf diesen Vermögensmärkten werden Erwartungen gehandelt, nicht Waren. Blasen und Crashes sind 42

deshalb unvermeidlich. Es gibt sie ständig, auch wenn sie nicht bewusst herbeigeführt werden. Auf echten Güter- und Dienstleistungsmärkten kommt es hingegen zu keinen Blasen. Konkreter, bitte. Wenn ich an der Strassenecke für einen Dollar einen Hamburger kaufe, dann machen sowohl ich als auch der Verkäufer ein gutes Geschäft. Vergleichen wir dies mit dem Immobilienmarkt, wie er heute funktioniert. Dieser sollte eigentlich ein Markt für Güter und Dienstleistungen sein, oder? Ist er aber längst nicht mehr. Es gilt hier nicht das einfache Prinzip: verkauf mir dein Haus, ich will darin leben. Es gilt vielmehr das Prinzip: verkauf mir dein Haus, denn es wird bestimmt wertvoller, und ich kann es dann gut weiterverkaufen. Und jener, der es kauft, will es ebenfalls bloss weiterverkaufen. So entstehen Blasen, wie wir alle spätestens seit 2008 wissen. Das Problem dabei: wenn am Ende die Blase platzt, zahlen nicht nur jene den Preis, die fleissig Luft reingepumpt haben. Auch auf Finanzmärkten findet im Prinzip einfacher Handel statt. Jemand bezahlt Geld für eine Aktie, ein anderer bekommt dieses Geld für die Aktie. Worin besteht der Unterschied zum Gemüsemarkt? Gegenfrage: wer kauft heute noch Aktien, weil er an der Firma interessiert ist? Es geht vielmehr um ein Spiel – der Käufer setzt auf fallende oder steigende Kurse. Oft wird mit riesigen Hebeln spekuliert. Täglich wird auf Finanzmärkten mit Volumina gehandelt, die die menschliche Vorstellungskraft

Matt Ridley ist promovierter Zoologe und Autor des internationalen Bestsellers «The Rational Optimist: How Prosperity Evolves» (2010). Von 2004 bis 2007 sass er im Vorstand der Bank Northern Rock.

übersteigen und ein x-faches des Bruttoinlandsproduktes betragen. Dennoch bleibt es ein Tausch: einer verkauft die Aktie, und ein anderer kauft sie. Formal gesehen, ja. Der Unterschied liegt woanders: wenn ich an der Strassenecke für einen Dollar einen Hamburger kaufe, dann machen sowohl ich als auch der Verkäufer ein gutes Geschäft. Beide sind zufrieden. Auf Finanzmärkten verhält es sich nicht so – da gewinnt der eine, was der andere verliert. Es ist ein Nullsummenspiel. Aber eines mit einer volkswirtschaftlich wichtigen Funktion: es geht um die effiziente Allokation von Kapital. Länder ohne Börse können Kapital nicht so effizient verteilen wie solche, die den Kapitalhandel über eine Börse abwickeln. Und natürlich schläft das Geld nie, es arbeitet, es ermöglicht zum Beispiel weniger Vermögenden die Aufnahme von Krediten für kluge Investitionen. Dennoch haben wir in den letzten Jahren gesehen, dass Kapitalmärkte für realwirtschaftliche Rezessionen verantwortlich sein können. Die Vermögenswerte stiegen und stiegen – um dann zusammenzubrechen. Leute verloren Geld, sie verloren damit Kaufkraft, dadurch verlieren andere ihre Jobs und dadurch dann noch mehr Geld.


Matt Ridley, photographiert von Philipp Baer.

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Dossier Schweizer Monat 994  märz 2012

Die ökonomische Krux von modernen Finanzmärkten ist eben, dass Geld kein knappes Gut darstellt. Es lässt sich in unserem System beinahe beliebig vervielfältigen. Ich stimme Ihnen zu. Schauen Sie sich an, was in der Eurozone derzeit passiert. Schauen Sie vor allem auf Spanien, Italien, Portugal und Griechenland. Diese Länder verhalten sich alle anders, sie kümmern sich um unterschiedliche nationale Themen, haben unterschiedliche politische Systeme – und trotzdem sitzen sie nun alle im gleichen Durcheinander. Das Geld war für sie zu günstig. Sie bekamen es zu einem deutschen Zinssatz statt zu einem, der zu ihren nationalen Eigenheiten und Wirtschaften gepasst hätte. Keine der genannten Nationen war nun besonders gierig – das war einfach der unvermeidliche Lauf der Dinge. Als das Geld für die Iren zu günstig war, begannen die Iren, sich gegenseitig ihr Irland abzukaufen. Als das Geld für Island zu günstig war, haben sie kurzerhand die ganze Insel in einen Hedgefonds verwandelt. Das alles sind Symptome genau eines Problems: billiges Geld. Daraus liesse sich schliessen, dass sich die weitverbreitete Abneigung gegen das Prinzip des Marktes auf die Geldpolitik der letzten Jahre zurückführen lässt. Nur hegten die Menschen schon vor den Verwerfungen auf den modernen Finanzmärkten eine grosse Skepsis gegenüber dem Markt. Warum? Weil sie ihn mit der Herrschaft der Mächtigen gleichsetzen. Dabei erliegen sie einem Kurzschluss. Menschen können auf zwei Wegen zu Reichtum gelangen. Entweder sie tun dies durch Parasitismus und Raub – schöne Beispiele sind Piraten, Könige oder Bürokraten. Oder sie tun dies durch Austausch von Dingen und Ideen, so dass beide Tauschpartner Gewinn daraus ziehen. Die meisten Menschen glauben, dass Handel eine Gewinner- und eine Verliererseite habe. «Ich gewinne, du verlierst!» In Wahrheit trifft dieses Schema einzig auf Raub und Diebstahl zu. Dieser Verwirrung kann man beikommen, indem man sich selbst fragt: wenn ich am Zeitungsstand eine Zeitung kaufe – stehle ich? Das Problem ist, dass die Räuber nie ausstarben. Auch zu 44

jenen Zeiten, als der Reichtum bereits vornehmlich durch Tausch erwirtschaftet wurde, wie im alten Griechenland, im Italien der Renaissance oder im Holland des 17. Jahrhunderts, gab es stets den Räuber von nebenan, der einbrach und Leute überwältigte. An irgendeiner Stelle der Geschichte begannen die Menschen, den Räuber zu bewundern – und nicht etwa den Händler! Der Räuber ist stark und bewaffnet, der Händler hat bloss das bessere Argument beziehungsweise Produkt auf seiner Seite. Schauen Sie sich die Geschichten an, die wir uns bis heute erzählen: Alexander der Grosse, Julius Caesar, Napoleon. Alles Diebe! Die Sozialisten reden heute über Händler und Unternehmer, wie dies viktorianische Prinzen schon getan hatten, die sich von ihnen in ihrem Status bedroht sahen. Wieso werden jene, die den Wohlstand erarbeiten, weniger bewundert als jene, die ihn stehlen? Ganz einfach: die Überzeugung ist tief verankert, dass von anderen genommen haben muss, wer es zu Reichtum gebracht hat. Vor der Zeit des Handels und Tausches war es ja tatsächlich so, dass Reichtum, wenn man es denn so nennen will, das Ergebnis eines Nullsummenspiels war: wenn meine Herde mehr Tiere hatte als deine, so war das im Regelfall darauf zurückzuführen, dass wir dich im Kampf besiegt und Hab und Gut an uns gerissen hatten. Es ist die Angst vor dem Räuber, die sich uns eingeprägt hat. Unser emotionales Erbe aus Urzeiten spielt uns bis heute einen Streich. In der Tat. Der Mensch ist ein vorsichtiges Wesen, stets darauf bedacht, dass ihm nichts zustösst. Den Räuber schätzen wir als reale Gefahr ein, die überall lauert. Man könnte also sagen: der Gefahrensinn triumphiert über die Vernunft. Obwohl wir so­ ziale Wesen sind, die gern abgeben und teilen, eine Art Instinkt für den Tausch haben, der uns von anderen Lebewesen unterscheidet, hat sich unsere Psyche eben viel langsamer entwickelt als unser Wohlstand. Es fällt uns bis heute schwer zu erklären, wie es möglich ist, dass sieben Milliarden den Planeten Erde bevölkern und der

durchschnittliche Reichtum eines jeden ein x-faches von dem beträgt, was die paar tausend früheren Menschen hatten. Dabei ist die Erde immer noch dieselbe Erde und der Mensch immer noch derselbe Mensch. Die politisch korrekte Antwort darauf wäre: Sie denken elitär, denn nicht alle profitieren von Ihrer Art zu denken. Das wäre gegenüber unseren Vorfahren zynisch! Wir sind heute so reich wie noch nie in der Geschichte der Menschheit. Und die gute Nachricht ist: Reichtum und Wohlstand wachsen weiter, allerdings nicht unbedingt im Westen, sondern in der neuen Welt, in Afrika, Asien, Südamerika. Die absolute Zahl von Menschen, die von weniger als einem Dollar pro Tag leben, ist seit 1950 trotz Verdoppelung der Weltbevölkerung um mehr als die Hälfte gesunken – auf weniger als 18 Prozent. Innerhalb der gleichen Periode hat sich das Einkommen des durchschnittlichen Menschen verdreifacht. In Europa haben wir gelernt, geradezu eine Art von Gleichgültigkeit gegenüber der ebenso interessanten wie wichtigen Frage nach dem Ursprung unseres Wohlstands zu kultivieren. Ich sehe das aber positiv: es muss einem schon ziemlich gut gehen, bis man an jenen Punkt gelangt, an dem man es müssig findet, sich mit dieser Frage zu befassen. In Europa widmen wir uns lieber der Betrachtung der Einkommens- und Reichtumsunterschiede innerhalb unserer Gesellschaften. Das ist verständlich und legitim, auch wenn uns hier oft unsere Stammzeitpsyche einen Strich durch die Rechnung macht. Was zählt, ist ja nicht, was andere haben, sondern was wir haben. Jene, die soziale Ungleichheiten beklagen, haben in Europa gerade ziemlich viel Rückenwind. Ich weiss. Und ich kann Ihnen leider nicht sagen, woran es liegt, dass man sich angesichts unseres erreichten Wohlstandes nicht sagt: «Gut, ich mag das System nicht vollständig verstehen – aber offenbar funktioniert es.» In armen Ländern mag man den Markt nicht, weil man denkt, er mache nur die Reichen reicher – das Räuberdenken. In reichen Ländern mag man den Markt


Schweizer Monat 994  märz 2012  Dossier

nicht, weil man bereits reich ist und deswegen ein schlechtes Gewissen hat – man sieht sich selbst als Räuber, der anderen etwas weggenommen hat. In Wirklichkeit hilft der Markt den Armen, reicher zu werden. Und er sollte deshalb für jene, die bereits im Wohlstand leben, ein Grund zur Freude sein. Stattdessen spenden wir lieber und beruhigen unser Gewissen, weil wir davon überzeugt sind, dass Wohlstand auf Ausbeutung beruht. Wäre dem so, würden wir heute noch immer in der Höhle hausen! Lassen Sie mich diese unglaubliche Entwicklung verdeutlichen: vor vielen tausend Jahren haben unsere Vorfahren die ersten Faustkeile hergestellt. Keile aus Stein, die vorn scharfkantig geschliffen waren, hinten jedoch halbwegs angenehm in die Handflächen ihrer Benutzer passten. Diese Faustkeile wurden meist von genau einer Person hergestellt – der Designer war also bekannt, er nutzte sein Wissen, um ein möglichst gutes Werkzeug

zu schaffen. Etwa von der gleichen Grösse, aber im Herstellungsprozess von völlig anderer Art, findet sich heute in vielen Handflächen ein anderes Werkzeug: die Computermaus. In diesem weitverbreiteten Gebrauchsgegenstand steckt modernste Technik, und die Benutzung einer Maus ermöglicht heute den Zugang zu Informationen von der ganzen Welt. Und nun der Clou: an der Realisierung einer einzelnen Computermaus haben aber Tausende von Menschen mitgearbeitet – ein Designer, ein Plastikproduzent, womöglich Universitäten, Entwicklungszentren für Präzisionslaser, jemand, der die Farben für die Tasten mischt, ein Zwischenhändler und schliesslich noch der FedEx-Bote, der Ihnen das Gerät nach Hause bringt, weil sie es irgendwo bestellt haben. Während Sie früher mit dem von einer Person hergestellten Faustkeil tagelang an schmalen Bäumen herumschlagen mussten, bis Sie Feuerholz hatten, können Sie heute, in der arbeitsteiligen Gesellschaft, das Feuerholz bequem online bestellen: Sie schaffen dabei nicht

nur die Existenzgrundlage aller, die eine Maus herstellen, sondern auch jene des kanadischen Holzfällers. Das ist das Geheimnis unseres Wohlstandes: niemand ordnet die Arbeitsteilung – sie ordnet sich selbst. Denn sie ist viel zu komplex, als dass einzelne sie ordnen könnten. Schöne Geschichte. Wie würden Sie einem Kind die Arbeitsteilung erklären? Ganz einfach: unsere Vorfahren begannen irgendwann damit, Werkzeuge zu fabrizieren. Nehmen wir an, Vorfahre A braucht 4 Stunden, um einen Speer herzustellen, und 3 Stunden, um eine Axt zu produzieren. Vorfahre B ist geschickter und braucht 1 Stunde für einen Speer und 2 Stunden für eine Axt. Obwohl B beide Geräte schneller herstellen kann als A, lohnt sich für ihn die Arbeitsteilung. Warum? Insgesamt arbeitet A 5 Stunden und B 3. Wenn nun A in 6 Stunden 2 Äxte und B in 2 Stunden 2 Speere produziert und beide ihre Geräte tauschen, haben beide genau eine Stunde ihrer Zeit gespart.

In armen Ländern mag man den Markt nicht, weil man denkt, er mache nur die Reichen reicher. In reichen Ländern mag man den Markt nicht, weil man bereits reich ist und deswegen ein schlechtes Gewissen hat. Matt Ridley

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Dossier Schweizer Monat 994  märz 2012

Und Zeit ist Geld. Genau. Beide haben vom Tausch profitiert! Und sie profitieren je länger, desto mehr, wenn sie sich weiter spezialisieren. Unsere beiden Vorfahren können nun die gewonnene Stunde investieren: sie können noch mehr Speere und Äxte herstellen, oder aber sie können sich Gedanken machen, wie man andere Bereiche des Lebens vereinfachen könnte. Das Schema gilt nicht nur für unsere Vorfahren, es gilt auch heute. Wenn wir füreinander arbeiten – und Tausch beziehungsweise Handel ist nichts anderes –, können wir in weniger Zeit mehr erreichen. Und trotzdem: jedes Mal, wenn wir heute einen Menschen sehen, der reich geworden

Die Einkommensunterschiede nehmen dank dem Wachstum in China und Indien global ab, nicht zu!

ist, schliessen wir instinktiv: er muss seinen Reichtum jemand anderem weggenommen haben. Dabei ist es gerade umgekehrt: jemand, der als Händler und Unternehmer reich geworden ist, hat besonders viele seiner Mitmenschen glücklich gemacht, nur deshalb haben sie ihm ja freiwillig ihr Geld gegeben. Unser Gehirn ist wohl zu einfach gestrickt, um solche Zusammenhänge intuitiv zu begreifen. Und ein Schulfach «Markt und Handel» wurde bisher nicht eingeführt. Gute Idee, das wäre wirklich ein Fortschritt! Den Menschen gibt es seit knapp 200000 Jahren, die Idee des Handelns ist hingegen jüngeren Datums. Wir begreifen nicht, was wir seit einigen tausend Jahren ständig tun. Und wir tun es immer weiter – und begreifen immer noch nicht, was wir tun. Das ist schon ziemlich verrückt. Ethik und Moral sind Begriffe, die hoch im Kurs stehen. Wie steht es Ihrer Ansicht nach um die ethischen Qualitäten des Marktes? Schauen wir die Sache historisch an. Es 46

gibt keinen Zweifel daran: Tausch und Handel haben extrem viel dazu beigetragen, dass unser Zusammenleben «menschlicher» geworden ist. Die Menschen wurden von der Geissel der Armut befreit, und das Wohlstandsgefälle hat sich positiv verändert: wo früher nur einige wenige reich waren und alle anderen mit Sicherheit arm blieben, bestehen heute Chancen zum Aufstieg, die Millionen Menschen nutzen können. Handel löst Kriege ab, er löst alte, überkommene Denkmuster ab, und weltweiter Handel sorgt sogar dafür, dass Vorurteile über andere im Rückzug begriffen sind, weil die Handelspartner sich besser kennenlernen. Frei nach Voltaire: Menschen, die sich kürzlich noch gegenseitig umbringen wollten, sitzen nun gemeinsam in einem Boot, weil sie die gleichen Aktien besitzen? Kein Sozialarbeiter der Welt hätte sie zusammengebracht, der Markt hingegen schon. Ich behaupte, alle soeben aufgezählten Leistungen des Marktes, die unser globales Zusammenleben erleichtern und verbessern, haben das Prädikat «ethisch» verdient. Man kann vor diesem Hintergrund zu Recht sagen: die Idee, Marktwirtschaften produzierten Egoismus und Rücksichtslosigkeit, ist schlicht falsch. Der Schweizer von heute ist nicht egoistischer als jener im Mittelalter, im 17. Jahrhundert oder in der Sowjetunion. Das gilt für jedes Land der Welt. Die Einkommensunterschiede nehmen dank dem Wachstum in China und Indien global ab, nicht zu! Betrachtet man nur die grossen Industrieländer, so stimmt die letzte Aussage nicht. Untere und obere Einkommen wachsen zwar, aber nicht gleich schnell – also vergrössert sich der Abstand. Richtig. Der Grund dafür liegt aber nicht im Freihandel. Die Einkommensunterschiede nehmen zu, weil wir es hier mit dem sogenannten «Crony Capitalism» zu tun haben: einem eng verflochtenen Netz zwischen privaten Unternehmen und dem Staat. Subventionen, Schutzzölle, Vergünstigungen für Lobbygruppen. Die einen profitieren, die anderen bezahlen, Sie kennen das.

Das heisst, wenn wir uns in den Industrieländern über zu viele Egoisten beschweren, schiessen wir am Schuldigen vorbei, wenn wir auf den Markt zielen? Mit Sicherheit. Aber bleiben wir präzise: es ist nicht Aufgabe des Marktes, ethisches Handeln bereitzustellen. Respekt für das Gegenüber ist ein «Nebenprodukt» der funktionierenden Marktwirtschaft. Beim Umgang mit Fremden hat man einfach einen Vorteil davon, diesen möglichst freundlich zu begegnen – erst recht, wenn man mit ihnen Geschäfte machen will. Altruismus, Sympathie und Freundlichkeit gibt es aber selbstverständlich auch jenseits der Wirtschaft, vor allem unter Bekannten und Freunden. Wir verlangen ja schliesslich nicht für jede Nettigkeit eine Gegenleistung. Man kann nun versuchen, diese Freundlichkeit zu verbreiten – wie das die Religionen häufig tun –, allerdings mit geringer Aussicht auf Erfolg. Schon Adam Smith wusste: wer die Menschen menschlicher machen will, appelliert besser an sein Selbstinteresse als an seine Ideale. Wer das heute öffentlich ausspricht, ist ein Unmensch. Sie machen nicht den Eindruck, ein solcher zu sein. Natürlich wäre es schön, wenn alle wie Mutter Teresa handelten: «Es kostet mich etwas, aber es tut dir gut.» Grossartig, aber in dieser Form selten. Der Handel kombiniert nun beide Modelle, er gleicht die Interessen aus. Im Sinne eines «Ich gewinne, du gewinnst!» Und das Beste: im Gegensatz zu den Extremen Raub und Altruismus ist er ein Schema, das nicht nur ethische, sondern auch wirtschaftliche Vorteile für unsere Zukunft verspricht. �


Migration steuern –

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22. internationales Europa Forum Luzern KKL Luzern — Öffentliche Veranstaltung Montag, 23. April 2012 17.45– 20.00 Uhr — Symposium Dienstag, 24. April 2012 09.00 bis 18.00 Uhr

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Dossier Schweizer Monat 994  märz 2012

(M)eine Entdeckungsreise

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Er ist das Kind einer Bauernfamilie, die in der Grossen Depression ihren Hof verliert. Er hat keinen Grund, den Markt zu mögen. Doch als er zu experimentieren beginnt, findet er heraus, wie sich Menschen auf Märkten wirklich verhalten. Nobelpreisträger Vernon L. Smith über Erkenntnisse seiner Forschung. von Vernon L. Smith

I

n ungewöhnlichen Zeiten wie der aktuellen grossen Rezession oder der Depression in den 1930er Jahren lässt sich feststellen: Märkte und Unternehmen werden dämonisiert, der «Klassenkampf» nimmt zu. Diese Aufwallungen entspringen einem natürlichen Gefühl von Wut, die sich einstellt, wenn sich jemand äusseren Umständen jenseits seiner Kontrolle ausgeliefert sieht. Als vernunftbegabte Spezies wollen wir glauben, dass solch schreckliche Umstände beherrschbar sein müssen; es kommt bloss darauf an, die Kontrolle in die Hände

Die Neugierde und Bildung meiner Eltern war sozusagen meine Startrampe.

von Leuten zu geben, die durch Vernunft geleitet sind und der «richtigen» politischen Linie folgen. Die schlechte Nachricht ist leider, dass diese Idealvorstellung Wissen und Macht von Menschen übersteigt. Unser Wissen ist zu beschränkt, als dass wir in der Lage wären, Risiko und Unsicherheit in unserem kollektiven Leben zu vermeiden. Unser Feind hiess «Kapitalismus» Ich bin während der Depression inmitten einer sozialistischen Familie und eines sozialistischen Freundeskreises aufgewachsen. Unser Feind hiess «Kapitalismus», er war die von uns ausgemachte Wurzel von Ungleichheit, Stagnation, Armut und 48

Krieg. Meine Eltern verloren 1934 ihre Farm in Kansas in einer Zwangsvollstreckung an ihren Hypothekengläubiger, als ich sieben Jahre alt war. Die Früchte des Zorns haben sie am eigenen Leib erfahren. Verborgen blieb meinen Verwandten und Freunden allerdings zunächst, dass die typische Hypothek grösser war als der Betrag, den der Gläubiger mit dem Verkauf der als Pfand hinterlegten Sicherheit – in unserem Fall die Farm – eintreiben konnte. Es entstand, anders gesagt, ein totaler Wertverlust, der schliesslich zwischen Gläubiger und Schuldner aufgeteilt wurde. Beide unter dem Wertverlust leidenden Seiten mögen sich wehmütig in Erinnerung gerufen haben, was Polonius in Shakespeares «Hamlet» sagt: Entlehne nicht und leih auch nicht; beim Leihen Geht oft das Geld verloren und der Freund, Und Borgen stumpft den Sinn fürs Sparen ab.1 Aber Wehmut war die Sache meiner Eltern nicht. In solch schwieriger Lage war in meiner Familie eine andere Reaktion vorgesehen: «we shall overcome» – wir müssen, wir werden das überwinden. Wir profitierten vom Privileg, in einer freien Gesellschaft zu leben, in der jeder aus dem Gefühl des Unterdrücktseins herauswachsen kann, indem er die Gelegenheit ergreift, die sich ihm bietet.2 Mein grosses Glück dabei war, dass ich motivierte Eltern hatte, die ihre Sprachkenntnisse aus der achten Klasse zu lebenslangem Lernen nutzten.

Vernon L. Smith ist Professor für Ökonomie und Recht an der Chapman University. Er gilt als einer der Pioniere der experimentellen Wirtschaftswissenschaft und hat 2002 zusammen mit Daniel Kahnemann den Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaft erhalten.

Die Neugierde und Bildung meiner Eltern war sozusagen meine Startrampe, und ich war der erste aus dem erweiterten Familienkreis, der sowohl das College abschloss als auch höhere Diplome erlangte.3 Der Beginn einer langen Entdeckungsreise Auf dem College begann ich mit einem Studium der Natur- und Ingenieurswissenschaften. Doch die Depression hatte offenbar dauerhafte Spuren in meinen Gehirnwindungen hinterlassen, und so entschied ich mich schliesslich, Ökonomie zu studieren. Erst hier entdeckte ich den Marktplatz als Ort von komplexen menschlichen Interaktionen. Als ich 1955 meine Stelle als Assistenzprofessor an der Purdue-Universität antrat, meinte es das Schicksal wiederum gut mit mir. Ich hatte viele junge Kollegen um mich herum, die einen offenen Geist besassen und mich dabei unterstützten, in der Forschung und Lehre neue Wege zu gehen. Schon früh begann ich mich ausserhalb der vertrauten Bahnen unserer akademischen Ausbildungen in Chicago, Harvard, Stanford, Oxford und Johns Hopkins zu bewegen. Ich gab als Assistenzprofessor einführende Kurse über die Grundlagen der Ökonomie. Als ich meinen Studierenden den Zusammenhang zwischen den traditionellen


Schweizer Monat 994  märz 2012  Dossier

Gleichgewichtstheorien und den Entscheidungen und Handlungen realer Menschen auf den Marktplätzen dieser Welt zu erklären versuchte, fühlte ich mich unwissend. Die ökonomische Theorie beschäftigte sich mit Geschichten von statischen Gleichgewichtszuständen – und nicht mit Entdeckungsprozessen, Wandel und ökonomischer Evolution. Aber genau diesen Ent­d eckungsprozessen wollte ich unter realen Bedingungen auf den Grund gehen. So begann ich mit meinen Experimenten. Der Leser möge sich vorbereiten – nun folgt ein wenig Ökonomie von der Forscherfront. Experiment I: Gütermarkt funktioniert Ich griff auf die aus Gütermärkten bekannten Regeln von Geldkurs (zu dem ein Marktteilnehmer bereit ist zu kaufen) und Briefkurs (zu dem ein Marktteilnehmer bereit ist zu verkaufen) zurück, um in einer Laborumgebung zu erforschen, wie die Versuchsteilnehmer in einem einfachen Markt von Angebot und Nachfrage agieren. Jeder Versuchsteilnehmer kannte dabei einzig den Preis, zu dem er zu kaufen bzw. zu verkaufen bereit war. Der Käufer profitierte, wenn er unter Wert kaufte; der Verkäufer profitierte, wenn er über Wert verkaufte. Oder im ökonomischen Jargon: in dieser Umgebung zielt der Käufer mit jedem Tausch auf eine Konsumentenrente, der Verkäufer hingegen hat es in jedem Tausch auf einen Produzentenüberschuss abgesehen. Zu meiner Überraschung, und im Widerspruch zu den vorherrschenden Lehren der Ökonomie, tendierten die Teilnehmer durch wiederholte Versuche im Tauschen rasch dazu, sich dem Gleichgewichtspreis anzunähern, den die Theorie voraussagte – ein Ergebnis, das beiden Parteien unbekannt war, von der Gruppe aber immer wieder unbeabsichtigt gefunden wurde. Die Erkenntnisse dieser Experimente führten während der 1960er und 1970er Jahre zu einem schleichenden, wenn auch unbeabsichtigten Wandel meines eigenen Denkens. Experiment II: Vermögensmarkt tendiert zu Preisblasen In den 1980er Jahren begann ich zusammen mit meinen Co-Autoren eine gänzlich

andere Art von Marktplatz zu entdecken. Wir führten Experimente durch, in denen Teilnehmer Vermögenswerte tauschen, die während des ganzen Zeithorizonts eines Experiments sozusagen leben und eine Dividende abwerfen. In jeder Periode des Experiments erhält jede Person pro Einheit einen Ertragswert (eine Cash-Dividende) ausbezahlt, der von den Einheiten abhängt, die sie am Ende der Zeitperiode hält: der Wert des Guts entsteht durch das Halten (oder Vermieten), nicht durch dessen Konsum. Gleichzeitig sind die Teilnehmer frei, so viele Einheiten zu kaufen oder zu verkaufen, wie sie wollen. Die Vorstellung war, dass die Teilnehmer rational zu einem Preis handeln würden, der sich in der Nähe des «Basiswerts» einer Einheit bewegte, sprich nahe dem durchschnittlichen Ertragswert einer Einheit pro Periode multipliziert mit der Anzahl verbleibender Perioden. Je weniger Perioden bzw. Perioden mit Dividendenzahlungen im Laufe des Experiments übrig blieben, desto tiefer hätte der Preis sein müssen, zu dem die Teilnehmer die Güter handelten. Die Versuchsteilnehmer taten dies überraschenderweise jedoch gerade nicht. Die Preise nahmen zeitweise zu. Wir stellten Preisblasen und Crashs fest – Entwicklungen, die offenkundig vom vorausgesagten Pfad abnehmender Werte abwichen. Die naheliegende Frage war sodann: Welche Bedingungen würden diese nicht nachhaltigen, «irrationalen» kollektiven Abweichungen eliminieren? Wir führten das Experiment wieder und wieder unter immer neuen Bedingungen durch. Dabei zeigte sich: was in erster Linie zählt, ist die Erfahrung. Bringt man die Teilnehmer zu zwei weiteren Versuchen ins Labor, werden sie beim dritten Mal in der Nähe des Basiswerts tauschen. Diese Erkenntnis war wenig ermutigend, denn auf den Märkten der Welt kann man den Leuten keine Erfahrung mit auf den Weg geben und gleichzeitig ihre Umstände konstant halten. So nützlich es wäre: man kann nicht alle Menschen so lange in eine Wiederholungsschleife der goldenen 1920er Jahre, der «roaring twenties», und des darauffolgenden Leidens der Depression versetzen, bis sie ihr Verhalten anpassen.

Also begannen wir damit, die Bedingungen zu variieren, zu denen sich die Teilnehmer Geld leihen konnten, oder wir veränderten die kursierende Geldmenge im Verhältnis zu den getauschten Einheiten an Vermögenswerten. Das Resultat: je mehr Geld bzw. Kredit im Umlauf waren, desto grösser waren die Preisblasen. Schliesslich versuchten wir, anstelle einer Cash-Dividende am Ende jeder Tauschperiode einen Pauschalbetrag am Ende des Experiments auszuzahlen, wiederum in Abhängigkeit davon, wie viele Anteile ein Teilnehmer zu diesem Zeitpunkt hielt. Und siehe da: plötzlich stellten wir keine Preisblasen mehr fest! In unseren vorigen Experimenten wurden also Blasen nur aufgeheizt durch die Verfügbarkeit von Geld bzw. durch die Menge an «Liquidität», die in den Markt floss. Experimentalwissenschafter fragen in solchen Fällen stets, ob das neue Resultat nicht auf die Auswahl der Versuchsteilnehmer zurückzuführen sei. Also führten wir das Experiment statt mit Studierenden auch mit Kleinunternehmern sowie mit diversen

Die Frage war: Welche Bedingungen würden die nicht nachhaltigen, «irrationalen» kollektiven Abweichungen eliminieren?

Gruppen von mittleren Kaderleuten durch. Einmal rekrutierten wir gar eine Gruppe von Tradern des ausserbörslichen Handels. Es half alles nichts: wir stellten unter den alten Bedingungen immer noch dieselben Preisblasen fest. Die Erfahrungen dieser Experimente führten mich letztlich zu einer neuen Interpretation der Rolle, die Märkte in der Grossen Depression wie auch in der derzeitigen Krise spielen. Experiment II und die grosse Rezession Bevor ich erläutere, wie die Veränderung von Regeln unverantwortliches und kurzfristiges Verhalten förderte, möchte ich betonen, dass sich die aktuelle Rezes49


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sion wohl am treffendsten als Bilanzkrise von privaten Haushalten und Banken umschreiben lässt. Die historisch gewaltige Immobilienblase in den USA von 1997 bis 2006 ging einher mit einer Finanzierung durch Hypothekarkredite. Immobilien sind die langlebigsten Wirtschaftsgüter, die zum Zweck des Konsums hergestellt werden, und die Käufer bauten auf eine Expansion günstiger Kredite, um diese Immobilien zu erwerben, vor allem in den schäumenden drei Jahren von 2003 bis 2005, als der CaseShiller-Hausindex um 35 Prozent anstieg. Als die Häuserpreise dann im Jahr 2006 zu stagnieren bzw. zu sinken begannen, waren viele Hausbesitzer, die zur Finanzierung ihrer Kredite auf steigende Häuserpreise angewiesen waren, nicht mehr in der Lage, ihre Kredite zu refinan-

zieren. Ende 2006 nahm die Zahl von Hausbesitzern, die den Zahlungsverpflichtungen ihrer Hypotheken nicht mehr nachkommen konnten, rapide zu. 4 Die Folge war ein unkontrollierter Absturz der Immobilienpreise. Weil die Hypotheka­r­ kredite von den Banken vergeben wurden, sanken die Vermögenswerte der Banken im Verhältnis zu ihren Verpflichtungen aus Einlagen, und so erlitt das Bankensystem ein Abschmelzen an Kapital, was freilich bloss den Kapitalrückgang in den Haushalten widerspiegelte. Und wenn das Kapital von privaten Haushalten knapp oder gar negativ ist, mit weiter fallender Tendenz, dann sind die Menschen nicht in Stimmung, Geld auszugeben – und Banken sind angesichts dieser Tendenz nicht in Stimmung, Geld auszuleihen.

Tatsächlich hat der Immobilienmarkt eine enorm wichtige Bedeutung für das Wohlergehen einer Volkswirtschaft. Unsere Untersuchung der letzten 14 Rezessionen, inklusive der Grossen Depression, hat gezeigt, dass – trotz der unterschiedlichen Stärke der Rezessionen – in 11 von 14 Fällen die Ausgaben für Neubauten zurückgingen, während nachhaltige Erholungen der Wirtschaft stets mit einer Erholung der Ausgaben für Neubauten einhergingen. So können wir also festhalten: das Markt­ verhalten in der Immobilienwelt (und in Märkten für andere langlebige Güter!) weist bemerkenswerte Parallelen zu den Experimenten im Labor auf. In beiden Umgebungen beobachten wir ein ähnliches menschliches Verhalten, das sich in den grundlegenden Entscheidungsprozessen

In unseren Experimenten wurden Blasen nur aufgeheizt durch Verfügbarkeit von Geld bzw. durch die Menge an «Liquidität», die in den Markt floss. Vernon L. Smith

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zeigt. Und es sind die langlebigen Güter – das ist der springende Punkt –, die die Quellen der Instabilität einer Volkswirtschaft darstellen. Der entscheidende Unterschied In der Ökonomie wird oft zu wenig klar zwischen langlebigen Gütern und Konsumgütern unterschieden. Das ist in der Tat ein Problem, denn je nachdem funktioniert der Markt anders. In der Volkswirtschaft sind die meisten Güter aus privater Produktion kurzlebige und konsumierbare Güter – denken wir nur an Nahrungsmittel und Dienstleistungen.5 Märkte für diese konsumierbaren Güter funktionieren so, wie wir dies in unseren frühen Experimenten gesehen haben; es sind Märkte, in denen Käufer und Verkäufer mittels Versuchsprozessen den von der Gleichgewichtstheorie vorausgesagten Preis finden. Und der hohe Anteil kurzlebiger Konsumgüter entspricht ihrem stabilen Verhalten in einer Volkswirtschaft. Umgekehrt machen langlebige Güter einen geringeren Anteil der Volkswirtschaft aus. Das Problem liegt also nicht in ihrem Anteil, sondern in ihrer Volatilität. Und hier stossen wir auf den Ursprung des schlechten Rufes von Märkten im allgemeinen. Die Erkenntnisse und Schlussfolgerungen über unterschiedliches Verhalten in verschiedenen Märkten bedeuten, dass es anstelle einer allgemeinen Dämonisierung einen differenzierten Fokus auf die Krisenherde einer Ökonomie braucht. Eine Eigenschaft von Vermögensblasen ist es, dass eigentlich keiner der Teilnehmer wirklich schuldlos ist. Statt nach Schuldigen sollte man darum nach Lösungen suchen – und nach den Ursachen im Verhalten der Menschen. Blasen in Vermögensmärkten sind wie eine Krankheit, die durch die selbstverstärkenden Erwartungen steigender Preise übertragen wird: hier treffen wir auf den wahren Feind, und der Feind sind wir selbst. Käufer, Verkäufer, Schuldner, Banken, Kreditgeber von Hypotheken, Investoren, öffentliche Wohnungsvermittler, Emittenten von «Versicherungen» auf Hypothekarderivate – sie alle glaubten während der letzten Immobilienblase, dass die Preise

weiter steigen würden. Und nach dem Crash folgten die Schuldzuweisungen. Der Ruf des Marktes litt. Derweil fuhr die überwiegende Mehrheit von Märkten fort, zuverlässig, lautlos und täglich Wohlstand zu schaffen, indem sie den Menschen die Freiheit gaben, nach der Befriedigung ihrer Bedürfnisse zu streben. Allein, diese Märkte sind nicht Gegenstand der Medienschlagzeilen. Gütermärkte funktionieren ziemlich effizient Im Fokus der Kritik stehen volatile Vermögensmärkte. Und mit ihnen Vermögenswerte als solche. In der Tat: wem gehört ein Gut, das mit Krediten in der Erwartung erworben wurde, dass dessen Preis steigt? Wer bekommt für was ein Darlehen? Und wem gehört das Geld, mit dem dieser Kredit vergeben wurde? Hier wird eine Eigentumsproblematik sichtbar, die uns im Zuge dieser Krise weiterhin beschäftigen wird. Gerne geht dabei vergessen, dass die Verbrauchermärkte für nicht langlebige Güter selbst während der Krise einwandfrei funktionierten – und dies auch weiterhin tun werden. Sie sind nicht volatil und beruhen auf klaren Eigentumsverhältnissen. So lässt sich auch feststellen: private Eigentumsrechte werden für die leistungsstarken Verbrauchermärkte nicht in Zweifel gezogen. Sicherlich, es gibt stets Fragen zur Sicherheit von Konsumgütern, zur Transparenz in der Kennzeichnung, zu den Rechten der Verbraucher, zur Kontrolle von Drogen. Aber all diese Fragen beschäftigen sich nicht damit, wie wir Krisen von der Art der aktuellen Bilanzrezession verhindern können. Warum nicht? Eben weil die Märkte für Konsumgüter – und das sind über 75 Prozent der ökonomischen Leistung – ziemlich effizient funktionieren und nie eine Quelle der volkswirtschaftlichen Instabilität waren bzw. sind. In diesen Märkten passen sich Eigentumsrechte leicht an veränderte Kulturen und Technologien an, und sie arbeiten gleichsam unerbittlich daran, Menschen wirtschaftlich besserzustellen. Es sind die anderen 25 Prozent, die langlebigen Gebrauchsgüter, insbesondere

die kreditfinanzierten Häuser, die eine ständige Quelle der Instabilität darstellen. Und sie sind die Krisenherde, für die wir Lösungen finden müssen. Die Frage lautet deshalb: Haben wir die richtigen Regeln für unseren Immobilienhypothekenmarkt? Ich bin der Ansicht, dass wir sie nicht haben. Wir hatten in der Vergangenheit bessere Regeln für den Hypothekenmarkt als während der jüngsten Immobilienblase – aber wir haben sie irrtümlicherweise verändert bzw. aufgegeben. Um zu verstehen, was ich meine, ist es wichtig, auf zwei grosse regulatorische Veränderungsprozesse zurückzukommen, die ihren Ursprung in den 1920er Jahren und der darauf folgenden Depression hatten: 1. Veränderungen auf den Wertpapiermärkten, insbesondere veränderte Regeln für hinterlegte Sicherheiten zur Aufnahme von Krediten (margin rules): diese Regeln haben uns gute Dienste geleistet und wurden über die Jahre beibehalten. 2. Veränderungen auf Hypothekenmärkten, insbesondere veränderte Regeln für die Amortisierung von Hypotheken (mortgage amortization rules): die Veränderung dieser Regeln hat massgeblich zur Immobilienblase beigetragen. I. Sicherheitenregeln gefunden und beibehalten Im Zuge des Dotcom-Crashs von 2000 bis 2002 sanken die Aktienkurse um zehn Billionen Dollar, ohne dass dieser Wertverlust negative Auswirkungen auf die Bilanzen der Haushalte und Banken gehabt hätte; es folgte nur eine milde Rezession im Jahr 2001, die den schwachen privaten Investitionen in Nichtwohnimmobilien zuzuschreiben ist. Und auch der enorme Börsencrash vom 19. Oktober 1987 hatte keine Rezession hervorgebracht. Warum? Weil die Nutzung von Bankkrediten für Investitionen in Wertpapiere eingeschränkt war. Eineinhalb Jahre vor dem Börsencrash im Oktober 1929 hatten private Broker damit begonnen, die hinterlegten Bar-Sicherheiten für den Kauf von Aktiendarlehen zu erhöhen, von 25 auf 50 Prozent, um Aktien der besten Unternehmen zu kaufen (der Prozentsatz war noch höher für riskantere 51


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Aktien). Vier Jahre nach dem Crash verpflichtete die New Yorker Börse zum ersten Mal in ihrer Geschichte alle angeschlossenen Broker, die Regel von mindestens 50 Prozent Sicherheitsleistung auf all ihre Kundenkonten anzuwenden. 1934 übernahm dann der SEC Act diese private Erfahrung und Lehre ins Zivilrecht. Die Folge dieser Veränderung der Regeln ist klar: der primäre Schaden von Börsencrashs wird auf jene Investoren beschränkt, die für die Blase verantwortlich sind; die externen finanziellen Folgen für Banken und für die Volkswirtschaft sind insgesamt minim. II. Amortisierungsregeln gefunden und im Stich gelassen Als 1929 die Grosse Depression ausbrach, waren die Ausgaben für neue Immobilien gegenüber dem Höchststand von vier Jahren zuvor bereits um 37 Prozent zurückgegangen. Obwohl amerikanische «Savings and Loan»-Banken lange praktisch

Haben wir die richtigen Regeln für unseren Immobilien­hypo­thekenmarkt? Ich bin der Ansicht, dass wir sie nicht haben.

alle Hypotheken amortisiert hatten, waren zwischen 1925 und 1929 85 Prozent der Hypothekenkredite von Versicherungen und 88 Prozent von Geschäftsbanken eigentliche Darlehen, bei denen nur Zinsen gezahlt wurden bzw. die nur zum Teil amortisiert wurden. 6 Wie in der aktuellen Krise bedeutete dies, dass am Ende der Leihfrist eine grosse geballte Zahlung anstand. Darüber hinaus lag die durchschnittliche Laufzeit einer Hypothek bei nur drei Jahren. Die Erfahrung der Depression führte zu einer dramatischen Veränderung dieser leichtfertigen Praxis sowie zu neuen Rechtsvorschriften über die Bedingungen, zu denen eine Hypothek aufgenommen werden konnte. In den späten 1930er Jahren waren bloss noch 10 Prozent der Hypothekendar52

lehen nicht vollständig amortisiert. Hohe Standards sowohl für Hypotheken des Bundes als auch für jene der privat finanzierten Immobilien blieben die Norm über Jahrzehnte, doch in den 1990er Jahren begannen sie – wegen eines wachsenden politischen Konsenses und einer weitverbreiteten privaten Finanzierungshilfe – zu erodieren. Der Konsens bestand darin, dass die amerikanische Gesellschaft aggressiver in der Hypothekenvergabe an Familien mit niedrigem bis mittlerem Einkommen tätig sein sollte. «Jedem Amerikaner sein Haus» – so lautete das Credo. Es wird wieder nach oben gehen Dieser amerikanische Versuch, Menschen mit bescheidenen Mitteln zu einem Eigenheim zu verhelfen, ging nach hinten los. Zwar wurden die Erwartungen der Menschen geschürt, doch der Versuch ist definitiv fehlgeschlagen. Die neue Politik hat trotz bester Absichten den meisten Menschen am Ende sogar mehr geschadet als genutzt. Vielleicht hat die ganze Geschichte mit dem zu tun, was Polonius sagte: «Und Borgen stumpft den Sinn fürs Sparen ab.» Das werden wir allerdings nie sicher wissen. Was also ist die Quintessenz? Wenn ich abschliessend einen Blick auf die Geschichte und die Daten aus dem Labor werfe, so bin ich ziemlich zuversichtlich, dass die aktuelle Episode des «Klassenkampfs» ebenso vorübergehen wird wie die Reaktion der Wut, die es bloss auf einen Schuldigen ab-

gesehen hat. Die wirtschaftliche Besserstellung des Menschen – gemessen am durchschnittlichen Wohlstand und der Verringerung der wirtschaftlichen Ungleichheit – ist seit etwa 1800 rasant vorangeschritten. Die gute Nachricht ist: sie dürfte nach mehreren Jahren mit unterdurchschnittlichem Wachstum im Zuge der aktuellen grossen Rezession weitergehen. Und vielleicht lernen wir ja doch aus der Geschichte und nutzen unser erworbenes Wissen über das Verhalten in Märkten dazu, uns vor uns selber zu schützen – und uns selber zu helfen. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Florian Rittmeyer

1 «Neither a borrower nor a lender be, For loan oft loses both itself and friend, And borrowing dulls the edge of husbandry.» Deutsche Übersetzung von Ludwig Seeger, 1865. 2 Aber wie meine Mutter mich lehrte, waren die Chancen für Schwarze nicht gleich, und sie kämpfte gegen rassistische Diskriminierung viele Jahre vor dem wegweisenden Kansas-Fall «Brown vs Board of Education of Topeka» von 1954 und den folgenden Bürgerrechtsgesetzen von 1964. 3 Siehe Vernon L. Smith: Discovery. A Memoir. Bloomington: AnthorHouse, 2008. 4 Steven Gjerstad and Vernon L. Smith: From Bubble to Depression? In: The Wall Street Journal, April 6, 2009 sowie Steven Gjerstad and Vernon L. Smith: Monetary Policy, Credit Extension, and Housing Bubbles: 2008 and 1929. In: Critical Review, Volume 21 (2009). S. 269–300. 5 Wenn man vom Bruttoinlandsprodukt (BIP) die Staatsausgaben abzieht, erhält man das Bruttoprivatprodukt (gross private product). Der Grossteil, über 75 Prozent, dieses Privatprodukts setzt sich aus kurzlebigen Konsumgütern zusammen. Und dieser Anteil bleibt sowohl in Phasen der Rezession wie auch der Prosperität mehr oder weniger stabil. Die prominente Ausnahme ist jedoch die Grosse Depression, als die Ausgaben für kurzlebige Güter im Gleichschritt mit dem BIP zurückgingen. 6 Leo Grebler, David M. Bland und Louis Winnick: Capital Formation in Residial Real Estate: Trends and Prospects. Princeton University Press, 1956. S. 231.


Schweizer Monat 994 märz 2012  Dossier

Das Wunder des Bleistifts

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Kein einzelner Mensch weiss genau, wie ein Bleistift hergestellt wird. Und doch ist es das normalste Schreibgerät der Welt, das täglich millionenfach produziert, gekauft und verkauft wird. Wie ist das möglich? von Karen Horn

D

ie amerikanische Immobilienkrise. Dann die globale Finanz- und Wirtschaftskrise. Und nun die Staatsschuldenkrise. Viele Menschen argwöhnen, dass die Mechanismen der Wirtschaft grundlegend fehljustiert seien. Sie kreiden heutige Missstände den Wirtschaftswissenschaften ebenso an wie der Bankenlobby. Hatte die Linke also doch recht? War der ganze «neoliberale» Forderungskanon von Privatisierung bis

Wieso vertrauen wir Fremden gerade so, als wären sie unsere nächsten Nachbarn? Ganz einfach: weil es sich lohnt.

Deregulierung ein grosser Irrtum? Ist der Menschheit die Steuerung des wirtschaftlichen Geschehens entglitten? Das Ganze ist so komplex und unübersichtlich geworden und sieht dermassen gefährlich aus, dass sich viele danach sehnen, ein kleineres Rad zu drehen. Es stimmt: Märkte stecken voller Risiken. Und sie sind eine schwer durchschaubare Angelegenheit. Genau hierin besteht ihre Tragik – kaum jemand versteht sie, und deshalb fällt es vielen schwer, sie zu mögen. Die spontane, arbeitsteilige Koordination auf freien Märkten erregt Misstrauen, weil sie sich bewusster menschlicher Planung entzieht. Insofern hat sie zugleich etwas Staunenswertes. Friedrich August von Hayek sprach 1974 in seiner No-

belpreisrede von einem «marvel» – einem Wunderwerk. Recht bedacht, ist die Arbeitsteilung durch Märkte eine Zivilisationsleistung ersten Ranges. Ohne Arbeitsteilung gäbe es keine Smartphones, keine Laptops, keine Autos, keine Velos –nicht einmal ein so bescheidenes Ding wie einen Bleistift. Selbst jene Menschen, die grosszügig erklären, auf den Wohlstand verzichten zu wollen, zehren letztlich von ihm. Kleines Wunder Über das Wunder der friedlichen Kooperation auf Wettbewerbsmärkten, das selbst in einem schlichten Bleistift noch seinen Niederschlag findet, hat Leonard Read, Gründer und langjähriger Präsident der Foundation for Economic Education (FEE), 1958 ein Kleinod von einem Essay veröffentlicht: «I, Pencil». 1 Für eine wirklich grosse Verbreitung dieser anschaulichen Geschichte sorgte dann Milton Friedman mit seinem Buch «Free to Choose» und in einer seiner vielen klugen Vorlesungen, die man sich bis heute auf YouTube anschauen kann. Read verdeutlicht anhand eines Bleistifts, dass wir von Gegenständen umgeben sind, die wir für selbstverständlich halten, auf die wir aber in Autarkie verzichten müssten. Wer weiss schon, wie man einen Bleistift selber herstellt? Und wer wäre in der Lage, an die dafür notwendigen Materialien zu gelangen, wenn deren Beschaffung nicht auf eine Vielzahl spezialisierter Menschen verteilt wäre? Das Graphit für die Mine des Bleistifts pflückt man nicht vom Baum, es muss in Bergwerksstollen abge-

Karen Horn ist promovierte Ökonomin und leitet das Berliner Büro des Instituts der deutschen Wirtschaft Köln. Sie ist Trägerin des Ludwig-Erhard-Preises für Wirtschaftspublizistik und Autorin von «Roads to Wisdom, Conversations with Ten Nobel Laureates in Economics» (2009).

baut werden. Um den Baum zu fällen und das Holz zuzuschneiden, das die Minenschächte abstützt, braucht man eine Säge; für eine Säge braucht man Stahl; um Stahl zu gewinnen, muss man Eisenerze abbauen und sie schmelzen. Und so weiter. Wenn man alle Arbeitsschritte zusammenzählt, sind Tausende von fremden Menschen an der Herstellung eines Bleistifts beteiligt – und das, ohne einander jemals persönlich zu begegnen. Wie ist das möglich? Wie nur, um den deutschen Ökonomen Walter Eucken zu zitieren, «wird dieses riesige Getriebe, das da auf der Erdkruste abläuft und von dem die Existenz aller Menschen abhängt, gelenkt»? Wie kommt es zu dieser erstaunlichen «Company of Strangers», wie der britische Ökonom Paul Seabright sein zeitgenössisches Buch zu diesem Thema überschrieben hat, freiwillig und ganz ohne Zwang? Wieso vertrauen wir Fremden gerade so, als wären sie unsere nächsten Nachbarn? Was ist die Grundlage der Kooperation freier Menschen zum gegenseitigen Vorteil? Warum spezialisieren wir uns und machen uns damit bewusst voneinander abhängig? Ganz einfach: weil es sich lohnt. Und zwar für alle Beteiligten. 1 Leonard E. Read: I, Pencil: My Family Tree as Told to Leonard E. Read. In: The Freeman, Dezember 1958.

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Karen Horn, photographiert von Philipp Baer.

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Schweizer Monat 994  märz 2012  Dossier

Voraussetzung und Basis von alldem ist ein funktionierendes, unverzerrtes Preissystem, das auf freien und wettbewerblichen Märkten dafür sorgt, dass die Produktionsfaktoren zum besten Wirt gelangen. Freie Marktpreise sind ein hocheffizientes Kommunikationssystem. Sie vermitteln Informationen über relative Knappheiten, die das Leben auf dem Planeten Erde nun mal charakterisieren – und sie tun dies, ohne dass jemand im Hintergrund die Transaktionen plant, koordiniert und steuert, ohne dass Menschen sich darüber explizit abstimmen müssen. Und dennoch springt für alle Beteiligten etwas dabei heraus. Durch die Arbeitsteilung vergrössert sich der gesamtwirtschaftliche Kuchen, der zu verteilen ist. Das Ganze funktioniert nur deshalb, weil Individuen auf Märkten freiwillig Geschäfte abschliessen, mit denen sie ihr jeweiliges Los und ihre Lage zu verbessern trachten. So stellen sich alle besser. Aber nicht alle freuen sich darüber. Denn ja, es stimmt: der Markt ist hart. Er ist hart, weil er gerecht ist, wie Justitia, die auf vielen Abbildungen eine Augenbinde übergestreift hat: auf dass Gerechtigkeit herrsche, ohne Ansehen von Person und Hintergrund. In diesem Sinne ist auch die Blindheit des Mercurius, des Gottes der Händler, eine gute Sache. Für den Abschluss dieser Geschäfte ist es unerheblich, welcher Abstammung, welcher Hautfarbe, welcher Religion oder welcher politischen Überzeugung ein Marktteilnehmer ist. Es ist gerade die Abstraktheit der Märkte, die allen eine Chance gibt und alle verbindet. Darum sprach Hayek treffend von der «Katallaxie» – von dem Raum des Tausches, in dem man den Fremden zum Freund gewinnt. Erfunden, aber nicht geplant Der Markt gehört wie die Sprache zu jenen Institutionen, die der Mensch erfunden, aber nicht bewusst geplant hat. Einer der Entdecker des Wunders der Arbeitsteilung war Adam Smith, gegen Ende des 18. Jahrhunderts. Zeit seines Lebens hat sich der schottische Moralphilosoph mit der Frage beschäftigt, wie sich komplexe Systeme koordinieren – unter anderem die Wirtschaft. In seinem Werk «Vom Wohl-

stand der Nationen» hat er 1776 eine Vielzahl von bahnbrechenden Beobachtungen festgehalten. Am bekanntesten ist seine Feststellung, dass der Markt – ausgestattet mit einem angemessenen Ordnungsrahmen – einen Ausgleich zwischen den Eigeninteressen von Anbietern und Nachfragern herzustellen vermag. So wie ein Bäcker nicht deshalb wohlschmeckende Brötchen backt, weil sich die Menschheit gut ernähren soll, sondern weil er dafür bezahlt werden will, so erwirbt auch ein Reicher nicht deshalb kostspielige Uhren, weil er den Lebensstandard der Feinmechaniker heben will, sondern weil er sich am Luxus erfreut. Das Wunder des Marktes macht

Der Markt gehört wie die Sprache zu jenen Institutionen, die der Mensch erfunden, aber nicht bewusst geplant hat.

möglich, dass beides auf einen Streich geschieht. Wäre dieser Mechanismus bewusstes Menschenwerk, dann würde man ihn stolz als grossartige Erfindung preisen! Die wundersame Arbeitsteilung erklärte Smith mit absoluten Kostenvorteilen. Die Erkenntnis, dass schon relative, also komparative Kostenvorteile ausreichen, damit sich eine Spezialisierung lohnt, fand erst mit David Ricardo Anfang des 19. Jahrhunderts Eingang in die Wirtschaftswissenschaften. Aber eines war auch Smith schon klar: die Arbeitsteilung reicht so weit wie der Markt. Je offener die Märkte, desto grösser die Skalenerträge, die sich in der Produktion erzielen lassen. Umso intensiver kann die Arbeitsteilung ausfallen und umso grösser die Wohlfahrtswirkung. Diese ergibt sich indes nicht nur aus den schieren Grössenvorteilen der Produktion, sondern, wie Hayek später herausgearbeitet hat, auch durch die Wissensteilung, die mit der Arbeitsteilung verbunden ist. Das Preissystem erlaubt nicht nur, dezentrales Wissen zusammenzuführen, sondern lässt neues Wissen ent-

stehen. Das ist die Wurzel von Kreativität und Innovation. Und der Markt sorgt dafür, dass sich deren Wohltaten rasch über natio­ nale und natürliche Grenzen hinweg verbreiten. Wenn ihn die Politik nicht daran hindert. Die Rolle der Institutionen Natürlich ist das Wirken der Arbeitsteilung nicht voraussetzungslos. Der Impuls zur Arbeitsteilung kommt zwar von selbst zustande. Doch damit sich die Arbeitsteilung über ein elementares Niveau erheben kann, braucht es angemessene Institutionen und Regelwerke. Genau diese Erkenntnis stand im Zentrum der ordnungstheoretischen Arbeiten der Freiburger Schule um Walter Eucken nach dem Zweiten Weltkrieg. Die Setzung und Durchsetzung der Regeln, innerhalb derer der wettbewerbliche Wirtschaftsprozess zum Wohle der Allgemeinheit stattfinden kann, liegt in der Obhut des Staates. «In einer Wettbewerbsordnung fördert und erhält der Staat die Wirtschaftsordnung, nicht aber den alltäglichen Wirtschaftsprozess, der auf Grund freier Entscheidungen der Haushalte und Betriebe erfolgt», schrieb Eucken in dem noch heute als Hinführung zur Ökonomik empfehlenswerten Büchlein «Nationalökonomie wozu?». Die Gestaltung des Ordnungsrahmens stellt allerdings erhebliche Anforderungen an die Kunst und Einsicht der Regierenden. Es scheint mit den modernen politischen Prozessen nicht vereinbar zu sein, sich auf die Setzung und Bewahrung von allgemeinen und abstrakten Regeln zu beschränken. Erst wenn die Arbeitsteilung – zumindest teilweise – so zusammenbricht wie jüngst in der globalen Wirtschaftskrise, wird für jedermann nachvollziehbar deutlich, wie verheerend sich ordnungspolitisches Versagen auswirkt. Der Mensch als Zoon politicon lebt in der ständigen Versuchung, den Marktkräften ins Handwerk zu pfuschen. Dabei täten wir besser daran, das Wunder des Marktes zu Gunsten aller Menschen wirken zu lassen. Zu welch wundervollen Dingen dies führt, daran erinnert uns der Bleistift jeden Tag aufs neue. � 55


Dossier Schweizer Monat 994  märz 2012

Warum wir tauschen

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Wir tun es jeden Tag und hinterfragen es sehr selten: tauschen. Was geschieht, wenn wir tauschen? Wer profitiert davon? Und vor allem: Ist es moralisch? von Rolf W. Puster

1. Der Tausch Das Wort «Markt»1 geht etymologisch zurück auf das lateinische «mercari» für «Handel treiben». In seiner ursprünglichen und buchstäblichen Bedeutung bezeichnet es den Marktplatz, einen Ort, an dem Kaufleute, Händler und ihre potentiellen Kunden zusammenkommen. Dieser enge Begriff des Marktes ist zwar für das Verständnis gegenwärtiger Debatten um die Marktwirtschaft nur bedingt brauchbar, doch enthält er einen wichtigen Fingerzeig: eine Stätte ist nicht aufgrund bestimmter topologischer Eigenschaften schon ein Markt, sondern sie wird es dadurch – und nur dadurch

Man kann nicht handeln wollen, ohne damit Erfolg haben zu wollen.

–, dass sie Schauplatz merkantiler Aktivitäten ist. Diese Einsicht führte dazu, dass der Marktbegriff schon bald seine zweite, elaboriertere Verwendungsweise erhielt, die ihn zur Erörterung ökonomischer Zusammenhänge tauglich machte und die die heute gebräuchliche ist. Die zentrale merkantile Aktivität ist der Tausch; seine Natur zu kennen, ist der Schlüssel für das Verständnis des Marktes. Schon ein erster, flüchtiger Blick auf den Tausch offenbart, dass in ihn zwei miteinander interagierende Tauschpartner involviert sind. Die strukturellen Besonderhei56

ten dieses Interagierens zweier Akteure erschliessen sich aber – wie wir sehen werden – erst aus den strukturellen Besonderheiten des Agierens des einzelnen Akteurs.

Rolf W. Puster ist Professor für Philosophie an der Universität Hamburg. Seine Arbeitsschwerpunkte sind Geschichte der Philosophie, Metaphysik, Sprach­ philosophie sowie politischer Liberalismus und Libertarismus.

2. Das Unbefriedigtsein Der Mensch steht der Welt nicht gleichgültig gegenüber. Viele Sachverhalte, die er erfasst, wecken ein Unbehagen in ihm, lassen ihn unbefriedigt sein. Dass er Durst hat, dass es Nacht ist oder dass ein Freund Schmerzen hat – vieles von dem, worauf sich sein Bewusstsein richten kann, missfällt ihm. Und sogar ungegenwärtige, bloss erwartete Sachverhalte wie das bevorstehende Ausscheiden aus dem Arbeitsleben können Unbefriedigtsein auslösen, da der Mensch fähig ist, sich in seinem Denken und Vorstellen auch auf Zukünftiges zu beziehen. Stünde er der Welt gleichgültig gegenüber oder würde ihn nichts an ihr stören, so fehlte ihm jeder Grund und Impuls zu handeln. Jedes Handeln wird somit von einem Unbefriedigtsein ausgelöst und dient seiner Beseitigung. Und da der Erfolg des Handelns in nichts anderem besteht als in der Beseitigung des auslösenden Unbefriedigtseins, ist alles Handeln auf Erfolg aus. Man kann nicht handeln wollen, ohne damit Erfolg haben zu wollen, und deshalb kann es ein Handeln ohne inhärente Erfolgsorientierung nicht geben. Wo man – zu Recht oder zu Unrecht – keinerlei Aussicht auf Erfolg sieht, handelt man erst gar nicht. Selbstverständlich ist nicht alles Handeln auch erfolgreich, aber dass es fehlschlagen kann, unterstreicht nur, dass es strukturell auf ein Gelingen hin angelegt ist.

Die Erfolgsorientierung allen Handelns ist ihm nicht nur wesentlich, sie ist auch – was kaum genug betont werden kann – moralisch unanstössig, mehr noch: sie ist sogar moralisch indifferent. So wäre es etwa ein schwerer gedanklicher Fehler, einen Akteur allein schon deshalb des Egoismus zu bezichtigen, weil er sein Unbefriedigtsein handelnd beseitigen will: Egoistisch handelt man – grob gesprochen – dann, wenn man das eigene Wohl über das Wohl anderer stellt, und altruistisch, wenn man umgekehrt verfährt. Damit ein Akteur nun zum Wohl anderer handeln kann, muss er deren Lage nicht nur kennen, sondern er muss an ihr auch in einer Art und Weise Anteil nehmen, die sein eigenes Handeln in Gang setzt. Für diese Anteilnahme an der Lage 1 Das Phänomen des Marktes weist viele Facetten auf. Sie sind jedoch für sein grundlegendes Verständnis nicht alle gleich wichtig. Selbst ein für jeden Markt­apologeten so zentraler Zug wie der, dass nur freie Märkte echte Preise und damit ein einzigartiges In­strument des ressourcenschonenden Knappheits­ managements hervorbringen, lässt sich nicht ohne Rekurs auf einfachere Prozesse und Strukturen begreifen. Auch die hohe Relevanz einer den Markt rahmenden und sichernden Eigentums- und Rechtsordnung ist nicht zu leugnen; doch beide sind allenfalls institutionelle Gehäuse des Marktes, aber sie machen ihn nicht aus. Im folgenden wird daher der Versuch unternommen, die eigentliche Basis des Marktes, den handelnden Menschen, stärker als üblich ins Blickfeld zu rücken. – Der Stichwortgeber für diesen Versuch ist Ludwig von Mises. Mein Verständnis seines Hauptwerks «Nationalökonomie. Theorie des Handelns und Wirtschaftens» (1940) verdankt den noch unpublizierten Arbeiten von Michael Oliva Córdoba entscheidende Impulse.


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anderer, ohne die kein altruistisches Handeln zustande kommt, haben wir aber schon eine alternative Beschreibung kennengelernt: der anteilnehmende Akteur verspürt nämlich angesichts der Lage anderer ein Unbefriedigtsein, und daraufhin handelt er dadurch altruistisch, dass er seinen Handlungserfolg in der Verbesserung der Lage anderer sucht. Das zeigt, dass die Erfolgsgerichtetheit ein inhaltlich leeres, rein formales Strukturmoment des Handelns darstellt und gar keine Anhaltspunkte für eine moralische Qualifizierung des betreffenden Handelns liefert – der Schurke und der Samariter unterscheiden sich moralisch nicht darin, dass sie Erfolg suchen, sondern darin, worin sie ihn suchen. 3. Die Erfolgsorientierung Die Welt steht dem Menschen – anders als er ihr – gleichgültig gegenüber, sein Unbefriedigtsein kümmert sie nicht. Sie gibt ihm das, was er will, nicht von sich aus, nicht ohne sein Zutun. Deswegen hat der Mensch Mangel im Überfluss. Wunschlos glücklich, allen Unbefriedigtseins enthoben zu sein, ist für ihn die seltene Ausnahme; in der Regel sieht er sich sogar mit mehreren Quellen des Unbehagens gleichzeitig konfrontiert. Da jede einzelne Handlung nur ein begrenztes Wirkpotential hat, kann der Mensch fast niemals alles empfundene Ungenügen zugleich beheben. Er muss vielmehr auswählen, priorisieren, die nächste anstehende Handlung zur Beseitigung desjenigen Unbefriedigtseins verwenden, das ihm das dringlichste ist. Auch wenn uns diese priorisierenden Wahlakte, die mit jeder vollzogenen Handlung ihren Abschluss und Ausdruck finden, kaum je bewusst werden, so sind sie doch das Resultat eines komplexen Zusammenspiels unserer Wertschätzung von Zielen und unseres Wissens um deren Realisierbarkeit. Aus dieser im vorliegenden Rahmen unauslotbaren Komplexität sei ein bedeutsamer Punkt herausgehoben. Der Erfolg einer Handlung liegt in der Beseitigung eines Unbefriedigtseins. Zu diesem Zweck ergreift der Akteur Mittel, die ihm geeignet scheinen, seine Handlung zum Erfolg zu führen. Liesse sich derselbe

Erfolg sowohl mit als auch ohne die Ergreifung von Mitteln erzielen, dann zögen Akteure die letztgenannte, mit dem geringeren Aufwand einhergehende Variante vor, da man nicht um des Handelns, sondern um des Handlungserfolgs willen handelt. Offenbar ist der Aufwand, der im Ergreifen von Mitteln liegt, seiner Natur nach selbst etwas, das ein Unbefriedigtsein schafft. Da der Erfolg des Handelns darin besteht, Unbefriedigtsein zu überwinden, die dafür ergriffenen Mittel aber ihrerseits Unbefriedigtsein hervorrufen, trachten Akteure danach, möglichst effiziente Mittel zu wählen; das sind solche, deren Aufwendung möglichst wenig Unbefriedigtsein schafft und die deswegen gegenüber dem zu beseitigenden Unbefriedigtsein möglichst wenig ins Gewicht fallen. (Darüber, wie sehr ein gegebener Aufwand die Befriedigung durch einen gegebenen Erfolg schmälert, befindet der jeweilige Akteur, indem er Aufwand und Erfolg subjektiv bewertet und zueinander ins Verhältnis setzt.) Wer um des Erfolgs willen handelt, der wird die mit dem Erfolg verbundene Befriedigung dadurch zu maximieren suchen, dass er auch die Effizienz seiner Mittel maximiert. Es liegt auf der Hand, dass das oben für die einfache Erfolgsorientierung bemühte Indifferenzargument gültig bleibt: auch die allem Handeln inhärente Bemühung um die Maximierung der mit dem Erfolg verbundenen Befriedigung ist moralisch indifferent, weil weder dem Schurken noch dem Samariter daran gelegen sein kann, die mit seinem erfolgreichen – ruchlosen oder edlen – Handeln einhergehende Befriedigung durch die Wahl ineffizienter Mittel zu schmälern. Moralische Bedenken finden in der Struktur des Handelns auch hier keinen Anhaltspunkt. 4. Die Kooperation Die aufgewiesenen Grundzüge des Handelns sind invariant. Sie bleiben unverändert dieselben, wenn sich zwei Akteure zum freiwilligen Tausch zusammenfinden. Im gelingenden Tausch kooperieren die Beteiligten trotz unterschiedlicher Ziele so koordiniert, dass sich für beide auf syste-

matische, nicht zufällige Weise ein Handlungserfolg einstellt. Die fragliche Koordination beruht darauf, dass beide Akteure just dasjenige Gut erlangen wollen, über welches der jeweils andere verfügt. Sobald die Akteure diesen Umstand erkannt haben, ist der Weg frei für zwei sich verschränkende Handlungen, die beiden Tauschpartnern genau jenen Erfolg bescheren, um dessentwillen sie handeln wollen. Das Besondere dieses Doppelerfolgs springt ins Auge, wenn man nach andersartigen, nicht marktförmigen Prozeduren Ausschau hält, durch die Güter von der Hand eines Akteurs in die eines anderen Akteurs gelangen können. Die denkbaren Alternativen reduzieren sich nämlich auf ein einziges Grundmuster. In ihm tritt an die Stelle des freiwilligen kooperativen Tauschs die unfreiwillige, durch die Anwendung oder glaubhafte Androhung von Zwang bzw. Gewalt erzwungene Umverteilung. Übereignet man mit Hilfe von Zwang dem einen Akteur das, was er erlangen will, ohne dem anderen das zu geben, was dieser erlangen will, so wird der Erfolg des einen auf Kosten des anderen erzielt. Die Durchsetzung des Zwangsmusters läuft somit auf

Im gelingenden Tausch kooperieren die Beteiligten so koordiniert, dass sich für beide ein Handlungserfolg einstellt.

ein Nullsummenspiel hinaus, in dem die Besserstellung des einen stets auf der Schlechterstellung des anderen basiert. Noch ein zweiter Aspekt des Tauschs ist bemerkenswert. Wer tauschen will, der will nicht nur Tauschpartner werden, sondern auch einen Tauschpartner finden. Das eine ist ohne das andere evidentermassen nicht zu haben. Es sind nun aber die Bedingungen, unter denen ein Akteur zum Partner eines gelingenden Tauschs wird, buchstäblich dieselben Bedingungen, unter denen sein Gegenüber zum Partner dieses Tauschs wird. Und da der gelingende Tausch 57


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Geben und Nehmen (Bild: Michael Wiederstein)


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einen Erfolg für beide Tauschpartner darstellt, kann kein Akteur das Zustandekommen des Tauschs und mit ihm den eigenen Erfolg ernsthaft wollen, ohne zugleich auch zu wollen, dass sein Gegenpart auf analoge Weise seinen Erfolg im Tausch findet. Wie oben ausgeführt, können sich mit dem stets erfolgsorientierten Handeln ebenso egoistische wie altruistische Motive verbinden. Selbst unter der Annahme, dass im gelingenden Tausch zwei bloss egoistisch motivierte Akteure kooperieren, müsste sich an der eben gegebenen Analyse kein Jota ändern, der zufolge mit dem eigenen unweigerlich auch der fremde Erfolg gewollt wird. Ersichtlich hat der freiwillige Tausch die einzigartige Potenz, nicht nur beiden Teilnehmern einen Erfolg zu bescheren, sondern auch zwei gegenläufige,

Wo tauschende Akteure freiwillig kooperieren, bildet sich ein Markt.

das eigene über fremdes Wohl stellende Egoismen so zu neutralisieren, dass beide Akteure quasi-altruistisch handeln. Mit diesem Einblick in die Anatomie des freiwilligen Tauschs wird auch die Funktionsweise der im Marktgeschehen wirksamen spontanen Ordnung zumindest im Ansatz durchsichtig. Ihr in einer Welt voller Egoisten als Mechanismus der sozialen und ökonomischen Koordination grosse Stücke zuzutrauen, ist daher alles andere als ein irrationaler Aberglaube. 5. Die Intervention Wo tauschende Akteure freiwillig kooperieren, bildet sich ein Markt. Herrschen dort Wahlfreiheit bezüglich der Kooperationspartner und wirtschaftliche Handlungsfreiheit (nur durch Gesetze eingeschränkt, die zu deren Sicherung unerlässlich sind), so herrscht dort auch Wettbewerb. Denn die Marktakteure trachten danach, mit ihrer eigenen Tauschwilligkeit zum Zuge zu kom-

men, weshalb sie – quasialtruistisch – versuchen werden, die Tauschbedürfnisse anderer so zu bedienen, dass daraus der Doppelerfolg des gelingenden Tauschs erwächst. Wenn Markt und Wettbewerb überhaupt «hergestellt» werden können, dann durch die Beseitigung von allen (nicht der Freiheit selbst dienenden) Zwangsmomenten, die die Kooperationsmöglichkeiten von Akteuren einengen. Die Zahl der vorgenommenen staatlichen Interventionen ins Marktgeschehen ist Legion, ebenso wie die Zahl der zu ihrer Rechtfertigung vorgetragenen Argumente. Dutzende von moralischen und ökonomischen Überlegungen werden geltend gemacht, um den Einsatz des staatlichen Zwangsapparates auf immer neuen Feldern zu legitimieren: ganze Lebensbereiche würden – so der interventionistisch-paternalistische Tenor – trotz ihrer Gemeinwohlrelevanz vom Marktgeschehen gar nicht erfasst, weil keiner der (allesamt notorisch selbstinteressierten) Marktakteure sie zu seiner Sache mache. Soll irgendeines dieser Räsonnements plausibel sein, so muss es zeigen, dass die hier zutage getretenen Vorzüge freier Märkte durch staatliche Interventionen tatsächlich überkompensiert werden. Da aber mit Macht ausgestattete Instanzen – anders als Marktakteure – noch nicht einmal quasialtruistisch agieren müssen, spricht nichts dafür, dass sie sich jener Belange selbstlos annehmen, die frei auf dem Markt kooperierende Bürger angeblich vernachlässigen. Verwunderlich ist die freiheitsfeindliche Motivation von Staaten bzw. der sie tragenden politischen Klassen und der ihnen nahestehenden Pressure Groups nicht. Denn sie alle könnten die Fiktion ihrer Unentbehrlichkeit umso weniger aufrechterhalten, je mehr es den Bürgern gelänge, auf freien Märkten erfolgreich zu kooperieren. Für Aufgaben und Probleme, die ohne Mitwirkung der Obrigkeit in marktförmigem Zusammenwirken gelöst werden, lassen sich weder Bürokratenstellen schaffen noch Parteifreunde in begünstigte Positionen bringen. Massenhafte Kooperationserfolge freier Bürger würden geradezu die

Überflüssigkeit einer jeden Zwangsbefugnis demonstrieren, die nicht als Freiheitsgarant benötigt wird. Zudem würden alle Einnahmequellen an den Pranger geraten, die nicht auf dem unbehinderten Geben und Nehmen des Marktes, sondern auf machtgestützter Umverteilung beruhen. Demgegenüber erzeugt jede gewaltbasierte Intervention unerwünschte Nebenfolgen, für deren Bekämpfung sich das Gift der politischen Einmischung aufs neue als Arznei anpreisen lässt. Wem vor Augen steht, wie tief der Markt im menschlichen Handeln wurzelt, der sieht, dass der Markt nicht trotz, sondern wegen der in ihm herrschenden Freiheit Akteure zu erfolgreichen Akteuren macht. Zwar kann man auch im Nullsummenspiel der Umverteilung Erfolg haben, aber nur dann, wenn man Macht hat oder sich mit ihr einkommenswirksam zu verbünden weiss. Wer solche gegenleistungslosen Umverteilungsprofite auf Kosten anderer hingegen für unmoralisch hält, der hat einen exzellenten Grund, für den freien Markt einzutreten. �

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Kein «Versager»

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Monopole, öffentliche Güter und Externalitäten: wo der Markt nicht funktioniert, muss der Staat intervenieren. Heisst es. Wenn es nur so einfach wäre. von Wolf von Laer

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arktversagen scheint allgegenwärtig zu sein. Wenn es so weit kommt und das tolpatschige Kind namens Markt versagt, dann müssen Vater Staat und Mutter Bürokratie eingreifen und die Dinge richten. So will es die ökonomische «Mainstreamtheorie». Entscheidende Fragen bleiben aber meist unbeantwortet: Wann liegt eigentlich genau ein Marktversagen vor? Und ganz wichtig: wer stellt wann und wo Marktversagen fest? Um dem Mythos näherzukommen, schauen wir uns die prominentesten Fälle von diagnostiziertem Marktversagen einmal genauer an.

ren kann, wann ein Preis ein Monopolpreis ist, und es niemals einseitige Kontrolle über den Preis gibt. Der Preis ist ein bilaterales Phänomen: er kommt nur zustande, wenn Käufer und Verkäufer damit einverstanden sind. Kontrolle hat jeder nur über seine eigene Einverständniserklärung, nicht über die des anderen. Was aber, wenn es für ein Produkt bloss einen Anbieter gibt? Dann hat der Konsument für eine kurze Dauer in der Tat keine Wahlfreiheit und kann auf überhöhte

Vermeintliches Marktversagen I: das Monopol Jeder junge Ökonom hat nach den ersten Semestern zu wissen, dass Monopole schlecht für die «soziale Wohlfahrt» sind. Was ein Monopol ist, wird von Ökonomen jedoch selten klar definiert. Eine Definition besagt, dass ein Monopolist der einzige Anbieter eines Gutes ist. Dies liegt aber im Auge des Betrachters. Ein Kaffeefeinschmecker mag vielleicht nur den Kaffee von Starbucks. Jedoch bin ich, aufgrund meiner Koffeinabhängigkeit, sehr flexibel und trinke alles, was Koffein enthält. Für den Feinschmecker ist Starbucks folglich der Monopolist für guten Kaffee. Aus meiner Perspektive konkurriert Starbucks mit meiner Kaffeemaschine und mit jedem anderen Café und stellt für mich daher kein Monopol dar. Eine andere Meinung besagt, dass das Vorhandensein eines Monopolpreises ein Monopol konstituiert. Diese Definition ist unzureichend, weil man nicht klar definie-

Mittel- bis langfristig gibt es keine Beispiele von Monopolen, die ohne die Hilfe des Staates überleben konnten.

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Preise bloss durch Konsumverzicht oder -einschränkung reagieren. Doch werden automatisch andere Produzenten auf den Markt drängen, weil sie eine neue Geschäftsmöglichkeit wittern, und mit der Zeit Wahlfreiheit schaffen. Diese Überlegung führt uns zu einer einleuchtenden Definition von Monopol. Sie wurde im 20. Jahrhundert von Ludwig von Mises vertreten, geht allerdings auf den Juristen Lord Coke im 17. Jahrhundert zurück. Danach ist ein Monopol dann gegeben, wenn eine Institution durch den Staat das alleinige Privileg geniesst, ein Gut zu produzieren. Mittel- bis langfristig gibt es in der Tat keine Beispiele von Monopolen, die ohne die Hilfe des Staates überleben konnten.

Wolf von Laer ist im Vorstand der European Students for Liberty. Er ist Autor des Buches «Probleme des etablierten Notenbankensystems – Free Banking als Alternative?», Gewinner des Vernon Smith Prize 2011 und studiert Austrian Economics an der Universidad Rey Juan Carlos in Madrid.

Vermeintliches Marktversagen II: öffentliche Güter Ein oft gehörtes Argument lautet, dass manche Güter nicht vom Markt bereitgestellt werden könnten. Nach der Theorie zeichnen sich sogenannte öffentliche Güter durch zwei Kriterien aus: sie können durch eine sehr grosse Anzahl von Leuten gleichzeitig konsumiert werden (Nichtrivalität) und niemand kann von ihrem Konsum ausgeschlossen werden (Nichtausschliessbarkeit). Wenn der Zugang zu einem Gut allen Konsumenten gleichzeitig freisteht, kann dafür auch kein Preis verlangt werden. Wenn kein Preis verlangt werden kann, gibt es keinen Anreiz für private Produzenten, das Gut anzubieten. Deshalb soll die öffentliche Hand die Versorgung mit öffentlichen Gütern übernehmen. Häufig genannte Beispiele für solche Güter sind Leuchttürme, Parks und Feuerwerke. Das Problem dieser Argumentation: solche Güter wurden und werden tatsächlich immer wieder vom Markt bereitgestellt. Das Vorhandensein öffentlicher Güter beweist also nichts bzw. nur, dass der Staat sich das Recht herausnimmt, sie zu produzieren. Ein unterstützendes Argument für die öffentliche Gütertheorie besagt, dass der Markt diese Produkte zwar eventuell herstellen kann, dies jedoch in unzureichender


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Menge tun wird, weil Trittbrettfahrer die Situation ausnutzen. Dieses Argument mag stimmig wirken, es ist indessen eine «Anmassung von Wissen»: Wir können unmöglich wissen, ob Marktakteure ein Produkt nicht kaufen, weil sie es nicht wünschen oder weil sie trittbrettfahren wollen. Natürlich wird man ein «kostenlos» bereitgestelltes Produkt häufiger nutzen als ein Produkt, für das man direkt bezahlen muss. Der «soziale Nutzen» ist bei der kostenlosen Bereitstellung immer höher – aber nur, wenn man dabei die Verluste durch Besteuerung, Bürokratie und vieles mehr ignoriert. Wäre die öffentliche Gütertheorie gültig, dürften auch so nützliche und monetär kostenlose Produkte wie Facebook, Google-Suche, Online-Übersetzungsdienstleister und Wikipedia nicht existieren. Vermeintliches Marktversagen III: Externalitäten Wenn negative oder positive Effekte auf Dritte nicht eingepreist werden, spricht man von Externalitäten. Sie taugen jedoch nicht als Begründung für Marktversagen – aus einem einfachen Grund: sie sind allgegenwärtig. Es ist wirklich schwer, über eine Handlung nachzudenken, die keine Effekte auf Dritte hat. Hält man sich an diese Logik, stellen sogar Socken eine Externalität dar und müssen für jeden vom Staat bereitgestellt werden. Warum? Wenn ich keine Socken trage, bekomme ich eventuell stinkende Füsse und sogar Krankheiten, die sich vielleicht auf andere übertragen. Dies wird die Krankenkassen zusätzlich belasten und negative Wohlfahrtseffekte auslösen. Ergo: der Staat muss Socken für das Wohl aller bereitstellen. Dieses leicht abgewandelte Beispiel des Ökonomen Walter Block zeigt die unrealistischen Implikationen von Externalitäten als Legitimation für Staatseingriffe. Es geht an dieser Stelle nicht darum, das alte Lied von den perfekten Märkten zu singen, sondern auszuloten, welches System die besseren Anreize bereitstellt, mit der offensichtlichen Fehlerhaftigkeit des Menschen umzugehen. Nur weil der Staat sich um ein Problem kümmert, heisst dies noch nicht, dass jenes auch effizient beho-

ben wird. Für den Unternehmer stellt jeder Fehler auf dem Markt, jede Verunreinigung, jede Fehlallokation einen Profitanreiz dar. Konsumenten auszunutzen oder zu betrügen, kann nur ein temporäres Phänomen sein, da entweder Betrug schon durch das Rechtssystem geregelt wird oder das Beheben des Fehlers lukrativ ist. Ein Beispiel: Wenn ein Strassenverkäufer ungeniessbare Muscheln anbietet und seinen Kunden davon schlecht wird, dann stellt das eine Möglichkeit für einen anderen Unternehmer dar. Durch Wirtschaftsrechnung setzt der Unternehmer relevante Informationen und Preise miteinander in Bezug und versucht zu quantifizieren, welchen Ertrag er erwirtschaften kann. Mit dem Angebot von hochwertigen Muscheln lässt sich ein erhöhter Umsatz anpeilen, weil die unbefriedigten Kunden wahrscheinlich das bessere Angebot wahrnehmen werden. Auf einem freien Markt kann nur nachhaltiger Profit gemacht werden, wenn Produkte und Services bereitgestellt werden, die die Konsumenten haben wol-

Wer den Kunden nicht zufriedenstellt, generiert keinen Profit, sondern erleidet langfristig Verlust.

len. Wer den Kunden nicht zufriedenstellt, generiert keinen Profit, sondern erleidet langfristig Verlust. Dieser Mechanismus stellt eine effiziente und schnelle Rückmeldung für den Unternehmer dar. Der Lernprozess des Marktes mag einem zu langsam erscheinen und der Weg der staatlichen Regulierung scheint das Muschelproblem vermeintlich für immer aus dem Weg zu räumen. Jedoch wirkt das Verbot des Verkaufs von schlechten Muscheln nicht unbedingt langfristig. Zunächst ist es zwar verboten, schlechte Muscheln zu verkaufen, aber der Anreiz, Konsumenten hinters Licht zu führen, wurde nicht verlernt. Das bedeutet, dass nun vielleicht der Zulieferer von Muscheln

einen anderen Datumsstempel auf die Waren drückt, um damit das Frischegebot zu umgehen. Bis dies dem zuständigen Beamten auffällt, ist schon einige Zeit vergangen und eine neue Regulierung ist erforderlich, um dieses Schlupfloch zu schliessen. Denkt man diese Logik weiter, führt sie zu einer Spirale des Interventionismus. Der Anreiz, jede neue Regulierung zu umgehen, besteht nämlich weiterhin. Zurück zur Realität Ein wichtiges Merkmal von Theorien des Marktversagens ist, dass sie oftmals dem Nirwana-Trugschluss zum Opfer fallen. Dieser liegt dann vor, wenn ein unrealistisches theoretisches Konstrukt mit der Realität verglichen und daraus abgeleitet wird, dass der Markt unzureichend sei. Dabei wird ein Monopol mit dem Konstrukt des vollständigen Wettbewerbs verglichen. Das Konstrukt basiert auf Annahmen von homogenen Gütern, vollständigen Informationen und unendlich vielen Käufern und Verkäufern, von denen niemand den Marktpreis beeinflussen kann. Dies ist alles statisch. Diese Annahmen beschreiben jedoch keinen vollständigen Wettbewerb, sondern dessen vollständige Abwesenheit. Darum sind auch die Schlussfolgerungen ohne Bedeutung für die Wirklichkeit. Den meisten Ökonomen ist klar, dass ihre Modelle eine Vereinfachung der Realität darstellen. Trotzdem verlassen Ökonomen den theoretischen Raum häufig, um dann mit diesen Theorien in einer normativen Weise Staatsinterventionen zu legitimieren. Wenn Märkte allerdings durch die ebenso fehlerbehafteten Regulierer umgangen werden, verhindert dies sogenanntes «Versagen» keineswegs. Das Umgehen von Märkten erschwert allerdings, dass eine unternehmerische Lösung gefunden wird. Und es führt zu einem regulatorischen Fehlerpotential, das weitaus grösser ist als das Versagen eines einzelnen Unternehmers. �

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BildEssay Schweizer Monat 994  märz 2012

Kleine Eiszeiten von Claudia Mäder

«Unmenschlich, die Kälte in diesem Wien», sagt Veronika am

festhalten», erfährt er und weist seine Frau auf das bunte

Eingang des Kunsthistorischen Museums. «Es ist Winter»,

Schlittschuhläufergewusel hin, diesen Querschnitt der Gesell-

entschuldigt sich ihr Mann und hofft, sie würde sich gleich

schaft auf der Fläche des Eises. «Hauptsache fern des Pöbels,

für prächtige Gemälde erwärmen. «Die Kleine Eiszeit –

am besten erster Rang, der Preis spielt wirklich keine Rolle!»,

Winterlandschaften flämischer Meister», liest sie über dem

drängt Veronika, doch Heiko bedauert, irritiert, dass man

Portal des Saals und folgt Heiko, der sich in respektvoller

sich einen Brueghel nicht leisten könne. «Einen anständigen

Entfernung zu einem Werk Brueghels des Älteren postiert hat.

Opernplatz aber hoffentlich schon noch», bemerkt seine

«Der Jahrhundertwinter von 1565 hat die ersten grossen

Frau, nennt der Stimme am Ohr Heikos Kreditkartennummer,

Schneebilder der Kunstgeschichte inspiriert», lehrt ihn sein

klappt das Handy zu und lacht: «Così fan tutte!» Etwas Kultur

Audioguide, dessen Wissen er bereitwillig mit seiner Frau teilt:

müsse man sich doch gönnen, wo man nun schon mal in dieser

«Schau dir die Linearperspektive an, siehst du diese phanta­

Stadt sei, fügt sie an, und bittet um eine Pause im Kaffeehaus.

stische Diagonale!», raunt er, den Sprecher am Ohr. «Ganz

«Tritt man ganz nah ans Bild», zitiert Heiko dort über ein Stück

vorne in der Mitte natürlich», sagt sie, ebenfalls in einen Hörer

Eistorte gebeugt aus dem Ausstellungskatalog, «erkennt

horchend, und macht ihren Mann dadurch näher ans Bild

man dessen Hintersinn. Was aus der Ferne als friedvolle

treten. «Du hast recht», flüstert er, «es ist die rote Mütze des

Harmonie erscheint, erweist sich bei genauer Betrachtung

Bauern im Vordergrund, die im Kontrast mit der weiss

als brutales Chaos: Brueghels Eisläufer spielen nicht Haschen,

verschneiten Umgebung die sphärische Irritation erzeugt!»

sondern Prügeln; ihr lustiges Miteinander ist bissiger Kampf,

Halblaut fragt er, was das wohl für Farben gewesen seien,

ihr behäbiges Idyll nichts als fahler Schein.» Konsterniert

die Brueghel da so mächtig kombiniert habe, und durchdrückt

beobachtet Veronika, wie der Schaum ihres Milchkaffees

sein Gerät nach weiteren Auskünften. «Die teuersten natür-

in sich zusammensinkt. «Gerade das Eis aber», fährt Heiko fort,

lich», zischt Veronika in ihr Apparätchen, während Heiko

«produziert den Schein; es bewahrt, was längst hätte verderben

den Freuden des Winters zu lauschen beginnt. «Ganz Holland

müssen, es lässt zu einer fragilen Tragfläche erstarren,

tummelte sich mit neuen Sportgeräten auf zugefrorenen

was längst hätte weiterfliessen wollen.» Aufblickend stösst

Grachten, und wer es im 17. Jahrhundert irgend vermochte,

er die Gabel in seine Torte. Da endlich bricht das Eis –

liess sich die Erinnerung an den winterlichen Spass bildlich

klirrend auseinander.

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Schweizer Monat 994 märz 2012  BildEssay

von Hanspeter Schiess

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BildEssay  Schweizer Monat 994 märz 2012

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Schweizer Monat 994 märz 2012  BildEssay

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BildEssay Schweizer Monat 994  märz 2012

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Schweizer Monat 994  märz 2012  BildEssay

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was macht die kunst? Schweizer Monat 994  märz 2012

Dem Künstler gibt’s der Herr im Schlaf Der Künstler: ein Leben zwischen Prekariat und Übersubventionierung, je nach Gesellschaft Aushängeschild oder Reizwort. San Keller nimmt sich des Berufsstandes künstlerisch an und überlegt, was Künstler und Dentalassistentinnen gemeinsam haben. Johannes M. Hedinger trifft San Keller

San, du kommst gerade von der Berufsmesse Zürich, an der du den Beruf des Künstlers neben anderen Berufsbildern wie Dentalassistentin, Grafiker, Koch, Spengler oder Zimmermann präsentiert hast. Was macht dort die Kunst? Die Aktion dient der Vorbereitung für meine kommende Einzelausstellung im Zürcher Helmhaus im Mai. Dort möchte ich mitunter den Beruf des Künstlers thematisieren. Zunächst dachte ich an eine Messe im Museum, aber so rum ist es noch konsequenter. Wir zeigen in der Ausstellung nun eine Dokumentation der Aktion an der Berufsmesse. War es einfach, einen Stand an der Messe zu bekommen, musstest du die Messeleitung überzeugen? Das war nur ein Anruf. Bezahlt haben wir wie ein «normaler» Beruf. Eine Woche davor kam dann aber doch die Rückfrage, was wir denn eigentlich wirklich machen würden. Und was habt ihr gemacht? Ich habe mich da nicht selbst ausgestellt, sondern war zusammen mit dem Kurator Daniel Morgenthaler von der Helmhaus-Ausstellung für Rahmen und Betreuung von fünf eingeladenen Künstlern und Künstlergruppen verantwortlich. In dem Sinne hatte ich auch eine Kurator-Aufgabe. An jedem Tag der Messe wurde eine andere künstlerische Position präsentiert: Pedro Wirz, Christian Vetter, Marina Belobrovaja, Marianne Oppliger und Sophie Hofer, die zusammen aufgetreten sind – sowie die Mediengruppe Bitnik. Bereits im Vorfeld haben wir mit allen ein Gespräch geführt, in dem es darum ging, was ihre Kompetenzen als Künstler sind. Diese Gespräche fanden dann eine Verlängerung an der Berufsmesse, an der interessierte Teenager die anwesenden Künstler über deren Beruf befragen konnten. Die Stimmung war da lockerer, als wenn wir das im Museum gemacht hätten. Haben die Künstler auch etwas Physisches präsentiert oder mit den Besuchern gar Kunst produziert? Das war ganz unterschiedlich. Christian Vetter hat mit den interessierten Schülern gemalt, Pedro Wirz liess sie spielerisch an einem Skulpturen-Grid partizipieren, Marianne Oppliger und Sophie Hofer sind mit einer Performance raus in die Halle und Marina Belobrovaja 68

San Keller (*1971, Bern) zählt zu den bekanntesten Schweizer Gegenwartskünstlern. Auch international tritt der Aktionskünstler regelmässig mit humorvollen und irritierenden Dienstleistungen und Partizipationsprojekten in Erscheinung. Seine Arbeit wurde vielfach ausgezeichnet, u.a. mit dem Swiss Art Award, UBS-Werkbeitrag und dem Manorpreis.

hat mich als berühmten Künstler inszeniert, verteilte Autogrammkarten und parodierte die Auratisierung des Künstlers als Star. Wie viele Kids werden nach dieser Messe statt Krankenschwester oder Gipser nun lieber Künstler? Keine Ahnung. Das war nie das Ziel der Aktion. Ich finde, es gibt schon genügend Künstler. Wurden die Messebesucher also nur für deine neue Arbeit im Helmhaus «benutzt»? Diesen Vorwurf höre ich öfters. Aber benutzt man die Schüler nicht auch, wenn man sie durchs Museum schleust? Werden sie dort nicht auch von etwas benutzt oder von einer Vorstellung, was jetzt wissenswert sei und vermittelt werden muss? Bei der Aktion an der Berufsmesse ging es mir nicht darum, Werbung für den Künstler zu machen, sondern den Beruf des Künstlers in Frage zu stellen und in der Diskussion zu halten. Und zwar in einem anderen Rahmen, als wenn die Schüler in der Zeitung über eine spektakuläre Kunstaktion oder eine teure Auktion lesen. Du bist selbst mit spektakulären Dienstleistungsaktionen bekannt geworden. Etwa als du 2001 zu Füssen von Eva Wannenmacher während einer gesamten «10vor10»-Ausgabe im Fernsehen live geschlafen hast. Kannst du kurz diese Aktion erklären? Sie thematisiert die Frage, wie ich als Performancekünstler mein Geld verdienen kann. Das war damals ein wichtiges Thema für mich. Ich habe mich als Künstler angeboten, am Arbeitsplatz von irgendeiner Person zu schlafen, die mich dazu anstellt und mich dann für meinen Schlaf während ihrer Arbeitszeit entlohnt, mit dem, was sie während dieser Zeit verdient. Die Schlafaktion thematisiert zum einen die künstlerische Arbeit, zum anderen eine Dienstleistung mit Vertrag und vielleicht auch die Sehnsucht der Arbeitnehmer, sich im regulären Arbeitsverhältnis mal auszuklinken.


Autogrammkarte San Keller von Marina Belobrovaja.

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Was macht die Kunst? Schweizer Monat 994  märz 2012

Neben Schlafen hast du als weitere Dienstleistungen auch für andere getanzt, demonstriert, deren Geld auf der Strasse liegen lassen, du hast dir ins Gesicht schlagen lassen oder hast wochenlang einen Stein durch New York geschleppt. Dabei standest immer du selbst im Zentrum. Heute entstehen vermehrt Arbeiten, bei denen du andere einlädst. Wie würdest du diese Form von Kunst bezeichnen? Vielleicht kann man es mit dem Begriff der «Relational Aesthetics» umschreiben, den es auch schon seit Ende der 90er Jahre gibt. Ich stelle mich in Beziehungen. Zu anderen und zur Welt. Zusätzlich kommen bei mir durch das Performative und Aktionistische noch stark die Situation und der Moment ins Spiel. Heute tendiere ich dazu, Räume der Reflexion zu schaffen und eine Kunst zu betreiben, bei der wenig Physisches produziert wird. Sie liefert eher ein Angebot zur Reflexion über eine Situation. Ich plaziere die Arbeit also meist im Realen. Was verstehst du unter «dem Realen»? Meinst du existierende Kontexte, die du mit deinen Konzepten und Aktionen «hackst» und dadurch auch veränderst? Nehmen wir zum Beispiel das «Museum San Keller» in Köniz (BE), das in der Wohnung meiner Eltern eingerichtet ist. Es ist kein klassisch institutionelles monographisches Museum wie von Picasso, van Gogh oder Klee, bei dem die Nachkommen ein Werk verwalten. Aber es spielt mit diesen Strukturen. Zudem gibt es bei meinem Museum auch den zeitlichen Dreh, dass die Institution von meinen Eltern geleitet wird. Das formt die Wahrnehmung der Kunst nochmals anders. Kann man dein Museum besuchen? Auf Voranmeldung gerne: 0041 31 972 20 62. Die Adresse und Anfahrtsskizze findet man auf der Website. Auch ein Museumscafé ist eingerichtet und lädt zum Verweilen ein. Das Sammlerehepaar offeriert den Besuchern gerne Kaffee oder ein kühles Getränk. Dein Museum persifliert charmant den Kunstbetrieb. Produzierst du auch Werke für den Kunstmarkt oder brichst du diesen ebenfalls? Ich breche ihn insofern, als ich die Warenproduktion drossle und den gedanklichen Freiraum öffne. Viele Künstler müssen für den Markt produzieren, um nur schon die Produktion zu finanzieren. Einerseits unterrichte ich an der ETH am Lehrstuhl für Architektur und Kunst von Karin Sanders, andererseits sind meine Produktionskosten relativ niedrig. Ich kann sie meist mit den Produktionsbeiträgen der Institutionen decken. Wenn ich andere Künstler anstelle, wie eben jetzt bei der Berufsmesse, bekommen die natürlich ein Tageshonorar. Welche Rolle spielen die Kunstinstitutionen und das Kunstpublikum in deinen Arbeiten? Ich war in den letzten Jahren verstärkt mit den Institutionen konfrontiert, auch als Folge meiner Preise und Anerkennungen. Über diese Möglichkeiten war und bin ich immer noch glücklich; da ich aber kein klassischer Kunstmarktkünstler mit regelmässiger Ate70

lierpraxis bin, sondern eben in und mit Beziehungen arbeite, habe ich begonnen, den institutionellen Rahmen zu thematisieren und als Kontext zu verwenden. Mich interessiert es, über diese institutionellen Zwänge nachzudenken. Für das Fridericianum in Kassel habe ich zum Beispiel die «Digestiv Walks» entwickelt; darin gebe ich den Museumsbesuchern die Möglichkeit, mit mir auf einem Spaziergang über den Friedrichsplatz über die jeweils aktuelle Ausstellung der Kunsthalle Fridericianum zu reden und so das Gesehene gemeinsam geistig zu verdauen. Daraus entstanden dann auch kleine Publikationen. Im Fall der Berufsmesse kehrt beispielsweise das Projekt als Film zurück. Der gibt auch Einblick in die Produktions- und Kommunikationsprozesse von Kunst. Für den Diskurs brauche ich dann aber nach wie vor den Ausstellungsraum. Wie geht es allgemein mit der Kunst weiter? Persönlich finde ich, dass die Künstler wieder beginnen müssen, die Kunst selbst zu kritisieren. Man sollte nicht einfach nur mitspielen. Doch wie kritisiert man Kunst? In diesem Punkt mag ich die Fragen von Philosoph Slavoj Žižek: braucht es eine Revolution? Wie muss Kritik formuliert sein, damit sie nicht bloss das bestehende System legitimiert und einen Schein der Offenheit und des Liberalen zeigt? Braucht es eine neue Radikalität, einen Kampf oder sind es gewaltlose Bewegungen wie Occupy, die keine konkreten Lösungen bieten, sondern nur Präsenz offerieren? Ich kann noch nicht klar formulieren, was die Kunst weiterbringt, aber ich spüre die Sehnsucht nach einer Konfliktsituation. Konflikt gegenüber wem oder was? Als Werk oder gegenüber dem System? Mehr nach aussen, in einem grösseren Rahmen. Der Begriff des Konflikts im Werk ist längst konventionell eingebettet. Heute wird auch Kunst durch Ratings und Gatekeeper bewertet und gestützt. Doch mit welchen Kriterien? Du versuchst, mit deinen Künstlerkollegen in einem Manifest an der Berufsmesse gleich selbst ein paar – wohl nicht immer ganz ernstgemeinte – Kriterien und Thesen zu installieren. Genau. Ich trage abschliessend gerne eine Auswahl vor: Der Beruf des bildenden Künstlers erlaubt die Sinnfrage täglich. Er ist ein Menschenrecht. Er bewirtschaftet seine Möglichkeiten subversiv. Er ist wie die Liebe eine Zumutung für die oder den andern. Er schafft im Rahmen des Möglichen noch mehr Möglichkeiten, indem das Mögliche definiert wird. Der Beruf des bildenden Künstlers ist ein absoluter Luxus, weil er erlaubt, eine innere Notwendigkeit auszuleben. Er ist nichts für Besserwisser. �

Ausstellungshinweis: «Spoken Work» im Helmhaus Zürich. 11. Mai – 1. Juli 2012, www.helmhaus.org Weblinks: Museum San Keller: www.museumsankeller.ch Digestiv Walks: www.fridericianum-kassel.de/keller.html


Foto: © Christof Schürpf & Diogenes

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Literarischer Essay Schweizer Monat 994  märz 2012

Zur Kenntlichkeit entstellt Wer wissen will, was die Welt im Innersten zusammenhält, greife zum Roman und nicht zum Sachbuch! Denn die Fiktion hat entscheidende Vorteile: sie legt grundlegende Mechanismen nicht nur frei, sondern macht sie tatsächlich erlebbar. Und sie rettet sogar Leben. von David Signer

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or etwa zwei Jahren erlebte ich etwas Unglaubliches. Auf einer Party kam jemand auf mich zu und sagte: «Sie haben mir möglicherweise einmal das Leben gerettet.» Der Mann war eines Abends in einer afrikanischen Grossstadt – ich glaube, es war Dakar – unterwegs gewesen, als sich ihm eine Gruppe Jugendliche näherte. Obwohl sie zuerst nur harmlos mit ihm plauderten, merkte der Schweizer, dass sie nichts Gutes im Schilde führten. Tatsächlich verschärfte sich der Tonfall zunehmend, und schliesslich fragten sie ihn, ob er viel Geld dabei habe – dann zückte jemand ein Messer. Da erinnerte er sich an eine Anekdote über die Rolle des «grossen Bruders» in Westafrika, die er einmal in einem meiner Bücher gelesen hatte: Vielerorts in Afrika ist es wichtig, einen Patron zu haben, unter dessen Schutz man sich stellen kann. Dieser «Grand-frère» kann ein Verwandter sein, ein Chef oder ein Politiker. Man erweist ihm Ehrerbietung und Unterstützung; im Gegenzug kann man bei Bedarf auf seine Patronage zählen. Diese Arrangements sind im alltäglichen Leben ebenso wichtig wie in der Politik. Im Fachjargon nennt man solche Verhältnisse «patrimonialistisch». Und nun kam also dem in die Ecke gedrängten Weissen diese Szene in den Sinn, in der jemand einen Älteren als «mon Grand» ansprach – unterwürfig, aber an seine Grosszügigkeit appellierend. Das war es, was er in diesem Moment der Not ebenfalls tat: Er wandte sich an den Ältesten der Gruppe, vermutlich ihr Anführer, und sagte: «Hör mal, ich bin ein Fremder in dieser Stadt, ich kenne niemanden, beherrsche nicht einmal deine Sprache. Du bist von hier, du bist stark, du hast deine Kumpels und bist sogar bewaffnet. Mein Leben liegt in deiner Hand. Du bist wie ein grosser Bruder für mich.» Die Jugendlichen stachen mein SchweiDavid Signer ist Ethnologe, Journalist und Schriftsteller. Zuletzt von zer Partygegenüber nicht ab, um ihn zu berauben und liegenzulassen. Im ihm erschienen: «Die nackten Inseln» (Salis). Gegenteil: schlagartig änderte sich die Stimmung. Zuerst war der Gangführer baff, dann musste er laut lachen. Schliesslich klopfte er dem Reisenden jovial auf die Schulter, unterhielt sich noch ein wenig mit ihm – halb von oben herab, halb brüderlich – und schickte ihn dann fort, nicht ohne ihn noch zu ermahnen, in Zukunft vorsichtiger zu sein. Gerne stellt man Literatur, vor allem die «schöne», fiktive Literatur, dem «wirklichen Leben» entgegen. Dabei wird ein Gegensatz aufgebaut, der nicht zwingend ist. Denn manchmal kann offenbar eine prägnante, verdichtete Beschreibung so hilfreich sein wie ein gut geschliffenes Messer. Romane als Ethnographien lesen Kürzlich las ich Mario Vargas Llosas «Der Traum des Kelten». Der peruanische Schriftsteller bringt uns in seinem Roman die historische Figur des irischen Aufrührers Roger Casement und seine Welt nahe – nicht nur intellektuell, sondern auf verschiedensten Ebenen. Das heisst, wir erleben den schillernden irischen Freiheitskämpfer und Antikolonialisten mit all unseren Sinnen, und das gilt ebenso für die Ausbeutung im Kongo und in Peru, gegen die er sich engagierte. Keine noch so brillante Analyse kann diese ganzheitliche Wahrnehmung bieten. Nun ist «Der Traum des Kelten» ein klassischer, realistischer Roman, der sich im grossen und ganzen an die Fakten hält. Er könnte auch als «literarisierte Biographie» durchgehen. Interessanter ist es, sich die 72


David Signer, photographiert von Michael Wiederstein.

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Literarischer Essay Schweizer Monat 994  märz 2012

Frage nach dem anthropologischen Erkenntnisgewinn anhand der Werke zu stellen, die radikaler «literarisch» sind, das heisst, bei denen die Vorstellungskraft, die Fiktion, das «Irreale» eine grössere Rolle spielen. Ein gutes Beispiel dafür ist der Roman «Das Herrscherkleid» des libyschen Schriftstellers Ibrahim al-Koni. Das Buch erschien im arabischen Original im Jahr 2008, also noch bevor die Unruhen in Tunesien begannen, die dann auf Ägypten und auch auf Libyen übergriffen. Das Werk erzählt in archaisierendem Stil die Geschichte des Tyrannen Assanâj, der eines Tages aus dem Mittagsschlaf erwacht und feststellt, dass sein ledernes Herrscherkleid an seinem Körper haftet. Eine treffende Allegorie auf einen Führer à la Gaddafi, der im Laufe der Jahre so sehr mit seiner Rolle verschmolz, dass er nur durch seinen Tod von der Macht getrennt werden konnte. Wer sich schon gefragt hat, warum sich so viele Diktatoren bis zuletzt an ihre Herrschaft klammern, bis zum Untergang, und nicht stattdessen rechtzeitig ins Exil gehen, um einen schönen Lebensabend zu verbringen – der lese al-Konis Buch, und er wird eine Ahnung davon bekommen, inwiefern absolute Macht einen Menschen entstellt. Bemerkenswert ist, dass al-Koni sich dezidiert gegen «politische Literatur» stellt. Seiner Meinung nach ist ein grosser Teil der heutigen Literatur – in ihrem Realismus – Journalismus und verliert nach wenigen Jahren ihre Bedeutung. Al-Koni denkt in Jahrhunderten, ja Jahrtausenden. Er orientiert sich an der Mythologie der Tuareg, seiner kulturellen Heimat, aber auch an Cervantes, an Homer. Dichtung heisst für ihn: einen Sachverhalt auf eine höhere, allgemeinmenschliche, mythische Ebene heben. Frappierend ist, dass ihm gerade durch diese vermeintlich apolitische Distanz zur Alltagswelt ein Werk gelungen ist, das zeitlos, aber zugleich von stupender politischer Sprengkraft ist. Das erinnert an Niklaus Meienbergs Unterscheidung zwischen Subrealismus und Hyperrealismus. Während einem hyperrealistischen Text eine genaue Recherche vorangehen muss, so Meienberg, eine intellektuelle und sinnliche Vertrautheit mit dem Material, das dann – im Dienste der umso intensiveren Darstellung der Realität – fiktionalisiert, überhöht, «surrealisiert» wird, begnügt sich der Subrealist damit, vage ins Blaue hinaus zu phantasieren. Seine Prosa bleibt dadurch zwangsläufig selbstbezogen, selbstbefangen, ego- und ethnozentrisch. Potentiale und Grenzen der Fiktion Gabriel García Márquez denkt in eine ähnliche Richtung, wenn er zwischen Phantasie und Einbildungskraft unterscheidet. Mit dem «Herbst des Patriarchen» hat García Márquez ein ähnliches Werk wie al-Konis «Das Herrscherkleid» verfasst. Hochliterarisch, fast eine Art Prosagedicht, zugleich jedoch hochpräzis. Er bemerkte denn auch: «Ich selber habe Jahre damit zugebracht, Geschichten und Anekdoten über Diktatoren zu sammeln. Doch bevor ich zu schreiben begann, musste ich alles vergessen, um diesen mythologisch-pathologischen Prototyp unserer Geschichte gestalten zu können.» Wie geglückt die Transzendierung ist, erkennt man schon daran, dass die Unterschiede zwischen al-Konis Wüstendespoten und Márquez’ karibischem Potentaten verschwimmen. Das Szenario, das in den beiden Werken ausgebreitet wird, lässt sich auf Saddam Hussein ebenso anwenden wie auf Robert Mugabe, auf General Franco ebenso wie auf Augusto Pinochet. In «Der Geruch der Guayave» stellt Márquez fest, dass es auch für die Fiktion Gesetze gebe. Die willkürliche Erfindung lässt uns im Innersten kalt, sie ist Kitsch und deshalb amoralisch: «Die glatte Erfindung à la Walt Disney, ohne Anlehnung an die Wirklichkeit, ist das Abscheulichste, was es gibt.» Er bemerkt, die Erfahrung als Journalist habe ihn gelehrt, auch im Fiktiven konkret, das heisst genau und glaubwürdig zu sein. Er erwähnt beispielhaft zwei Stellen aus «Hundert Jahre Einsamkeit»: Remedios der Schönen werden weisse Leintücher umgehängt, um sie zum Himmel aufsteigen zu lassen, und Pater Nicanor Reina trinkt eine Tasse Kakao, bevor er sich zehn Zentimeter vom Boden hebt. Diese Bilder sind auf eine rätselhafte Art stimmig, ähnlich wie gewisse surrealistische Gemälde (man denke etwa an Dalís brennende Giraffen). Liegt es daran, dass die weissen Leintücher an Segel erinnern? Aber warum Kakao, den man doch eher mit süsser Schwere assoziiert? Genau bestimmen lässt sich die Funktionsweise der benutzten Bilder nicht, aber die Intuition sagt uns dennoch, dass es mit Jasmintee vermutlich nicht funktio­ 74


Schweizer Monat 994  märz 2012  Literarischer Essay

nieren würde! Es scheint sich um eine Präzision des Unbewussten, eine irrationale Traumlogik zu handeln. Wir folgern: Auch in der märchenhaften Sphäre gibt es eine Beliebigkeit, die wir als kitschig empfinden (etwa wenn Remedios und der Pater einfach umstandslos fliegen könnten), aber auch eine Prägnanz, die «Stil» hat und uns damit beeindruckt. Es geht hier also weder darum, für einen platten literarischen Realismus zu plädieren («dieser Roman basiert auf einer wahren Begebenheit»), noch für eine dokumentaristische Lektüre («Inwiefern ist das Buch eine adäquate Wiedergabe der Zustände im Land X?»). Im Gegenteil. Wie Milan Kundera in «Die Kunst des Romans» sagte: «Der Roman untersucht die Existenz, nicht die Realität.» Wobei der Akzent nicht nur auf «Existenz», sondern auch auf «untersuchen» gelegt werden muss. Der Schriftsteller im Sinne Kunderas ist nicht jemand, der wiedergibt, sondern ein Forscher und Weiterdenker. Es geht ihm darum, gerade mit den literarischen Mitteln der Verfremdung, der Übertreibung, der Zuspitzung, der Metaphorik, der Entstellung dem wirklichen Erleben näherzukommen als mit pedantischer 1:1-Beschreibung. Ob es dieses klinisch-getreue Abbilden überhaupt gibt, ist ohnehin eine andere Frage, denn: Noch der nüchternste Zeitungsbericht oder die akribischste Ethnographie sind nolens volens immer geschrieben, das heisst Neuerfindungen des Wahrgenommenen, transferiert in ein Medium, das sich elementar von der beschriebenen Aussenwelt unterscheidet. Hinter jedem Text steht ein Autor, das heisst jeder Text ist gemacht, ein willkürlicher, selektiver, kreativer Akt. Einige weitere Beispiele mögen illustrieren, wie fruchtbar dieser literarische Vorteil sein kann: «Der weisse Tiger» des Inders Aravind Adiga ist eine Groteske, die uns den Aufstieg des Landeis und Underdogs Balram erzählt, der es zum Fahrer eines reichen Unternehmers bringt. In Delhi legt er seinen Herrn um und wird selber zum Millionär. Das Buch ist schnoddrig, krass, vulgär, ein dreckiger Witz. Wer aber nach Indien reist und nur diesen Roman mitnimmt, sieht und versteht dank seinen flackernden Schlaglichtern vielleicht mehr, als ein «Lonely Planet» oder ein «Dumont» seinen Augen eröffnet hätten. Der russische Mafia-Geldwäscher Dima in John le Carrés letztem Roman «Verräter wie wir» ist ein dickes, schwitzendes, fluchendes, brutales Monster. Er ist nicht fähig, einen normalen Satz ohne eine Kaskade obszöner Flüche zu formulieren. Und zugleich ist er ein treuer Familienvater und Patriot mit ehernen moralischen Grundsätzen. Le Carré übertreibt bis zur Karikatur. Und trotzdem lernt man aus seinem Roman mehr über die Praktiken der internationalen Geldwäscherei und über das Psychogramm derjenigen, die dort die Fäden ziehen, als durch die tägliche Lektüre der Financial Times. Azaro aus Ben Okris «Die hungrige Strasse» ist ein Geisterkind. Eigentlich ist er nur halb von dieser Welt, und das verrückte Treiben im gegenwärtigen Nigeria, wo er aufwächst, betrachtet er verdutzt wie ein Ausserirdischer. Das ist ein raffinierter literarischer Trick, um die Geschehnisse rund um Madame Kotos heruntergekommene Bar umso absurder erscheinen zu lassen. Aber tatsächlich ist die Vorstellung des Geisterkindes, das nur als fremder Gast hier weilt, in Afrika weit verbreitet, und Ben Okris Buch leuchtet tief in die spirituelle Unterwelt des Kontinents. Der amerikanische Autor Denis Johnson hat ein unerträgliches Gespür für Gewalt. Eigentlich herrscht in all seinen Büchern Krieg. Noch die harmlosesten Szenen – jemand brät Fleisch in einer Pfanne, eine Mutter geht mit ihrem Kind spazieren – werden unter seiner Feder unheimlich. Sein Hauptwerk «Ein gerader Rauch» handelt tatsächlich vom Krieg, vom Vietnamkrieg. Seltsamerweise wird jedoch auf den gesamten 900 Seiten kaum eine Kampfhandlung beschrieben. Lediglich indirekt bekommt der Leser die Konsequenzen des Soldatenalltags zu sehen: Die Protagonisten zerfallen, nach und nach verlieren sie den letzten moralischen Halt, fühlen sich leer, wenn sie keine Befehle auszuführen haben, werden zu wirbellosen Tieren. «Ein gerader Rauch» ist beklemmend und brutal, gerade weil die Brutalität nie geschildert, aber spürbar und allgegenwärtig ist. Stellt man nun also fest, dass fiktive Werke ein oft einprägsameres, tieferes, erkenntnisreicheres Bild einer Gesellschaft vermitteln als Sachbücher, muss man sich umgekehrt überlegen, inwiefern beispielsweise sozialwissenschaftliches Schreiben erweitert werden könnte. Ganz ähnlich wie sich in den Printmedien ab den Sechzigerjahren der Gedanke offenerer, literarischerer, weniger kodifizierter Schreibformen durchsetzte («New Journalism»), so setzte in den Acht75


Literarischer Essay Schweizer Monat 994  märz 2012

zigerjahren vor allem in der amerikanischen Ethnologie eine intensive Diskussion über die – meist unausgesprochenen – Regeln und Normen des akademischen Schreibens ein. Warum, so fragten die Exponenten der sogenannten «Writing Culture»-Debatte, sollen eigentlich Emotionalität, Empathie, Sinnlichkeit, Subjektivität oder Humor in einer Ethnographie keinen Platz haben? Und warum sind die Einheimischen auf den Platz der Objekte, bestenfalls der anonymen Zitatezulieferer verwiesen, über die dann ein gelehrter Metadiskurs gehalten wird? Im Gegensatz zu den wissenschaftlichen Säulenheiligen, bei denen man sich permanent rückversichern muss? Was sagt das aus über den Autoritarismus und die Machtbeziehungen, die buchstäblich den stilistischen Gepflogenheiten eingeschrieben sind? Liessen sich nicht gleichberechtigtere Formen des Zusammenarbeitens zwischen Forschern und «Informanten» denken, etwa in Gestalt von dialogischen, polyphonen Berichten? Als Vorläufer einer freieren Art des ethnologischen Schreibens gelten Claude Lévi-Strauss («Traurige Tropen») und Michel Leiris («Phantom Afrika») oder auch, etwas später, Clifford Geertz («Deep Play: Bemerkungen zum balinesischen Hahnenkampf» und der theoretische Grundlagentext «Dichte Beschreibung»). Im deutschsprachigen Raum avancierte der Schriftsteller Hubert Fichte zum Pionier der «Ethnopoesie» («Xango»). Seither wurden vielfältige Versuche unternommen, das Prokrustesbett der akademischen Schreibweise aufzubrechen in Richtung einer ganzheitlicheren Darstellung: «Evozierung statt Repräsentation» lautete die Parole. Einzig: im deutschsprachigen Gebiet blieben diese Vorstösse ohne grössere Wirkung. Das Gros der universitären Arbeiten liest sich weiterhin so papieren, grau und knöcherig wie eh und je. Das spiegelt sich dann auch in den Auflagen. Ein durchschnittlicher Leser greift anstelle einer seriösen, aber staubtrockenen Studie lieber zu einem ethnologischen Scherzartikel wie Nigel Barleys «Die Raupenplage», zu «Afrikanisches Fieber» des brillanten, aber im Detail nicht immer allzu genauen Ryszard Kapuściński, zu den kitschigen Ergüssen einer Corinne Hofmann («Die weisse Massai») oder zu einem genialen Flunkerer wie Carlos Castaneda («Die Reise nach Ixtlan»), der seine Erkenntnisse nicht wie behauptet bei abenteuerlichen Initiationen unter dem Yaqui-Schamanen Don Juan in Mexiko gewann, sondern ganz profan in der Bibliothek recherchierte und seine Exzerpte dann zu einem als Ethnographie getarnten Roman aufpimpte. Aber: Castanedas Romane werden gelesen, ganz im Gegenteil zu manch anderem Werk mit hohen sozialwissenschaftlichen Ambitionen. Anstatt sich nun über die Dummheit des breiten Publikums zu empören, müssten sich die Experten wohl einfach bemühen, etwas lebendiger zu schreiben. Literaturliebhaber sind besser informiert Die These, dass die Literatur uns die Welt in vielen Fällen näher bringt als Sachbücher oder die «Tagesschau», wurde kürzlich sogar wissenschaftlich belegt. Forscher der Fairleigh Dickinson University befragten 612 Bewohner New Jerseys nach ihren Nachrichtenquellen und nach dem aktuellen Weltgeschehen. Überraschendes Fazit: Diejenigen, die zwar Literatur lasen, sich aber praktisch keine Nachrichten zu Gemüte führten, beantworteten aktuelle Fragen («War der Protest in Ägypten erfolgreich?»; «Stehen die Occupy-Demonstranten politisch eher den Republikanern oder den Demokraten nahe?») besser als diejenigen, die regelmässig Sendungen des amerikanischen Nachrichtensenders Fox News sahen, aber keine Bücher lasen (und selbstverständlich das Gefühl hatten, sie seien «informiert»). Aus einem einfachen Grund: Wer Literatur liest, entwickelt einen inneren Kompass und eine unsichtbare Karte, mit denen er sich auch angesichts neuer Situationen rasch orientieren kann. Und vielleicht funktioniert das umso besser, weil der Literaturleser im Gegensatz zum Newskonsumenten weiss, dass er sich auf diese Orientierung nicht allzu viel einbilden sollte; dass wir angesichts des unberechenbaren Lebens unaufhörlich überrascht werden – unwissend, uninformiert, von Versuch zu Versuch strauchelnd, immer wieder aufs neue desorientiert. Der Roman ist genau diesem Lebendigen auf der Spur, gerade indem er nicht das Bekannte abbildet, sondern unermüdlich am Rand des Unbekannten, des Möglichen und Unmöglichen operiert. �

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Schweizer Monat 994  märz 2012  zwischen den zeilen

Nachts ist’s kälter als draussen Vom Stillsitzen hält er wenig. Die meisten Sätze führt er nicht zu Ende. Für uns macht er eine Ausnahme. Kabarettist Piet Klocke über deutsche Hysterie, dadaistische Konkurrenz aus Bayern und sein gestörtes Navigationssystem. Michael Wiederstein trifft Piet Klocke

Herr Klocke, Sie spielen auf der Bühne den zerstreuten Professor. Haben wir es hier mit einer explizit deutschen Figur zu tun? Ja, die Figur… wie soll ich sagen? Sie ist sicher etwas bürokratisch. Hektik und Zerstreutheit gibt es aber ja nicht nur unter Deutschen. Deutscher als die Zerstreuung ist vielleicht das Hysterische. Hysterie, die Grundbefindlichkeit der Stunde. Die Deutschen sollen derzeit ganz Europa retten, wissen aber weder, ob sie dazu wirklich willens sind, noch, wie sie es anstellen sollen. Es geht mir mehr um die Berichterstattung in den Medien. Ich sage immer: die Informationen sind mittlerweile so schnell, dass man gar nicht weiss, ob die dazu passenden Ereignisse überhaupt schon stattgefunden haben! Und der zerstreute Professor, der in diesem Fall eher alltagsuntauglich ist, ist morgens um fünf schon so gut informiert, dass er gar keine Lust mehr hat, aufzustehen. Das habe ich jetzt nicht genau verstanden. Was hat das eine mit dem anderen zu tun? Nehmen Sie den Tsunami in Japan vor einem Jahr, als man im deutschen Fernsehen zum achttausendsten Mal die gleiche Riesenwelle über Japan hinwegrollen sah – aus immer wieder neuen, erschreckenden Perspektiven und mit noch mehr Geschrei und neuen Todesopferzahlen. Das kann doch für den einen oder anderen schon, nun, ähm, irgendwie überfordernd sein. Das gleiche gilt für BSE, H5N1, FSME und ESM. Für medial geschürten Katastrophismus habe ich kein Verständnis, da kriege ich einen Hals. Deswegen mache ich auch kein politisches Kabarett, glaube ich. Jetzt sind Sie aber schon recht politisch gewesen… Glauben Sie mir: man kann sich nicht bis in die Unendlichkeit über Tagespolitik aufregen, und das würde ich. Meine Kunstfigur ist auch ein grosser Schutz für mich persönlich – um nicht an den Dingen um mich herum zu verzweifeln. Ich beneide so manch anderen um seine Oberflächlichkeit. Sie befähigt ihn, nach Katastrophen einfach darauf zu hoffen, dass bald die Sonne wieder scheint – und er zur Tagesordnung übergehen kann. Beneidenswert! Ich kann mir ja die Namen mancher Politiker nicht einmal merken – wenn ich die schon sehe, wird mir ganz anders. Jeder weiss doch, was da hinter verschlossenen Türen alles abläuft…

Piet Klocke ist Musiker, Autor und unpolitischer Kabarettist. Von ihm zuletzt erschienen: «Kann ich hier vielleicht mal einen Satz zu Ende…?!» (Heyne). Piet Klocke lebt in Essen. Er tritt am 7. März in Miller’s Studio in Zürich auf. www.millers-studio.ch

Offenbar ja nicht. Da haben Sie vollkommen recht! Gut. Andersherum: Sie haben ein Buch mit dem schönen Titel «Kann ich hier mal einen Satz zu Ende…?!» geschrieben… …genau. Ich behandle den Menschen mit seinen alltäglichen Unvollkommenheiten. Alltägliches Scheitern ist eine schöne Sache! Inwiefern? Ich möchte den Leuten Wärme mitgeben, ihnen zeigen, dass niemand vollkommen ist. Auch auf der Bühne. Leute, die nur mit ihrem Zynismus allein auf der Bühne sind, machen mich wahnsinnig. Die gibt es nicht nur in Deutschland, aber dort bringen die Nachrichten ja neuerdings schon so viel Realsatire, dass viele meiner Satirikerkollegen Gefahr laufen, arbeitslos zu werden. Die Realität ist schon so absurd, dass man auf der Bühne gar nichts mehr daraus machen muss. Die generelle Unübersichtlichkeit sorgt übrigens auch dafür, dass man niemandem mehr vertrauen kann. Ist denn Piet Klocke vertrauenswürdig? Das weiss ich nicht. (lacht) Aber der Zuschauer sagt immerhin: Gott sei Dank – es geht noch schlimmer als bei mir! Das alte Prinzip der Clowns. Mein Vorbild war eher der deutsche Kabarettist Werner Finck, dem auch im Kopf so schnell die Assoziationen kommen, dass er gar nicht mehr weiss… ja. Sehen Sie!? Wollten Sie nie Clown werden? Nicht wirklich. Ich war ein introvertierter Typ. Ich hatte keine eitlen Motive, wollte gar nicht auf die Bühne tapsen. Die Bühne ist mir beinahe widerfahren. 77


Piet Klocke, photographiert von Michael Wiederstein.

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Schweizer Monat 994  märz 2012  zwischen den zeilen

Sie waren Mitglied einer Jazz-Punkband und haben Filmmusik gemacht. Nun zieren Sie sich doch nicht so. …und auch sehr erfolgreich! Aber der Filmmusiker sitzt auch eher als zurückgezogener Dienstleister vor zwei Bildschirmen. Mit einem gecrackten Sequenzer-Musikprogramm – bis morgens um halb vier. Und fragt sich dann: Habe ich eigentlich schon zu Mittag gegessen? Irgendwann kamen dann die Privatsender auf, und die wurden rasch so zahlreich, dass das Niveau nicht mehr haltbar blieb. Sendezeit musste da plötzlich gefüllt werden... Man rief Sie an, um Sendezeit zu füllen? Man rief mich an und sagte: Wir wollen Filmmusik! Qualität wie in Hollywood, das aber in 14 Tagen! Piano, habe ich gesagt, alles braucht seine Zeit. Vor allem anständige Arbeit. Man kann ja nicht innerhalb von zwei Tagen eine Arbeit abgeben, die eigentlich einen Zeitraum von einem halben Jahr benötigt. Zu einem Typen bei Sat 1 habe ich dann einmal gesagt: In meinem Keller habe ich noch drei Disketten, da steht drauf: Liebe, Tod, Hass. Könnt ihr haben, kopiert euch was runter! (lacht) Apropos kopieren: Ich habe mich erst kürzlich wieder gefragt: wo ist eigentlich das Urheberrecht hin? Ist es weg? Scheint so. Kürzlich bin ich in Deutschland aufgetreten, und in der ersten Reihe sassen drei Azubis mit Block und Kugelschreiber. Und dann denke ich mittlerweile schon: morgen siehst du deine Ideen in irgendeiner Fernsehshow, allerdings vorgetragen von irgendeinem Künstler, dem sie zugeschrieben wurden und der nicht einmal weiss, woher die Gags tatsächlich kommen. Nicht nur Literaturpreisträgerinnen und Verteidigungsminister machen das so, sondern auch Kabarettisten. Macht denn das Urheberrecht überhaupt Sinn? In seiner jetzigen Form nicht. Aber ich finde durchaus, dass man a) für seine Ideen bezahlt werden und b) diese dann auch gewürdigt werden sollten. Dieses ständige Kopieren ist eine Unart. Und das muss man auch mal sagen. Haben Sie die Filmmusik deshalb an den Nagel gehängt? Nein, mir fehlte dafür die Zeit, als ich mein Hobby des Musiktheaters zum Beruf machte. Hier kam dann auch der Piet Klocke zum Vorschein, den man heute aus dem Fernsehen kennt. Hin und wieder verspüre ich eine Art Sehnsucht nach der Filmmusik... aber als Komödiant lebt es sich finanziell eben besser. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Sie Ihre Nummern im eigentlichen Sinne schreiben. Das wirkt improvisiert. Und Sie haben recht, das geht auch kaum. Gott sei Dank! Den, der das schreiben kann, will ich mal sehen! Und erst den Lektor! Der ruft nach zwei Stunden seinen Arzt an und sagt: «Ich habe da ein ganz spezielles Problem...» Aber mal im Ernst: Weil ich assoziativ arbeite, habe ich eine andere Strategie. Am besten lässt es sich geographisch erklären: Ich nehme mir eine Strecke vor. Von Zü-

rich nach Hamburg etwa. Ich mache mir Stichpunkte, wo ich am besten vorbeifahren könnte. Basel vielleicht, oder Frankfurt. Plötzlich aber kommt mir auf der Fahrt der Gedanke: über Belgien könnte man noch einen Abstecher machen! Und in Moskau wollte ich schon immer mal zu McDonaldʼs gehen. Irgendwann komme ich aber trotzdem in Hamburg an! Weil ich keine Pointen habe, ist der Weg wichtiger als das Ziel. Und der Zuschauer muss diesen Umweg mitgehen, man muss spüren, dass ich mich verlaufe – und er muss das vervollständigen, was ich durch den Umweg verpasse! Ergo: wenn die Assoziationen zu irrsinnig sind, merke ich das an der Reaktion der Leute: denn dann gibt es keine! Wie gehen Ihre Fans damit um, wenn Sie Ihre Bühnenfigur und die Art des Auftritts verändern? Im Moment fuchtle ich auf der Bühne nicht mehr so viel herum wie noch vor ein paar Jahren. Ich breche auch nicht mehr so stark die Sätze ab. Wenn ich heute auf der Bühne stehe, hat der Auftritt eher einen philosophisch-dadaistischen Touch. Dadaisten hatten in der Öffentlichkeit immer einen schweren Stand… …na dann habe ich ja Glück! Mein neues Programm kommt gut an. Ausserdem musste ich mich ja mit dem alten, noch chaotischeren Auftritt eh dem bayerischen Ministerpräsidenten Stoiber geschlagen geben. Dessen Ausführungen zu den Reisewegen von München in die ganze Welt, bekannt von YouTube, konnte ich nicht mehr toppen. (lacht) Für mich gilt: nur Dada wäre bloss Selbstbefriedigung. Vergessen wir also Ihren politisch ambitionierten Kollegen in München. Wie ist Ihr Kontakt zu Kollegen in der Schweiz? Ich kenne den Simon Enzler aus dem Appenzell. Der hat da mal ein Kabarettfestival gemacht. Und Ursus und Nadeschkin. Die Kollegen halt, die auch hin und wieder in Arosa beim Humorfestival spielen. Da ging ich gern hin – vor allem, weil ich mir dort mit Michael Mittermeier wilde Verfolgungsjagden im Schneemobil liefern konnte. Tauschen sich die Komödianten nicht über die Landesgrenzen hinweg… Soll ich Ihnen etwas sagen? Es läuft sehr viel ohne Humor ab in diesem Geschäft. Ich versuche immer wieder, da Kontakte zu halten. Aber es gibt in diesem Betrieb so viele Verrückte, die vor lauter Ehrgeiz nicht mehr geradeausschauen können. Und so einer bin ich nicht. Also sind viele Komödianten privat gar nicht lustig? Nein. Und wieso sie auf der Bühne hin und wieder mal lustig sind, hat einen ganz einfachen Grund: Sie haben Autoren, die ihnen die Programme schreiben. Von einem Comedian können bis zu sechs Autorenfamilien ernährt werden. Und es sind unglaublich viele Kollegen, die durch diese Praxis austauschbar werden. Wenn Sie denen die Unterlagen wegnehmen, bleibt da nichts! Wie halten Sie es mit den Ghostwritern? Ich sage mir: wenn mir nichts mehr einfällt, höre ich einfach auf. � 79


nacht des monats Schweizer Monat 994  märz 2012

Nacht des Monats Michael Wiederstein trifft Francesco Micieli

K

ennen Sie Lützelflüh-Goldbach? Nein? Ich auch nicht. Als Francesco Micieli im Frühjahr 1977 mit Lützelflüh seine zweite Heimat verliess, Jahre zuvor hatte er bereits als kleiner Junge das Örtchen Santa Sofia d’Epiro in Kalabrien hinter sich gelassen, ahnte er noch nicht, dass der kleine Ort im Emmental Schauplatz seiner Bücher werden sollte. Derjenigen Bücher, die die ersten gewichtigen Initiationsbrocken einer ganzen Lawine sogenannter Migrationsliteratur darstellen würden. Die Initiation für seinen ersten Prosatext, so wird mir Francesco später erzählen, fand während seines Studiums genau hier statt: am Hauptbahnhof Bern. Als ich Francesco an diesem bitterkalten Dienstagabend im Februar die Hand schüttle, lächelt er, obwohl ich ihn habe warten lassen. «Eigentlich», so beginnt er, «wollte ich dir die mediterranen Seiten Berns zeigen: die untere Altstadt zum Beispiel.» Bei –18° C, ein voller Mond lässt gefrorene Luft vor unseren Augen silbrig tan«Wir werden Freunde!», zen, wird daraus nichts. In beiderseitigem Einverruft er und zündet nehmen. Als wir kurz darsich eine weitere auf im warmen Lorenzini «Fred» an. (ein Zugeständnis ans Mediterrane, immerhin) an der Bar Zuflucht suchen und uns zwischen Carlsberg, San Miguel, Feldschlösschen und Heineken entscheiden müssen, fällt Francescos Wahl auf das Rheinfelder Gebräu. «Heimat», sagt der ehemalige Präsident des Verbandes Autorinnen und Autoren der Schweiz, «das ist dort, wo du nichts erklären musst. Da, wo die Geschichte gegeben ist. Salute!» Er lacht. Die «gewisse mediterrane Art» der Bundesstadt ist Francesco Micieli während des Studiums aufgefallen. Als Kind italienischer Gastarbeiter sucht er sich in den 1970er Jahren in Bern Orte, an denen er «nicht auffällt». Er sitzt, wenn gerade keine Vorlesungen sind, an der Aare und fragt sich: «Was geschieht mit dir, wenn du an einem Ort sein willst?» Seine Einwandererbiographie weiss er bis anhin nicht recht zu deuten. Als er damals am Bahnhof vorbeikam – es sei eine Vorlesung ausgefallen, sagt er, und es fanden 80

auch gerade keine Demos statt –, registrierte seine Nase einen Geruch, der ihn an seine Kindheit in Kalabrien erinnerte. An die drei Jahre bei den Grosseltern, als seine Eltern schon in der Schweiz waren und auf die Familiennachzugserlaubnis warteten. Und sein nun germanistisch, linguistisch und romanistisch gelüftetes Studentengehirn machte einen Satz aus dem Geruch: «Der Zahn meiner Grossmutter lacht.» Francesco macht eine Pause. Dieser deutschsprachige Erinnerungsfetzen aus italienischer Vergangenheit, so sagt er, entzündete seine Phantasie und liess ihn im stillen Kämmerlein mehr davon erdichten. Auf einem Geburtstagsfest von Kurt Marti begegnet er dem Militärdienstbefreier der Schweiz, dem Psychiater und Schriftsteller Walter Vogt, und zeigt ihm beiläufig seine Texte. Vogt rät Micieli zu einer Veröffentlichung. Doch Francesco wartet ab. Erst spielt er im Solothurner «Kreuz» Theater. Er schlüpft in die Rolle von Boxlegende Fritz «Die Berner Fliege» Chervet, nimmt hierfür Boxunterricht bei Charly Bühler an der Kochergasse 4. Direkt gegenüber, im Fumoir des Hotel Belle­ vue, finden wir uns später in dieser kalten Nacht zwischen neureichen Zigarrenrauchern und knappen Röckchen wieder. «Ich bin wohl disparat geworden», lacht Francesco. Die Gründung eines eigenen Kellertheaters in Burgdorf Ende der 1970er Jahre, sagt er, sei wohl eine Art Abwehrreaktion auf das an ihn herangetragene ausschliessliche Schriftstellerdasein gewesen. Vielleicht hätte er es wie so viele andere Italiener eher in Hollywood versuchen sollen, sage ich. Francesco schaut mich prüfend an, um dann bedeutungsschwanger zu fragen: «Tarantino oder Leone?» «Leone», sage ich. «Vor allem wegen Morricone.» Von seinem Eggerbier bleibt ein kleiner Schaumbart zurück, als er laut lachend das Glas absetzen muss. «Wir werden Freunde!», ruft er, zündet sich eine weitere «Fred» an und referiert über italoamerikanische Schauspieler wie Joe Pesci, John Travolta und John Turturro. Das Disparate ist geblieben, dennoch ist Francesco Micieli heute vor allem eines: Schriftsteller. Er erhält noch immer Leserbriefe von Migranten, die seine einfach-einprägsamen Texte in Schweizer Deutschkursen – in denen afrikanische Königssöhne neben brasilianischen Tänzerinnen sitzen – lesen und sich darin wiederfinden. Damit hat er Lützelflüh wohl einen grösseren Dienst erwiesen als seine weit berühmteren Ex-Landsleute ihrer Wahlheimat Los Angeles. �


Francesco Micieli, photographiert von Michael Wiederstein.

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ausblick

Schweizer Monat 994 März 2012

Impressum «Schweizer Monat», Nr. 994 92. Jahr, Ausgabe März 2012 ISSN 0036-7400 Die Zeitschrift wurde 1921 als «Schweizerische Monatshefte» gegründet und erschien ab 1931 als «Schweizer Monatshefte». Seit 2011 heisst sie «Schweizer Monat». VERLAG SMH Verlag AG HERAUSGEBER & CHEFREDAKTOR René Scheu rene.scheu@schweizermonat.ch

Im nächsten «Schweizer Monat» Schlaumeierei, Mitte und Mass? Herfried Münkler, Pascal Couchepin und Gerhard Schwarz über die Schweiz

Trojaner im System Das Künstlerduo «The Yes Men» sabotiert die Inszenierer des Kapitalismus

Von der Depression zur Rezession Wirtschaftshistoriker Harold James über Krisen damals und heute

Wasser und Wein predigen Unternehmer Donald Hess über gute Tropfen

RESSORT POLITIK & WIRTSCHAFT Florian Rittmeyer florian.rittmeyer@schweizermonat.ch RESSORT KULTUR Michael Wiederstein michael.wiederstein@schweizermonat.ch STAGE Sabina Galbiati DOSSIER Jede Ausgabe enthält einen eigenen Themenschwerpunkt, den wir zusammen mit einem Partner lancieren. Wir leisten die unabhängige redaktionelle Aufbereitung des Themas. Der Dossierpartner ermöglicht uns durch seine Unterstützung dessen Realisierung. KORREKTORAT Roger Gaston Sutter Der «Schweizer Monat» folgt den Vorschlägen zur Rechtschreibung der Schweizer Orthographischen Konferenz (SOK), www.sok.ch. GESTALTUNG & PRODUKTION Pascal Zgraggen pascal.zgraggen@aformat.ch MARKETING & VERKAUF Urs Arnold urs.arnold@schweizermonat.ch ADMINISTRATION/LESERSERVICE Anneliese Klingler (Leitung) anneliese.klingler@schweizermonat.ch Rita Winiger rita.winiger@schweizermonat.ch FREUNDESKREIS Franz Albers, Georges Bindschedler, Elisabeth Buhofer, Peter Forstmoser, Titus Gebel, Annelies Haecki-Buhofer, Manfred Halter, Creed Künzle, Fredy Lienhard, Heinz Müller-Merz, Daniel Model, Ullin Streiff ADRESSE «Schweizer Monat» SMH Verlag AG Vogelsangstrasse 52 8006 Zürich +41 (0)44 361 26 06 www.schweizermonat.ch ANZEIGEN anzeigen@schweizermonat.ch PREISE Jahresabo Fr. 165.– / Euro 118.– 2-Jahres-Abo Fr. 297.– / Euro 212.– Abo auf Lebenszeit / auf Anfrage Einzelheft Fr. 19.50 / Euro 16.50.– Studenten und Auszubildende erhalten 50% Ermässigung auf das Jahresabonnement. DRUCK pmc Print Media Corporation, Oetwil am See www.pmcoetwil.ch BESTELLUNGEN www.schweizermonat.ch

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zahlt sich aus.

Out-Performance gegenüber Benchmark per 30.12.2011

1 Jahr

3 Jahre p. a.

5 Jahre p. a.

Vontobel Fund – Global Value Equity (B) (MSCI – AC World TR Net, vor 31.12.2010 MSCI World Index TR Net) Referenzwährung: USD

11,2 %

2,3 %

3,9 %

15,2 %

3,5 %

3,5 %

Vontobel Fund – Emerging Markets Equity (B) (MSCI – Emerging Markets TR Net) Referenzwährung: USD

Rating

Morningstar Awards Switzerland Best Global Large-Cap Equity Fund

Wichtige rechtliche Hinweise: Die vorliegende Dokumentation ist keine Offerte zum Kauf oder zur Zeichnung von Anteilen. Zeichnungen von Anteilen an Teilfonds der luxemburgischen SICAV Vontobel Fund erfolgen nur auf der Grundlage des Verkaufsprospektes, des KIID, der Statuten sowie des Jahres- und Halbjahresberichtes (Italien zusätzlich Modulo di Sottoscrizione). Wir empfehlen Ihnen zudem, vor jeder Anlage Ihren Kundenberater oder andere Berater zu kontaktieren. Ein Investment in Teilfonds des Vontobel Fund birgt Risiken, die im Verkaufsprospekt erläutert sind. Alle Unterlagen sowie die Zusammensetzung der Benchmarks sind kostenlos bei der Vontobel Fonds Services AG, Gotthardstrasse 43, CH-8022 Zürich, als Vertreterin in der Schweiz, der Bank Vontobel AG, Gotthardstrasse 43, CH-8022 Zürich, als Zahlstelle in der Schweiz, bei der Bank Vontobel Österreich AG, Rathausplatz 4, A-5020 Salzburg, als Zahlstelle in Österreich, bei B. Metzler seel. Sohn & Co. KGaA, Grosse Gallusstrasse 18, D-60311 Frankfurt am Main, als Zahlstelle in Deutschland, bei den autorisierten Vertriebsstellen, am Sitz des Fonds in 69, route d’Esch, L-1470 Luxembourg, oder über funds.vontobel.com erhältlich. Die historische Performance stellt keinen Indikator für die laufende oder zukünftige Performance dar. Die Performancedaten lassen die bei der Ausgabe und Rücknahme der Anteile erhobenen Kommissionen und Kosten unberücksichtigt. Die Rendite des Fonds kann infolge von Währungsschwankungen steigen oder fallen. © (2012) Morningstar. Alle Rechte vorbehalten. Die hierin enthaltenen Informationen (1) sind für Morningstar und/oder ihre Inhalteanbieter urheberrechtlich geschützt; (2) dürfen nicht vervielfältigt oder verbreitet werden; und (3) deren Richtigkeit, Vollständigkeit oder Aktualität wird nicht garantiert. Weder Morningstar noch deren Inhalteanbieter sind verantwortlich für etwaige Schäden oder Verluste, die aus der Verwendung dieser Informationen entstehen. Die Wertentwicklungen in der Vergangenheit sind keine Garantie für zukünftige Ergebnisse. Ein S & P Fund Management Rating repräsentiert lediglich eine Meinung und sollte bei einer Investmententscheidung nicht als verlässlich betrachtet werden. «S & P» und «Standard & Poor’s» sind Warenzeichen von The McGraw-Hill Companies, Inc. Copyright 2012 © Standard & Poor’s Financial Services LLC.

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