995 (April 2012)

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Ausgabe 995 April 2012 CHF 19.50 / Euro 16.50

D i e Au t o r e n z e i t s c h r i f t f ü r P o l i t i k , W i r t s c h a f t u n d K u lt u r

Der Abenteurer Das unglaubliche Leben des grünen Unternehmers Donald Hess

Taktieren statt moralisieren Gerhard Schwarz plädiert für mehr Schlauheit im Umgang mit dem Ausland

Bürger, Bewegte und Empörte Vera Lengsfeld und Pascal Couchepin zur Lage der Freiheit

«The Yes Men» – die Macht der Ja-Sager


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Schweizer Monat 995 April 2012  Editorial

Editorial

S René Scheu Herausgeber

ein Leben liest sich wie einen modernen Schelmenroman. Donald Hess wurde über Nacht zum Brauereibesitzer in Bern, fand sich dank Zufall in der Rolle des Hoteliers in Marokko wieder und machte das Valserwasser zum Kultwasser in der Schweiz, bevor er es im richtigen Moment verkaufte. Heute produziert er Spitzenweine auf vier Kontinenten und sammelt eifrig Gegenwartskunst. Er erinnert sich: es war der Berner Künstler Rolf Iseli, der ihn vor 50 Jahren inspirierte, die erste grüne Holding der Schweiz zu gründen. Mehr zum Leben des abenteuerlichen Unter­nehmers Donald Hess im grossen Gespräch ab S. 14.

Für regelmässige Empörung unter Geschäftsleuten sorgen die amerikanischen Kunstaktivisten «The Yes Men». Andy Bichlbaum und Mike Bonanno haben in Eigenregie die Abschaffung der WTO ausgerufen, den Irak-Krieg schon 2008 für beendet erklärt und an internationalen Managerkonferenzen Rettungskapseln gegen den Klimawandel verkauft. Was sie sonst noch vorhaben, erklären die «Kapitalismus-Hacker» im Gespräch ab S. 24. Ein Vorbild für die USA sehen die beiden Kunstaktivisten in der direktdemokratischen Schweiz. Doch die Schweiz wirkt gegenwärtig eher orientierungslos. Während Amerikaner, Briten und Deutsche die Interessen ihres Finanzplatzes vehement verteidigen, verkündet die Alpenrepublik stolz eine «Weissgeldstrategie» – die perfekte PR-Kampagne, um die eigenen Bankinstitute zu «Schwarzgeld»-Verwaltern zu stempeln. Abgeltungssteuer, Flughafenstreit, Bilaterale III – die Probleme türmen sich. Sind die Zeiten helvetischer Schlaumeierei vorbei, wie nun viele frohlocken? Im Gegenteil, schreibt Avenir-Suisse-Direktor Gerhard Schwarz ab S. 44. Mehr zur Lage der Schweiz von Nicola Forster, Dieter Freiburghaus, Gerd Habermann, Parag Khanna und Herfried Münkler im Dossier ab S. 41. Die Bürgerrechtlerin Vera Lengsfeld diagnostiziert im alten Europa einen «sozial­ demokratisch-etatistisch-ökologischen Konsens», der sich wie Mehltau über alle existentiellen Bereiche legt. Die deutsche Politikerin weiss, wovon sie spricht. Sie wuchs in der DDR auf und wurde hart angefasst, als sie gegen den verordneten Konsens aufbegehrte. Lesen Sie ihren Essay über den neu erwachten Freiheitssinn ab S. 31. Alt Bundesrat Pascal Couchepin erklärt derweil auf S. 34, warum der helvetische Liberalismus die perfekte Antwort auf die «Empörten» bereithält. Die Redaktion ist derzeit ständig unterwegs. Wir führen viele Gespräche und reizen helle Köpfe dazu, Sie zum Weiterdenken anzuregen, mit Texten aus Politik (siehe oben), Wirtschaft (Harold James, S. 36) und Kultur (Boris Groys, S. 74)!

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Inhalt  Schweizer Monat 995 April 2012

Inhalt

Anstossen

Vertiefen

7 Die «Steuersünder» René Scheu

41 Die Schweiz: Glücksfall? Sonderfall? Sündenfall?

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Aufwachen? Weiterträumen! Christian P. Hoffmann

9 Halten Sie sich für überdurchschnittlich? Xenia Tchoumitcheva 10 Abgang Wolfgang Sofsky 12 Die Steuerzahlersekte David Dürr 13 Das Finanzloch # 3 Andreas Thiel

44 1_Klug, schlau, listig Gerhard Schwarz 48 2_Land der Mitte? René Scheu spricht mit Herfried Münkler 51 3_Ein Hoch auf das Mittelmass Dieter Freiburghaus 56 4_Noch nicht verbrüsselt Gerd Habermann 58 5_Der neue Deal Nicola Forster 61 6_Der Städtestaat Florian Rittmeyer spricht mit Parag Khanna

Weiterdenken 14 Der Abenteurer René Scheu trifft Donald Hess 22

Finanzmärkte sind keine Nullsummenspiele Martin Janssen

23 Politik vor Presse Gottlieb F. Höpli 24 Die Macht der Ja-Sager Johannes M. Hedinger und Michael Wiederstein treffen «The Yes Men» 31

Die Rückkehr des Freiheitssinns Vera Lengsfeld

34 Freisinnige Lebenskunst Pascal Couchepin 36 Das grosse Platzen Florian Rittmeyer und Claudia Mäder treffen Harold James

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Erzählen 64 Glänzender Auftritt Claudia Mäder 65 Bildessay: Glänzender Auftritt Thomas Burla 70 Gesichtsschreibung René Scheu und Sabina Galbiati treffen Matthias Frehner 74 Marx nach Duchamp Boris Groys 80 Nacht des Monats mit Stephan Bader Michael Wiederstein


Schweizer Monat 995 April 2012  Inhalt

44 Die Schweiz muss versuchen, eine Art Semi-Autonomie zu bewahren. Und sie sollte das durchaus fair und anständig, aber sehr wohl auch klug, schlau, ja geradezu listig versuchen. Gerhard Schwarz

In einer Zeit, wo sich in ganz Europa ein sozialdemokratisch-etatistisch-ökologischer Parteienkonsens wie Mehltau über alle existentiellen Bereiche legt, wirken vom Mainstream abweichende Ideen wie eine frische Brise. Vera Lengsfeld auf Seite

31

Der Schweizerische Bierbrauerverband verpflichtete Cardinal, mir ein 40jähriges Bierberufsverbot in der Schweiz aufzuerlegen! Ich erachtete dieses Verbot als ein Kompliment für meine vielen Störaktionen. Donald Hess auf Seite

14

Die Duchampsche Revolution führt nicht zu einer Befreiung des Künstlers von der Arbeit, sondern zu seiner Proletarisierung durch entfremdete Konstruktions- und Transportarbeit. Boris Groys auf Seite

74

24 Unsere Währung ist die Aufmerksamkeit. Damit können wir zwar niemanden bestechen – aber Aufmerksamkeit ist immerhin inflationssicher. «The Yes Men» Titelbild: Donald Hess, photographiert von Thomas Burla.

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Schweizer Monat 995 April 2012  Notizbuch

Ohne Scheuklappen

Die «Steuersünder»

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er heute den Begriff «Steuersünder» in Anführungszeichen setzt, macht sich verdächtig. Will da einer relativieren? Nein, will er nicht. Er will bloss Klarheit schaffen. Und darum hat er den Begriff erst einmal eingeklammert. «Grundlage und Schranke staatlichen Handelns ist das Recht», heisst es in der Bundesverfassung. Der Staat darf nicht alles. Macht er sich gestohlene Finanzdaten zunutze, gebärdet er sich als Hehler. Das ist die offizielle Schweizer Lesart und auch der Grund, weshalb die Schweiz keine Amtshilfe leistet, wenn Deutschland auf der Basis gestohlener Daten ein Gesuch wegen Verdachts auf Steuerbetrug an die Schweizer Behörden stellt. Der Nationalrat hat diese Lesart jüngst bekräftigt, doch richtet er sich damit bloss noch an die Tribünengäste. Der Schweizer Staat pflegt längst die Kultur des «double standard». Blenden wir zurück: im Jahre 2000 erhielten deutsche Steuerbehörden vom Mitarbeiter eines liechtensteinischen Treuhandbüros eine gestohlene CD-ROM, die Kundendaten mutmasslicher Steuerbetrüger enthielt. Da auf der gestohlenen CD auch die Namen von Schweizer Bürgern auftauchten, leiteten die deutschen Behörden dieselben pflichtbewusst an die Schweizer Kollegen weiter, die sie wiederum an die kantonalen Behörden übergaben, die ebenfalls zahlreiche Strafverfahren gegen mutmassliche Schweizer Steuerbetrüger eröffneten. Einer der Angeklagten zog den Fall bis vors Bundesgericht – und verlor (Bundesgerichtsurteil vom 2. Oktober 2007). Halten wir also fest: auch Schweizer Steuerbehörden dürfen gestohlene Daten benutzen, um Jagd auf mutmassliche Schweizer Steuerbetrüger zu machen. Steuerbetrug ist ein Delikt. Der Rechtsstaat verfügt über juristische Werkzeuge, um Steuerbetrüger mit aller Härte des Gesetzes zur Rechenschaft zu ziehen. Das hält ihn aber heute offensichtlich nicht mehr davon ab, die ihm zugrunde liegenden Prinzipien auszuhebeln. Der eidgenössische Datenschutzbeauftragte Hanspeter Thür, ein zweifellos unverdächtiger Zeuge, gab deshalb in einem Gespräch mit dieser Zeitschrift vor zwei Jahren zu Protokoll: «Ich habe kein Verständnis dafür, dass ein Staat gesetzwidrig handelt, um anderes deliktisches Verhalten aufzudecken. Wenn wir so weit sind, dass der Zweck die Mittel heiligt, ist der liberale Rechtsstaat am Ende.» Zurück zur helvetischen Wirklichkeit. Während nun ausländische mutmassliche Steuerbetrüger im Rahmen von Verfahren, die

René Scheu Herausgeber und Chefredaktor

auf gestohlenen Daten beruhen, bis auf weiteres auf die Prinzipien des Schweizer Rechtsstaats zählen können, haben Schweizer Bürger nichts zu lachen. Sie machen sich derweil Mut, indem sie die auf dem Vertrauen zwischen Staat und Bürger basierende Unterscheidung zwischen Steuerhinterziehung und Steuerbetrug rhetorisch hochhalten. Die Strafverfolgungsbehörden haben bloss im Fall von vorsätzlichem Steuerbetrug das Recht, Einblick in die finanzielle Privatsphäre der Steuerpflichtigen zu nehmen. Ausländische Staaten kennen diese Unterscheidung nicht. Die Schweiz hat sich nun auf Druck des Auslands dazu bereit erklärt, an ihrem eigenen Rechtsprinzip zu kratzen und Amtshilfe auch in Fällen von Steuerhinterziehung zu leisten. Wenn alle Menschen vor dem Gesetz gleich sind, wie es in der Bundesverfassung heisst, hat dies zwei bisher noch verdrängte Konsequenzen. Erstens: die Schweiz wird irgendwann auch Amtshilfe leisten, wenn die Anfragen sich auf gestohlene Finanzdaten stützen. Das ist so sicher wie das Amen in der Kirche. Und zweitens: die Unterscheidung zwischen Steuerhinterziehung und Steuerbetrug im Inland wird fallen. Zurück zum Anfang. In Zeiten leerer Staatskassen und sich anbahnender Verteilungskonflikte hat sich anstelle des «Steuerbetrügers» längst der Begriff «Steuersünder» etabliert. Der Begriff ist präzise: mit «Sünde» wird in der Theologie der unvollkommene Zustand des von Gott getrennten Menschen bezeichnet. Jeder Mensch ist sündig, oder in säkularisierter Terminologie: jeder Mensch ist schuldig. Er steht immer schon im Verdacht, dem Fiskus und also der Gemeinschaft etwas vorenthalten zu wollen. Wie­ derum Hanspeter Thür: «Der Bürger steht unter Generalverdacht. Der Staat muss Eingriffe in die Privatsphäre nicht mehr legitimieren. Der Bürger muss beweisen, dass er unschuldig ist.» Das wäre die letzte Konsequenz: der Rechtsstaat hat immer recht. Nur wäre es zugleich das Ende des Rechtsstaats. � 7


KOLUMNE Schweizer Monat 995 April 2012

Freie Sicht

Aufwachen? Weiterträumen!

W

er seinen Mitmenschen die sozialpolitischen Träumereien ausreden will, hat einen schweren Stand. Politik wie Bürger neigen dazu, wünschenswerte Zustände herbeizwingen zu wollen. Die Lehren der Ökonomie werden dabei gerne ausser acht gelassen, obwohl – oder weil – sie den Wunsch als Illusion entlarven. Folgt dann das unvermeidliche böse Erwachen, herrscht Heulen und Zähneklappern. Dabei sind die ökonomischen Lehren ebenso einfach wie zeitlos: eine Beeinträchtigung des freien Wettbewerbs, eine Schwächung privater Eigentumsrechte, eine Kollektivierung der Verantwortung macht die Menschen nicht reicher, sondern ärmer. Politische Interventionen dieser Art sind nie von Dauer und führen zuverlässig zu einer Vernichtung von Wohlfahrt. Eine Übertreibung? Werfen wir einen Blick auf den Fall Griechenland. Einmal mehr zeigen sich unzählige Beobachter überrascht und entrüstet angesichts des ökonomischen Debakels. Intellektuelle, Politiker und Journalisten übertreffen sich darin, anonyme Buhmänner wie «die Finanzmärkte» oder «die Spekulanten» anzuprangern, statt schlicht und ergreifend anzuerkennen: der Bankrott des griechischen Je exzessiver die Party Staates und das damit verder Sozialpopulisten, desto bundene Elend der Bevölkeschmerzhafter der Kater. rung ist das Ergebnis sozialpolitischer Träumereien. Griechenland war jahrzehntelang ein wahrer Hort sozialer Politwohltaten: immer höhere Renten, ein immer niedrigeres Renteneintrittsalter, immer höhere Mindestlöhne, immer mehr protegierte Berufszweige, immer mehr Staatsjobs und immer höhere Subventionen für ausgesuchte Wirtschaftszweige. Es kam zu einer engen Verflechtung von Wirtschaft und Staat, grassierender Korruption und explodierenden Staatsausgaben. Wie immer war diese Politik, die quasi dem sozialpopulistischen Lehrbuch entstammt, derart einträglich, dass Generationen linker wie rechter Politiker sie nach Kräften unterstützten. Die – unvermeidliche – Folge: eine ständige Schwächung der produktiven Basis Griechenlands, ein ständiger Verlust an Wettbewerbsfähigkeit, ständig ansteigende Staatsdefizite und schliesslich die Aufhäufung exorbitanter Schuldenberge. Der Todesstoss des sozialträumerischen Lehrbeispiels erfolgte schliesslich in 8

Christian P. Hoffmann ist Assistenzprofessor für Kommunikationsmanagement an der Universität St. Gallen und Forschungs­leiter am Liberalen Institut.

Form einer Politik des billigen Geldes – sie führte der Sozialblase einen letzten Luftstoss zu, bevor diese endlich platzte. Klingen diese Vorgänge bekannt? Das Modell Griechenland beschreibt im Zeitraffer die Politik aller westlichen Staaten. Griechenland-Bashing ist daher völlig fehl am Platze. Selbst in der vermeintlich soliden Schweiz versuchen Polithasardeure aller Parteien unentwegt mit sozialen Wohltaten à la Hellas Stimmen zu fangen: höhere Mindestlöhne, höhere Renten, mehr Urlaub, mehr Subventionen für Tourismus oder Landwirtschaft, höhere Rüstungsausgaben, mehr Staatssekretäre, Buchpreisbindung, Postmonopol, Ausbau des öffentlichen Verkehrs… Sicher, dank direkter Demokratie und Föderalismus bewegt sich die Schweiz etwas langsamer in die sozialpopulistische Schuldenfalle als zahlreiche EU-Nachbarn. Sie kann jedoch die Gesetze der Ökonomie ebenso wenig ausser Kraft setzen wie jene der Schwerkraft. Wohlstand lässt sich nicht politisch erzwingen, Verschwendung und Bankrott dagegen schon. Der französische Ökonom Frédéric Bastiat, 1801 geboren, formulierte treffend: «Der Staat ist die grosse Fiktion, nach der sich jedermann bemüht, auf Kosten jedermanns zu leben.» Gelernt haben die Menschen in den gut 200 Jahren seither offensichtlich wenig. Noch immer streben sie überall nach «sozialen Wohltaten» der Politik – und übersehen dabei: die Kosten tragen sie am Ende immer selbst, in Form massiver Einkommens- und Vermögensverluste durch Steuern, Schuldenschnitte oder Inflation. Die griechische Tragödie zeigt: je exzessiver die Party der Sozial­ populisten, desto schmerzhafter der anschliessende Kater. Doch wenn das Wutgeheul verklingt, stellt sich die Frage: werden nun die richtigen Lehren gezogen und die ökonomischen Realitäten endlich respektiert? Oder beginnt die politische Jagd nach den sozialpolitischen Träumereien von neuem? Wer die Geschichte und die Spielregeln der Politik kennt, muss sich wohl eingestehen: die grösseren Chancen liegen aufseiten der Träumereien. �


Schweizer Monat 995 April 2012  Kolumne

Kultur leben

Halten Sie sich für überdurchschnittlich?

E

s sind die grossen, aussergewöhnlichen Ideen unangepasster Leute, die unsere Gesellschaften revolutioniert und unser Leben verbessert haben. Eigentlich wissen wir ja: Wachstum wird durch kreative Querköpfe getrieben. Im nachhinein bewundern wir sie für ihre Taten, errichten Denkmäler, schreiben lobende Texte und Monographien. Selten genug werden diese Innovatoren aber auch zu Lebzeiten als solche gewürdigt. Nicht auf die Ausreisser nach oben, sondern auf den Durchschnitt sind heute alle fixiert. Die Werbung zielt auf die breite Masse, die Medien auf die grosse Quote, und in Bildungsdiskussionen dreht sich alles um den guten Durchschnitt der Schüler. Während der Streber in der Klasse die Verachtung seiner Mitschüler auf sich zieht, wird er von Mathematikern und Sozialwissenschaftern als statistischer Ausreisser gar völlig ausgeblendet – um eine aussagekräftige Kurve zu erhalten, die alle aussergewöhnlichen Unterschiede irgendwo in die Mitte herunterbricht. Und US-Teenage-Superstar Miley Cyrus, auch bekannt als «Hannah Montana», singt unter tosendem Applaus, dass ein langweiliges und faules «OrKünftige Generationen dinary Girl» cool, sprich: ein orien­tieren sich an einer Leben im Mittelmass lebensPrämisse: nicht auffallen! wert, sei. Durchschnitt zu sein, so lernen wir, ist gesellschaftlich akzeptiert, ja erwünscht. Künftige Generationen orientieren sich an einer Prämisse: bloss nicht auffallen! Sie ahnen es bereits: ich halte eine solche Einstellung für nicht besonders zukunftsweisend. Dabei gehöre ich nicht zu jenen Verschwörungstheoretikern, die behaupten, die Pflege des Mittelmasses sei die Strategie einer Minderheit von Mächtigen, die den dumpfen Herdentrieb der Untergebenen fördern wollen. Ich glaube, die Haltung ist eher Ausdruck von Bequemlichkeit. Der Eindruck, alles sei schon irgendwie okay und gut, resultiert daraus, dass wir uns mit unseren wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Errungenschaften arrangiert haben. Die Folge einer solchen am Mittelmass orientierten Bequemlichkeit ist ein ziemlich roboterhaftes Verhalten, das uns zu unauffälligen Herdentieren macht, ohne dass uns jemand dazu gezwungen hätte.

Xenia Tchoumitcheva ist Unternehmerin und Model.

Die Welt braucht jene, die bereit sind, ihren Weg zu gehen, querzudenken, gemeinsam mit anderen neue Ideen zu entwickeln. Unsere Ausbildungsstätten bilden grossartige Juristen oder Mediziner aus, aber der Unternehmer und Coach Cameron Herold legt den Finger auf einen wunden Punkt, wenn er sagt, dass wir aktiv nach unternehmerisch denkenden Kindern suchen und sie an das Erlernen dringend benötigter Schlüsselkompetenzen heranführen sollten. Ich glaube: das unternehmerische Nutzbarmachen von Kreativität sollte zu einem Hauptfach der modernen Erziehung und Ausbildung werden, genauso wie Mathematik oder Fremdsprachen. Institutionen wie das MIT Entrepreneurship Center und auch die steigende Zahl von «Inkubatoren» – mit Universitäten verknüpfte Innovation Hubs, in denen junge Gehirne experimentieren und Geschäftsideen entwickeln können und dabei von externen Investoren unterstützt werden – sind gute Beispiele für die Umsetzung solcher Ideen. Während sich in der Schweiz die Bildungsexperten noch immer in Didaktik-Kleinkriegen verirren, werden andernorts neue Generationen in die Disziplin des unabhängigen Denkens eingeführt. Wem das noch nicht quer genug gedacht ist: Peter Thiel, Gründer von Paypal, und Richard Branson, Gründer von Virgin, schlugen kürzlich sogar vor, kreativen Studenten das Abbrechen des Studiums bei gleichzeitiger Gründung eines Unternehmens finan­ ziell zu entlohnen. Vielleicht sollten wir gerade in der Schweiz also damit aufhören, überdurchschnittlicher Leistung und aussergewöhnlichem Erfolg mit Missgunst zu begegnen. Querdenken ist eine Fähigkeit, die unsere Gesellschaften und auch unsere Schulen viel zu selten lehren, geschweige denn honorieren. Und vielleicht fangen wir schon an dieser Stelle selbst mit dem Querdenken an: indem wir stolz sind auf jene Mitmenschen, die in ihrer Disziplin über das Mittelmass hinausragen – und von denen wir alle profitieren. � 9


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Bild: KEYSTONE / DPA / Michael Kappeler


Schweizer Monat 995 April 2012  Analyse

Sofskys Welt

Abgang

als Beruf, illusionslose Leidenschaft für eine Sache, Verantwortungsgefühl und Beharrungsvermögen, gelten für den deutschen Präsidenten nicht. Er hat nur zu reden, aber nichts zu sagen. Er kann nichts durchsetzen und nichts verteilen. Gunsterweise, Belobigungen oder Moralpredigten können zwar Ansehen, aber keine Autorität einbringen. Die Autorität des Amtes beruht nicht auf dem Charisma der Person, sondern auf der kollektiven Sehnsucht nach überparteilicher Harmonie, nach pastoralem Sonntagston und – gelegentlich – volkspädagogischer Ermahnung. Oberhalb des tagespolitischen

Z

Kampfes um Privilegien, Proporz und Prestige soll ügigen Schritts verlässt das Paar den Saal. Mit hängenden

der Präsident die Geborgenheit des guten Ganzen darstellen.

Schultern und gebeugtem Haupt geht der Mann neben

Jenseits parteilicher Intrigen und Kompromisse hat er die Werte

der stolzen Frau. Der Abstand zwischen den Eheleuten

der idealen Gemeinschaft nicht nur zu verkünden, sondern –

ist deutlich. Weder halten sie einander bei den Händen noch

neuerdings – mit Leib und Seele zu verkörpern. Tief verwurzelt ist

würdigen sie sich eines Seitenblicks. Jeder geht für sich allein –

diese Sehnsucht in der Gesellschaft. Weder Geschäftsfreunde

hinaus in die Bedeutungslosigkeit. Ihre Zeit ist vorbei.

noch Parteifreunde soll der Präsident haben. Mit den trüben

Viele Meter liegen schon zwischen den Requisiten des Amtes

Regionen des Interesses, der Wirtschaft und Politik, soll er nicht

und dem Paar. Der Abgang ist definitiv – und nicht unverdient.

länger in Berührung kommen. Flugs könnte er der Versuchung

Der Blick aus der Dackelperspektive rückt das Ereignis ins

erliegen, Geld in Macht und Macht in Geld zu konvertieren.

rechte Licht. Die Fahne der Nation und das Rednerpult, an dem

Er darf nicht verhandeln, tauschen, locken oder drohen, er soll

soeben der Rücktritt erklärt wurde, überragen die Personen

nur reden, winken und den Bundesbrüdern gütig zulächeln.

bei weitem. Unter dem gewaltigen Kronleuchter wirkt das

Der Körper des Präsidenten ist die Projektionsfläche für

Bürgerkönigspaar a.D. wie historische Zwerge.

die vorpolitischen Wünsche einer Gesellschaft, die des parteili-

Angetreten mit dem Versprechen von Glamour und Überpartei-

chen Haders, der unpersönlichen Bürokratie, der anonymen

lichkeit, endete die Präsidentschaft Christian Wulffs in einer

Marktprozesse und allseitigen Käuflichkeit überdrüssig ist.

armseligen Affäre. Neben dem Verdacht der Günstlingswirtschaft

Der Sieg der Medien im Fall Wulff gründet auf dieser kollektiven

hinterliess der Amtsinhaber den Eindruck fehlender Urteilskraft

Gemütslage. Sie giert nach persönlicher Glaubwürdigkeit,

und selbstgerechter Raffgier. Obwohl die meisten Verfehlungen

vorgeführt in einem Schloss mit Ballsaal und strahlenden Kron-

ziemlich belanglos waren, fühlte sich am Ende niemand

leuchtern. Es ist wenig wahrscheinlich, dass der Nachfolger

mehr von diesem Präsidenten repräsentiert. Die Klage über

diesem Verlangen genügen wird. Er ist als Mann des klaren Wortes

Habgier im Amt war indes pure Heuchelei. Sie nahm dem Nutz-

bekannt, als Gegner staatlichen Paternalismus und als Freund

niesser übel, was man selbst nicht erhielt. Die Moral des höchsten

der ungeteilten Freiheit. Gegen ihn haben sich die Gesinnungs-

Staatsvertreters entsprach dem gesellschaftlichen Durchschnitt.

wächter des alten Wohlfahrtsregimes bereits in Stellung gebracht. �

Und dennoch sahen viele die Würde des Amtes peinlich befleckt. Das Photo des schmählichen Abgangs widerlegt dieses Gerede auf einen Blick. Riesengross und hell erleuchtet ist der Palastraum der Institution, winzig klein das Paar nach der Abdankung. Ungefährdet überlebt die Autorität des Amtes den kläglichen Ehrverlust der Person. Mittlerweile ist das Paar fast schon vergessen. Ämter überleben ihre Inhaber ohnehin. Wenn ein Amtsträger jedoch nichts zu entscheiden hat, steigt das Bedürfnis nach Vorbild, Gesinnung und Tugend. Die altehrwürdigen Kriterien für die Politik

Wolfgang Sofsky ist Soziologe und Autor.

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KOLUMNE Schweizer Monat 995 April 2012

Zumutungen von oben

Die Steuerzahlersekte

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teuerbetrug begeht nicht, wer Steuern trickreich umgeht; Steuerbetrug begeht, wer Steuern erhebt – so meine unbotmässigen Gedanken, als ich kürzlich wieder einmal das alljährliche Steuerdeklarationsformular aus dem Briefkasten zog. Das bedarf der Erläuterung. Betrug ist nach den Strafgesetzbüchern der meisten Länder ein Vermögensdelikt, bei dem der Täter durch Arglist – man spricht oft anschaulich von einem Lügengebäude – sein Opfer dazu bewegt, ihm etwas zu zahlen. Betrug ist etwas anderes als Diebstahl: hier nimmt der Täter dem Opfer Geld weg – und etwas anderes als Raub: hier geht der Täter gewaltsam vor. Betrug ist subtiler – hier meint das Opfer, seine Zahlung sei rechtens, und merkt erst hinterher, was man ihm da aufgetischt hat. So wurde vor wenigen Wochen die als besonders gierig bekannte Scientology-Sekte von einem Pariser Berufungsgericht wegen Betrugs verurteilt. Rechtskräftig ist das Urteil zwar noch nicht, interessant Keine «Begründung» und sind seine Erwägungen aber keine «Rechtfertigung» zu trotzdem. Die Sekte soll ihre Mitglieder mit abstrusen The- abstrus, um sie zu glauben? orien, Predigten, Traktaten etc. zur Überzeugung verleitet haben, sie, die Sekte, sei derart wichtig, dass es gerechtfertigt sei, ihr substanzielle Teile des Einkommens abzuliefern. Ob das einzelne Mitglied auch einen konkreten Gegenwert erhält, sei nach dieser Logik von untergeordneter Bedeutung; sofern jemand die finanziellen Mittel hat, soll er zahlen. Dieses arglistige Lügengebäude war bei der verurteilten Sekte offenbar derart perfektioniert, dass nicht wenige Mitglieder darauf hereinfielen. Die wenigen, die sich später aus diesen Zwängen befreien konnten und dann auch Strafanzeige erstatteten, wunderten sich hinterher am allermeisten über sich selbst: Wie war es nur möglich, dass ihnen keine «Begründung» und keine «Rechtfertigung» für ihre Beitragspflicht zu abstrus war, um sie zu glauben? Da gibt es doch auffällige Parallelen zu den Steuern, wenn man sich deren Begründungen vergegenwärtigt: Steuern seien, so lehren die Fachleute, eine sogenannt voraussetzungslos geschuldete Abgabe – richtig: «voraussetzungslos geschuldet»! Das heisst, der Staat 12

David Dürr ist Titularprofessor für Privatrecht und Rechtstheorie in Zürich und Rechtsanwalt in Basel.

nimmt sie sich ungeachtet dessen, ob und wofür er sie ausgibt bzw. ob und wie weit der Zahlende etwas davon hat. Die einzige Grundlage der Besteuerung beispielsweise des Einkommens besteht somit dar­ ­in, dass es dieses Einkommen gibt. Wer hat, dem wird genommen. Es existiert zwar eine offizielle Begründung dafür, dass es keine Begründung zur Steuererhebung brauche: die voraussetzungslose Steuerpflicht stütze sich nämlich auf ein demokratisch erlassenes Gesetz, das die Steuerpflichtigen selbst akzeptiert haben sollen. Doch ist das nachweislich falsch. Das Bundesgesetz über die Bundessteuer vom 14. Dezember 1990 wurde nicht vom Volk angenommen, sondern von einigen wenigen Parlamentariern in Bern. Dasselbe gilt für die meisten kantonalen Steuergesetze, beispielsweise für das baselstädtische vom 12. April 2000 oder das zürcherische vom 8. Juni 1997 oder für all die vielen anderen kantonalen Steuergesetze. Interessant ist, dass sich nur wenige Steuerpflichtige ernsthaft die Frage stellen, ob sie jemals einen Stimmzettel zum Steuergesetz mit «Ja» angekreuzt haben. Für die wenigen, die sich solches fragen, hält der Staat eine Auffangbegründung bereit: jene wenigen Parlamentarier, welche die Steuergesetze beschlossen haben, seien sozusagen Vertreter der Steuerpflichtigen gewesen, schliesslich seien sie ja von diesen gewählt worden. Indes: wie werde ich vertreten durch eine Person, die ich mit 30 000 anderen «Vertretenen» teilen muss, der ich von Verfassungs wegen keine Instruktionen geben darf und die im Durchschnitt nur von rund 10 Prozent der Steuerpflichtigen gewählt worden ist?* Erstaunlich ist nicht so sehr, dass der steuereinnehmende Staat solch groteske Theorien bzw. eben Lügengebäude verbreitet, sondern dass alle Steuerpflichtigen sie glauben – eine bemerkenswerte Ähnlichkeit zum Verhalten der erwähnten Sektenmitglieder. Übrigens: die Verurteilung jener Sekte fiel deshalb besonders streng aus, weil der Betrug «bandenmässig» begangen worden sei. � * Vgl. zu den Zahlen meine letzte Kolumne, Ausgabe 993.


Schweizer Monat 995 April 2012  karikatur

von Andreas Thiel

Das Finanzloch # 3

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Ich kam in « Schwierig­keiten, denn in einer Monarchie den König gegen sich zu wissen, ist keine gemütliche Situation.» Donald Hess

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Schweizer Monat 995 April 2012  Geld & Geist

Der Abenteurer In Bern hat er Bier gebraut. In Marokko hat er sich als Hotelier mit dem König angelegt. Den legendären Spruch «’s isch guat, ds Valserwasser!» hat er geprägt und die Mineralquelle grossgemacht. Heute produziert er Spitzenweine auf der halben Welt. Das unglaubliche Leben des grünen Unternehmers Donald Hess. René Scheu trifft Donald Hess

Herr Hess, alle reden zurzeit von Verantwortung. Worin besteht für Sie die Verantwortung eines Unternehmers? Gute Frage. Als ich 1957 unternehmerisch tätig wurde, ich war gerade mal 20 Jahre alt, da bedeutete unternehmerische Verantwortung: ein Produkt zu einem Preis zu verkaufen, den der Konsument zu zahlen bereit ist, seinen Leuten den Lohn alle 14 Tage oder jeden Monat bar auszubezahlen und die Steuern zu berappen. Das ist jedenfalls das, was ich damals mitbekommen habe. Aber irgendwann merkte ich: das ist nicht genug. Wann setzte das Umdenken ein? Und wohin führte es Sie? Ich besass damals ein Bild des Berner Künstlers Rolf Iseli, das mir sehr gefiel. Ich stattete ihm einen Besuch in seinem Atelier ab und bat ihn, mir seine neuen Werke zu zeigen, weil ich eines kaufen wollte. Er sagte, es täte ihm sehr leid, aber er verkaufe mir kein Bild – er habe herausgefunden, dass ich ein Industrieller sei, der die Luft verpeste, das Wasser verseuche, die Erde kaputtmache. Solches Geld wolle er nicht annehmen. Ich verstand zuerst nicht, was er meinte. «Organisch», «biologisch», «biodynamisch», diese Begriffe klangen in den 1960er Jahren noch fremd. Nach der Begegnung mit Iseli ging mir ein Licht auf. Der Gedanke, der mich seither in meinem Tun begleitet, ist simpel: es geht ums Ganze – oder besser: um den Respekt gegenüber dem Ganzen. Chemieaktien in England und Frankreich, die ich von meinem Vater geerbt hatte, habe ich daraufhin sofort verkauft. Und 1968 habe ich dann die Hess-Holding gegründet – als erste «grüne Holding» der Schweiz. Mit Verlaub, die Rede vom «Ganzen» hat auch noch einen esoterischen Klang. Dabei scheinen Sie alles andere als esoterisch. Es ging letztlich um zwei einfache Prinzipien, die jedem Menschen mit gesundem Menschenverstand heute einleuchten. Erstens: wir bemühen uns als Unternehmen, weder die Luft noch die Erde, noch das Wasser zu verschmutzen und alles organisch anzupflanzen. Zweitens: wir wollen mit Energie und Ressourcen sparsam umgehen. Das haben Sie in den Statuten festgeschrieben? Jawohl. Heute ist unser Governance-Reglement natürlich viel weiter gefasst. Neben Prinzipien der Nachhaltigkeit geht es auch um Regeln der persönlichen Integrität. Da steht beispielsweise drin,

Donald Hess ist Verwaltungsratspräsident der Hess Holding. Das in der Produktion und im Vertrieb von Wein, in der Gastronomie sowie im Immobiliengeschäft tätige Unternehmen beschäftigt weltweit 500 Mitarbeiter. Zu ihm gehören die Weinkellereien Colomé und Amalaya im Calchaqui Valley in Argentinien, Glen Clarlou im Paarl Valley in Südafrika, Hess Collection, Artezin und Sequana in Kalifornien und Peter Lehmann in Australien. Donald Hess ist zudem ein Sammler von internationaler Gegenwartskunst, die er dem Publikum in eigenen Museen zugänglich macht.

dass wir keine Lügen dulden. Oder dass kein Mitarbeiter ein Geschenk im Wert von mehr als 100 Franken von einem Lieferanten annehmen darf. Korruption und Lügen sind ein Kündigungsgrund. Sie haben Ihre Werte, für die Sie stehen. Zugleich hängt Ihr Schicksal als Geschäftsmann davon ab, dass die Kunden auch bereit sind, den Preis eines teureren biodynamischen Weins zu zahlen. Klar, Bio ist seit einigen Jahren Mode, aber darum ist es mir nie gegangen. Ich habe entschieden, dass umweltfreundlich zu arbeiten für mich persönlich sehr wichtig ist. Deshalb mache ich damit kein Marketing, schreibe das auch nicht aufs Etikett. Was spricht dagegen, die eigene Haltung zu kommunizieren? Bio ist ein Verkaufsargument. Werte werden schnell zu Worthülsen. Jeder soll machen, was er für richtig hält. Mein Ehrgeiz ist es, einen guten und gesunden Wein zu keltern – nicht aus ideologischen Gründen, sondern aus persönlicher Überzeugung. Ganz ohne Nitrat und Sulfat geht es nicht, wenn man weltweit die Weine verkauft, aber ich reduziere die Chemie auf das Minimum. Ich will jedem Kunden in die Augen schauen und sagen können: ich gebe dir das bestmögliche Produkt. Das Weingeschäft hat sich stark verändert. In den 1980er und 1990er Jahren nahm die Nachfrage weltweit zu, viele sind auf den Zug aufgesprungen. Mittlerweile gibt es weltweit ein beträchtliches Überangebot an Weinen. Wie bekommen Sie den Wandel zu spüren? Ich kann mich wirklich nicht beklagen. Zwei Jahrzehnte lang ging es stets aufwärts, da war die Frage nur, ob der jährliche Umsatz um vier, acht oder zwölf Prozent steigen würde. Im Verlauf der letzten vier Krisenjahre sind jedoch die Weinumsätze, und natürlich auch die Gewinne, in der Weinindustrie zurückgegangen, speziell in 15


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den USA und in Europa. Dies aus drei Gründen: es wird leicht weniger Wein verkauft, von dieser Menge wird mehr billiger Wein mit kleinerer Marge verkauft, und insgesamt sind die Endpreise gesunken, weil mehr Wein auf dem Markt ist. Sie sind seit vielen Jahrzehnten im Geschäft, einige nennen Sie gar einen unternehmerischen Dinosaurier. Wie hat alles begonnen? Ich hatte nie Freude an der Schule, sehr zum Leidwesen meines Vaters. Winnetou, Leichtathletik, Fussball, Boxen, Mädchen: all das hat mich viel mehr interessiert als graue Theorie. Ich habe die Handelsschule Neuenburg besucht, mit ziemlich wenig Erfolg. Mein Vater bekam so in den Genuss einer ambivalenten Mischung: eine Menge Pokale, diese Symbole des sportlichen Triumphs, und schlechte Zeugnisse. Das nahm er einfach so hin? Er hatte bestimmt einiges mit Ihnen vor. Seine Bemühungen waren ehrenhaft, aber vergeblich. Ich habe ein Stage bei der Credit Suisse in Bern gemacht und wusste sogleich: das ist meine Sache nicht. So reifte mein Entschluss, die kleine Brauerei meines Vaters zu übernehmen. Um 1955, ich war achtzehn oder neunzehn Jahre alt, ging ich als Praktikant für ein Jahr nach Tegernsee in das Herzogliche Brauhaus. Ich musste Malz­ säcke von 50, 60 Kilos in den vierten Stock hochtragen. Der Braumeister gab den alten Arbeitern zuweilen einen Tritt in den Hintern und den jungen eine Ohrfeige, wenn sie herumlungerten. Das war eine rauhe Welt – meine Welt! Danach ging ich in die Braumeisterschule nach München. Und plötzlich, als ich in München weilte, mitten in der Ausbildung, ist mein Vater gestorben, in der Ferne, in einem Hotel in Nordafrika, das ihm gehörte. Persönlich eine Tragödie, aber beruflich eine Chance. Wie reagierten Sie auf die neue Situation? Mein Vater war ein Patron alter Schule gewesen. Er hatte mich nie in die Geheimnisse seiner Geschäfte eingeweiht, weil er sicher glaubte, dass dafür noch genügend Zeit sein würde, wenn ich erst einmal zur Vernunft gekommen sei. Und ausser ihm wusste niemand, wie der Laden funktionierte. Ich wusste gerade mal, wie man Bier macht. Gott sei Dank half mir mein Schwager, der Anwalt war. Er wurde zu meiner rechten Hand und hat sich um Steuern, Versicherungen und die Liegenschaften gekümmert, während ich mich der Familienbetriebe annahm: der Brauerei, eines Weinguts im Waadtland und eines Hotels in Marokko. Ich fand Gefallen am neuen Unternehmerdasein und zahlte meine Schwester aus. Von da an war ich auf mich allein gestellt. Das klingt fast wie ein unternehmerisches Leben in Minne. Wie ging es weiter? Es war nicht einfach. Ich verlor mit der Brauerei ständig Geld – und die Brauerei befand sich in einem fürchterlichen Zustand. Etwa zwei Monate nachdem ich die Brauerei zu führen begonnen hatte, rief mich ein Wirt an, der unser Bier verkaufte, und sagte, ich müsse sofort kommen. Er leerte das Bier in der Gartenwirt16

schaft mit vielen Gästen vor meinen Augen aus und donnerte: «Völlig ungeniessbar!» Ich hielt meine erste Rede, indem ich sinngemäss sagte: «Einverstanden, das Bier ist nicht, wie es sein sollte, aber geben Sie mir sechs Monate Zeit, dann werden Sie ein anderes kriegen.» Die Gäste haben zuletzt dann sogar geklatscht, und ich habe mit ihnen eine Flasche – übles – Bier getrunken. Verlustgeschäft und schlechtes Bier – was brachte den Umschwung? Ich hatte ziemlich viele alte Liegenschaften geerbt, die in den 1950er Jahren keine Werte darstellten. Das kann man in der heutigen Zeit, in der Immobilien echte Investments sind, kaum mehr glauben. Mir kam zupass, dass die Preise der Liegenschaften in den 1960er Jahren sanft zu steigen begannen. Ich belehnte sie und investierte das Geld in die Modernisierung der Brauerei und der Liegenschaften. Damals herrschte in der Schweiz ein Bierkartell. Wie kamen Sie damit zurecht? Das hat mir nie gepasst. Früher hat man ganz wenig Flaschenbier getrunken, da der Hauptkonsum aus dem Offenausschank im Gastgewerbe bestand, und dieser war durch das Kartell geschützt. Nach dem Zweiten Weltkrieg kam das Flaschenbier rapide auf und wurde zunehmend in den Läden verkauft, die sich an das Bier grosser Brauereien hielten. Dies führte dazu, dass grosse Brauereien immer grösser wurden und die kleinen stagnierten. So hatten wir als kleine Brauerei bloss eine Chance – das alkoholfreie Bier. Ich tat mich mit einem Braumeisterfreund in Frankreich zusammen, der ein System entwickelt hatte, um das Bier dank Ultraviolettbestrahlung in zwei Wochen altern zu lassen, ohne die lästige mehrmonatige Lagerung. Dieses Verfahren wandten wir nun auf das alkoholfreie Bier an, dem wir durch eine Vakuumdestillation schonend den Alkohol entnahmen – und so war das «Roc»-Bier geboren, das in die Migros kam und ein ziemlicher Erfolg wurde. Damit machten Sie sich unter den Bierbrauern zweifellos nicht besonders beliebt. Das war mir egal. Bei den Bierbrauerversammlungen lief es so: Man bierte etwa eine Stunde lang, sagte so gut wie nichts, und dann hiess es: «Jetzt gibt es Apéro für die kleinen Brauereien!» Und die grossen Brauereien gingen in einen separaten Raum und besprachen dort alles Wichtige. Da lief ich, als ich die Migros gesamtschweizerisch belieferte, einfach auch rein. Es hiess, ich gehöre dort als Kleinbrauer nicht rein, und ich sagte: «Ja, das stimmt. Aber ich bin der einzige unter euch Grossbrauereien, der eine nationale Distribution hat.» Von da an hassten sie mich – aber ich sass immer dabei, wusste, was passierte, und habe das Wissen auch an die Kleinen weitergegeben. Auf die Dauer war Ihnen der Kampf dennoch zu anstrengend? Das Kartell kontrollierte nicht nur die Qualität, sondern auch die Absatzmärkte und die Preise. Der Konsument wurde bevormundet, denn zu dieser Zeit gab es nur eine Biermarke pro Gastbetrieb,


Donald Hess, photographiert von Thomas Burla.

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und diese musste der Gast trinken. Ich hatte in Deutschland gesehen, was die guten Brauereien alles machten, und zog mich 1968 über Ostern ins Oberland zurück, um nachzudenken. Ich war die neunte Generation, die die Familienbrauerei führte, was also war meine Aufgabe? Ich kam zum Schluss: meine Aufgabe ist es nicht, jedes Jahr eine Liegenschaft zu verkaufen, um die Biertradition querzusubventionieren. Meine Aufgabe ist es, das ererbte Vermögen zu vergrössern und in einer Branche tätig zu sein, in der es einen gesunden Konkurrenzkampf gibt. Also habe ich die Brauerei an Cardinal verkauft – nicht die Gebäulichkeiten, sondern bloss die Maschinen, das Kontingent, die Lizenzen, zu einem guten Preis. Der Schweizerische Bierbrauerverband verpflichtete Cardinal daraufhin, mir ein 40jähriges Bierberufsverbot in der Schweiz aufzuerlegen! Ich erachtete dieses Verbot als ein Kompliment für meine vielen Störaktionen. Worauf hatten Sie es danach abgesehen? Das Geld habe ich unter anderem in eine neue Mineralquelle investiert, die ich nun kommerzialisieren wollte. Ich hatte das Valserwasser, ein damals völlig unbekanntes Thermalwasser, schon 1960 mit zwei Partnern von zwei alten Frauen gekauft. Die hatten seit gut 30 Jahren erfolglos versucht, die Quelle zu verkaufen. Wenn man das Wasser im alten Schwimmbad sah, war es ganz rot. Wahrscheinlich wollte deshalb niemand das Wasser haben – und natürlich war es auch an einer sehr peripheren Lage, oben in Vals. Obwohl ich immer fürchterlich schlecht gewesen war in Chemie, wusste ich: rotes Wasser ist eisenhaltig, und das Eisen lässt sich problemlos durch einen einfachen Sandfilter rausfiltrieren. Nachdem ich einen Partner ausgezahlt hatte, gehörten mir 80 Prozent der Valseraktien, und der Valserdirektor Dr. Schrauder besass 20 Prozent. Wir hatten ein altes lawinengefährdetes Haus gekauft, darin eine Occasion-Abfüllanlage eingerichtet und auch gleich mit dem Abfüllen begonnen. Wir wollten, wie in der Schweiz üblich, die Getränkedepositäre beliefern, aber diese sagten bloss: «Sind Sie wahnsinnig? Wir haben schon zwanzig Mineralwasser im Sortiment und auch zehn verschiedene ausländische. Valserwasser kennt niemand, das können wir nicht verkaufen.» Sie haben eine Mineralquelle gekauft, ohne eine Marketing- und Verkaufsstrategie zu haben? Das klingt abenteuerlich… …purer jugendlicher Leichtsinn! Irgendwann kamen wir aber auf die glorreiche Idee, das Heimdienstsystem von Deutschland in der Schweiz einzuführen. Nach einer langen Startphase mit vielen Fehlern wurde der Valserheimdienst ein Erfolg. Unsere Verkaufsfahrer gingen von Wohnung zu Wohnung und gaben die erste Kiste gratis ab. Es war harte Arbeit, aber nach zehn Jahren hatten wir über 200 Verkaufsfahrer. Das Geschäft lief gut, wir hatten auch Zeitungs- und originelle Fernsehwerbung betrieben und waren auch in den Supermärkten und Ladengeschäften erhältlich. «ʼs isch guat, ds Valserwasser!» Ich erinnere mich an diesen Slogan, der auch im Fernsehen lief. 18

Wenn ich mich richtig erinnere, wurde bei uns zu Hause stets Valserwasser serviert. Damit waren Sie in guter Gesellschaft. Zu Beginn verkauften wir im Monat vielleicht zwanzig- bis dreissigtausend Flaschen. Als wir das Unternehmen 2002 an Coca-Cola verkauften, waren es dann 130 Millionen Flaschen pro Jahr – da waren wir die Nummer eins im Mineralwasserbusiness in der Schweiz. Wir haben bis zum Verkauf der Mineralquelle gutes Geld verdient, aber irgendwann begann sich das Umfeld zu verändern, wie heute beim Wein. Plötzlich sind die billigen Wasser von Rumänien, von Ostdeutschland, von Belgien, Italien gekommen. Weil wir in einer peripheren Lage tätig und unsere Transportkosten im Schnitt sechs Rappen höher waren als beispielsweise jene von Henniez, konnten wir unmöglich ins Billiggeschäft einsteigen. Hinzu kam, dass die Grossabnehmer die Preise immer weiter nach unten drückten. Wir erkannten den Ernst der Lage und verkauften am Ende an die Coca-Cola-Company. Glücksbringendes Geschäft oder schmerzvoller Abschied? Eigentlich beides zusammen. Der Verkauf des Unternehmens, das wir über vierzig Jahre von der Gründung bis zur Nummer eins in der Schweiz aufgebaut hatten, war schmerzlich, aber richtig. Glücklich sind wir, dass wir die Valserquelle zum bestmöglichen Zeitpunkt verkauft haben – und dass Coca-Cola sie erfolgreich weiterführte. Und die dritte Etappe Ihres Unternehmenslebens war der Wein. Nun, wie... ...nicht ganz, es gab noch eine Zwischenetappe: Hotels. Wie das? Ich habe Ihnen gesagt, dass ich von meinem Vater ein Hotel in Marokko geerbt hatte. Nachdem ich die Brauerei verkauft hatte, investierte ich einen Teil des Geldes in die Renovation dieses Hotels. Ich habe es nach Schweizer Standard sanft renoviert, und schon lief es wie verrückt. Liege ich falsch, wenn ich sage: der Bierbrauer hatte nicht wirklich eine Ahnung von der Hotellerie? Nein. Zum Glück hatte mein Vater einen sehr guten Direktor, einen jüdischen Marokkaner, der dann aber wegen politischer Querelen sechs Monate nach meiner Übernahme nach Frankreich ins Exil zog. So war ich irgendwann alleine mit einem Buchhalter, der nur Spanisch sprach. Ich selber konnte kein Spanisch, und wir beide konnten kein Hotel führen. Als ich verzweifelt die Agenda meines Vaters durchblätterte, sah ich, dass er in Tanger immer einzeln mit zwei Männern zu Abend gegessen hatte. Ich rief die an und beide sagten: «Vous êtes comme un fils!» Es stellte sich heraus, dass mein Vater diesen beiden einst finanziell aus der Patsche geholfen hatte. Nun halfen sie mir aus der Patsche, indem sie mir das marokkanische Leben erklärten. Einmal zog ich zum Beispiel den Zorn eines Polizeikommissars auf mich, weil er an der Bar einen Whiskey verlangte, wir ihm aber keinen ausschenkten, weil dies


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für Muslime eben verboten war. Die Freunde erklärten mir: Verbote sind wichtig, gelten aber nicht für Polizeikommissare und Minister. Und so schenkte unser Barmann ihm das nächste Mal unter der Bar einen Whisky ein und füllte den Rest – für alle sichtbar – mit Cola auf. Es waren lauter solche Dinge, die sie mir beibrachten, eine Überlebensstrategie für den geschäftlichen Alltag in Marokko. Gefiel es Ihnen in Nordafrika? Es war eine andere Welt. Ich war in einer Zeit in Marokko tätig, als König Mohammed V. im Zuge der neuen Unabhängigkeit begriff, dass der Tourismus seine grosse Chance war. Er hat alle seine jungen Minister mit Geld ausgestattet und sie beauftragt, Hotels bauen zu lassen. Die kamen dann zu mir und wollten, dass ich Hotels für sie baue und führe. Ich riet ihnen, ihr Glück selbst zu versuchen. Der Versuch wurde gemacht, aber sie hatten keine Erfahrung in dieser Branche, sie setzten auf die falschen Leute, und nach Verlustjahren kamen sie wieder zu mir und baten mich, die Hotels zu übernehmen. Als die Hotels Gewinne einbrachten, zahlte ich den Hotelbesitzern korrekte Mieten aus. Das Geschäft lief sehr gut. 28jährig managte ich in Marokko insgesamt 1200 Mitarbeiter, wobei mir nur einige der Hotels selbst gehörten. Das wurde mir dann selbst etwas unheimlich. Sie sind ein guter Erzähler. Alles klingt so einfach. Sie haben schnell eine Quelle aufgebaut und gleichzeitig noch in Marokko ein paar Hotels flottgemacht, die andere nur defizitär bewirtschaften konnten... Einfach war es nicht. Die hatten die Hotels neu gebaut, aber sie kannten die Kunden nicht. Insofern machten sie dasselbe wie ich in Vals: ich kaufte die Quelle und dachte, ich verkaufe dann das Produkt – die Frage nach dem Wie blendete ich grosszügig aus. Ich hatte im Gegensatz zu ihnen bereits elementare unternehmerische Erfahrung gesammelt. Der König von Marokko war allerdings ob des Erfolgs nicht sonderlich erfreut, weil ich ihm immer die Direktoren seiner eigenen Hotels abwarb – und diese kamen dann mitsamt ihren Kunden zu mir. Ich hatte immer das Gefühl gehabt, das seien staatliche Hotels, aber der König trat als absoluter Monarch auf und reklamierte die Hotels persönlich für sich. Langsam kam ich dann in Schwierigkeiten, denn in einer Monarchie den König gegen sich zu wissen, ist keine gemütliche Situation. So entschloss ich mich, die Hotels an eine marokkanische Gesellschaft zu verkaufen, die dem König nahestand. Lassen Sie mich raten – dieses Geld investierten Sie dann in Weingüter? Auch hier spielte der Zufall eine grosse Rolle. Mit dem Geld aus dem Verkauf der Hotels ging ich nach Amerika mit der Absicht, wiederum eine Mineralquelle zu kaufen. Dr. Schrauder, der mit mir bereits das Valserwasser aufgebaut hatte, und ich unternahmen zusammen eine Tour durch die USA und besuchten insgesamt sechsunddreissig Mineralquellen. Wir waren ziemlich schockiert, als wir begriffen, wie die Amerikaner gutes Mineralwasser definierten: kein Salz und keine Kalorien, that’s it. Wenn es nur

darauf ankommt, kann man ja direkt Leitungswasser trinken. Ich hatte genug Geld, um eine Marke in der Schweiz aufzubauen – aber in Amerika: unmöglich! Im Napa Valley kam mir bei einem guten Glas Cabernet Sauvignon die Idee, in Wein statt Wasser zu investieren. Noch während des Essens sagte ich zu Dr. Schrauder: «Du gehst morgen nach Hause, ich bleibe hier und suche nach einem vorzüglichen Rebberg.» Sie haben einen Rebberg erwähnt, der früher im Besitz der Familie gewesen war. Wollten Sie an diese Tradition anknüpfen? Den Rebberg hatte ich bereits 1959 verkauft, im Zuge der Neuausrichtung meiner unternehmerischen Aktivitäten. Ich war damals 23 und ging ganz stolz ins Bett, weil ich für die Besitzung das Doppelte des von den Anwälten anvisierten Preises erhalten hatte. Dann kam mir zu später Stunde aber plötzlich in den Sinn, dass mir mein Vater als Kind einst das Versprechen abgenommen hatte, nie Land zu verkaufen. Das mache man nicht, sagte er. Es ging also auch darum, eine alte Schuld zu begleichen? In jener Nacht hatte ich mir geschworen: bevor ich sterbe, kaufe ich einen schönen, guten Rebberg. Das habe ich zwar erst 1979 wahrgemacht, also 20 Jahre später, im Napa Valley. Aber irgendwie hängt doch alles zusammen. Wie viel verstanden Sie damals von der Kunst des Kelterns? Ich verstand zwar einiges von der Gärung des Bieres, aber von Wein hatte ich keine Ahnung. Ich fragte einige Leute, die etwas davon verstanden – wenn man gescheit sei, dauere das Studium drei Jahre, sonst sechs. Ich nahm zwei Monate Ferien und bereiste per Auto die vier Regionen, die mich interessierten: von Mendocino über Sonoma, über Napa bis Monterey. Wie ich da so runterfuhr, ging ich in die Reben, um mit den Arbeitern zu reden. Sie haben mir erklärt, warum sie Blätter abreissen, grüne Beeren abschneiden, den Boden auflockern. Als ich wieder hochfuhr, ging ich zu den Vorarbeitern, zu den Vineyard-Managern und schliesslich zu den Weinmachern, um mich zu erkundigen, worauf ich achten muss, wenn ich einen vorzüglichen Cabernet Sauvignon keltern will. Die haben mir alles gesagt, und so kaufte ich dann mein erstes Stück Land, um einen Rebberg am Mount Veeder im Napa Valley anzupflanzen. Kopieren und optimieren. So kann man das nennen. Reines Kopieren – das liess mein Kopf nicht zu. Es musste noch etwas Eigenleistung, etwas Charakter rein. Also gut, Sie haben dann einen Weinberg im Napa Valley angepflanzt... Genau, zuerst wollte ich eigentlich nur Trauben produzieren. Cabernet Sauvignon und Chardonnay waren damals Mode, also pflanzte ich beide Traubensorten an, wobei sich herausstellen sollte, dass das Terroir für Chardonnay nicht besonders geeignet war. Ich hatte dann Mühe, die weissen Trauben zu verkaufen. So habe ich eine schöne, alte kleine Winery im Städtchen Napa ge19


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mietet. Sie wurde allerdings bereits nach einem Jahr geschlossen, weil ihr Besitzer ein Drogendealer war. Am Mount Veeder neben unserem ersten Rebberg stand eine grössere Weinkellerei leer; da quartierten wir uns ein, und seit fast dreissig Jahren ist die Hess Collection Winery dort domiziliert. Den zweiten Rebberg pflanzte ich an einer kühlen Lage nahe der Bay von San Francisco, wo ausgezeichnete Chardonnay-Trauben wachsen. Heute besitzen wir in Napa, Sonoma und Monterey 520 Hektaren Reben und verkaufen unsere Hess Collection und Hess-Select-Weine in vierundvierzig Ländern. Sie begannen mit einer kleinen Bierbrauerei. Heute besitzen Sie Weingüter in den USA, Argentinien, Südafrika und Australien. An den ersten drei Standorten betreiben Sie zudem jeweils ein Museum mit Gegenwartskunst. Sie müssen mit sich selbst zufrieden sein. Heute sage ich: ich bin ein glücklicher Mensch, weil ich Beruf und Hobby verbinden kann. Ich lebe mit meinen zwei Leidenschaften Wein und zeitgenössischer Kunst unter einem Dach. Schon vor vierzig Jahren habe ich begonnen, Werke junger, lebender Künstler zu sammeln, und mit vielen verbindet mich eine Freundschaft. Es ist viel schöner und eindrücklicher, das Werk eines Künstlers in einem Atelier als in einer Galerie oder einem Auktionshaus zu kaufen. Ein guter Sammler hat nach dem Kauf eines Werkes auch Verantwortung und Verpflichtungen. Es geht in erster Linie darum, das Werk gegen eine oft verständnislose Aussenwelt zu verteidigen und es fachmännisch zu pflegen, damit es für weitere Generationen erhalten bleibt. Am Ende hat sich alles wunderbar ergeben, der Wille, den Leuten etwas zurückzugeben, der Wesenszusammenhang von Kunst und Wein. Wesenszusammenhang? Selten öffnet man eine Flasche Wein für sich allein. Es geht um das Teilen mit Freunden, mit der Frau oder der Familie. Und mit der Kunst ist es genau gleich. Teure Bilder kaufen und sie in einem Tresor begraben, das ist meiner Ansicht nach eine grässliche Sünde! Kunst kann nur lebendig wirken und Besucher erfreuen oder irritieren, wenn sie öffentlich zugänglich ist. Kunst, Wein und Unternehmertum – Tradition wird bei Hess gross geschrieben. Was zeichnet ein Familienunternehmen aus? Zum Beispiel die Nachfolgeregelung, die mich bis vor kurzem beschäftigte. Ich habe drei Töchter, eine eigene, die Künstlerin in den USA ist, und zwei, die meine zweite Frau in die Ehe gebracht hat. Sie alle haben ihre eigenen Berufe, hatten deshalb kein Interesse an der Firma und haben mir dies auch rechtzeitig kommuniziert. Dass ich auf Profimanager würde umstellen müssen, war mir deshalb schon früh klar. Ich wollte mich schon mit 55, nach 35 intensiven Jahren, aus dem operativen Geschäft zurückziehen. Aber die CEOs, die die Headhunter für mich suchten – nun, meine Welt war das nicht. Ich hätte auf mein Bauchgefühl hören sollen. Früher war ein Manager, den man gut behandelte, loyal gegenüber seiner Firma, auch wenn er anderswo 10 000 Franken mehr verdienen konnte... 20

...das Unternehmen als grosse Familie: diese Zeit ist, so scheint mir, in der Tat vorbei. Ich bin wohl zu einem Nostalgiker geworden, ohne es zu merken, aber ich glaube fest an das Familienunternehmen. Heute sind die Manager oft reine Söldner, die demjenigen dienen, der mehr bezahlt. Sie halten mich für einen sturen und komplizierten Typen, was ich wohl auch bin, und glauben, eigentlich sei alles so einfach. Mit 65 ging ich erstmals in den Ruhestand, aber dann habe ich Colomé entdeckt, ein einzigartiges, wenn auch heruntergekommenes Weingut in Argentinien, 150jährige Tradition, vom letzten spanischen Gouverneur gegründet, auf 2200 bis 3100 Metern über Meer. Zusammen mit meiner Frau habe ich es neu aufgebaut. Nach sechs Jahren erhielt ich jedoch in Argentinien den Anruf vom Direktor des Hess-Foundation-Trust, der die Aktien unserer Gruppe besitzt: ich müsse unbedingt in die Schweiz zurückkommen, um die Gruppe wieder zu führen. Ich war über 70. Aber gut, was sein muss, muss sein; ich stieg wieder in die Hosen... ...und die Nachfolge war kein Thema mehr? Ich wusste nicht, was für Schwiegersöhne mir meine Töchter bringen würden – das Worst-Case-Szenario wären drei amerikanische Anwälte, wobei jeder der gescheitere hätte sein wollen! Deshalb habe ich alle meine Aktien in einen angelsächsischen Trust eingebracht. So können sie nicht mehr verkauft werden, sie bleiben in dem Trust, aber meine Familie bekommt die Dividende. Warum haben Sie diese Lösung gewählt? Die Familie kann nicht dauernd dreinreden – sonst verliert man die besten Leute. Ich habe mir also gesagt: wenn andere die Arbeit machen, soll die Familie die Dividenden erhalten, aber nicht die Aktien. Seither habe ich das grosse Glück, dass ich zwei unternehmerisch denkende Schwiegersöhne habe, die sich gut ergänzen. Der eine arbeitet schon drei Jahre in der Unternehmung und hat Bodega Colomé geführt und gekonnt erweitert. Der andere arbeitet nun eineinhalb Jahre bei uns und betreut als Irländer und Anwalt die englischsprachigen Länder. Ich bin zuversichtlich, dass es diesmal klappt. Im Juli 2011 habe ich mich vom operativen Geschäft zurückgezogen. Von den Leuten, die für Sie arbeiten, vom einfachen Arbeiter bis zum CEO, erwarten Sie Loyalität. Dass sie hinter dem Produkt stehen, dass sie Ihre Werte teilen? Ja. Im Gegenzug gebe ich mir auch Mühe, die meisten zu kennen. Ich besuche noch heute einmal jährlich jede Winery zwei Wochen und beginne oft nicht beim Direktor, sondern bei den Arbeitern, den Rebleuten, den Mechanikern. Ich nehme mir Zeit, rede mit ihnen oder gehe am Feierabend mit einer Kiste Bier vorbei – dann wird auch die Zunge etwas locker. Ich erfahre auf diese Weise sehr viel und Dinge, die vielleicht nicht einmal der Direktor weiss. �


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Debatte Schweizer Monat 995 April 2012

Finanzmärkte sind keine Nullsummenspiele Tausch und Raub: eine Antwort auf das Interview mit Matt Ridley von Martin Janssen

K

ritik an Finanzmärkten ist en vogue. Sie passt zum Zeitgeist. Das macht sie freilich nicht besser. Matt Ridley lobt den Tausch in der Realwirtschaft und kritisiert den Tausch auf Finanzmärkten als Nullsummenspiel. Das kann man so nicht stehenlassen.1 In der Ökonomie gibt es die bekannten Konzepte des abnehmenden Grenznutzens im Konsum, des abnehmenden Grenzertrags und komparativer Vorteile in der Produktion sowie der Funktionsweise des Markt­mecha­nismus. Daneben spielt die Idee der subjektiven Ungleichheit des Tausches in der Preistheorie eine wichtige Rolle; sie ist hier zentral. Diese Idee besagt, dass Personen nur dann miteinander freiwillig Produkte, Dienstleistungen, Ideen, Finanzinstrumente etc. tauschen, wenn beide Parteien «ex ante», also vor dem Tausch, glauben, es gehe ihnen nach dem Tausch besser als vorher. Ein Kilogramm Es ist ein Irrtum zu meinen, Brot geht also nur darum für fünf Franken über den mit Finanzinstrumenten Ladentisch, weil sowohl würden nur erwartete der Bäcker als auch der Kursgewinne getauscht. Käufer im Zeitpunkt des Kaufes der Ansicht sind, dass sie subjektiv einen Nutzen aus der Transaktion erzielen. Ob diese beiden Ansichten «objektiv» richtig sind, ist unerheblich; was zählt, ist der subjektive Nutzengewinn. Betrachten wir den Kauf eines Loses: Gewisse Leute würden nie ein Los kaufen. Und derjenige, der das Los kauft, weiss, dass er bis jetzt noch nie etwas gewonnen hat und dass es auch dieses Mal kaum anders sein wird. Und trotzdem kauft er ein Los, weil er sich durch den Kauf subjektiv besserstellt. Das ist ja das Besondere an der Marktwirtschaft: die Handelnden stellen sich subjektiv auch in solchen Fällen besser, in denen Dritte das nicht nachvollziehen können. Der Handel mit Obligationen, Aktien oder strukturierten Finanzprodukten ist komplizierter. Selbstverständlich gilt auch hier, dass sich beide Parteien durch die Transaktion besserstellen, 1

Matt Ridley: «Tausch oder Raub», in «Schweizer Monat», Ausgabe 994, S. 42 ff.

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Martin Janssen ist Unternehmer und Professor für Finanzwissenschaft an der Universität Zürich.

sonst würden sie es ja nicht tun. Die Frage ist hingegen, was genau getauscht wird. Es ist ein Irrtum zu meinen, es würden nur erwartete Kursgewinne getauscht. Mit jedem Finanzinstrument werden vielmehr zwei Dinge gehandelt: erwartete Kursgewinne sowie – essentiell – ein Diversifikationsbeitrag an das Gesamtportfolio des Tauschenden, wobei das Gesamtportfolio auch sein Humankapital (Ausbildung, Wissen, Erfahrungen) umfasst. So macht es beispielsweise für einen Angestellten Sinn, zugeteilte Aktien seines Arbeitgebers selbst dann zu verkaufen, wenn er einen Kursanstieg erwartet. Der Grund ist klar: man möchte nicht mit seinem Arbeitseinkommen, mit Teilen seines Vermögens und mit dem Wert seines Humankapitals von den Entscheidungen eines einzigen Unternehmens abhängig sein. Im Interview, das René Scheu mit Matt Ridley führte, hat es korrekte Aussagen zu den Finanzmärkten, aber auch solche, die falsch sind und zudem im Widerspruch mit zentralen Aussagen des Interviews stehen. Es ist richtig, dass auf Vermögensmärkten Erwartungen gehandelt werden, aber das gilt ja auch fürs einfache Los. Es ist auch richtig, dass bei Aktien und Häusern, die Erwartungen über viele Jahre abdecken, eher Übertreibungen bei den Erwartungen möglich sind als bei Brot, Gemüse und Bier. (Bei teurem Wein ist es schon anders.) Aber die Behauptung, dass an den Finanzmärkten ein Nullsummenspiel abläuft, ist absurd. Matt Ridley scheint sich wenig Gedanken über Erwartungswerte, Risikobeiträge an Portfolios und dergleichen gemacht zu haben. Die Cashflow-«Pakete», die an den Kapitalmärkten mit jedem Finanzinstrument gehandelt werden, sind mit Erwartungswerten und Diversifikationsbeiträgen an das Gesamtportfolio des Handelnden, nicht irgendeines aussenstehenden Beobachters, verbunden. Dort, wo über Parasitismus und Raub gesprochen wird, werden im Interview nur Diebe, Räuber und Bürokraten erwähnt. Wären die Finanzmärkte ein Nullsummenspiel, wie Ridley behauptet, hätten sie hier ebenfalls erwähnt werden müssen. Spätestens hier hätte Matt Ridley merken müssen, wie inkonsequent seine Argumentation ist. �


Schweizer Monat 995 April 2012  Debatte

Politik vor Presse Direkte Presseförderung: das neue Gängelband für die Printmedien von Gottlieb F. Höpli

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iesmal, so jubelte der frühere Journalist und Medienprofessor Roger Blum im «Kleinreport», könne «der entscheidende Schritt gelingen» – der «Durchbruch» in Sachen staatlicher Presseförderung. Und in der Tat: dieser Schritt ist mit dem Vorschlag der Staatspolitischen Kommission des Nationalrats für ein «Förderkonzept zur Stärkung der staats- und demokratiepolitischen Bedeutung der Medien» so nahe wie noch nie. Die entsprechende Motion der Kommission wurde einstimmig verabschiedet – auch bürgerliche Politiker wie Christoph Blocher oder Philipp Müller gaben ihren Widerstand gegen den von Andreas Gross (SP) seit Jahren geführten Kreuzzug für die Ausschüttung staatlicher Gelder an die Zeitungen auf. Im Gegensatz zu den Verlegern, die eine solche Zwangsernährung der Presse nach wie vor ablehnen. Mit gutem Grund, wie die kafkaeske Praxis der Gebührenausschüttung für private Radio- und TV-Stationen durch das Bundesamt für Kommunikation (Bakom) zeigt. Eigentlich hat das Bakom ja gar keine Kompetenzen, sich der Printmedien anzunehmen. Seine Aufgabe ist es, Radio und Fernsehen zu überwachen, Frequenzen zuzuteilen und den Ausbau der Telekommunikation zu befördern. Denn Pressefreiheit wird – oder wurde zumindest bisher – in der Schweiz als Freiheit von staatlicher Aufsicht über den Inhalt der Zeitungen verstanden. Das würde sich mit der direkten staatlichen Presseförderung ändern. Wer zahlt, will – ja muss – die Verwendung der Mittel auch kon­ trollieren. Das Bakom müsste also künftig unter dem Titel «Sicherung der staats- und demokratiepolitischen Funktionen» auch Inhalte der Zeitungen, deren Vielfalt und Qualität der Meinungsbildung kontrollieren. Wie das aussehen könnte, dafür gibt es Anhaltspunkte aus der bisherigen Tätigkeit des Bakom: siehe die bürokratischen Prozeduren rund um das Gebührensplitting für private Radio- und Fernsehstationen. Das begänne mit der Bewerbung um staatliche Subsidien, zu der ein Verleger gezwungen wäre, um keinen Wettbewerbsnachteil entstehen zu lassen. Diese Bewerbung müsste nicht nur, analog zu den Konzessionsgesuchen für ein lokales Radio- und Fernsehprogramm, ein detailliertes redaktionelles «Programmkonzept», sondern auch Angaben über die Verbreitung, die Zahl, Löhne und Ausbildung der beschäftigten Journalisten, über die Ausstattung der Arbeitsplätze und tausend Dinge

Gottlieb F. Höpli ist Präsident des Vereins Medienkritik Schweiz und war von 1994 bis 2009 Chefredaktor des «St. Galler Tagblatts».

mehr enthalten. Konzessionsgesuche mussten beispielsweise auch ein Konzept zur Verhinderung von sexueller Belästigung am Arbeitsplatz umfassen – es ist nicht einzusehen, weshalb dies bei den Printmedien anders sein soll. Selbstverständlich würde die Installation eines Redaktionsbeirats verlangt. Und wer könnte die demokratiepolitische Funktion besser beurteilen als die Profis, also die Politiker selbst! Im Fall des Senders Tele Ostschweiz wog das Konzessionsgesuch samt Beilagen schliesslich 5,2 Kilo… Das wäre aber erst der Anfang: jeder Relaunch, jede Änderung, die das ursprüngliche Konzept verlässt, müsste natürlich dokumentiert und bewilligt werden. Das Wichtigste aber kommt erst danach: Der indirekten und direkten das Konzept müsste Förderung folgt zwangsläufig selbstverständlich auf seine Einhaltung kontroldie direkte und indirekte liert werden. Dafür reiEinflussnahme der Politiker. chen die Beamten des Bakom nicht aus, auch wenn ihre Zahl vervielfacht würde. Externe Medienwissenschafter müssten für teures Geld beauftragt werden, die Zeitungsinhalte zu analysieren und zu kontrollieren: Wie gross ist der «demokratiepolitisch relevante Anteil» politischer Beiträge (nach Textgattungen, Ausrichtung, Gastbeiträgen von Politikern, Leserbriefen)? Welche politischen Akteure kommen zu Wort, und wenn ja, wie ausgewogen? Man sieht: der indirekten und direkten Förderung folgt zwangsläufig die direkte und indirekte Einflussnahme der Politiker auf dem Fuss. Politisch denkende Journalisten werden das Glaubwürdigkeitsproblem als erste verspüren, das sie sich da eingehandelt haben – ob sie die Hand, die sie füttert, nun lecken oder beissen. Leser spüren so etwas. Und damit wäre endgültig beschädigt, was die staatliche Finanzierung der Medien anstrebt: die Stärkung der staats- und demokratiepolitischen Bedeutung der Medien. � 23


Gespräch Schweizer Monat 995 April 2012

Die Macht der Ja-Sager Sie schafften die WTO ab, verkündeten das Ende des Irak-Krieges schon 2008 und verkauften Rettungskapseln gegen den Klimawandel: die beiden amerikanischen Kunstaktivisten Andy Bichlbaum und Mike Bonanno parodieren die zeitgenössische Medien- und Geschäftswelt. Welche Ziele verfolgen sie? Johannes M. Hedinger und Michael Wiederstein treffen «The Yes Men»

Was ist ein «Yes Man»? Ein «Yes Man» ist ein Ja-Sager, ein Angestellter, der in allen Punkten mit seinem Boss übereinstimmt. Ein – Pardon! – Arschkriecher. Und genau das sind wir in unseren Rollen: wir sind trojanische Pferde in Grosskonzernen, geben uns als gewissenlose, gierige und trotzdem innovative Klischeekapitalisten aus, nehmen unsere Auftritte auf Kongressen oder im TV auf und stellen so die Mentalitäten in der jeweiligen Runde bloss. Wir bieten Anschauungsmaterial. Die Betrachter sollen dann ihre eigenen Schlüsse ziehen.

«The Yes Men» sind eine Netzkunst- und Aktivistengruppe. Andy Bichlbaum und Mike Bonanno, die mit bürgerlichen Namen Jacques Servin und Igor Vamos heissen, sind die beiden prominentesten Mitglieder der Gruppe. Jacques Servin ist ausserdem Autor, Igor Vamos arbeitet als Assistenzprofessor am Rensselaer Polytechnic Institute in New York.

ben, dass wir ein mächtiger Verbündeter auf dem Weg nach oben sein könnten. Dieser blinde Glaube sorgt in Institutionen und Betrieben zunehmend dafür, dass man bereit ist, den Kopf auszuschalten, wenn der Profit stimmt. Für eine Gesellschaft ist das auf lange Sicht fatal.

Wir sind alles, was sich ein Klischeekapitalist wünschen Konkret: ihr schleicht euch kann: vordergründig innovativ als Repräsentanten inter- 2004 hat einer von euch als Vertreter von Union Carbide, einer nationaler Konzerne oder Tochterfirma von Dow Chemical, vor laufenden BBC-Kameras und fortschrittlich. Institutionen auf Veranstaltungen der WTO, Exxon oder Halliburton oder in Fernsehstudios von CNBC oder BBC, um dort mit kapitalistischen Motiven zu spielen und Missstände anzuprangern... …und sind damit erschreckend erfolgreich! Vor allem die, die vergessen haben, dass es für menschliches Zusammenleben Regeln gibt, gehen uns auf den Leim: auf Kongressen bekommen wir immer wieder Beifall und jede Menge Visitenkarten von Interessierten. Man lädt uns aufgrund von Unachtsamkeit ein. Und dann verkaufen wir da zum Beispiel die Idee von Kerzen für mehr «Licht in der Dritten Welt», die aus Talg von vormals an Hunger gestorbenen Menschen hergestellt werden. Wir stellen die Produkte im Kapitalistensprech der «effizienten Ressourcennutzung» vor, was für viele Ohren «gut» klingt, für jeden halbwegs klardenkenden Menschen aber völlig absurd ist. Wir sind dabei alles, was sich ein Klischeekapitalist wünschen kann: vordergründig innovativ und fortschrittlich. Und wir nicken freundlich. Ihr nennt das selbst auch «Identitätskorrektur». Wieso habt ihr euch gerade die Grossunternehmen dafür ausgewählt – naive Menschen gibt es doch überall? Weil hier diejenigen, die in der Anonymität gern abkassieren, am einfachsten zu kriegen sind: sie stimmen allem zu, weil sie glau24

versprochen, den Opfern der Chemiekatastrophe von Bhopal eine Entschädigung auszuzahlen. Wie kam es dazu? Schon einige Jahre vor dem Fernsehevent hatten wir eine Internetseite aufgeschaltet, die den Eindruck erweckte, als sei sie eine Unterseite von Dow Chemical. Sie wirkte ziemlich seriös und setzte sich mit den Themen unternehmerische Ethik und Umweltverschmutzung auseinander. Als sich die Bhopal-Katastrophe, bei der 1984 in Indien eine toxische Wolke aus einer Union-CarbideChemiefabrik freigesetzt wurde und mehrere Tausend Menschen unmittelbar an Verätzungen starben, zum 20. Mal jährte, plante die BBC eine Sendung zum Thema und schrieb uns über unsere falsche Website an. Man bat uns anstelle von Dow Chemical, eine Erklärung abzugeben und zu erklären, wieso viele der Opfer und ihre Angehörigen bis heute keine Entschädigung bekommen haben. Und natürlich sagten wir gern zu. Wir überlegten, was die Geschädigten in Indien wohl von Dow verlangen würden – und bauten genau das in die geplante Rede ein. Wir stellten uns ausserdem vor, dass man bei der BBC, dem Fernseh-Todesstern, wie wir gern sagen, unsere Ausweise kontrollieren, unbequeme Fragen stellen und andere Hürden für eventuelle Trojaner aufbauen würde. Nichts davon sollte zutreffen: ein feiner Anzug und eine Aktentasche genügten, und die BBC-Studios in Paris stellten sich als tristes kleines Büro mit genau einem Techniker und einem Bluescreen heraus. Wir kamen uns vor, als wolle man uns auf den Arm nehmen.


Andy Bichlbaum und Mike Bonanno sind «The Yes Men».

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Schweizer Monat 995 April 2012  Gespräch

Zwanzig Minuten später ging der Dow-Aktienkurs auf Talfahrt. Richtig. Andy hielt seine Rede, übernahm im Namen Dows die volle Verantwortung für die Katastrophe und sprach den Opfern 12 Milliarden Dollar zu, was etwa dem gesamten Firmenwert entsprach. Dann ging das Licht an, wir schüttelten die Hände des Technikers und einer Redakteurin, die Andy dafür dankte, dass das Unternehmen seinen geschädigten Arbeitnehmern nun endlich Reparation versprach – und dann waren wir wieder draussen. Wir atmeten einmal tief durch, kurz danach ging die Nachricht schon über alle Ticker und sorgte für einen Kurssturz von Dow Chemical. Ärger gemacht, Arbeit erledigt? Nein, darum ging es nicht. Wir stellten mit der gesamten Welt gemeinsam fest: wenn ein Grossunternehmen heute die Verantwortung für einen unglaublichen Unfall übernimmt, also etwas tut, was man gemeinhin von ihm erwarten und als moralisch richtig bezeichnen würde, so entziehen ihm die Gläubiger das Kapital! Nach einer halben Stunde dementierte Dow die Meldung, und bei uns lief das Telefon heiss. Die Sache flog natürlich auf, aber der Schwindel war das Thema Nummer eins – und damit auch Dow und seine Unternehmensethik. Das kann man so sehen, aber auch andersherum: was ist mit all jenen Indern, die sich in diesem Moment auf ihre Entschädigung gefreut haben? Wir haben im vorhinein mit Leuten in Bhopal gesprochen, mit Vertretern von Verbänden, die sich für die Opfer der Katastrophe bis heute einsetzen. Letztlich sind wir zum Schluss gekommen, dass ihr materieller Schaden durch die Aktion nicht grösser wird, ihre Medienpräsenz und -macht aber sehr wohl. Wie wäre es mit dieser Lesart: Ihr habt sie instrumentalisiert? Ob man jetzt den einen Lügner im offiziellen Kleid des Pressevertreters vor der BBC-Kamera sitzen hat oder den anderen – was spielt das schon für eine Rolle? In Indien haben sich die Leute anfangs sehr gefreut, später wich diese Freude erneut der Frustration. Wir haben das in Kauf genommen und fühlten uns diesbezüglich auch nicht besonders wohl – aber die Medienöffentlichkeit ist nach der Sache eindeutig aufseiten der Benachteiligten in Indien. Man sollte annehmen, dass es Leute gibt, die euch aufgrund des oft absurden Inhalts enttarnen und möglichst rasch aus den jeweiligen Runden und Fernsehstudios entfernen wollen. Ja, die gibt es. Aber allzu oft kommt das nicht vor. Wir sind auch noch selten irgendwo für unsere Aktionen gesetzlich belangt worden. Vor kurzem wurden wir von der US-Handelskammer angeklagt, der grössten Lobbyistenvereinigung der Welt. Und vielleicht werden wir ja hier endlich einmal verurteilt. Ihr wünscht euch eine Strafe? Leider ist es so, dass die meisten Unternehmen ungern Geld weg-

werfen: wenn sie uns belangen, kostet das Geld, Zeit und ein paar andere Ressourcen. Deswegen tun sie es nicht. Und natürlich wollen sie nicht, dass die Missstände breitenwirksam thematisiert werden. Sie wissen, dass wir nur darauf warten – und nichts zu verlieren haben. Denn unsere Währung ist die Aufmerksamkeit. Damit können wir zwar niemanden bestechen – aber Aufmerksamkeit ist immerhin inflationssicher. (lacht) Dass nämlich viele sogenannte «Leader» schon heute nicht allzu weit von ihren eigenen Karikaturen entfernt sind, ist die Erkenntnis der Betrachter unserer gesammelten «Beweismittel». Verkauft ihr diese «Beweise» auch auf dem Kunstmarkt? Wer unsere «Werke» kaufen will, der soll das bitte tun. Wir sind nichts anderes als Kapitalisten, ja. (lacht) Aber wir kümmern uns nicht darum, unseren Lebensunterhalt durch den Verkauf von Werken zu Wir arbeiten mit sichern. Es gibt da draussen einige Leute, die schätkapitalistischen Mitteln zen, was wir tun. Einen gegen die sogenannten Grossteil unserer FinanAuswüchse des Kapitalismus. zierung kommt denn auch von sogenannten Crowdsourcing- und FundingPlattformen. Das ist ein effizienter Ersatz für staatliche Kultursubventionen. Denn welcher Staat der Welt finanziert schon eine Revolution vor der eigenen Haustür? In der Schweiz werden Provokationskünstler sehr wohl auch staatlich unterstützt. Aber nicht jeder Scherz ist auch gleichzeitig Kunst. Es ist immer schwierig, den Schwindel so lustig und einprägsam wie möglich zu gestalten – das ist Teil der künstlerischen Komponente. Wir lernten uns übrigens auch über die Kunst kennen, schrieben uns ab 1999 Mails über unsere Interventionen. Wir gründeten gemeinsam die Onlineplattform «®TMark», eine Art Vorläufer des heutigen «Yes Lab», das der Ausbildung neuer «Yes Men» dient. Das Ziel: man sollte in unsere Firma investieren, um andere Firmen gezielt zum Gegenstand von politischen Kunstkampagnen zu machen. Was hatten denn diese Firmen verbrochen, um sich für eure künstlerischen Dienstleistungen zu «qualifizieren»? Es waren grosse Firmen, die gegen geltende Gesetze verstossen hatten: Firmen, die ihren Müll einfach im Wald nebenan entsorgten, Firmen, die ihre Angestellten schlecht behandelten, Firmen, die sich auf unerlaubtem Weg bereicherten. Wir hatten einen einfachen Plan: mit den Mitteln einer eigenen, eingetragenen Firma – Schutz der eigenen Geldgeber, guter Rechtsbeistand, seriöser Auftritt – wollten wir diesen Strolchen das Leben schwermachen, wenn diese sich nicht an die Spielregeln hielten. Wir arbeiteten, wenn man das so nennen mag, mit den kapitalistischen Mitteln der Arbeitsteilung gegen die sogenannten Auswüchse des Kapitalismus. 27


Gespräch Schweizer Monat 995 April 2012

Kapitalismuskritik ist en vogue: aber geht es euch nicht vielmehr um die Einflussnahme der grossen Player auf die Politik? Wäre «Korporatismus» als Feindbild nicht präziser? Alle grossen Wohlfahrtsstaaten, die sich «kapitalistisch» nennen, sind «korporatistisch». Sobald die Macht der Konzerne auf die Politik wächst, wird aus einem kapitalistischen ein korporatistischer Staat. Es gibt keine gänzlich freien Märkte ohne Korruption. Das ist genauso weltfremd wie die sozialistisch-antikapitalistische Seite, die behauptet, man könne die Wirtschaft politisch planen, und alles werde schon gut. Denn sobald es einen Staat gibt, von dem die Wirtschaft sich Vorteile verspricht oder der zumindest die Macht hat, einigen Wirtschaftszweigen Vorteile zu verschaffen, wird dieser auch dazu benutzt. Ihr seid «Hacker» dessen, was ihr als «System» bezeichnet, und macht damit selbst Karriere in Kunstmedien und im Aufmerksamkeitssystem. Letztlich stärkt ihr sogar das «System», indem ihr seine Schwachstellen aufdeckt. Das ist eine Art 90er-Jahre-Blick auf die Sache. Heute weht ein anderer Wind. Mike unterrichtet am Rensselaer Polytechnic Institute in Troy, New York. Es ist eine der ältesten Technischen Universitäten, und die Leute waren dort schon immer ziemliche «Geeks»: Typen, die Unsere US-Demokratie fasziniert sind von Computern, Systemen und ist eigentlich Technik. Heute aber sind eine Demokratie­sie auch und vor allem an parodie. Politik, Wirtschaft und Kunst interessiert. Wiki­ leaks, Anonymous und ähnliche Initiativen denken nicht mehr entschuldigend an den Aufklärungs- und Verbesserungseffekt, den sie erzielen, wenn sie Sicherungssysteme umgehen und prekäre Details von Mächtigen veröffentlichen. Letztlich sind sie einfach unzufrieden mit der herrschenden Ordnung: und sie torpedieren sie. Frust als Motiv einer neuen Generation – das birgt viel sozialen Zündstoff. Ja, aber es geht weiter. Die Occupy-Leute sind ein gutes Beispiel: zunächst war da nur Frust. Kurz darauf sass man in Diskussionsrunden zusammen, und verschiedene politische Lager diskutierten über Sachthemen. Ich bin der Meinung, dass man diesen Ideen­ austausch als ambitioniertes Projekt ernst nehmen sollte. So unpraktisch die Bewegung im Grossen ist, so fruchtbar ist sie im Kleinen. Sachthemen! Im kleinen Kreis eine Stimme haben! Dann engagieren sich die Menschen auch. Das alte Blockdenken und das US-amerikanische Zweiparteiensystem haben uns schliesslich dahin geführt, wo wir heute resigniert stehen. In der Schweiz, wo zwar ebenfalls immer noch in alten Kategorien von links und rechts gedacht wird, ist das Föderale immerhin Bestandteil der politischen Kultur... 28

Ihr behauptet, die Leute seien zu naiv – und glaubt gleichzeitig an die Basisdemokratie? Wir glauben, Demokratie könnte funktionieren. In den USA haben wir vielmehr eine Art Oligarchie. Ob da ein Demokrat oder ein Republikaner an der Macht ist, spielt für uns kaum eine Rolle mehr, denn korrumpiert werden sie alle. Unsere US-Demokratie ist also eigentlich eine Demokratieparodie... Das sollte euch doch eigentlich gefallen? Ja und nein, denn die Leute durchschauen diese Parodie leider nicht. Um sie zu verstehen, müssten sie jenseits der alten politischen Fronten denken. Da ist nicht einerseits die gute Wirtschaft oder andererseits die gute Politik. Da ist nicht einerseits nur der freie Markt und andererseits nur der gerechte Sozialismus. Es gibt keine Heilslehre mehr, an die wir uns bedingungslos klammern könnten. Wir versuchen einfach Scheinheiligkeit und ideologische Verkrustung da aufzudecken, wo wir sie vorfinden. Und bringen sie dann von dort ins Kino und in die Wohnzimmer. �

Das Gespräch mit Mike Bonanno fand anlässlich des «Coffeebreak for a Revolution» im Zürcher Cabaret Voltaire statt. Weblinks: www.theyesmen.org www.yeslab.org/ www.rtmark.com/ Die gefälschte «New York Times»: www.nytimes-se.com/ Filme: The Yes Men (2003) The Yes Men Fix the World (2009)


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B ü rg e r re c ht e u n d L i b e ra l i s m u s

«Die Freiheitsopportunisten und die Freiheitsindifferenten dominieren.» Vera Lengsfeld

«Die Geschichte zeigt, dass dort, wo der Liberalismus gelebt wird, Prosperität und Freiheit nicht auf sich warten lassen.» Pascal Couchepin


Schweizer Monat 995 April 2012  Thema

Die Rückkehr des Freiheitssinns Die Unfreiheit wächst: 22 Jahre nach dem Mauerfall ist es Zeit für eine neue liberale Bewegung. von Vera Lengsfeld

U

m die Zukunft des Liberalismus brauchen wir uns keine Sorgen zu machen. In diesem Text erkläre ich, warum das so ist – anderslautenden Voten zum Trotz. Es gibt jene in unseren sogenannt freiheitlichen Gesellschaften, die die Freiheit nur so lange mögen, wie sie zu den Resultaten führt, die ihnen in den Kram passen. Trifft dies nicht mehr zu, werden sie zu deren ärgsten Feinden. Und es gibt jene, die sagen, der Liberalismus habe sich überlebt, weil seine Ideen etabliert seien. Zumindest in der westlichen Welt sind Meinungs-, Versammlungs-, Koalitionsfreiheit, Freizügigkeit, eine freie Presse, Freiheit der Berufswahl und Chancengleichheit gewährleistet. In Deutschland hält es deshalb keine einzige grosse Partei mehr für notwendig, sich für individuelle Freiheit und Eigenverantwortung, für den Schutz von Eigentum und Privatsphäre, für freie Märkte und gegen jede Form staatlicher Privilegierung einzusetzen. Die Freiheitsopportunisten und die Freiheitsindifferenten dominieren. Längst sind alle Parteien dabei, in einem sozialdemokratischetatistisch-ökologischen Konsens zu verschmelzen. Seit der «Euro­rettung» wird beispielsweise in Deutschland eine Einheitsfrontpolitik gemacht – genannt Allparteienkonsens. Der Konformitätsdruck dieser Politik dehnt sich nach und nach auf alle Politikfelder aus. Nur zwanzig Jahre nach dem grandiosen Sieg der Freiheit über die bis an die Zähne bewaffneten Diktaturen in Osteuropa scheint das Gedächtnis an die Unfreiheit verblasst. Die instinktiv richtige Entscheidung der Bürger Osteuropas für die Freiheit wurde ihnen von vielen linken Weltverbesserern übelgenommen. Die Entsorgung von «Idealen» wie einer gerechten Kollektivgesellschaft und einem durch Vergesellschaftung befreiten Menschen, die von den totalitären Diktaturen des letzten Jahrhunderts benutzt wurden, um ihre Macht zu zementieren und sie moralisch unangreifbar zu machen, schmerzt die Kämpfer für das irdische Paradies noch heute. Sie wollen nicht wahrhaben, worin die entscheidende historische Zäsur der friedlichen Revolution besteht: in der Abkehr von der Politik der Gewalt und der Macht der Statuseliten. Die wirtschaftlichen Eliten von heute sind Leistungseliten, die keine gesellschaftlichen Privilegien geniessen und sich auf dem

Vera Lengsfeld ist studierte Philosophin und Bürgerrechtlerin. Sie wuchs in der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) auf, wurde später aus der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) ausgeschlossen und wegen «versuchter Zusammenrottung» inhaftiert. Sie sass von 1995 bis 2005 im Deutschen Bundestag, zuerst für die Grünen, später für die CDU.

Markt durchsetzen müssen. Die kulturelle Intelligenz dagegen hätte nach wie vor gerne lieber staatlich erzwungene Gelder als auf Freiwilligkeit beruhende Gewinne in der Privatwirtschaft. Deshalb findet man in dieser Gruppe die aktivsten Kämpfer für einen alles bestimmenden Staat. Natürlich geht es heute nicht mehr um einen sozialistischen Staat nach dem Vorbild der Deutschen Demokratischen Republik (DDR), sondern um die abgeschwächte Variante, den «Wohlfahrtsstaat». Worauf aber beruht dieser? Auf einer mächtigen Regierung, einer umfassenden Regelung des wirtschaftlichen Handelns, einer Gängelung menschlichen Verhaltens und auf der Umverteilung des Einkommens im grösstmöglichen Umfang, so dass die Leistungseliten lieber zweimal schlucken als aufbegehren. Wurden im 19. Jahrhundert die Arbeiter ausgebeutet, so sind es heute die Leistungsträger, die schamlos und willkürlich zur Kasse gebeten werden. Die Ausbeutung heisst natürlich anders, «Solidarität» oder «soziale Gerechtigkeit». Das hehre Ideal der Gerechtigkeit ist zu einem Kampfbegriff geworden, der unter Aufbietung aller moralischen Kräfte bloss dazu dient, Freiheit und Leistungsbereitschaft der einzelnen zu beschneiden. Der europäische Einheitsstaat In der gegenwärtigen Währungskrise nimmt der Umverteilungswahn im Namen der Gerechtigkeit immer groteskere Züge an – und er wird sozusagen international. Angeblich geht es um Solidarität mit den Pleitestaaten, in Wirklichkeit aber darum, die Währungsunion als Einstieg in einen europäischen Einheitsstaat von oben zu benutzen. Von der Zurückhaltung bzw. Ablehnung der Bevölkerung völlig unbeeindruckt, agieren die Politiker immer dreister und rigider, um eine Krise in den Griff zu bekommen, die sie zum grossen Teil selbst verursacht haben, indem sie sich mit schuldenfinanzierten Versprechen Stimmen kauften und den Wohlfahrtsstaat zum Schuldenstaat aufbauschten. Vor unseren 31


Thema Schweizer Monat 995 April 2012

Augen erodiert nicht nur das Vertrauen in das Finanzsystem, sondern auch das in die politischen Institutionen. Seit Jahren haben kluge Ökonomen auf die Gefährlichkeit einer Politik des unbekümmerten Schuldenmachens hingewiesen, ohne Gehör zu finden. Im Gegenteil. Es fanden sich immer genug andere dienstbare Ökonomen, die der Meinung waren, ein Staat könne gar nicht genug Schulden machen, um «Konjunkturprogramme» und das immer weiter werdende soziale Netz zu finanzieren. Als die Einheitswährung für Europa beschlossen wurde, ging die Politik von der irrigen Annahme aus, dass eine Währung umso erfolgreicher sein müsse, je mehr Staaten sich an ihr beteiligten. Als sich abzeichnete, dass Harmonisierung die Probleme ver- statt entschärft, wurden bestehende Schulden durch neue Schulden aus der Welt geschafft, wurde und wird Zentralisierung durch mehr Zentralisierung neutralisiert. Wer sich historischen Sinn bewahrt hat, sieht: die «Rettungsmassnahmen» sind staatsdirigistischer Natur und gleichen fatal den Rezepten des untergegangenen Sozialismus. Statt Eigenverantwortung, Selbstbestimmung und Vertrauen in die eigene Kraft zu fördern, werden neue Abhängigkeitsverhältnisse geschaffen. Nicht mehr nur Individuen oder soziale Schichten hängen am Tropf staatlicher Trans­ferleistungen, sondern inzwischen auch ganze Länder bzw. Bevölkerungen. Griechenland soll sich als Gegenleistung für Finanzhilfen fremdbestimmen lassen. Es verliert seine Haushaltshoheit und damit seine Souveränität. Was dem Frieden dienen soll, stiftet immer mehr Unfrieden. Alte Animositäten und Rivalitäten brechen wieder auf, es entsteht neuer Hass. Wir können diese unappetitlichen Entwicklungen inzwischen jeden Abend vor dem Bildschirm verfolgen. In einer Zeit, in der dringend liberale Konzepte gebraucht würden, scheint der Liberalismus darniederzuliegen. Damit sind nicht die wohlverdienten katastrophalen Umfragewerte der deutschen FDP gemeint, deren Führung bis heute die Ursachen ihres Absturzes nicht begriffen hat. Gemeint sind die Marginalisierung von Freiheit und Eigenverantwortung in unserer Gesellschaft und die Renaissance des Staatsdirigismus. Die Idee der Machtbeschränkung des Staates, ein Kernstück des Liberalismus, ist Politikern und anderen Staatsapologeten natürlich suspekt. Doch bleibt der Liberalismus die einzige Bewegung, die sich nicht an eine bestimmte Klasse oder Klientel richtet, sondern für alle da ist. Sie beruht auf Prinzipien, die für die Zivilgesellschaft wie geschaffen sind – sie braucht sie bloss zu erkennen und für sich zu reklamieren. Der Sex-Appeal des Liberalismus Und nun komme ich endlich zum Satz, der am Anfang dieses Textes steht. Die aktuelle Situation stimmt mich trotz allem optimistisch. Denn selbst eingefleischte Etatisten zeigen sich zunehmend beunruhigt darüber, dass die Machtkonzentration in der EU unheimliche Dimensionen angenommen hat. Es dämmert ihnen, dass sich hinter dem von allen EU-Politikern angestrebten «Europäischen Stabilitätsmechanismus» eine Einheitsregierung für die 32

EU verbirgt. Der Widerstand dagegen wächst, von links wie von rechts, in ärmeren und reicheren Ländern, im Süden und im Norden Europas. Liberale Bewegungen waren in der Vergangenheit erfolgreiche Volksbewegungen. In der Revolution von 1989/90 inspirierte eine solche Bewegung die Mehrheit auf der Strasse. Keiner der herrschenden Politiker hatte vermutet, dass die unterdrückten Massen Osteuropas fähig wären, sich zu erheben und ihren Willen durchzusetzen. Aber die Bewegungen kamen nicht aus dem Nichts – sie kamen aus einem tiefen Freiheitsbewusstsein, das die Unfreiheit nicht mehr Die Freiheit bedient sich gern länger ertrug. Und so erder List der Vernunft. Sie setzt staunt es nicht, dass man sich, das lehrt die Geschichte, heute einige der entschiedensten Vertreter liberaler am Ende immer wieder durch. Ideen in Osteuropa findet. Was 1989/90 geschah, kann wieder passieren. Das europäische politische Establishment ist sich dessen bewusst. Symptomatisch ist, dass die Politiker in ihrem Bestreben nach einem friedlichen Europa nicht an die osteuropäische Freiheitsbewegung anknüpfen, obwohl die doch erst die Möglichkeit für die Vereinigten Staaten von Europa geschaffen hat. Stattdessen wird von ihnen ein zentralistisches Modell favorisiert, das einer EUdSSR ähnlicher sieht als einem freien Europa. Aber die Zeit ist aufseiten jener, die die Freiheit wirklich lieben. Wenn sich die Finanz- und Schuldenkrise verschärft und den Lebensstandard der Europäer merkbar zu beeinträchtigen beginnt, wenn die staatlichen Versorgungssysteme unter der angehäuften Schuldenlast kollabieren – nun, so hart es klingt: dann ist die Zeit reif für Lösungen, die wieder auf die Freiheit und Eigenverantwortung der Bürger setzen. Die Freiheit bedient sich gern der List der Vernunft. Sie setzt sich, das lehrt die Geschichte, am Ende immer wieder durch. Doch tut jeder Freund der Freiheit gut daran, auch in schwierigen Situa­ tionen nicht duckmäuserisch wegzuschauen, sondern sich für sie zu engagieren. Die Arbeit beginnt mit der geduldigen Aufklärung darüber, dass die sozialistischen Rezepte immer zum Scheitern verurteilt sind, egal, in welchem Gewand sie daherkommen. Der Staatsdirigismus löst keine Probleme, sondern ist selbst das Problem. Selten hatte der Liberalismus so viel Faszinationskraft wie in diesen Tagen. Je offensiver seine Ideen verfochten werden, desto eher werden sie gehört werden. In einer Zeit, wo sich in ganz Europa ein sozialdemokratisch-etatistisch-ökologischer Parteienkonsens wie Mehltau über alle existentiellen Bereiche legt, wirken vom Mainstream abweichende Ideen wie eine frische Brise. �

Der Text geht auf die Debatten eines Kolloquiums der Progress Foundation zum Thema «Die Mühsal mit dem Liberalismus» zurück.


Vera Lengsfeld, photographiert von Philipp Baer.

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Thema Schweizer Monat 995 April 2012

Freisinnige Lebenskunst Der Liberalismus ist ein Balanceakt – und die beste Antwort auf die Wut der Empörten. von Pascal Couchepin

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er Liberalismus ist keine Sekte. Weder eine heilige Schrift noch ein Philosoph gibt ihm eine abschliessend gültige Dok­­ trin vor, auf deren Basis sich Dissidenten und Abweichler dogmatisch verurteilen liessen. Der Liberalismus hat keinen Guru. Er mag Referenzpersönlichkeiten haben, ist im allgemeinen aber skeptisch, ja kritisch gegenüber persönlicher Macht, und sei sie noch so «soft». Der Schweizer Liberalismus ist darüber hinaus vom Republikanismus geprägt. Seine republikanische Haltung gegenüber dem Staat erklärt sich unter anderem aus der Wichtigkeit, die der liberalen Strömung bei der Gründung und Führung jenes Staates zukam, der aus der bürgerkriegsähnlichen Erschütterung von 1848 herDer Liberalismus vorgegangen war. Man könnte den Libeist zerbrechlicher ralismus vielleicht als eine als jede andere Lebenskunst kennzeichpolitische Familie. nen, die sich im Zusammenspiel mit äusseren Umständen, historischen Gegebenheiten und ökonomischen Bedürfnissen entwickelt hat. Die Verweise auf die Vergangenheit sind nützlich, geben aber keine konkreten Antworten. Wie ein Liberaler den aktuellen Pro­ blemen begegnen, welche praktischen Lösungen er vorschlagen soll, müssen jene, die sich auf diese liberale Tradition berufen, in jeder Generation aufs neue diskutieren. Der Liberalismus ist zerbrechlicher als jede andere politische Familie, weil er, anders als linke oder rechte Konservatismen, keine illusorischen Sicherheiten beschwört. Der Liberalismus akzeptiert die Veränderung. Der Idee des – nicht nur materiellen – Fortschritts nahestehend, hat er den Anspruch, selbst ein Faktor des Fortschritts zu sein. Wobei dieser Begriff zu diskutieren wäre, denn auch für einen Liberalen sind nicht alle Veränderungen Fortschritte. Der Liberalismus ist eine Regierungskunst, die in der Gesellschaft ein Gleichgewicht zwischen den verschiedenen menschlichen, politischen, ökonomischen, kulturellen und sozialen Bedürfnissen herzustellen versucht. Auch wenn er dabei den Kompromiss praktiziert, ist der Liberalismus keine Doktrin des 34

Pascal Couchepin war von 1998 bis 2002 Vorsteher des Eidgenössischen Volkswirtschaftsdepartements und von 2003 bis 2009 Vorsteher des Eidgenössischen Departements des Innern. In seiner Amtszeit war er zweimal Bundespräsident.

Kompromisses. Die Lösungen, die er vorschlägt, sollen nicht Resultat eines Kräftemessens, sondern Ausdruck einer tiefen Überzeugung sein. Notwendige Zurückhaltung Angesichts der Vielfalt von Situationen und Individuen kann es in den Augen eines wahren Liberalen keine perfekten politischen Lösungen vom Staat geben; dieser hat sich folglich politisch und praktisch notwendig zurückzuhalten. Der Liberalismus ist darauf ausgerichtet, einen Raum zu schaffen, der es all den unterschiedlichen Individuen ermöglicht, ihr Bestes zu geben, sich zu entfalten und ihr Lebensprojekt zu realisieren. Dabei wissen die Liberalen, dass das Individuum kein isoliertes, asoziales Wesen ist, sondern in Gemeinschaft lebt – zunächst mit seinen Verwandten, dann, in einem weiteren Sinn, auch mit seinem Land und der gesamten Menschheit. Zwischen diesen verschiedenen Stufen gibt es keine Gegensätze, sondern bloss eine priorisierende Ordnung, welche die menschlichen Freundschaften vom Nächsten zum Entferntesten strukturiert. Die Liebe zur Menschheit ist abstrakt, solange sie sich nicht auf der Ebene des Nächsten konkretisiert. Man merkt, dass der Liberalismus in einer Zivilisation entstanden ist, die von der griechischen und römischen Kultur durchdrungen, vom jüdisch-christlichen Erbe beeinflusst und vom Geist der Aufklärung geformt worden war. Die Ursprünge von vielen Kernelementen der liberalen Überzeugung liessen sich weit zurückverfolgen. Bei den Griechen findet sich das erste Nachdenken über die Stadt, die Demokratie, die Gründe für einen Staat; im Christentum die Idee, wonach die menschliche Person höchster Richtwert politischen Handelns sei, und ebenso die Vorstellung einer nicht mehr zyklisch, sondern linear verlaufenden Geschichte und damit das Konzept von Fortschritt; in der Aufklärung nicht nur die Idee einer vernünftigen Moral, die allen eignet und dadurch in einer Welt ohne theologische Referenz politische Macht


Schweizer Monat 995 April 2012  Thema

legitimiert, sondern auch die ökonomische Vision, die auf den Effort eines jeden, auf individuelle Verantwortung, unternehmerische Freiheit und den Markt abstellt. Eine solche Genealogie der liberalen Überzeugungen zu erstellen, ist natürlich gewagt. Jede Feststellung müsste mit Nuancen präzisiert werden, Einschränkungen wären zu akzeptieren, Vervollständigungen vorzunehmen. Und dennoch: Was, wenn nicht dieses Erbe, könnte letztlich erklären, weshalb der Liberalismus hier in Europa und in den europäischen Kulturen aufblühte und nicht anderswo? Diese Frage habe ich schon mit Gesprächspartnern aus Asien oder anderen Regionen angesprochen, und der arabische Frühling hat ihr neue Aktualität verliehen. Meiner Meinung nach ist der Liberalismus sehr schwer zu exportieren. Was natürlich nicht bedeutet, dass man darauf verzichten soll, Menschenrechte, Denk- und Unternehmensfreiheit zu fördern. Man darf sich nur keine Illusionen machen: der Prozess wird langsam sein, sehr langsam. Der Liberalismus kann sich nur verbreiten, wenn er sich auf eine Ethik stützen kann, die von der Zivilgesellschaft geteilt wird. Um der individuellen Wahl, der schillernden Vielfalt der Menschen möglichst viel Platz zu lassen, predigt er Zurückhaltung beim Produzieren juristischer Normen. Voraussetzung dafür ist ein gemeinsames ethisches Fundament: Respekt vor den Menschen und Gütern, ein gewisses Wohlwollen gegenüber dem andern, Vertrauen in das gegebene Wort. Mehr als Wohlstandsmaximierung Die Gesellschaft ist mehr als eine auf maximalen Wohlstand ausgerichtete Ansammlung von Individuen, die alle ihre Freiheit nutzen, ohne jene der anderen zu beeinträchtigen. Immer wenn man den Liberalismus so definiert, läuft mir der kalte Schauer über den Rücken, oder ich fühle mich bestenfalls wie in einem jener trostlosen Ruheabteile der SBB, wo in aseptischer Atmosphäre ohne Freude und ohne Leid jedes Zeichen von Leben als Bedrohung für die anderen angesehen wird. In seiner grossen westlichen Tradition anerkennt der Liberalismus die Würde jedes einzelnen Menschen, was nicht bedeutet, dass er den einzelnen Menschen zur Insel macht. Ganz im Gegenteil. Erst in der Teilnahme des einzelnen an der Regierung des gesellschaftlichen Ganzen oder zumindest im Beitragen zu dessen menschlicher, politischer und wirtschaftlicher Prosperität manifestiert sich die individuelle Würde. Indem das Individuum am politischen Leben teilnimmt, übt es ein Recht aus und aktualisiert eine fundamentale Eigenschaft seines Menschseins: jene des Zugehörens zu etwas, das grösser ist als es selber. In genau diesem Zusammenhang rütteln uns heute jene «Empörten» auf, die, auf den Kristallisationspunkten westlicher Finanzfiktionen zeltend, Solidarität und Gerechtigkeit reklamieren. Was die Protestierenden ablehnen, ist eben diese schauerliche «Ruhe­ abteil»-Gesellschaft, in der die absolute Gleichgültigkeit gegenüber allen Nachbarn herrscht – und die sie mit «Liberalismus» identifizieren. Sie tun dies zu Unrecht, wenn man den real existie-

renden Schweizer Liberalismus betrachtet, der immer eine solidarische und genossenschaftliche Komponente hatte; man denke beispielsweise an Wohngenossenschaften, patriotische Gemeinschaften, Wohltätigkeitsgesellschaften oder freie öffentliche Schulen. Sie tun dies jedoch zu Recht, wenn man davon ausgeht, dass sich Liberalismus auf Antietatismus und Privategoismus beschränkt. Die Antwort auf die Empörung Echter Liberalismus aber – und davon bin ich immer stärker überzeugt – ist keine simple Satzung. Echter Liberalismus ist vielmehr die permanente Suche nach einem Gleichgewicht: zwischen Selbstverantwortung und Solidarität, zwischen Rückzug des Staates, wo es möglich ist, und starker Präsenz des Staates, wo es nötig ist. Der Schweizer Liberalismus fürchtet sich nicht vor der Solidarität, er weiss aber, dass diese ihre Grenzen dort hat, wo sie die individuelle Kreativität erstickt. Der liberale Staat ist kein Wohlfahrtsstaat. Er ist ein solidarischer Staat, der auf das freiwillige Engagement setzt – das ist ein grosser Unterschied. Ich gehöre zu jenen, die denken, dass der liberale Staat massvoll sein soll. Er ist nicht vereinnahmend, aber er ist notwendig. Selbstverständlich ist er legitim. Systematisches Misstrauen gegenüber dem Staat ist nicht gerechtfertigt. Hingegen soll jede Aktivität des Staates Gegenstand von Diskussionen und eines Abwägens der unterschiedlichen, zu Beginn des Artikels genannten Ziele sein. Der Liberalismus, der diesen Balanceakt vollführt, ist – anders, als die Pole glauben machen wollen – kein mediokrer Kompromiss zwischen harter Rechter und ideologischer Linker, nein, dieser Liberalismus trägt als ausgewogenes Zentrum, als wahre «aurea mediocritas», schlicht und einfach der Realität in ihrer Gesamtheit Rechnung. Zwar ist eine solche Position viel schwieriger zu verteidigen als eine eindimensionale Haltung, letztlich ist sie aber der einzige Weg, um zu einer Gesellschaft zu gelangen, die von Freiheit, Toleranz und Freundschaft gleichermassen getragen ist. So verstanden, ist der Liberalismus die beste Antwort auf die grassierende Empörung. Am Ende dieser summarischen Beschreibung dessen, was der Schweizer Liberalismus historisch ist, kann man sich fragen, ob sich diese liberale Vision in einer Partei verkörpern kann, deren Berufung per Definition darin besteht, die Macht zu erlangen und zu erhalten. Für mich überschreitet der Liberalismus die Grenzen einer Partei. Dennoch beziehen einige Parteien die liberalen Ideen und Praktiken stärker ein als andere. Insofern können sie das liberale Erbe beanspruchen. Gerade weil sie liberal sind, verfügen sie über die Stärke, mit anderen Kräften zusammenzuarbeiten und als Promotoren einer offenen liberalen Praxis zu fungieren. Die Geschichte zeigt, dass dort, wo der Liberalismus gelebt wird, Prosperität und Freiheit nicht auf sich warten lassen. Trotz Rückschlägen, Risiken und Schwächen hat, wie das 20. Jahrhundert belegt, auf politischer Ebene nichts mehr zum guten Zusammenleben einer Gesellschaft beigetragen als der Liberalismus. � 35


Harold James, photographiert von Beat Brechb端hl.

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Das grosse Platzen Drohen Europa und den USA Zustände wie während der Grossen Depression? Der Wirtschaftshistoriker Harold James mahnt zur Vorsicht: die Situation der 2010er Jahre lässt sich nicht einfach mit jener der 1930er Jahre vergleichen. Dennoch können wir aus der Vergangenheit viel lernen. Florian Rittmeyer und Claudia Mäder treffen Harold James

Herr James, «Unheil wurde öfter aufgeschoben als verhindert», sagte der Schweizer Financier Felix Somary, der schon 1926 auf Spekulationsblasen und die Gefahren einer möglichen grossen Depression hingewiesen hatte. Warum hatten bzw. haben es Mahner und Warner wie er damals und heute so schwer, sich Gehör zu verschaffen, bevor eine Krise einschlägt? Wenn die Krise nicht da ist, will man auch nicht über sie nachdenken. Die Stimmung ist gut, die Kredite fliessen, man kann sich etwas leihen und leisten, die Party läuft – da will kaum jemand Spielverderber sein. Als Sie 2001 provokativ vom möglichen «Ende der Globalisierung» gesprochen haben, sahen Sie sich da als einer jener spielverderbenden Mahner? Ich wollte damals zeigen, dass unsere integrierte Weltwirtschaft genauso verwundbar ist, wie es die Globalisierungen im frühen 20. Jahrhundert und bereits im 17. und 18. Jahrhundert gewesen sind. Und ich wollte den Gründen für das Scheitern der früheren Globalisierungen nachgehen. Man verfällt leicht dem Glauben, dass Dinge, an die man sich gewöhnt hat, ewig weiterlaufen: die Sowjetunion, die Globalisierung, die Europäische Union… Die historische Erfahrung ist jedoch eine andere: es gab und gibt immer wieder grosse Strukturbrüche. Und die beste Methode, sich auf kommende Strukturbrüche vorzubereiten, besteht eben darin, über vergangene nachzudenken. Sie haben das getan, indem Sie Ihre wissenschaftliche Arbeit viele Jahre lang der Erforschung der Weltwirtschaftskrise der 1930er Jahre gewidmet haben. Wird der Kenner dieser Jahre zum Pessimisten? Ich würde mich eher als Realisten denn als Pessimisten bezeichnen. Ich vertraue darauf, dass wir die Fehler der Vergangenheit so nicht wieder machen werden. In den 1930er Jahren trafen drei Krisen und drei damit verbundene Erfahrungen zusammen: eine Krise der marktwirtschaftlichen Wirtschaftsordnung, das heisst ein Rückfall in Protektionismus, eine Krise der Demokratie und eine Krise des internationalen Systems. Dieses Geflecht zu analysieren, zu verstehen, wie ein internationales System auseinanderfallen und scheitern kann – das schien mir eine wichtige Arbeit zu sein. Schliesslich besteht die Aufgabe von Historikern darin, nütz-

Harold James ist Professor für Geschichte an der Princeton University und Professor für internationale Politik an der Woodrow Wilson School of Public and International Affairs. Er publizierte eine Reihe von Werken zur Wirtschafts- und Finanz­ geschichte Deutschlands während der Zwischenkriegszeit. Er ist Autor von «The End of Globalization: Lessons from the Great Depression» (2001) und «The Creation and Destruction of Value: The Globalization Cycle» (2009).

liche Warnungen aus der Geschichte – oder besser: aus den Geschichten – herauszukristallisieren. Das nützt nicht viel, wenn Warnungen nicht gehört werden. Wo, würden Sie sagen, stehen wir heute? Was heisst «heute»? Für mich umfasst das Heute die letzten zehn Jahre. Es ist zum Beispiel merkwürdig, dass viele Experten der Weltwirtschaftskrise bei der amerikanischen Notenbank gearbeitet haben und immer noch arbeiten – nicht nur Ben Bernanke. Möglicherweise war die Politik dieser Kenner in den Jahren nach dem 11. September 2001 auf verhängnisvolle Weise von der Angst vor einer neuen Weltwirtschaftskrise beeinflusst. Die Experten betrieben eine übertrieben expansive Geldpolitik, um eine Grosse Depression zu verhindern, und haben damit paradoxerweise letztlich das Gegenteil bewirkt. Die Geldpolitik der amerikanischen Zentralbank liess die transnationalen Kreditflüsse nach 2004 explosiv in die Höhe schnellen; viele Banken haben sich sehr billig über den amerikanischen Markt in Dollars finanziert. So ist es zu dieser grossen Kreditblase gekommen, deren erstes Platzen zuletzt die halbe Welt getroffen hat. Ein zweites – grosses – Platzen könnte uns noch bevorstehen. Die Bankenkrise hat die bereits existierenden Schulden von Staaten stark erhöht und so Vergleiche mit den 1930er Jahren hervorgerufen. Wir fragen uns jedoch: wie aussagekräftig sind solche Vergleiche zwischen fundamental unterschiedlichen internationalen Ordnungen? Es gibt wohl kaum jemanden, der sagen würde, dass sich eine Krise wie jene der 1930er Jahre genau so wiederholen wird. Natürlich hing ein gewichtiger Teil der damaligen Probleme mit den Erinnerungen und Erfahrungen des Ersten Weltkriegs zusammen, mit Wirtschaften, die von Reparationszahlungen geschwächt, und mit Gesellschaften, die von der Kriegserfahrung brutalisiert waren – 37


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Schweizer Monat 995 April 2012  geld & geist

mit Prägungen also, die wir heute überwunden haben. Zwar ist im Laufe der jetzigen Krise zu beobachten, dass die nationalen Spannungen wieder zunehmen. Dass diese aber zu einem Krieg führen könnten, ist schwer denkbar, denn die meisten Teile Eurasiens und Nordamerikas sind insgesamt zu einer viel friedfertigeren Politik gekommen. Insofern sind die Ausgangslagen kaum vergleichbar. Der Vergleich mit den 1930er Jahren ist also mit Vorsicht zu geniessen. Welche Ähnlichkeiten sehen Sie im Verlauf der Krisen? Zentral ist das Zusammenkommen von Banken-, Schulden- und Währungskrise. Dabei ist jedoch zu bedenken, dass die Krise der 1930er Jahre in Europa gleichsam moderner war als jene in Amerika. In den USA gab es damals keine systemrelevanten Banken. Eine Welle von Bankenpleiten liess Hunderte, dann Tausende von Banken bankrottgehen, keine davon war aber gross genug, das System zu Fall zu bringen. In Österreich hingegen, wo das europäische Problem seinen Ursprung hatte, kontrollierte die Wiener Creditanstalt 60 Prozent der Wirtschaft – eine solche Bank war in der heutigen Terminologie ganz klar «too big to fail». Die Rettung durch den österreichischen Staat hatte zur Folge, dass – genau wie heute – eine Verbindung zwischen Bankenkrise und Staatsschuldenkrise entstand und sich Staatshaushalte vor dem Bankrott wiederfanden. Martin Wolf sagte in einem Gespräch mit dieser Zeitschrift, dass er 2008 die massiven Interventionen befürwortet habe, weil er damals eine Marktentwicklung habe kommen sehen, die ihm als noch schlimmer erschien als jene im Vorfeld der Grossen Depression. Wie haben Sie die Lage eingeschätzt? Das war damals eine berechtigte Angst, und ich halte die Parallele in diesem Fall nicht für übertrieben. Nach den Interventionen von 2008 und 2009 herrschte Konsens über die Ursprünge der Krise. Man ortete drei Problemquellen: die Fehlanreize bei grossen Finanzinstituten, das globale Ungleichgewicht mit Handelsüberschüssen in asiatischen Ländern einerseits und Defiziten im Westen andererseits und drittens das zu billige Geld, das der Politik einiger Notenbanken, insbesondere der Federal Reserve Bank, geschuldet war. Einverstanden. Nur: all die Probleme bestehen weiter. Ja, ich würde sogar noch einen Schritt weitergehen. Zwar wurden die globalen Ungleichgewichte durch das Schrumpfen der USA und anderer grosser Kreditländer etwas reduziert, im Grunde genommen sind die Probleme jedoch nicht nur ungelöst, sondern dominanter denn je – weil man ja eigentlich einfach weiterfährt wie bisher und dadurch die Probleme zusehends weiterträgt: das Inflationspotential, das die amerikanische Geldpolitik birgt, wird in die rapide wachsenden Entwicklungsmärkte wie Brasilien, die Türkei oder China exportiert und sorgt somit für Spannungen, die weit über Europa und die westliche Welt hinausreichen. Finanz- und Wirtschaftskrisen sind wiederkehrende Phänomene. Weshalb ist die jetzige so viel schwerer zu lösen als beispielsweise

jene der späten 1990er Jahre in Asien, wo der Internationale Währungsfonds (IWF) als Feuerlöscher auftreten konnte? Die damalige asiatische Krise scheint im Rückblick leichter zu bewältigen als die jetzige europäische, weil die betroffenen Länder ein enormes Wachstumspotential hatten. Man konnte sich darauf verlassen, dass die betroffenen Volkswirtschaften – sofern sie die richtigen Strukturreformen einleiten würden – zu einem Wachstumskurs finden würden. Insofern war es sinnvoll, dass der IWF versuchte, die Marktpanik einzudämmen. Jetzt präsentiert sich die Lage aber anders: kann man realistischerweise hoffen, dass Portugal oder Griechenland zu neuem Wachstum kommen werden? Wenn man zum Schluss kommt, dass diese Hoffnung unbegründet ist, gefährdet der IWF mit willkürlichen Interventionen seine Ressourcen und verstösst gegen die eigenen Statuten. Einige der fraglichen Länder haben nicht nur längerfristig ein Wachstumsproblem, sie sind bereits bankrott oder stehen kurz vor einem Bankrott. Wie gingen Banken und Politik in den 1930er Jahre mit drohenden seriellen Staatsbankrotten um? Nun, man hat sie nicht abDer Mensch neigt dazu, sich wenden können – und man in Krisenzeiten nach Feinden kann sie, wenn die Bedinumzuschauen, auch innerhalb gungen bleiben, wie sie nun mal sind, auch heute nicht der eigenen Gesellschaft. abwenden. Die Staatsbank­ rotte waren Teil des Scheiterns des offenen internationalen Systems: ein Zeichen dafür, dass Kapital nicht mehr von einem zum andern Land floss. Können Staatsbankrotte nicht auch einen gesunden Neuanfang stimulieren? Einige Leute sagen mit Blick auf Russland 1998 oder Argentinien 2001, dass man Staatsbankrotte erfolgreich durchführen und damit den Weg zu Wirtschaftswachstum bereiten könne. Beide Länder sind in den letzten Jahren stark gewachsen, aber diese Sicht ist oberflächlich: die Gesellschaftsstruktur wird durch Schuldenschnittbankrotte stark geschwächt. Viele Russen und Argentinier haben das Vertrauen in die Stabilität ihres Landes verloren und verlegen ihre Vermögen, nicht selten ihre ganze Existenz ins Ausland. Insofern sind auch sogenannt erfolgreiche Bankrotte in Wahrheit gefährlich und destabilisierend. Das ist vor allem ein Plädoyer gegen ungeordnete Staatsbankrotte, denn in beiden Fällen haben die Staaten unilateral ihre Zahlungsunfähigkeit erklärt. Richtig. Mit geordneten Staatsbankrotten hat man sehr wenig Erfahrung, und dies nur in relativ isolierten Volkswirtschaften wie Pakistan oder der Ukraine. In solchen international wenig engagierten Ländern mag ein Bankrott funktionieren, in grossen, handelsaktiven Ländern aber sind die Bankrottfolgen unendlich kom39


Geld & Geist Schweizer Monat 995 April 2012

plex; in Argentinien etwa halten die juristischen Streitereien und Unsicherheiten bis zum heutigen Tag an.

fach: Wenn der Mensch vor einer gewaltigen Katastrophe steht, will er Schuldige identifizieren…

Kommen wir zu einem Land, das international sehr exponiert ist und die Krise bisher relativ gut überstanden hat: die Schweiz. Sind kleine Einheiten besonders krisenresistent? Das Gegenteil ist der Fall. Gerade Kleinstaaten sind speziell verwundbar. So wie die kleinen Länder in der offenen Weltwirtschaft zu den grossen Gewinnern zählen, so sind sie durch Rückschläge in der Globalisierung auch die grossen Verlierer. Wurden Länder wie Singapur, Chile, Finnland oder die Schweiz lange als Globalisierungsgewinner gehandelt, tritt heute ihre grosse Verwundbarkeit zutage: Häufig auf ein Produkt oder einen Sektor spezialisiert, ist ein kleines Land schnell gesamtheitlich gefährdet, wenn die Strategie grosser Unternehmen – man denke etwa an Finnland und Nokia – oder tragender Branchen nicht mehr aufgeht. Das Schweizer Unternehmertum ist zwar vergleichsweise gut diversifiziert, die Spezialisierung auf den Finanzsektor macht aber auch diesen Kleinstaat verwundbar.

… und benennen: der «Bankster» ist heute in aller Munde. Eine perfekte Projektionsfläche – wofür? Hinter diesem Begriff verbirgt sich ein sehr diffuses Menschenbild; was darunter eigentlich zu verstehen ist, ist ziemlich unklar. In Deutschland etwa spricht man von den «Ackermännern» und lässt so einen einzelnen Menschen eine ganze Personengruppe repräsentieren. Zu diesem «Typus Ackermann» gehören selbstredend Attribute wie «Gier» oder «ruchloses Wirtschaften» – konkreter und fassbarer werden solche Feindbilder aber selten.

Dennoch ist die Schweiz im internationalen Vergleich stabil. Heute leben wir nicht – oder noch nicht – in einer grossen Weltwirtschaftskrise. Das schnelle Wachstum der Schwellenländer fördert die Erholung der Weltwirtschaft. Diese Länder führen genau jene Güter ein, die in der Schweiz, aber auch in Süddeutschland oder Japan produziert werden: Maschinenbauprodukte und Werkzeuge. Für mich ist das der Grund dafür, dass es der Schweiz in der jetzigen Krise ziemlich gut geht. Einverstanden: die neuen Absatzmärkte im Osten wirken stabilisierend. Warum beklagt dann aber gerade die Exportindustrie die Auswirkungen der Krise am vernehmlichsten? Wenig günstig präsentiert sich natürlich die Lage für Exporte in die EU, wo weit und breit keine wirtschaftliche Besserung in Sicht ist. Insgesamt aber geht es der Schweizer Exportindustrie trotzdem immer noch relativ gut, denn die in diesem Sektor hergestellten Produkte sind von Natur aus ziemlich preisresistent. Für Leute, die teure Werkzeuge kaufen wollen, ist der Preis weniger entscheidend als die Qualität und die Beständigkeit der Leistungen nach der Lieferung. Das sind stabile Erfolgsfaktoren. Der brasilianische Finanzminister benutzte als erster das Wort «Währungskrieg». Das ist ein Begriff aus den 1930er Jahren. Damals hat die Weltwirtschaftskrise den Aufstieg politisch linker und rechter Extreme beflügelt. Vertrauen Sie auch hier darauf, dass die Lektionen der Vergangenheit heute verinnerlicht sind? Der Mensch neigt dazu, sich in Krisenzeiten nach Feinden umzuschauen, auch innerhalb der eigenen Gesellschaft. Häufig fällt die Wahl auf Leute, die geschäftlich erfolgreich sind, wie etwa in Asien zu beobachten war, wo die Krise in fast allen betroffenen Ländern von einem Ansteigen der Gewalt gegen die unternehmerisch aktive chinesische Bevölkerung begleitet war. Es ist sehr ein40

Schuldzuweisungen sind immer von einer Moralisierung des öffentlichen Diskurses begleitet. Die aktuelle Kritik, wonach Finanzkapitalismus und Konsumismus den Menschen korrumpiert hätten, ist aus der Geschichte wohlbekannt. Glauben Sie, dass sich dieses Unbehagen heute besser verwerten lässt als damals? Es wäre zu hoffen. Die Kritik, dass Geld als ultimativer Wertmassstab der Welt zu einer Oberflächlichkeit in den zwischenmenschlichen Beziehungen geführt hat, halte ich persönlich für berechtigt. Aktuell sehe ich überall nur Unsicherheit, nichts – noch nicht einmal Staatspapiere! – ist mehr sicher. Grundsätzlich kann man sagen: es gibt produktive, etwa politische Krisen, die dazu führen, dass sich die Menschen hoffnungsvoller und besser fühlen. Finanzkrisen hingegen sind meist von einem zermürbenden Gefühl der Hoffnungslosigkeit geprägt. Sie haben anhand von Herzstatistiken gezeigt, dass Finanzkrisen die Mortalitätsraten ansteigen lassen. Haben Sie die aktuellen Statistiken schon untersucht? Nein. Ich kann mir aber gut vorstellen, dass die Herzkrankheiten in Griechenland zugenommen haben. Und wie schöpfen Sie selber Hoffnung und schützen sich so vor Herzkrankheiten? Für mich liegt der einzige Weg in der Rückbesinnung auf ältere, tiefere Wahrheiten, auf ehrliche Beziehungen zu anderen Menschen oder Gott. Gerade sah ich in Florenz eine Ausstellung über Girolamo Savonarola und die Rückkehr von Gott in den krisenhaften 1490er Jahren. So wie Florenz damals durch Furcht geprägt war, haben auch wir seit dem 11. September ein Jahrzehnt der Furcht und Verwundbarkeit erlebt – in Flugzeugen, in Grossstädten, in Finanzkrisen. Die beste Gegenkraft zu diesem Gefühl sind menschliche Beziehungen, die nicht auf Furcht, sondern auf Vertrauen, Zuversicht und Offenheit basieren. Tiefe Beziehungen bilden die einzige Basis, auf der wir als Gemeinschaft überleben können. �


Die Schweiz:

Glücksfall? Sonderfall? Sündenfall? Dossier

Bild: Prisma/Christof Sonderegger

Klug, schlau, listig Gerhard Schwarz 2 Land der Mitte? René Scheu spricht mit Herfried Münkler 3 Ein Hoch auf das Mittelmass Dieter Freiburghaus 4 Noch nicht verbrüsselt Gerd Habermann 5 Der neue Deal Nicola Forster 6 Der Städtestaat Florian Rittmeyer spricht mit Parag Khanna 1

Für die Unterstützung bei der Lancierung des Dossiers danken wir der Vontobel-Stiftung. 41


«Eigenständigkeit und Weltoffenheit sind dann Erfolgspositionen gegen aussen, wenn sie im Innenverhältnis von gegenseitigem Respekt bestimmt sind.» Hans-Dieter Vontobel, Präsident der Vontobel-Stiftung

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IntroDossier

Die Schweiz: Glücksfall? Sonderfall? Sündenfall?

E

inst zogen Kinder mittelloser Schweizer Familien als Söldner und Glücksritter ins Ausland, heute ziehen Schweizer Unternehmen und Hochschulen Talente aus der ganzen Welt an. Was während Jahrhunderten ein Konfliktherd zerstrittener

politischer und religiöser Gruppen war, gilt heute als Hort der Stabilität in einem zunehmend

instabilen europäischen Gefüge.

Vergleichsweise tiefe Arbeitslosigkeit, geringe Staatsverschuldung, funktionierende Institutionen: die Schweiz erscheint gerade heute als

«Vorzeigenation», ihre

Entwicklung als Erfolgsgeschichte. Die Schweiz – ein «Glücksfall»? Direkte Demokratie, Föderalismus, Sprachen- und Kulturenvielfalt: die Schweiz zeigt als Nichtmitglied der EU, wie eine Alternative zum vereinheitlichenden Weg aussehen kann. Die Schweiz – ein «Sonderfall»? Zersiedelung, zersplitterte Parteienlandschaft, ratlose Regierung, demontiertes Bank­ geheimnis, Staatsquote über 34 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (Finanzstatistik 2010):

die Schweiz wurstelt sich durch

und hofft, dass sie am Ende ihre

Besonderheiten bewahren kann. Die Schweiz – ein «Sündenfall»? Fest steht: die Schweiz pflegt ihr Image, und es ist intakt. Aber Image und Realität müssen nicht zwangsläufig übereinstimmen. Auf den folgenden Seiten bieten wir drei Innen- und drei Aussenperspektiven, die sich alle mit der gleichen Frage beschäftigen: Was ist das eigentlich, die Schweiz? Und welches Zukunftspotential birgt diese Alpenrepublik, die der Schweizer Historiker Herbert Lüthy einst eine «Antithese» nannte? Die Redaktion

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Dossier Schweizer Monat 995 April 2012

Klug, schlau, listig

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Anmerkungen zur «Schlaumeierei» der Schweiz von Gerhard Schwarz

I

n Debatten um die Stellung der Schweiz in der Welt ist gerne davon die Rede, dass nun endlich mit der schweizerischen Schlaumeierei Schluss sein müsse. Die solches vortragen, verwenden Schlaumeierei in der Regel in einem pejorativen Sinne. Dabei gibt die ursprüngliche Bedeutung des Wortes diese Interpretation gar nicht her. Gemäss Duden ist ein Schlaumeier ein pfiffiger Mensch, was ja per se nichts Schlechtes ist. Doch wenn die schweizerische Schlaumeierei angeprangert wird, ist damit anderes gemeint, nämlich unfaires Trittbrettfahren, raffiniertes Profitieren von den anderen, schnödes Rosinenpicken, kurzfristiges Taktieren, nicht genügende Beteiligung an gemeinschaftlichen Lasten, kurz: Fünfer-und-Weggli-Politik. Von der Unterscheidung zwischen Steuerhinterziehung und Steuerbetrug über das Anflugregime beim Flughafen Zürich bis hin zu den massgeschneiderten «Bilateralen» statt des Anzugs von der Stange namens «Vollbeitritt» wittern die Kritiker der Schlaumeierei überall eine Politik, die ungebührlich auf den eigenen Vorteil ausgerichtet ist. Doch stimmt dies wirklich? Zerrissenes Land Die These von der Schlaumeierei geht nur schon deswegen in die Irre, weil die Schweiz von ihrem politischen System her für schlaue Taktik ziemlich ungeeignet ist. Es gibt keinen Mastermind, keine dominierende Partei, keinen Bundeskanzler, der alles in eine kluge Richtung führt. Vielmehr war und ist die Schweiz in aussenpolitischen Fragen sehr gespalten und dadurch sowohl unberechenbar als auch angreifbar. 44

Das kann dazu führen, dass sich ein Kurs durchsetzt, der sich im nachhinein für das Land als ungünstig erweist – allerdings machen bekanntlich auch politische Führer Fehler. Nichts hat das Land mitten durch alle Parteien hindurch so zerrissen wie die EU-Beitrittsfrage. Auch der Staatsvertrag 2003 mit Deutschland in Sachen Flughafen war umstritten: der zuständige Bundesrat wollte ihn, eine Mehrheit wollte ihn nicht. Selbst im Umgang mit dem Bankgeheimnis zeigt sich eine tiefe Gespaltenheit weniger

Die These von der Schlaumeierei geht nur schon deswegen in die Irre, weil die Schweiz für schlaue Taktik ziemlich ungeeignet ist.

des Volkes als vielmehr der Politik. Die Linke attackiert seit Jahrzehnten aus ideologischen Gründen den Schutz der Privatsphäre. Das waren nie gute Voraussetzungen für aussenpolitische Winkelzüge. Analysiert man die erwähnten Beispiele wohlwollend, also zwar nicht ohne Selbstkritik, aber eben auch nicht hämisch oder gar böswillig, wird man in keinem Fall den Vorwurf der Schlaumeierei begründen können. Das Bankkundengeheimnis in Kombination mit der Unterscheidung von Steuerhinterziehung und Steuerbetrug ist Ausfluss eines spezifisch helvetischen Verständnisses von Bürger und Staat; es wurde allerdings nicht geschaffen, um unlautere Geschäfte mit Bürgern anderer Staaten zu

Gerhard Schwarz ist promovierter Ökonom, Direktor der Denkfabrik Avenir Suisse und Autor u.a. von «Wirtschaftswunder Schweiz: Ursprung und Zukunft eines Erfolgsmodells» (zusammen mit R. James Breiding).

machen. Die gelebte mittlere Distanz zur Europäischen Union ist die Folge von Jahrhunderten geschichtlicher Erfahrung sowie eines Volkes, das gewohnt ist, in Sachfragen mitzubestimmen. Einzig im Falle des Flughafens hat man ohne Zweifel die Interessen der süddeutschen Bevölkerung zu lange nicht ernst genommen. Man hat diese nicht gleich behandelt und gewichtet wie die Anliegen der eigenen Anrainer, und man hat Entschädigungen weit von sich gewiesen. Die Folge davon ist, dass nun Deutschland seinerseits den Lärm diesund jenseits der Grenze nicht gleich gewichtet. Die Schweiz hat in dieser Frage sehr wohl die besseren Argumente auf ihrer Seite, aber das nützt ihr wenig. Viele Irritationen und Reibungen mit dem Ausland gehen ganz offensichtlich auf das zurück, was für einen grossen Teil der Bevölkerung, wenn auch bei weitem nicht für die Mehrheit, ein absoluter Reizbegriff ist: auf den Sonderfall Schweiz. Die Neutralität, die das Land einst nicht selbst gesucht hat, sondern die ihm auferlegt wurde, ist ein Ausfluss davon. Sie wird weitherum in der Welt nicht als vornehme Zurückhaltung interpretiert, sondern eben als Schlaumeierei, als Versuch, es mit niemandem zu verderben, auch mit Unrechtsregimen nicht, mit allen Seiten gut Freund zu sein, von allen zu profitieren. Friedrich Dürrenmatt hat dies mit Blick auf die Rolle der


Gerhard Schwarz, photographiert von Philipp Baer.

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Dossier Schweizer Monat 995 April 2012

Schweiz im Zweiten Weltkrieg bereits vor gut 40 Jahren unübertroffen differenziert, in einer bemerkenswerten Balance von Moral und Realpolitik, formuliert: «Die Schweiz hatte politisch nur eine Aufgabe zu lösen, die alle anderen politischen Aufgaben nebensächlich machte … Den Krieg vermittels ihrer Politik zu vermeiden, und sie vermied ihn vermittels ihrer Politik … So zogen wir uns denn schweizerisch aus

Vielleicht wurzelt genau darin der Vorwurf der Schlaumeierei: dass ausgerechnet die helvetische Eigenwilligkeit belohnt wird.

einer unmenschlichen Lage: Nicht unklug, mit hohem moralischem Anspruch und mit moralisch oft bedenklicher Praxis. Neutralität ist eine politische Taktik, keine Moral. Neutralität ist die Kunst, sich möglichst nützlich und möglichst ungefährlich zu verhalten. Wir waren auch Hitler gegenüber möglichst nützlich und möglichst ungefährlich … Unsere Fehler und unsere Tugenden, unsere Feigheit und unser Mut, unsere Unterlassungen und unsere humanen Gesten, unsere Dummheit und unsere Klugheit, unser Nachgeben und unser Widerstand dienten unbewusst und bewusst nur dem Ziel, davonzukommen. Und so kamen wir denn davon.»1 Unangepasstes Land Dazu kommt etwas Grundsätzlicheres: sich nicht in einen grossen Trend einzuordnen, sich nicht anzupassen, hat dieses Land oft ausgezeichnet und macht einen Teil seiner Identität aus. Das ist nicht immer einfach zu verstehen und leicht auszuhalten, weder für die Vertreter des Mainstream noch für jene, die das Sonderzüglein fahren wollen. Aber es ist legitim – und es hat zudem per saldo der Schweiz auch Friedrich Dürrenmatt: Zur Dramaturgie der Schweiz. Geschrieben 1968, als Fragment veröffentlicht 1972. In: Gesammelte Werke. Bd. 7: Essays, Gedichte. Zürich: Diogenes, 1996.

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mehr genützt als geschadet. Vielleicht wurzelt genau darin der Vorwurf der Schlaumeierei: dass ausgerechnet die helvetische Eigenwilligkeit nicht etwa mit Misserfolg bestraft, sondern im Gegenteil belohnt wird, während das Mitschwimmen im grossen Strom sich irgendwie nicht so recht bewähren will. Und dass deswegen die Unterstellung aufkommt, das Eigenbrötlerische sei nichts anderes als eine schlaue Strategie zur Verfolgung des Eigeninteresses. Das ist zwar eine reichlich abstruse Interpretation, aber immerhin sollte klar sein, dass es nicht verwerflich wäre, mit seiner Politik, ob gezielt oder eher zufällig, den eigenen Interessen zu dienen. Aussenpolitik ist Interessenpolitik und soll es auch sein. Wenn eine Regierung mit ihrer Aussenpolitik nicht die Interessen der eigenen Bevölkerung verfolgt, verfehlt sie ihren Auftrag und ihre Verantwortung. Das Land überschätzt sich Während jedoch grossen Ländern das Instrument der Macht – von «sanftem» Druck über wirtschaftliche Pressionen bis hin zu militärischer Macht – zu Gebote steht, verfügen kleine Länder über nichts dergleichen. Sie können nur an das Recht appellieren (nur, wer setzt es dann durch?), moralisch argumentieren und, dies vor allem, mit den Waffen der Schlauheit und der Klugheit kämpfen. Die Antike hat das immer verstanden und nicht nur toleriert, sondern in den höchsten Tönen besungen. Die Geschichte von David und Goliath ist jenseits aller Religionen zum Sinnbild für unterschiedliche Strategien von Starken und Schwachen geworden. Vor allem aber ist Homers Ode an den «wandlungsreichen» Odysseus, den Erfinder und Umsetzer der List des Trojanischen Pferdes, dessen Schläue von den Menschen und den Göttern nicht minder geschätzt wird als seine oder anderer Helden Kampfkraft, ein literarisches Denkmal für die Schlauheit. Kurt Steinmann nennt Odysseus in seiner Übersetzung einen, der sich in jeder Lebenslage zu seinem Vorteil zu wandeln und der sich selbst zu helfen weiss, der einfallsreich, vielgewitzt, erfindungsreich, klug und schlau ist. Wäre die Schweiz in ihren Bezie-

hungen mit dem Ausland all das, man dürfte nicht klagen. Leider ist sie das nicht. Erstens hat man in der Schweiz zu sehr ein idealistisches Bild von Aussenpolitik und glaubt, wenn man «im Recht» sei, könne man einen Konflikt auch gewinnen. Dabei übersieht man, dass die Gegenseite eben nicht hehre Idea­le verfolgt, sondern legitime Interessen. Und dass die Macht das Recht bricht, aber auch die Moral oder starke Argumente. Damit verknüpft ist, zweitens, dass die Schweizer Politik (nicht die Unterhändler, sie sind meistens sehr gewieft) die Konfliktlogik aus Sicht des Gegners oft nicht wirklich durchschaut, wohl auch, weil man in der innenpolitischen Diskussion die Interessen der anderen Seite nicht wirklich zur Kenntnis nimmt. Wenn man aber die Situation nicht als Interessenpolitik begreift, übersieht man leicht eigene Fehler und missachtet Warnsignale. Drittens schliesslich und vor allem krankt das Selbstverständnis der Schweiz an Selbstüberschätzung. Sie ist bei den Freunden eines EU-Beitritts, die sich von diesem grossartig Mitbestimmung und Einfluss erwarten, mindestens so ausgeprägt wie bei den «Alleingängern», die gerne die Muskeln spielen lassen möchten. Diese Selbstüberschätzung hat mit vielem zu tun, mit der Tatsache, dass die Schweiz im Kalten Krieg trotz ihrer Kleinheit unter anderem wegen ihrer Neutralität politisch durchaus eine Rolle zu spielen hatte, ebenso wie mit dem heutigen Ungleichgewicht zwischen der wirtschaftlichen Bedeutung der Schweiz (hier ist das Land nach wie vor eine Mittelmacht) und ihrem politisch sich der Bedeutungslosigkeit annähernden Stellenwert. Nichts ist in «Spielen», in denen man zwischen Kooperation und Konfrontation geschickt abwägen muss, gefährlicher als eine falsche Einschätzung der eigenen und der «gegnerischen» Kräfte. Viertens schliesslich ist das Denken weiter Teile der Schweizer Politik wohl sehr stark noch im 19. und 20. Jahrhundert verhaftet. Damals war Europa die wichtigste Bezugsgrösse, und dieses Europa war immer irgendwie unter stark antagonistischen Kräften aufgeteilt. Das machte ein


Schweizer Monat 995 April 2012  Dossier

pragmatisches Taktieren zwischen verschiedenen Ländern, das konkrete Pro­ bleme löst, sinnvoll und richtig. Die wirtschaftliche und politische Integration Europas hat hier eine andere Situation geschaffen. Die langfristige, weil institutionalisierte Zusammenarbeit entspricht dem, was die Spieltheoretiker ein «repeated game» nennen. Das bedeutet einen Zwang zur Kooperation, und es bedeutet vor allem, dass Leistung und Gegenleistung (tit-for-tat) nicht unbedingt in der gleichen Spielrunde erfolgen, sondern dass der langfristige Aufbau von Vertrauenskapital, von Goodwill, honoriert wird. Demgegenüber wird das Bestreben, im einzelnen Spielzug zu viel für sich herauszuholen, sanktioniert. Weil das Verhandeln innerhalb der EU vermehrt dieser Logik von Paketlösungen mit unterschiedlichem zeitlichem Horizont folgt, schwindet das

Verständnis für den durchaus legitimen und von allen EU-Ländern früher selbstverständlich auch verfolgten punktuellen und pragmatischen Ansatz. Man mag dies bedauern, aber es ist wohl eine Realität. Gerade im Verhältnis zwischen der Schweiz und der EU stösst nicht schlaumeierische Interessenpolitik auf hehre Moral, sondern ein in seiner relativen Bedeutung an Gewicht verlierendes kleines Land auf ein wachsendes, wenn auch «sanftes Monster» 2 (Hans Magnus Enzensberger) und eine pragmatische, den Einzelfall ins Visier nehmende, damit wohl auch kurzatmigere Aussenpolitik auf eine langfristig angelegte institutionalisierte Zusammenarbeit. Die Schweiz hat zur Wahrung der Interessen ihrer Bürger in dieser neuen Welt vielleicht nicht die optimale Grösse (mit Blick auf vieles andere, etwa die Bürgernähe, allerdings schon),

aber sie kann diesen Mangel nicht dadurch heilen, dass sie sich entmündigt und in grösseren Verbänden auflöst, denn wahrscheinlich hat Johann Nestroy schon recht: «Gross isʼ ung’schickt!»3 Die Schweiz wird einfach die Realitäten zur Kenntnis nehmen und versuchen müssen, eine Art SemiAutonomie und die vielen Besonderheiten in diesem neuen Umfeld zu bewahren. Und sie sollte das durchaus fair und anständig, aber sehr wohl auch klug, schlau, ja geradezu listig versuchen – kurz, sie sollte sich am wandlungsreichen Odysseus ein Beispiel nehmen. �

Vgl. Interview mit Hans Magnus Enzensberger. In: «Schweizer Monat» 989, September 2011. 3 Das Zitat verdanke ich dem Buch von Michael Breisky über den grossen Proponenten der Kleinheit, Leopold Kohr. Michael Breisky: Gross ist ungeschickt. Leopold Kohr im Zeitalter der Post-Globalisierung. Wien: Passagen-Verlag, 2010. 2

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Land der Mitte?

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Die Schweiz ist eine Antithese zum europäischen Mainstream. Sie ist das Land des bürgerlichen Konsenses. Das Land des disziplinierten Haushaltens. Und das Land des sozialen Ausgleichs. Allein, wie lange noch? René Scheu spricht mit Herfried Münkler

Herr Münkler, die Schweiz liegt mitten in Europa... Halt! Das stimmt so nur bedingt. Mitten im verfassten Europa liegt sie, wenn man damit Italien, Frankreich und Deutschland meint. Legt man aber das geographische Europa als Mass zugrunde, mit Kreta, Zypern, Franz-Joseph-Land, Ural und Irland, so liegt die Mitte Europas irgendwo im Baltikum – also ziemlich weit weg von der Schweiz. Liegt sie denn wenigstens mentalitätsmässig mitten in Europa? Bis zum Ende des Ost-West-Konflikts hätte man das behaupten können. Da war Europa noch Westeuropa, identisch mit der Europäischen Gemeinschaft (EG). Nach der Osterweiterung der EU aber kann man sagen: Europa ist östlicher und ärmer geworden. Ähnlich wie das schon dem sogenannten Club der Sechs – Benelux, Frankreich, Deutschland, Italien – ergangen ist, als man sich nach Süden erweitert hat. Heute ist die EU in hohem Masse auch eine Form der Alimentierung des Ostens und des Südens durch den Nordwesten. An dieser Alimentierung ist die Schweiz auch beteiligt, nicht wie Mitglieder der EU, aber immerhin. In diesem Sinne ist die sozioökonomische Mitte Europas exzentrisch geworden: die Schweiz liegt als reiches Land somit eher im Nordwesten Europas und finanziert die ärmeren Regionen mit. Die Konstellationen verändern sich permanent. Was gestern noch die Mitte war, ist heute ganz woanders – ob man in der EU ist oder nicht. 48

Richtig. Ein kleines Land hat wenig Einfluss auf diese Veränderungen: das Ende des Ost-West-Konflikts, die Verschiebung Europas nach Osten haben die Schweiz geographisch wie ökonomisch dezentriert. Sie gehört nun sozusagen zu den reichen Akteuren, aber auch zu jenen, die aus diesem Grund einem erhöhten Druck ausgeliefert sind. Vor dem Ende der Ost-WestKonfrontation hätten sicherlich weder die USA noch die Bundesrepublik auf einen im Geiste «Verbündeten» solchen Druck ausgeübt. Präziser: man hätte die inneren ökonomischen Angelegenheiten der Schweiz nicht angetastet. Die Schweiz sieht sich selbst auch ausserhalb dieses «neuen Europas», pocht auf ihre Selbständigkeit, Eigenwilligkeit und Souveränität. Wie wirkt diese Haltung auf jene, die im EU-Boot sitzen? Es wird zunehmend sichtbar, dass die Schweiz nie eine «aktive Mitte» Europas war, sondern eine passive. Als Deutschland seine Reichsgründung von 1871 als «Mitte Europas» verstanden hat, war das eine ganz andere, aktive Mitte. Von dort aus sollten politische Konstellationen definiert und gestaltet werden. Das kam für die Schweiz seit der Niederlage von Marignano 1515 nicht mehr in Frage. Insofern war die Schweizer Mitteposition eine profitable, aber keine zwangsweise dauerhafte. Sie hat seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs freilich eine soziale Mitte bewahrt mit dem Wohlfahrtsstaat und eine politische Mitte mit den Mitteln der Konkordanzdemokratie. Beides funktionierte aber nur aufgrund der günstigen äusseren Rahmenbedingun-

Herfried Münkler ist Professor für politische Theorie und Ideen­ geschichte an der Humboldt-Universität zu Berlin und Autor von «Mitte und Mass. Der Kampf um die richtige Ordnung» (2010).

gen. Die sind nun so nicht mehr. Und daher sieht sich die Schweiz nun bedroht. Auch von innen: hier findet innenpolitisch eine politische Polarisierung statt, die die Schweiz vor wenigen Jahrzehnten in dieser Form nicht gesehen hätte. Die bürgerliche Mitte als Konsens, den es jahrzehntelang gab – und der nun auseinanderfällt? Genau. Der Konsens existierte bis 1989 und auch darüber hinaus. Mit dem Verzögerungseffekt von einigen Jahren begann er dann aber zu erodieren – und es folgte ein Prozess der Polarisierung, in dem die Schweiz noch immer steckt. Das hat auch mit der Zuwanderung aus Ost- und Mitteleuropa zu tun, die als Armutszuwanderung begriffen werden muss und sich nicht mehr in so bescheidenen Mengen und Zusammenstellungen steuern liess, wie man das gewohnt war. Dass die EU östlicher und ärmer geworden ist, hat also auch die Schweiz nicht unbetroffen gelassen – aber abschotten davon konnte sie sich nicht, da das eigene Wohlhaben vom Wohlwollen und Wohlhaben der Nachbarn abhängig ist. Wie deuten Sie die Schweizer Antwort auf diesen Prozess? Es gibt Reaktionen seitens der Schweiz, bloss keine valablen: die SVP wandert nach rechts ab, der Freisinn marginalisiert sich,


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und alle anderen wissen in aussenpolitischen Fragen nicht so recht weiter. Die Bürger sehen bei der SVP zumindest eine eindeutige Haltung in Sachen EU – was einen Orientierungsvorteil bedeuten kann. Aber in Wahrheit ist natürlich nicht die EU das Problem, sondern sie ist eine – vielleicht unzulängliche – Antwort auf die neuen Her­ ausforderungen. Die alte Stabilität der Schweiz, eigentlich eine Behäbigkeit, konnte das juste milieu verteidigen – dieses ist durch die genannten Verschiebungen aber in hohem Masse gefährdet. Gerade nach dem Zweiten Weltkrieg galt die Schweiz auch als Antithese. Wilhelm Röpke fügte noch hinzu: sie solle als Antithese gar ein Leitstern sein in Sachen Marktwirtschaft, Demokratie und politischer Stabilität. Erfüllt die Schweiz diese Funktion für Resteuropa noch? Für die 1950er Jahre mag das so gegolten haben. In den 1960er und 1970er Jahren änderte sich das schon, als es gerade in Deutschland, aber auch in Resteuropa zu einem ökonomischen Takeoff kam und zunehmend wieder die USA als Referenz in den Fokus rückten. Was die Schweiz in Röpkes Sinn als Leitstern ausmacht, wurde zunehmend von den USA verkörpert. Wenn man schon von Antithesen spricht, so würde ich eher sagen, dass diese Funktion ihr zukommt, wenn es um etwas anderes geht: den sozialen Ausgleich. Gerade für die Deutschen ist das Inkaufnehmen grosser sozialer Unterschiede, wie in den Vereinigten Staaten, inakzeptabel. Die Schweiz mit ihren ausgleichenden Institutionen war daher eher Leitstern im Sinne der Nichtpolarisierung durch wohlfahrtsstaatliche Instrumente. Da würden die meisten Schweizer vehement widersprechen. Die Linken reden seit einigen Jahren nur noch von der Zunahme der «sozialen Unterschiede». Die Bürgerlichen hingegen sind stolz auf den schlanken Staat der Schweiz. Wer liegt nun richtig? Beide. Oder niemand. Da muss ich ausholen. Die Entwicklung hat damit zu tun, dass wir uns von einer Industrie- zu einer Dienstleistungsgesellschaft entwickelt ha-

ben. Dienstleistungsgesellschaft bedeutet soziale Spreizung. Weil in ihr auf der einen Seite schlecht bezahlte Friseusen und auf der anderen Seite Rechtsanwälte und Notare stehen, die mit einer einzigen Unterschrift schon Zigtausende von Franken verdienen. Wenn also die Trends einer Gesellschaft auf Polarisierung gestellt sind, durch die Reduzierung der Industrie und das Wachstum des Dienstleistungssektors, so greift der Sozialstaat in höherem Masse ein, als er das früher getan hat. Aber: da gibt es Grenzen. Entweder die der Staatsverschuldung oder die des Griffs in die Taschen der Bürger. Und diese Grenzen sind nun drastisch sichtbar geworden – wir erleben gerade ein böses Erwachen: die Funktion des Wohlfahrtsstaates ist nicht beliebig ausdehnbar. In einigen Ländern regt sich Protest gegen dessen Abbau, andere sind überschuldet. Auf die Schweiz trifft beides nicht zu. Aus einem einfachen

Die Schweiz sollte eine Vorwärtsstrategie wählen – und klar definieren, bis wohin sie zu gehen bereit ist.

Grund: ihre Bürger haben die politischen Mittel, sich gegen beide Methoden zur Aufblähung des Sozialstaates zu wehren. An der Urne. Das haben sie getan – viele den Mittelschichten angehörende Europäer hätten sicher gern diese Mittel und schätzen die Schweiz dafür, aber die Schweiz kann sich diese Politik auch leisten, weil sie nicht mit massiven Armutsproblemen konfrontiert ist. Ist es das, was die Europäer von der Schweiz lernen könnten – mehr finanzielle Disziplin? Und mehr Demokratie? Die EU ist halt ein so grosser Laden mit sehr unterschiedlichen Ländern, so dass der Ideenimport fast unmöglich ist. Aber insgesamt könnten sich die EU-Länder, Deutschland eingeschlossen, eine Scheibe von der Haushaltsdisziplin der Schweizer abschneiden. Den Staatsanteil begrenzen,

wo dies sinnvoll ist, das wäre wünschenswert. Finanzielle Reserven aufbauen, Steuern niedrig halten und gleichzeitig in die Infrastruktur investieren, da ist die Schweiz wirklich Pionierin. Dank der direkten Demokratie. Das ist ein heikles Thema. Warum? Die Schweiz hat eine andere Geschichte als die anderen EU-Staaten. In der Schweiz gibt es Idealisten, die behaupten, die EU stehe heute dort, wo die Schweiz 1848 stand. Wer in Europa zurzeit «direkte Demokratie» sagt und das ernst meint, führt das Ende der EU herbei. Ob er das will oder nicht. Papandreou hat 2011 diesbezüglich mit dem Feuer gespielt und vorgeschlagen, über die Griechenlandhilfen per Referendum abstimmen zu lassen. Es war klar: wenn das an dieser Stelle durchgegangen wäre, so hätten das andere Länder auch haben wollen. Dann fliegt der Laden auf der Stelle auseinander. Wie meinen Sie das? Sehen Sie, die Schweiz war lange Zeit ein Elitenprojekt. Auch nach 1848. Schrittweise und partiell wurde sie demokratisiert. Auch Europa ist ein Elitenprojekt. Wenn man nun den Europäern 100 Jahre Zeit gibt, so könnten auch die sich mit der direkten Demokratie vertraut machen – von heute auf morgen wäre das aber Sprengstoff, von dem niemand weiss, wann und wo er hochgeht. Zu welcher Rolle raten Sie der Schweiz inner­ halb dieses Pulverfasses? Zur Rolle der aktiven Passivität. Die Schweiz sollte eine Vorwärtsstrategie wählen – und klar definieren, bis wohin sie zu gehen bereit ist. Das würde ihr viel Sympathien einbringen und zugleich viel Respekt. �

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Ein Hoch auf das Mittelmass

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Ist Europas Geschichte eine Melodie, ist die Schweiz ihr Kontrapunkt: eigenständig, gegenläufig und gelegentlich dissonant. Viele frühere Sonderwege sind verschwunden, eine Qualität ist geblieben: die verkannte Mittelmässigkeit. von Dieter Freiburghaus

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er Kontrapunkt ist eine Gegenstimme zu einer Melodie. Er erzeugt musikalische Spannung, indem er einerseits mit der Melodie harmonisch zusammenklingt, andrerseits aber auch – eigenständig und gegenläufig – die Melodie gleichsam kommentiert. Wenn die Melodie fortschreitet und der Kontrapunkt «liegenbleibt», können Dissonanzen entstehen. Sie werden aufgelöst, wenn entweder der Kontrapunkt zur Melodie «aufschliesst» oder die Melodie zum Kontrapunkt «zurückkehrt». Wäre dies eine brauchbare Metapher für das Verhältnis der Schweiz zu Europa? Europa die Melodie und die Schweiz der Kontrapunkt, eigenständig, gegenläufig und gelegentlich dissonant? Hilft dieser Vergleich, unsere Situation besser zu verstehen? Das europäische Orchester gleicht allerdings eher einer «Guggemusig» denn einem Kammerensemble, und da hat es der Kontrapunkt schwer. Vierhundert Jahre zurück 1630. In Europa tobte der Dreissigjährige Krieg um Religion und Hegemonie. Etwa vierzig Prozent der Reichsbevölkerung fielen ihm zum Opfer, weite Landstriche wurden verwüstet. Da machte ein Deutscher eine Reise und erzählte danach von seinen Erlebnissen: «Das Land kam mir so fremd vor gegen andere teutsche Länder, als wenn ich in Brasilia oder in China gewesen wäre; da sah ich die Leute in Frieden handeln und wandeln, die Ställe stunden voll Vieh, die Bauernhöfe liefen voll von Hühnern, Gäns und Enten, die Strassen wurden sicher von den Reisenden gebraucht, die Wirtshäuser sas-

sen voll Leute, die sich lustig machten. Da war ganz keine Furcht vor dem Feind, keine Sorge vor der Plünderung und keine Angst, sein Gut, Leib und Leben zu verlieren; ein jeder lebte sicher unter seinem Weinstock und Feigenbaum, und zwar, gegen andere teutsche Länder zu rechnen, in lauter Wollust und Freude, also dass ich dieses Land für ein irdisch Paradies hielt, wiewohl es von Art rauh genug zu sein schien.» Dieses irdische Paradies ist die Eidgenossenschaft, und der Erzähler ist Grimmelshausens Simplicissimus. Selbst wenn er um des Kontrastes willen übertrieben hat, falsch war seine Schilderung nicht. Die

«In lauter Wollust und Freude, also dass ich dieses Land für ein irdisch Paradies hielt, wiewohl es von Art rauh genug zu sein schien.»

Schweiz blieb von diesem Krieg verschont und machte mit dem Export von Nahrungsmitteln gute Geschäfte. Offensichtlich ein Kontrapunkt. Dieser Sonderweg der Eidgenossenschaft war auch ein Grund dafür, dass sie sich anlässlich des Westfälischen Friedens 1648 fast gänzlich vom Reich löste. Weitgehend unabhängige und reichsfreie Gebiete und Städte gab es damals in grösserer Zahl. Wer jedoch nicht in der Lage war, ein zusammenhängendes Territorium zu bilden und zu verteidigen, hat nicht lange überlebt. Überlebt, sich vom Reich getrennt

Dieter Freiburghaus ist emeritierter Professor für europäische Studien am Institut de hautes études en administration publique in Lausanne und Autor des Grundlagenwerks «Königsweg oder Sackgasse? Sechzig Jahre schweizerische Europapolitik» (2009).

und einen neuen, republikanischen Staat gebildet haben einzig die Niederlande und die Eidgenossenschaft. Im 18. Jahrhundert litten beide an veralteten politischen Struk­ turen, die es ihnen verunmöglichten, einen starken Zentralstaat aufzubauen. Dies machte es Napoleon leicht, sie zu besetzen. Er schuf die Batavische und die Helvetische Republik, Einheitsstaaten mit kurzer Lebensdauer. Während die Niederlande 1806 unter Napoleons Bruder ein Königreich wurden und unter dem Haus Oranien-Nassau bis heute geblieben sind, setzte die Eidgenossenschaft ihren Weg als selbständige Republik fort, kontrapunktisch. Die simplizistisch idyllische Vorstellung vom Land der Eidgenossen hielt jedoch nicht lange an, denn im 17. und 18. Jahrhundert hatten seine Bewohner in Europa einen eher zweifelhaften Ruf als blutrünstige und geldgierige Söldner. Im wilden, rauhen Bergland wohnten nach einer damals verbreiteten Vorstellung Bauern, die von der Zivilisation wenig beeinflusst waren. Das war zwar höchstens die halbe Wahrheit, doch zur verfeinerten Lebensweise fürstlicher Höfe in den absolutistischen Monarchien mag die Schweiz tatsächlich einen Gegensatz gebildet haben. Im Laufe des 18. Jahrhunderts veränderte sich dann allerdings auch diese Vorstellung. Die Aufklärung und die rasch fortschreitende Modernisierung erzeugten vielerorts eine 51


«Während andere näher zusammenrücken und Souveränität an einen gemeinsamen Verband abtreten, betont die Schweiz ihre Eigenständigkeit und scheint aus ihrem Sonderweg ideellen und materiellen Gewinn zu ziehen. Ohne Zweifel ein Kontrapunkt zur europäischen Entwicklung.» Dieter Freiburghaus

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Schweizer Monat 995 April 2012  Dossier

Sehnsucht nach ländlichem, einfachem Leben. Diese befriedigten, jedenfalls in der Phantasie, die Schweizer Älpler – frisch, fromm, fröhlich und frei. 1729 erschien das Gedicht «Die Alpen» von Albrecht von Haller, 1880 Johanna Spyris «Heidi». Romantische und aufklärerische Projektionen vermischten sich. 1804 inszenierte Friedrich Schiller mit seinem «Wilhelm Tell» die Älpler als Freiheitskämpfer. Kurz darauf entdeckten die sportlichen Engländer die Alpen, und es begann der Aufstieg der Schweiz als Tourismusland. Kontrapunkte im 19. und 20. Jahrhundert Die Schweiz blieb ein Stachel im Fleisch des vom Wiener Kongress monarchisch rekonstruierten Europas. Das galt verstärkt, als in der Regenerationszeit die Kantone ihre patrizischen gnädigen Herren auf die Plätze verwiesen und 1848 einen modernen republikanischen und demokratischen Bundesstaat bildeten. Die Schweiz wurde zum Vorbild für ähnliche revolutionäre Bewegungen in ganz Europa und nahm Verfolgte als Flüchtlinge auf. Im Neuenburger Handel legte sie sich sogar mit Preussen an – Neuenburg blieb Republik und Kanton der Schweiz. Etwas später kamen verfolgte Kommunisten in unser Land. Der junge Elias Canetti war tief beeindruckt, als ihn seine Mutter auf den lesenden Lenin im Café Odeon in Zürich hinwies. Im Dörfchen Zimmerwald bei Bern fand 1915 eine geheime internationale sozialistische Konferenz statt, an der ein von Trotzki verfasstes Manifest verabschiedet wurde. Kontrapunkte und Dissonanzen immer wieder. Und dann das mörderische 20. Jahrhundert: Der Krieg zwischen Deutschland und Frankreich führte zu einer Zerreissprobe in der Schweiz, denn die Deutschschweizer hielten viel von Preussen, während die Welschen es eher mit Frankreich hielten. Carl Spitteler hat dann im Dezember 1914 in seiner Rede «Unser Schweizer Standpunkt» vor der Neuen Helvetischen Gesellschaft an eine der wichtigsten Existenzgrundlagen der Eidgenossenschaft erinnert: nie die Partei irgendeines andern Staates zu ergreifen. Die so erneuerte Neu­ tralität half dem Land in der Folge, sich aus

den beiden Weltkriegen herauszuhalten. Vielen Europäern kam nun die Schweiz wiederum vor wie das Gelobte Land. Diesmal wurden Lebensmittel importiert, dafür verschiedenes Kriegsmaterial exportiert. Nicht alles, was die damals Verantwortlichen taten, genügte höchsten ethischen Standards, aber sie hatten auch die Pflicht, das Land vor Schaden zu bewahren. Aus dieser Sonderstellung der Schweiz im Zweiten Weltkrieg ergab sich ihre Zurückhaltung gegenüber internationalen Organisationen in der Zeit danach. Auch gegenüber der supranationalen Verbrüderung der einstigen Todfeinde in den Europäischen Gemeinschaften blieb sie skeptisch, und bis heute scheint ein Beitritt zur Europäischen Union undenkbar. Während andere näher zusammenrücken und Souveränität an einen gemeinsamen Verband abtreten, betont die Schweiz ihre Eigenständigkeit und scheint aus ihrem Sonderweg ideellen und materiellen Gewinn zu ziehen. Ohne Zweifel ein Kontrapunkt zur europäischen Entwicklung. Und heute? Nationale Identität speist sich wesentlich aus Geschichte. Reale Erfahrungen werden zu kollektiven Erinnerungen verdichtet, aus denen wir uns Orientierung für die Gegenwart erhoffen. In diesem Sinne erklärt die Vergangenheit ein Stück weit die schweizerische Präferenz für Sonderwege und Alleingänge. Aber aufgepasst, auch eine wiederholte positive Erfahrung bürgt nicht für Tauglichkeit in der Gegenwart. Erfahrungen dürfen nicht zu Tabus und Denkverboten führen, sie müssen immer wieder kritisch überprüft werden. Die meisten Gründe für frühere Sonderwege der Schweiz sind inzwischen nicht mehr vorhanden. Wir sind umgeben von einigermassen friedliebenden, demokratischen Staaten. Wir teilen mit ihnen weitgehend die Vorstellungen von Rechtsstaat, Menschenrechten und Marktwirtschaft. Wir sind mit denselben drängenden Fragen konfrontiert wie sie: Globalisierung, Überalterung, Einwanderung. Die starke Verflechtung der schweizerischen Wirtschaft mit dem europäischen Binnenmarkt führt

dazu, dass wir in grossem Masse EU-Recht übernehmen. Aldi und deutsche Ärzte sind auch bei uns allgegenwärtig. Zwischen der Schweiz und ihren Nachbarn gibt es nicht einmal mehr Personengrenzkontrollen, und in den Vorstandsetagen der Schweizer Multis wird Englisch gesprochen. Ist also die – positiv besetzte – Vorstellung eines Sonderfalls, eines Kontrapunkts zu Europa nicht überholt? Gibt sie als Maxime für unser Handeln noch etwas her? Die Einstellung der Schweizer gegenüber der europäischen Integration ändert sich laufend: Geht es in der Union vorwärts, schauen wir interessiert nach Brüssel, kriselt es, wenden wir uns ab. Anfang der neunziger Jahre verlieh das Binnenmarktprogramm der EWG Auftrieb, da zeigten Umfragen in der Schweiz Mehrheiten für einen Beitritt. Heute liegt diese Quote bei 25 Prozent. Wandelbar sind auch die Argumente: Früher stand oft die Neu­ tralität im Zentrum der Ablehnung, später war es der Brüsseler Zentralismus und heute sind wir froh, nicht zur Eurozone zu gehören. Über die Jahrzehnte unverändert geblieben ist jedoch ein Einwand: Unsere besonderen politischen Institutionen – der Föderalismus, die direkte Demokratie, die Kollegialregierung und die Konkordanz – seien mit einem Beitritt zur EU nicht verträglich. Nun haben andere Staaten ebenfalls sakrosankte staatliche Einrichtungen – etwa die Souveränität des britischen Parlaments, die herausragende Rolle des deutschen Verfassungsgerichts oder der österreichische Korporatismus. Auch sie mussten an das supranationale Europa angepasst werden. Und es gibt auch in der Schweiz Vorschläge, wie man die politischen Institutionen «europakompatibel» umgestalten könnte. Doch sie vermögen aus mehreren Gründen nicht recht zu überzeugen. Zunächst in der Sache: Die schweizerischen Einrichtungen sind sehr ausgeprägt. Föderalismus gibt es zwar auch anderswo, doch sind bis heute die Kantone weit selbständiger geblieben als deutsche oder österreichische Bundesländer – man denke etwa an die Steuer- und die Organisationshoheit. Kompetenzverluste würden unsere Gliedstaaten also stärker treffen. Auch di53


Dossier Schweizer Monat 995 April 2012

rektdemokratische Instrumente gibt es in andern Ländern, doch die Rechte des schweizerischen Souveräns stehen auf einer ganz andern Stufenleiter, sie gehören zu den Fundamenten des Schweizer Gemeinwesens. Verständlich, dass das Volk auf allfällige Einschränkungen ungehalten reagiert. 18 Abgeordnete im 740köpfigen Europaparlament wären dafür kein Ersatz. Die Europäische Union wird wesentlich von den Regierungen der Mitgliedstaaten gelenkt. Also bräuchte die Schweiz, um ihre Interessen wahren zu können, einen starken Bundesrat. Den wollen wir aber nicht. Mass und Mitte Wichtiger aber ist ein zweites Argument. Man nennt die Schweiz eine Willensnation, offenbar weil die Schweizer eine Nation sein wollen. Das wollen die Franzosen und die Finnen zweifellos auch. Gemeint ist eigentlich etwas anderes: Die meisten Nationen zeichnen sich durch eine gewisse Einheitlichkeit aus, etwa der Abstammung, der Sprache, der Kultur oder der Religion. Und dies hält sie zusammen. Nicht so die Schweiz, sie ist in jeder Hinsicht vielfältig. Was sie zusammenbindet, ist neben Geschichte und Wohlstand die von allen Bürgerinnen und Bürgern geteilte Überzeugung, die erwähnten politischen Institutionen seien genau richtig für sie. Das sehen die Leute aus Herisau, Disentis, Airolo und Payerne ähnlich. Und sie sind richtig, weil sie das Land zusammenhalten, ohne den Eigenarten der Teilvölker zu nahe zu treten. Einheit durch Gewährleistung der Vielheit – eine schon fast paradoxe Operation! Deswegen sind diese Institutionen die Essenz, ja die conditio sine qua non der Schweiz. Doch das ist noch nicht die ganze Wahrheit. Politische Institutionen sind nur dann legitim und leistungsfähig, wenn sie in einer entsprechenden Kultur wurzeln. Der ausgeprägte Föderalismus hat vielerlei Nachteile. Sie werden von den Schweizern nur deswegen in Kauf genommen, weil diese der Vielgestaltigkeit einen hohen Wert beimessen. Wer «Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse» anstrebt, braucht keinen Föderalismus. Direkte Demokratie ist 54

aufwendig, langsam und hat gelegentlich unangenehme Nebenwirkungen. Das nimmt nur auf sich, wer überzeugt ist, man müsse die politischen Eliten an der kurzen Leine führen. Eine ständige Fast-Allparteienregierung ist träge und wenig inspirierend. Nur wer die Legitimität der breiten

Kleinbürger sind mittelmässig, was grössere Geister gelegentlich stört.

Vertretung und der langen Aushandlungsprozesse der Effizienz einer schneidigen Mehrheitspartei vorzieht, wird sie für richtig halten. Ein relativ klein gehaltener Staat bringt nur jenem Vorteile, der bereit ist, selbst Verantwortung zu übernehmen. Solche und ähnliche Vorstellungen und Überzeugungen gibt es auch anderswo in Europa, doch in der Schweiz werden sie in der Regel von der Mehrheit mitgetragen. Ein Kontrapunkt. Warum ist das so? Der Grund liegt wahrscheinlich in der ausgeprägten (Klein-) Bürgerlichkeit der schweizerischen Gesellschaft. Tugenden wie Fleiss, Sparsamkeit, Ordentlichkeit, Anstand, Zurückhaltung und Selbstverantwortung sind weiter verbreitet als anderswo, und gegenseitig überwachen die Schweizer deren Einhaltung. Ober- und Unterschichten – soweit es sie überhaupt gibt – passen sich mindestens äusserlich diesen Verhaltensmodi an. Das führt dazu, dass die Schweizer nicht bereit sind, Arbeitslosigkeit zu akzeptieren; dass sie nicht gesetzeshalber sechs Wochen Ferien wollen; dass fast alle Kinder in die öffentliche Schule gehen; dass die Maturandenquote niedrig und die Lehrlingsquote hoch ist; dass der Tüchtige unabhängig von seiner Herkunft gute Aufstiegschancen hat; dass die Steuerbelastung relativ niedrig und der Staatshaushalt ungefähr ausgeglichen ist; dass es hierzulande keine Zivilgesellschaft braucht, weil es noch immer eine Bürgergesellschaft gibt.

Kleinbürger sind mittelmässig, was grössere Geister gelegentlich stört. Kleinbürger ziehen das mittlere Mass den Extremen vor. Sie halten es mit Aristoteles: «Als erstes ist zu erkennen, dass [...] Eigenschaften durch Mangel oder Übermass zugrunde zu gehen pflegen [...], so wie wir es bei Stärke und Gesundheit sehen. Denn übermässiges Turnen vernichtet die Gesundheit ebenso wie zu wenig Turnen. [...] So gehen also Besonnenheit und Tapferkeit durch Übermass und Mangel zugrunde, werden aber durch das Mittelmass bewahrt.» Insofern garantierte das Mittelmass sowohl die politische Stabilität wie den Wohlstand breiter Schichten in diesem Land – beides sich gegenseitig bedingend. Und das wäre dann wohl ein Kontrapunkt zu vielem, was in «Resteuropa» vor sich geht. �


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Dossier  Schweizer Monat 995 April 2012

Noch nicht verbrüsselt

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Die Staaten der Europäischen Union werden langsam, aber sicher harmonisiert. Darum braucht Europa ein Beispiel und Vorbild für alternative Staatsmodelle. Die Frage ist bloss: taugt die Schweiz weiterhin dazu? von Gerd Habermann

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ür die liberalen Demokraten in aller Welt ist die Schweiz eine Vorbildnation. Sie sehen in ihr die Prinzipien vielfältiger Nichtzentralisation, der echten Volksgesetzgebung, der Subsidiarität und der Achtung des Privateigentums realisiert. Auch ich bewundere dieses wehrhafte Staatsgebilde, das bedenklichen Zeitgeistmoden und falschen Ideen allenfalls mit gehöriger Verzögerung und Abschwächung folgt.

Je stärker die Schweiz in die EU integriert ist, desto weniger kann sie eine willkommene «Antithese» zu den umliegenden Massenstaaten sein.

Das Schweizer Volk widerstand mehrere Jahrzehnte sozialpolitischen Kollektivierungsbestrebungen nach dem Muster Bismarcks. Der deutsche Sozialstaat hat zum Beispiel dazu geführt, dass das Alterseinkommen der Deutschen heute – im Unterschied zur Schweiz – zu über 8o Prozent vom Staat abhängig ist. Die Politik befindet fast beliebig über den Lebenszuschnitt fast der ganzen Bevölkerung im Alter. Dabei hatten die deutschen Bürger nie Gelegenheit, über die ihnen aufgenötigte Versorgung direkt abzustimmen. Die älteren Generationen haben aufgrund des kapitalfeindlichen Umlageverfahrens wenig echtes Eigentum bilden können; die ungünstige Demographie zerstört die Balance zwischen ihren Ansprüchen und der Belastung der Jungen mit Sozialsteuern zu ihrer Versorgung. 56

Auch die sonstige Betreuung durch den Staat bleibt in der Schweiz hinter deutschen Standards zurück. In der Alpenrepublik gibt es beispielsweise die Regelung, empfangene Sozialhilfeleistungen bei wiedererlangter Erwerbsarbeit zurückzu­ zahlen. Darüber hinaus haben sich die Schweizer ein relativ liberales Krankenversicherungssystem gegeben (hohe Selbstbeteiligung, keine Zwangsversicherung bei der Zahnmedizin, mehr Wettbewerb) und verfolgen eine zurückhaltende Familienpolitik – die Familie ist in der Schweiz zumindest noch halbwegs Privatsache. Doch der relativ günstige Vergleich darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass auch die Confoederatio Helvetica die Kollektivierung und Zentralisierung von Lebensentscheiden vorantreibt, wenn auch mit typisch helvetischer Verzögerung. Wo ist die Antithese? Irritierend für den Deutschen ist, dass sie dieser Entwicklung mit Zustimmung einer abstimmenden Mehrheit folgt. Sechs Jahrzehnte nach Bismarck führte das Schweizer Volk ebenfalls eine auf dem Umlageverfahren beruhende Rentenversicherung ein, immerhin in Schweizer Mässigung mit einer soliden zweiten und dritten, kapitalgedeckten Säule. Doch hält das Umlageverfahren langsam, aber sicher auch in der zweiten Säule Einzug. Auch der neu angestrebte «Familienartikel» will grenzenlose staatliche Leistungen in die Verfassung schreiben. Die Bereiche, in denen die Schweiz auf Zentralisierung und Kollektivierung setzt und dabei die Autonomie auf der Ebene von Individuum bzw. Gemeinde

Gerd Habermann ist Ökonom und lehrt als Honorarprofessor an der Universität Potsdam. Er ist Autor von «Freiheit oder Knechtschaft? Ein Handlexikon für liberale Streiter» (2011).

unterläuft, sind mittlerweile Legion: Strassen gehen in die Obhut der Kantone und des Bundes, Abfallgebühren werden zwangsharmonisiert, und in der Bildungspolitik ist Vielfalt und Wettbewerb offenbar vielen kein Vorzug mehr. Während sich Bürger in Deutschland und anderswo wünschen, über all diese Bereiche abstimmen zu können, sehen sie eine Schweiz, die sich ihrer Gegenläufigkeit überdrüssig zu sein scheint. Entschweizern sich die Schweizer? Ein Beitritt zur Europäischen Union findet derzeit (noch) keine Unterstützung des Schweizer Volks. Vielleicht kommt aber irgendwann auch hier der Moment, wo der vorauseilende Bilateralismus (wie in den Bilateralen III schon konzipiert) so weit vor­ angeschritten ist, dass die Schweizer dem Integrationswillen ihrer Regierung folgen. Aber je stärker die Schweiz in die EU inte­ griert ist, desto weniger kann sie eine willkommene «Antithese» (Herbert Lüthy) zu den umliegenden Massenstaaten sein. Wenn es kein Vorbildland mehr gibt, das zeigt, wie man es anders machen könnte, fehlt eben dem Ideal sozusagen der empirische Unterbau. (Im Schlechten haben wir noch Kuba, Nordkorea und Simbabwe.) Die Sorge betrifft zunächst den «genössischen» und nonzentralen Staatsaufbau: ein wahres, über Jahrhunderte von unten nach oben durch zahllose freie Bünde gewachsenes Meisterwerk, wie es Adolf


Schweizer Monat 995 April 2012  Dossier

Gasser oder Fritz Fleiner als Kontrast zu liberalisierten Obrigkeitsstaaten wie Frankreich oder Deutschland eindrucksvoll geschildert haben. Die Schweiz hat nie eine staatsabsolutistische Epoche durchlaufen, nie ein Berufsbeamtentum nach deutschen Standards aufgebaut, nie Epochen des Cäsarismus durchlitten, nicht einmal (auf Bundesebene) die Alleinregierung einer kollektivistischen oder auch nur sozialdemokratischen Partei gesehen. Ein oligarchisches, staatsfinanziertes Parteienregime hat es bisher nicht gegeben. Und das Land ist dank seines auch militärischen Milizprinzips nie von Kasernen überzogen worden, selbst die Waffe des Milizionärs ist nicht in Depots zentralisiert (allerdings seit 2008 die Taschenmunition). Gibt es irgendwo in der modernen Welt ein durch ständige politische Beteiligung so politisch erzogenes Volk? Ich habe einmal die interessante Meinung gehört, der durchschnittliche Schweizer Stimmbürger sei politisch besser gebildet als der durchschnittliche Abgeordnete des Deutschen Bundestages, der im übrigen nicht einmal direkt gewählt sein muss. Viele Gespräche haben mir dies bis heute bestätigt. Nichts liegt eigentlich der helvetischen Mentalität so fern wie der Einheitsstaat, in der zentralen (Frankreich) oder dezentralen (Deutschland) Variante. Und was soll man gar zu dem Geist und dem Aufbau der Brüsseler Bürokratie sagen, die französischen Denkmustern (von Monnet bis Delors) nachgebildet ist, diesem Schreckbild des Konstruktivismus und der bürokratisierenden Gleichmacherei, die man euphemistisch «Harmonisierung» nennt? Ein Beitritt zu diesem Gebilde würde entscheidende Eigenarten der Schweiz abschwächen oder ganz zerstören. So dürfte die Schweizer Besonderheit umfassender Referenden und Volksinitiativen hinfällig werden. Nicht besser würde es dem föderalen Staatsaufbau über halbsouveräne Kantone und sich selbst regierende Gemeinden ergehen. Wo das europäische Recht dem nationalen vorangeht und da dieses Recht kaum Tendenzen zur Selbstbeschränkung mehr kennt – von der Gleichstellungs- bis zur Klima- und Konsu-

mentenschutzpolitik, vom Mindesturlaub bis zur Höchstarbeitszeit, von der Regulierung des Gurkenformats bis zum Glühbirnenverbot –, ist die Kompetenz dieser unteren politischen Ebenen nur noch rudimentär, allenfalls Vollzugskompetenz. Die Musterdemokratie Schweiz würde, auch auf lokaler Ebene, ihre Kraft und Vorbildlichkeit verlieren. Und was würde aus der Schweizer Währung, aus dem ob seiner (leider auch nur relativen) Stabilität gerühmten Franken? Er würde das Schicksal des Euro teilen. Die Schweiz würde in den Strudel einer haltlosen Transfer- und Haftungsunion gezogen. Als Mitfinanzierer würde das Land zweifellos mit offenen Armen aufgenommen werden. Der Preis bestünde freilich in der Aufgabe ökonomischer Systemvorteile wie beispielsweise der relativ niedrigen Steuersätze, des internen Steuerwettbewerbs, der relativ geringen Staatsverschuldung und eines liberalen Arbeitsrechts. Schliesslich, was würde aus dem Neu­ tralitätsprinzip, das der Schweiz seit der klugen Selbstbeschränkung nach Mari­ gnano für Jahrhunderte Frieden und Wohlstand gesichert hat? Zwar gibt es noch keine effiziente gemeinsame Aussen- und Militärpolitik der EU, aber der Wille dazu ist unter manchen Regierungen vorhanden. Im Falle eines Bundesstaats Europa, wie es viele Kräfte in der Eurokratie und im identitätsschwachen Deutschland anstreben, wird eine solche gemeinsame Aussenpolitik unvermeidlich. Helvetische Neutralität wäre nicht mehr möglich. Keine Verbrüsselung! Die Schweiz hat schon viele Zugeständnisse gemacht, die ihre Identität als «Antithese» schwächen. Sie hat sich, unter Zustimmung einer Mehrheit der Stimmbürger, mit dem Beitritt zu «Schengen» und der Vereinbarung der europaweiten Arbeitnehmerfreizügigkeit, die mit Sozialansprüchen kombiniert wurde, der Herrschaft über ihre Grenzen weitgehend (wenn auch widerrufbar) begeben. Wo es keine Grenzen mehr gibt, keine Nonzentralisation der politischen Macht, ist der einzelne nur mehr der einen universal massgebenden

Zentralgewalt ausgeliefert. Gerade die Vielfalt durchlässiger Grenzen (in Freihandel und Auswanderungsrecht) relativiert die Bedeutung jeder einzelnen Grenze und schafft Asyle für die Freiheit, auch die geistige, für den Schutz von Erb und Eigen, Nothäfen für Verfolgte, auch für fiskalisch Verfolgte, die nicht kampflos auf ihre angeborenen Eigentumsrechte verzichten mögen. Welch glänzende Bilanz kann hier die Schweiz aufweisen, namentlich seit dem 18. und 19. Jahrhundert. Sie schützte auch Lenin – ein Zeichen des Werts eines grosszügigen Asyl- und Ausländerrechts, das keine parteipolitischen oder weltanschaulichen Farben tragen sollte. Eine falsch verstandene Europäisierung, besser: eine Verbrüsselung, bringt die Schweiz gerade um das, was sie in das kulturelle und politische Patrimonium Europas einzubringen hat. Sie ist das europäischste aller Länder. Denn das Europäische an Europa ist gerade die Vielfalt der Lö-

Die Schweiz ist das europäischste aller Länder.

sungsmuster und des Wettbewerbs, die Offenheit und das nonzentrale Beisichsein, wie es Justus Möser, Benjamin Constant oder Alexis de Tocqueville im 19. und namentlich Wilhelm Röpke im 20. Jahrhundert beschrieben haben. So sollte die Schweiz ihre Besonderheiten, ihre komparativen Vorteile im Wettstreit der Systeme und Institutionen nicht schwächen, sondern steigern – für sich selber und als bewährtes Erfolgsmuster und als Gabe für eine liberale Welt, die nach Beispiel und Vorbild sucht. �

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Dossier  Schweizer Monat 995 April 2012

Der neue Deal

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Das Wissen über funktionierende Institutionen der Demokratie und des Föderalismus ist ein Trumpf der Schweiz. Und könnte zum Exportschlager werden. Um sich aus der internationalen Schusslinie zu manövrieren, braucht die Schweiz der Welt bloss ein attraktives Angebot zu machen. von Nicola Forster

«I

f you’re not at the table, you’re on the menu.» Dieses Bonmot aus Washington beschreibt trefflich die Risiken jener internationalen Machtpolitik, der die Schweiz seit der Schlacht von Marignano 1515 selber abgeschworen hat. Doch ob eskalierender Steuerstreit mit den USA, schwarze Listen der OECD oder Flughafenstreit mit Deutschland – Selbstmitleid ist fehl am Platz. Die delikate Lage bietet vielmehr die Chance, nach Möglichkeiten zu

Die Schweiz ist Denkplatz, Forschungslabor und Kompetenzzentrum für direktdemokratische und föderale Institutionen.

suchen, um langfristig von der machtpolitischen Speisekarte wieder zu verschwinden – und stattdessen selbst am Tisch Platz zu nehmen. Eine wichtige Lektion können wir dabei von alt Bundesrat Max Petitpierre lernen. Petitpierre entwickelte nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges eine nach ihm benannte Doktrin, die auf dem Prinzip des Gebens und Nehmens beruhte. Der Deal: in der Nachkriegszeit bot die Schweiz ihre Guten Dienste und humanitäres Engagement an – im Gegenzug gewährte ihr die internationale Staatengemeinschaft die Neutralität. Die Parallelen zur heutigen Situation sind klar: Weil der internationale Druck auf die Schweiz nicht von alleine abnehmen wird, tut die Schweiz gut daran, sich mit ei58

nem attraktiven Angebot an die Staatenwelt aus der Schlusslinie zu manövrieren. Wir brauchen Petitpierre 2.0! Dabei sollte die Schweiz auf eine ihrer grossen Stärken setzen und deren Export aktiv anbieten: unser Wissen über funktionierende Institutionen der Demokratie und des Föderalismus. Ob es um effektive Regierungsführung, die Promotion des Rechtsstaats oder die Legitimation von Institutionen geht: die Schweiz ist Denkplatz, Forschungslabor und Kompetenzzentrum für direktdemokratische und föderale Institutionen, die bei uns viele Belastungsproben überstanden haben und sich über längere Zeit erfolgreich entwickeln konnten. Was wir heute als funktionierendes System erleben, verdankt sich nicht zuletzt auch grenzüberschreitendem Erfahrungsaustausch. Die Amerikanische und auch die Französische Revolution waren wichtige Impulsgeber für die Entwicklung direktdemokratischer Volksrechte in der Schweiz; beim Entwurf der Verfassung von 1848 liessen sich deren Architekten stark von dem in den USA und anderswo gesammelten Wissen inspirieren. Davor hatten Schweizer Rechtsgelehrte in der Konzeption der amerikanischen Verfassung von 1787 mitgewirkt, und die berühmten «Federalist Papers» zeugen davon, wie sehr sich die amerikanischen Verfassungsväter von der Idee eines institutionellen Lernprozesses leiten liessen. Importiert haben die USA in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts auch jene direktdemokratischen In­ strumente, die die Schweiz kurz zuvor auf nationaler Ebene entwickelt hatte (1874 das fakultative Gesetzesreferendum, 1891 die

Nicola Forster ist Mitbegründer und Präsident des Thinktanks foraus – Forum Aussenpolitik. Er hat in Zürich, Montpellier und Lausanne Jura studiert und ist Stiftungsrat von Science et Cité sowie im Vorstand der WEF Global Shapers Zürich.

Verfassungsinitiative). Was damals galt, hat auch heute noch seine Gültigkeit: auf internationaler Ebene besteht ein grosses Interesse an funktionierenden institutionellen Lösungen. Und die Schweiz ist in diesem Markt äusserst gut positioniert. Die weltweite Nachfrage Eine beispielhafte Episode aus der jüngeren Vergangenheit: im Januar 2011 liess der mongolische Staatspräsident Tsakhiagiin Elbegdorj anlässlich eines Besuchs in der Schweiz verlauten, er wolle in seinem Land die direkte Demokratie wie bei uns einführen. In Gesprächen mit Schweizer Experten in Demokratiefragen wurden gemeinsam Modelle entwickelt, die zwar vom Schweizer System inspiriert, aber auf den lokalen Kontext in der Mongolei angepasst sind. Seit diesem denkwürdigen Besuch haben sowohl in der Mongolei als auch in der Schweiz mehrere weitere Treffen stattgefunden, um erste Elemente der Demokratisierung dieses Staates auch tatsächlich umzusetzen. Das Problem an der ganzen Geschichte: Entgegen den diplomatischen Gepflogenheiten übersprangen Präsident Elbegdorj und seine vierzigköpfige Delegation die übliche Höflichkeitsvisite in Bern und bescherten stattdessen dem Kanton Aargau den ersten Staatsgast seit 150 Jahren. Der Besuch kam also nicht dank den Bemühungen helvetischer Diplomatie zustande,


Keystone/Alessandro Della Bella.

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sondern dank der Aargauer Kantonalregierung – und nicht zuletzt auch dank dem grossen persönlichen Engagement des mongolischen Präsidenten. Das Zentrum für Demokratie (ZDA) in Aarau, ein universitäres Forschungsnetzwerk für Fragen der direkten Demokratie und des Föderalismus, schien ihm folglich geeigneter, um für das eigene Land zu lernen, als ein diplomatischer Austausch mit der offiziellen Schweiz. Diese offizielle Schweiz täte gut daran, solche Chancen in Zukunft nicht mehr zu verpassen! Die Schweizer Expertise und der Dialog zu Föderalismus- und Demokratisierungsfragen sollten zu einem Standardangebot der Aussenpolitik gemacht werden, um so die vorhandene Nachfrage auch zu bedienen. Zweifellos, das Modell einer aufgezwungenen Top-Down-Demokratisierung wie im Falle des Irakkriegs ist ebenso gescheitert wie zahllose gutgemeinte Missionierungsversuche durch den Westen in anderen Teilen der Welt. Doch die Schweiz hat den Vorteil, als eines der wenigen Länder des Westens keine koloniale Vergangenheit zu haben und deshalb historisch unbelasteter agieren zu können. Natürlich ist das Schweizer Demokratie-Gesamtpaket kein Allheilmittel für alle Länder und unser System selbstverständlich nicht das einzige seligmachende. Im steten Dialog mit den jeweiligen lokalen Akteuren können Schweizer Wissensträger jedoch ihre Expertise anbieten, um auf die Verhältnisse vor Ort adaptierte Lösungen zu entwickeln, die Elemente der schweizerischen Demokratie oder des spezifisch eidgenössischen Föderalismus enthalten. Der Export Die Schweiz verfügt über ein weltweites Aussennetz von rund 140 Botschaften und Konsulaten. Wer, wenn nicht die mit den lokalen Umständen vertrauten Diplomaten können Situationen erkennen, in denen ein Wissensexport fruchtbar wäre? Wer sonst sollte hinter den Kulissen die Fühler ausstrecken, erste Kontakte zu lokalen Akteuren herstellen und dann als Türöffner für Schweizer Experten dienen? Auch hier kann von einer bereits sehr erfolgrei60

chen Struktur gelernt werden: Swissnex. Diese Agentur für Technologie- und Wissenschaftsdiplomatie hat es in den letzten Jahren geschafft, eine Plattform für die Schweiz zu schaffen, wo vorher bloss ein gähnendes Nichts war. Dank innovativer Vernetzung mit führenden Technologieinstituten entsteht ein Wissenstransfer, der Schweizer Hochschulen und Unternehmen zugute kommt. Die Swissnex-Hubs sind an die jeweiligen Botschaften und Konsulate angegliedert und befinden sich in boomenden Orten in Indien, China oder auch im Silicon Valley (USA). Ein ähnliches Hub-System ist auch geeignet, um den Demokratie-Export mit geringen Kosten und guten Erfolgschancen zu testen. Beispielsweise könnte ein lokaler Schweizer Demokratie-Hub in Addis Abeba (Äthiopien) – dem Sitz der Afrikanischen Union – die boomende Region abdecken, in der chinesische Investitionen und eine sich

Die Schweizer Expertise zu Demokratisierungsfragen sollte zu einem Standardangebot der Aussenpolitik gemacht werden.

rasant entwickelnde Wirtschaft für einen Zuwachs an Wohlstand sorgen und dringender Bedarf nach einer Entwicklung des politischen Systems besteht. Eine besondere Chance stellen auch politische Umbrüche dar, wie sie im Zeichen des arabischen Frühlings auftraten. In Libyen besteht grosses Potential. Die stark fragmentierte und durch das Stammessystem geprägte Gesellschaft wird kaum als zen­tralistisch organisierter Staat Bestand haben; ein Mehrebenensystem mit föderalen Elementen könnte Teil einer Lösung sein. Die Schweiz könnte, ja sollte auch hier ein Angebot zum Demokratie-Export machen. Nach einer Marktanalyse, die das Potential ermittelt, ginge es in der praktischen Umsetzung darum, die DemokratieOffensive mit bereits bestehenden Aktivitäten der Schweiz vor Ort zu verknüpfen – es

müssten also auch die Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit (Deza), das Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco), die Image-Agentur «Präsenz Schweiz» sowie die Aussenwirtschaftsförderer der Osec eingebunden werden. Als wichtige Akteure könnten zudem die Kantone helfen, einen bürgernahen Erfahrungsaustausch zu ermöglichen. Die Investition Alles schön und gut – aber wer bezahlt? Auch hier hat Swissnex beispielhafte Vorarbeit geleistet: sogenannte Private-Public-Partnerships haben sich als innovatives Finanzierungsmodell bereits etabliert – es handelt sich dabei um beidseitig Profit erzeugende Kooperationen zwischen öffentlicher Hand und privaten Unternehmen. Denn wer als Unternehmen mit seinen Produkten von der Marke «Swissness» sowie von stabilen Rahmenbedingungen profitiert, hat ein immanentes Interesse am Demokratie-Export. Die Unternehmen schaffen dadurch Werte, die ihnen selbst zugute kommen – Stichwort: «creating shared value» – und werden deshalb bereit sein, einen Teil der Mittel zu decken. Ein weiterer sehr diskreter Akteur, der auch unbedingt Teil des Projektes sein sollte, sind die Schweizer Stiftungen. Sie verfügen sowohl über Expertise als auch über das nötige Geld, um einen substan­ tiellen Beitrag zu leisten. Damit wäre die Struktur in In- und Ausland festgelegt. Jetzt braucht die Schweiz nur noch ein Forum, zu dem sie künftige Partner einladen kann. Warum nicht zur Lancierung der Initiative ein Demokratie-und-Föderalismus-WEF ins Leben rufen? Beispielsweise im (symbolischen!) Landsgemeinde-Kanton Glarus in Braunwald. Der Schweiz bietet sich die Chance, sich als globaler Denkplatz für Demokratie- und Föderalismusfragen zu etablieren und ihr Wissen Partnerländern aktiv anzubieten. Sie könnte die Grundlagen ihres erfolgreichen Staatsaufbaus als inflationssichere Währung einsetzen und in Zukunft an jenem grossen runden Tisch Platz nehmen, dessen Tischplatte sie selber mitzudecken hilft. �


Schweizer Monat 995 April 2012  Dossier

Der Städtestaat

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Die Zukunft gehört nicht China, Indien oder Brasilien, sondern der Stadt. Sagt der umtriebige Politikberater Parag Khanna. Er sieht die Schweiz als Staat der Städte. Und schlägt ihr eine Partnerschaft mit Singapur vor. Florian Rittmeyer spricht mit Parag Khanna

Herr Khanna, seit einigen Jahren macht in der Schweiz die Idee des Stadtstaats die Runde. Was halten Sie davon? Da sind Sie in der Schweiz nicht die einzigen. Ich habe jüngst in London eine Debatte moderiert, in der sich britische Entscheidungsträger, Journalisten und Parlamentarier amused darüber stritten, ob London nach Vorbild neuzeitlicher Stadtstaaten

Gebilde, die Schweiz ein über Jahrhunderte gewachsenes. Das Konzept lässt sich also nicht eins zu eins auf die Confoederatio Helvetica übertragen. Ich würde darum für die Schweiz nicht von einem Stadtstaat sprechen, sondern eher von einer Ansammlung von «City Hubs», einer Verknotung von Orten mit verschiedenen Funktio­ nen. Das wäre kein City State, sondern eher ein «Cities State», ein «Städtestaat» oder ein «städtischer Staat»...

Kühe, Käse, Skifahren. Alles schön und gut. Aber der Widerspruch zwischen Urbanität und Ländlichem ist konstruiert.

Ein «Cities State»? Das ist erst mal nur ein Begriff. Vielleicht dient er ja als Inspiration für die Schweizer Brandmaster in Zürich und Bern, die hier noch sehr zögerlich agieren – schweizerisch zurückhaltend eben! Es geht darum, die kollektive Stärke von Schweizer «Hubs» hervorzuheben. Die Schweiz bietet alles auf kleinstem Raum. Gstaad und St. Moritz sind Orte, wo man im Sommer und Winter eine gute Zeit haben kann, Zürich ist ein internationales Finanzzentrum, Basel Sitz der chemischen Industrie, Genf ein Zen­ trum der Finanzen und Diplomatie. Jeder Ort hat seine Stärke, die er zum Ganzen beitragen kann. Die Attraktivität eines solchen «Cities State» für moderne Kosmopoliten ist schier grenzenlos.

wie Venedig, Florenz oder der Hansestädte positioniert werden kann. Es gab Leute an diesem Dinner, die offen forderten, London vom Rest des Landes zu entkoppeln. Nun, ich bin ein offenkundiger Befürworter der Idee, dass das Modell der Stadtstaaten auf die Weltbühne zurückkehren sollte. Diese Phantasie ist toll, die Diskussion ebenfalls, aber die Crux ist natürlich die praktische Umsetzung. Die Idee, dass London sich des Rests des Landes entledigen solle, ist albern. London ist Teil einer grösseren Einheit, von der es auch profitiert – genauso wie umgekehrt. Dasselbe gilt für Zürich oder Genf. Absolut einverstanden, aber was taugt die Idee, sich die gesamte Schweiz als Stadtstaat vorzustellen? Ein Stadtstaat ist weitgehend ein geplantes

Sie kennen vor allem das mondäne Genf, das dynamische Zürich und das aufgetakelte Davos während des WEF. Was aber wäre Ihr Bild, wenn Sie einen Grossteil Ihrer Zeit in der Agglo-Schweiz verbringen müssten? Ich kann mir nicht vorstellen, meine Hauptbasis in einer anderen Stadt als London, New York oder Singapur zu haben.

Parag Khanna wurde in International Relations an der London School of Economics promoviert. Er ist Senior Research Fellow der New America Foundation und Autor von «Wie man die Welt regiert: Eine neue Diplomatie in Zeiten der Verunsicherung» (2011) und «Der Kampf um die Zweite Welt: Imperien und Einfluss in der neuen Weltordnung» (2008).

Menschen gravitieren nach Kriterien der Arbeits- und Zeitmobilität dorthin, wo sie ihrer Arbeit am besten nachgehen können. Deswegen ist die Qualität der Infrastruktur so wichtig: sie ermöglicht, das Landleben mit modernen Karrieremöglichkeiten zu verbinden. Und die Schweiz ist hier ja weltweit top! Die Schönheit der Schweiz besteht mitunter darin, dass man in Zürich leben und innerhalb einer halben Stunde an einem ruhigen Ort am See sein kann oder in Genf leben und innerhalb einer Stunde in Chamonix sein kann. Man hat die Wahl, innerhalb eines Tages die intensiven Aspekte des Stadt- und auch des Landlebens erfahren zu können. Wenn man mit dem Flugzeug in Zürich ankommt, wird man in einem futuristischen Untergrund-Glaszug mit Kuhglocken und Alpgesängen empfangen. Ist das nicht vielmehr ein Zeichen dafür, dass wir mit einem Widerspruch von Tradition und Moderne ringen? Kühe, Käse, Schokolade, Skifahren und Bankgeheimnis. Alles schön und gut. Aber der Widerspruch zwischen Urbanität und Ländlichem ist konstruiert: Boris Johnson, der Bürgermeister Londons, pflegt mit Erfolg das Bild des Dorfes innerhalb der Stadt. Als Bewohner Londons weiss ich, was er 61


Dossier Schweizer Monat 995 April 2012

meint: London ist eine Ansammlung von Dörfern. Eine grosse Stadt, die sich anfühlt wie ein Dorf. Wenn ich meine Tochter zur Schule bringe, sehe ich vom Schulplatz aus Schafe und Hühner. Und ich lebe mitten im Zentrum. Das ist eine schöne Sache – besonders in einer Zeit, in der viele Leute das Gefühl haben, Verstädterung und Anonymität könnten entwurzelnd wirken. Gut ausgebildete Arbeitskräfte aus Wirtschaft und Wissenschaft sind heute hier, morgen dort. Welche Chancen hat die Schweiz, sich als Hub zu positionieren, in dem sich globale Talente langfristig niederlassen? Talente sind sehr mobil. Aber die Schweiz gehört zu jenen Orten, die Menschen langfristig anziehen: ideologisch wegen der Neutralität, diplomatisch wegen den Vereinten Nationen, finanziell wegen den Bankenzentren in Zürich und Genf, geographisch wegen der Lage im Zentrum Westeuropas. Ebenso wie Singapur ist die Schweiz zu einem Ort geworden, wo Expats

Wo findet die lokale Selektivität statt? In der Stadt. Und was ist die Triebkraft der Innovation? Es ist das Netzwerk der Städte.

hingehen und sich dann längerfristig niederlassen. Letztlich hängt auch viel von der Ausgestaltung der Aufenthaltsrichtlinien ab. Es ist ja derzeit ausserordentlich schwierig, Schweizer Bürger zu werden – leichter ist es, wenn man eine Aufenthaltsbewilligung B oder C hat. Wenn die Schweizer Wirtschaft Bedarf hätte – und sie scheint zurzeit keinen Bedarf zu haben –, könnten diese strengen Bedingungen gelockert werden. Wenn man wollte – ich bin nicht sicher, ob man das will –, könnte so auch erwirkt werden, dass mehr Asiaten die Schweiz als Hub für ihre wirtschaftlichen Tätigkeiten nutzen. Man sieht zum Beispiel, wie chinesische Unternehmen grossflächig Niederlassungen in Frankfurt, Paris oder London aufbauen. 62

Sie haben die Prognose gewagt, dass das 21. Jahrhundert nicht durch China, Indien, Brasilien oder die USA dominiert werde, sondern durch Städte. Wie kommen Sie zu dieser kühnen Voraussage? Die entscheidende Erkenntnis ist, dass es keine hegemoniale unipolare Welt mit China, den USA, Brasilien oder Indien an der Spitze geben wird. Und es wird auch kein Konzert der Mächte mehr geben. Es wird sich vielmehr ein fragmentiertes System entwickeln – wie im Mittelalter, als die Städte dominierten... Bei allem Respekt: ins Mittelalter will doch niemand mehr zurück. Völlig richtig. Ich ziehe aber meine Inspiration aus Netzwerk-Prototypen wie der Hanse. Denn aus mittelalterlichen Städteallianzen kann viel gelernt werden! Damals wie heute sind es jene Staaten, die agil und netzwerkbasiert auf neue Technologien und Handelsmöglichkeiten reagieren, die am meisten profitieren. Wenn wir über den Aufstieg neuer Staaten reden, vergessen wir, dass sich der Aufstieg dieser Staaten aus der ökonomischen Aktivität ihrer grossen Städte ableitet. Darum geht es: wo findet die lokale Selektivität statt? In der Stadt. Und was ist die Triebkraft des Wachstums und der Innovation? Es ist das Netzwerk der Städte. Gibt es einen grundsätzlichen Konflikt zwischen Chinas «Big is powerful» und der Schweizer Vorstellung von «Small is beautiful»? Ich schrieb mein erstes Buch «The Second World» über Imperien: «Big is back». Aber es gibt eigentlich keinen Widerspruch zwischen klein und gross. An einigen Orten funktioniert das Kleine, an anderen das Grosse. In Asien gibt es mit Indien und China zwei der demographisch grössten Länder. Aber es gibt dort auch einen kleinen und sehr erfolgreichen Staat: Singapur. Die unterschiedlichen Modelle koexistieren in der gleichen Weltregion. Ich weiss also nicht, warum es da eine Spannung geben soll. Wenn überhaupt, soll sich die Schweiz als kleiner Ort positionieren, der in Sachen Arbeitsmobilität, ökologischer Nachhaltigkeit, Fiskalpolitik und in ande-

ren Bereichen grosse Lektionen für grössere Staaten bereithält. Zum Beispiel die Schuldenbremse, die heute durch ganz Europa galoppiert. Diese wurde zuerst in Schweizer Kantonen erdacht, dann auf nationaler Ebene eingeführt und danach via Deutschland exportiert. Exakt. Theoretisch sollte die Schönheit Europas darin bestehen, dass die Diversität und die vielen Machtzentren zu einem grenzüberschreitenden Lerneffekt führen. Dazu gab es auch Ansätze: in Westeuropa wurde diskutiert, was man von Skandinavien und den baltischen Staaten lernen könne… …dann kam die Finanzkrise und hat die Dinge durcheinandergewirbelt… …richtig. Was unter anderem auch den Druck auf den Schweizer Finanzplatz erhöht hat. In der Schweiz wirkt der Begriff Allianz wegen der Tradition der Neutralität vielleicht befremdend, aber sie kann und sollte strategische Partnerschaften eingehen, die sich von opportunistischen Bedürfnissen in einzelnen Sachfragen ableiten. Viele Leute reden davon, wie sich das Geschäft der Privatbanken geographisch diversifiziert. Und die Schweiz kann davon profitieren – und beispielsweise eine direkte Partnerschaft mit Singapur eingehen. Es gibt genug Vermögen in Europa, es gibt genug Vermögen in Asien. Und statt sich in Konkurrenzkämpfen zu verlieren, könnte es zu einer Priorität der Schweiz werden, den Fluss des Vermögens zwischen Europa und Asien zu erleichtern. Schweizer Luxusgüterhersteller fokussieren bereits stark auf den Aufstieg Asiens. Die westliche Welt bewegt sich in Richtung einer Phase von Selbstreferenz und Protektionismus. Die Schweiz braucht nicht zu warten, bis es ein Freihandelsabkommen zwischen der EU und Indien geben wird, sondern kann solche Bemühungen unabhängig von der EU vorantreiben. �


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Talente sind sehr « mobil. Aber die Schweiz gehört zu jenen Orten, die Menschen langfristig anziehen.» Parag Khanna

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BildEssay Schweizer Monat 995 April 2012

Glänzender Auftritt von Claudia Mäder

Hatte er letztens irgendwo den Kopf verloren? Oder gar das

Niklas G. am frühen Nachmittag gezwungen sah, ein paar

Gesicht? Trotz angestrengten Nachdenkens – das Hirn

Überstunden einzuziehen, um sich wiederzufinden. Nichts

also zumindest war noch da – konnte Niklas G. keine Erklärung

liess er dabei unversucht, alles war umsonst. In den Herren-

finden für die Leere, die ihm an diesem sonnigen Morgen aus

konfektionsgarderoben, in denen er schneidige Sakkos anpro-

dem Badezimmerspiegel entgegenblickte. Deutlich erkannte

bierte, und im Fitnessstudio, das er zur Verbesserung des

er den obersten Heizstab des Handtuchwärmers und auch

Körpergefühls besuchte, blieben seine Konturen ebenso

der Kragen seines Bademantels spiegelte sich vor ihm, das Bild

verloren wie in dem Coiffeursalon, den er bei Einbruch der

seiner selbst aber suchte er vergebens. Hätte sich über dem

Dämmerung betrat. Zum Horror gesteigert, liess ihm dort das

Lavabo zum Morgengruss ein ganzer Männerchor aus Niklas-

Grauen vor der Leere, wer wollte es ihm verübeln, den Schweiss

Mündern aufgetan, er wäre kaum beunruhigt gewesen.

aus den Poren des gepflegten Gesichtes treten. Feine Perlen

Das stumme Nichts jedoch, dem er sich gegenübersah, liess

rollten – er fühlte es deutlich – dem Ohr entlang dem Hals

ihm, wer verstünde es nicht, ein metaphysisches Gruseln in die

entgegen, als die Coiffeuse hämisch grinsend – er sah es

Brust kriechen. Mit blinder Routine stutzte er ein widerborsti-

deutlich – ihre Hände in einen Topf voll Brillantine tauchte.

ges Nasenhaar, band er sich die Krawatte und gelierte er sich

«Wo dieser Glanz leuchtet, muss es wahrlich dunkel sein»,

das Haar, um sodann draussen mit der Frühlingssonne um

hörte er sie gerade noch murmeln, bevor er aufschreiend ins

die Wette zu scheinen. Im Büro, wo er nach kurzem Fussmarsch

Bodenlose stürzte und die Augen aufriss. Heftig rasten ihm

anlangte, schien seine Gesichtslosigkeit niemandem aufzufal-

da das Herz in der Brust und der Schmerz im Kopf, der Atem

len. Von allen Seiten freundlich begrüsst, vergrub er sich

aber geriet ins Stocken, als er die Hexe erblickte, die neben

aufatmend in einen Aktenberg, fand darin jedoch seine

ihm schlummerte. Nun endlich ernstlich an seinem Verstand

Fassung nicht wieder. Denn in keinem der Spiegel, die ihm

zweifelnd, was blieb ihm auch anderes übrig, raufte er sich

die Banalitäten seiner Welt pausenlos vorhielten, konnte

die klebrigen Haare und liess einen feinen Konfettiregen

er sich selbst erkennen. Sein Kopf zeigte ganz einfach nicht die

aufs Kopfkissen niedergehen.

geringste Neigung zur Reflexion: Weder in Fenstern noch in Bilderrahmen oder Kaffeelöffeln mochte er sich abbilden. Also kroch der Schauder, man versteht es, immer tiefer in die Brust und nistete schliesslich so nah am Herzen, dass sich

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Schweizer Monat 995 April 2012  BildEssay

von Thomas Burla

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BildEssay  Schweizer Monat 995 April 2012

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Schweizer Monat 995 April 2012  BildEssay

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BildEssay Schweizer Monat 995 April 2012

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Schweizer Monat 995 April 2012  BildEssay

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Was macht die Kunst? Schweizer Monat 995 April 2012

Gesichtsschreibung Zum 100-Jahr-Jubiläum macht sich der Schweizer Baustoffkonzern Holcim zum Objekt der Kunst. Die Photo­ graphen Marco Grob, David Hiepler und Fritz Brunier destillieren aus den Gesichtern der Mitarbeiter Geschichten und erzeugen aus den Werkstätten klare Landschaften. Die Photographien sind in Bern zu sehen. René Scheu und Sabina Galbiati treffen Matthias Frehner

Herr Frehner, Sie haben einen geschulten Blick für Ästhetik. Beginnen wir fundamental: Was macht eine Photographie zur Kunst? Nun, dann lassen Sie mich fundamental antworten. Sie muss Wirklichkeit im Ausschnitt so zeigen, dass Grundsätzliches sichtbar wird. Nie wurden so viele Bilder produziert wie heute, Milliarden und Abermilliarden, mit einer Digicam oder einem Handy geschossen, irgendwo, irgendwann. Der gute Photograph aber schafft es, aus der gegebenen Ereignisflut ganz bestimmte Momente zu destillieren. Er hat es abgesehen auf den «moment décisif», wie ihn Henri Cartier-Bresson nannte. Wenn der Photograph die Wirklichkeit aus dem Ereignisfluss herauslöst, entstehen Aufnahmen, die über diesen Augenblick hinaus Gültigkeit haben. In der Auseinandersetzung mit diesen Bildwelten erschliesst sich der Betrachter seine Alltagswelt neu. Schön gesagt. Aber Sie als Kurator und Museumsdirektor versehen Gegenstände mit dem Prädikat «Kunst», indem Sie sie ausstellen. Also entscheiden letztlich Sie, was Kunst ist und was nicht. Nicht wirklich. Am Kunstdiskurs sind ganz unterschiedliche In­ stanzen beteiligt, die Künstler, die Direktoren, die Kuratoren, der Kritiker, die Rezipienten. Um die Mechanismen zu verstehen, muss man vom Werk her denken. Wenn ein Werk realisiert ist, dann entwickelt es ein Eigenleben. Es muss sich bewähren, nicht nur heute, sondern ständig. Ich stelle zwar ein Werk im Museum aus, aber das heisst eben nur: ich stelle es zu einem bestimmten Zeitpunkt zur Diskussion. Ein erweiterter Kreis von Kunstkritikern und Kunstliebhabern setzt sich dann mit ihm auseinander. Nehmen wir einmal an, die meisten von ihnen loben das Werk. Aber in zehn Jahren findet plötzlich jemand, die Mehrheit habe sich getäuscht, es sei kein gutes Werk. Also stehen das Werk und sein Prädikat «künstlerisch» von neuem zur Disposition. Und so geht das immer weiter. Klingt kompliziert. Kunst ist nichts anderes als die Rezeption von Kunst? Ich würde eher sagen: zur Kunst gehört die ständige Auseinandersetzung. Die Werke sollen uns permanent herausfordern, Denkprozesse auslösen. Das ist es, was die Kunst lebendig macht und uns Kunstmenschen fasziniert. Ein Kunstwerk, das für alle Ewig70

Matthias Frehner ist promovierter Kunsthistoriker und seit August 2002 Direktor des Kunstmuseums Bern.

keit schön, wahr und gut ist, wäre doch, mit Verlaub, eine langweilige Sache. Was hat Sie persönlich an den Industriephotographien der Holcim so fasziniert, dass Sie sich entschieden haben, dieses Jubiläumsprojekt im Kunstmuseum auszustellen? Das Projekt hat mich zuerst einmal auf einer elementaren, dokumentarischen Ebene gereizt. Einerseits haben wir die globalisierte Welt und können scheinbar überall hingehen, anderseits gibt es heikle Zonen, die uns verschlossen sind. Die Bilder von Marco Grob, David Hiepler und Fritz Brunier machen uns genau solche Orte zugänglich, Industriewerkplätze, die sonst gut gehütete Geheimnisse darstellen. Und dann haben die Bilder für mich auch einen starken künstlerischen Aspekt, der die zeitgenössische Photographie herausfordert: die Aufnahmen von Grob, Hiepler und Brunier schaffen durch ihre Überschärfe eine Hyperwirklichkeit, die ich faszinierend finde. Sie nehmen den kühlen Geist der neuen SachlichEin Kunstwerk, das für alle keit auf und verleihen ihm Ewigkeit schön, wahr und gut durch die Mittel der Verdichtung eine neue Magie ist, wäre doch, mit Verlaub, des Präzisen.

eine langweilige Sache.

So spricht der Kunsthistoriker. Der Laie findet die Aufnahmen – wie sollen wir sagen? – eingängig, gefällig. Man sieht schön porträtierte Menschen und die Orte, an denen sie arbeiten. Wo ist das Herausfordernde? Gefälligkeit im Sinne von Verharmlosung oder Sentimentalität, das sehe ich nicht. Ebenso wenig findet eine gefühlsmässige Übereinstimmung zwischen Betrachter und Objekt statt. Die abgelichteten Menschen bewahren sich ihr Geheimnis, bleiben auf Distanz. Marco Grob hat die Gesichter der Arbeiter absolut genau ausgeleuchtet und vergegenwärtigt. Man sieht jedes Detail und


Matthias Frehner, photographiert von Philipp Baer.

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Was macht die Kunst? Schweizer Monat 995 April 2012

also mehr, als wir mit einem Blick erfassen können, weil wir immer nur bestimmte Ausschnitte eines Gesichts fokussieren können. Das führt dazu, dass unsere bewährten Wahrnehmungsmuster in diesem Fall nicht mehr greifen. Alles ist gleich überscharf, gleich hyperpräsent, magisch. Diese Gesichter fordern den Betrachter heraus – so hat er Gesichter noch nie gesehen! Sie waren ebenfalls bei einem Shooting von Marco Grob vor Ort. Wie genau ging er vor? Er hielt sich nicht an objektive Kriterien. Er vertraute vielmehr seinem künstlerischen Blick, wartete bei Arbeitsbeginn beim Eingang auf die Leute und fragte einzelne, ob sie bereit seien, sich ablichten zu lassen. Sie begleiteten ihn in ein Büro, unterzeichneten eine Einverständniserklärung. Er stellte ihnen sachliche Fragen, gab ihnen sachte Anweisungen, hantierte mit seiner Freihandkamera und hielt sie in ständiger Bewegung. Das ganze Arrangement verlief besonnen und dauerte nur wenige Minuten. Erst im nachhinein wurde mir klar, was er damit bezweckte: er verfolgte eine Strategie der Geschwindigkeit, um die Leute zu überraschen und ihnen die Möglichkeit zu nehmen, sich hinter einer Pose zu verstecken. Marco Grob wollte das Individuum stark machen, seine Geschichte, seine Präsenz, sein Geheimnis. Es sind kaum Angestellte mit Krawatten zu sehen. Reagiert die Geschäftsleitung da nicht etwas düpiert? Durchaus, aber Marco Grob hatte sich von Holcim absolute Freiheit in der Auswahl der Menschen ausbedungen. Die Arbeiter waren für ihn interessanter, weil sie im Gegensatz zu öffentlichkeitsgeübten Managern kaum gewohnt sind, das Unternehmen zu repräsentieren. Da waren einige Geschäftsleitungsmitglieder bestimmt enttäuscht, aber so war das nun mal. Das Arrangement war eine Eins-zu-eins-Situation, hier der Photograph, da der Porträtierte. Man spürt die Reserviertheit der Arbeiter, die Distanz, und doch hat der Photograph sie so abgelichtet, dass sie etwas von sich preisgeben. Sie sind gezeichnet durch ihren Arbeitsprozess, ihre Lebenserfahrungen, sie sind vielleicht alkoholsüchtig, haben etwas zu verbergen, fühlen sich unsicher, geschmeichelt, zeigen ihren Stolz. Die existentielle Dimension des Menschseins, das ist es mitunter, was hier sinnlich erfahrbar wird. Die Photographien der Arbeiter und Industriewerke sind eine Auftragsarbeit. Wie gross war die künstlerische Freiheit? Maximal. Der Deal war klar definiert: die Photographen mussten die Sicherheitsstandards beachten, beispielsweise die Helm­ pflicht, ansonsten waren sie im Rahmen des Projekts in der Wahl ihrer Sujets absolut frei. Auch konnten sie sich auf den Arealen jederzeit völlig frei bewegen; im Gegenzug kann Holcim sagen, dass sie zu ihrem 100-Jahr-Jubiläum ein künstlerisches Projekt unterstützt haben. Wie sieht es mit der Freiheit des Kurators aus? Wir agieren selbstverständlich ebenfalls völlig frei und stellen 72

jene Werke aus, die uns überzeugen. Wäre diese Freiheit nicht gegeben, hätten wir uns auf das Projekt gar nie eingelassen. Dennoch: es ist und bleibt eine Auftragsarbeit. Klar. Aber was soll daran falsch sein? Wir haben da heute völlig verquere Vorstellungen über den Kunstbetrieb. Künstler leben nicht im luftleeren Raum und auch nicht unbedingt mit Hilfe staatlicher Subventionen, sondern fristen eine mitunter ökonomische Existenz wie die meisten von uns auch. Folglich arbeiten sie, wie wir, unter Druck und meist auch unter bestimmten Erwartungen. Kunst ist immer Auftragskunst gewesen – auch bei Leonardo da Vinci. Nur der Auftraggeber hat gewechselt. Bis zur Moderne waren es Fürsten oder Bischöfe, danach war es die Kunstgalerie bzw. der Kunstkäufer auf dem Kunstmarkt. Der Punkt ist nun, dass aus einem kommerziellen Auftrag etwas hervorgeht, das über den reinen Auftrag hinaus eine künstlerische Relevanz beansprucht – ein solches Werk hat das Potential, sich durchzusetzen. Und das sind die Werke, die uns interessieren. Das Spannungsfeld von Kunst und Kommerz ist das eine, jenes zwischen Photographie und Werbung das andere. Wie begegnen Sie der aktuellen Kritik, wonach Sie einfach schönen Porträts von Mitarbeitern und Werken von Holcim höhere künstlerische Weihen verliehen haben? Unter diesem Generalverdacht muss ich fortan wohl oder übel leben. Nein, im Ernst: jedes künstlerische Projekt steht in einem ökonomischen und sozialen Kontext. Wichtig ist, dass die künstlerische Freiheit gewährleistet ist – und dass Werke entstehen, die sich vom Kontext ihrer Genese emanzipieren. Was die Photographie im besonderen angeht, so hat sie eine besonders starke kommerzielle Komponente. Nehmen Sie Helmut Newton, der Aktbilder für den «Playboy» gemacht hat. Und irgendwann waren diese Bilder – Kunst. Sie haben sich eben emanzipiert. Oder nehmen Sie Andy Warhol, der von der Werbung kommt. Er hat neue Kunstwerke geschaffen, indem er die Strategien der Werbung für die Kunst fruchtbar machte. Seine Werke haben sich ebenfalls emanzipiert. In der Kunst ist vieles möglich. Erst mit der Zeit zeigt sich, was Kunst ist und was nicht. Insofern müssten wir uns in 20 Jahren wieder treffen, um über die Werke von Grob, Hiepler und Brunier zu reden. Oder in 30, dann sieht ja vielleicht alles schon wieder anders aus. Genau. Wir stellen das Projekt zur Diskussion, und nun schauen wir, wie es sich entwickelt. � Die Ausstellung «Industrious – Marco Grob & hiepler, brunier» im Kunstmuseum Bern dauert bis am 6. Mai 2012. www.kunstmuseumbern.ch


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Literarischer Essay Schweizer Monat 995 April 2012

Marx nach Duchamp Kunst ist, was der Künstler produziert. Kunst ist, was im Museum ausgestellt ist. Kunst ist, was einer macht, der sich für einen Künstler hält. Kunst ist der ausgestellte Körper des Künstlers. Was ist Kunst? von Boris Groys

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n der Wende zum 20. Jahrhundert beginnt für die Kunst eine neue Ära der künstlerischen Massenproduktion. War das vorangehende Zeitalter eine Ära des künstlerischen Massenkonsums, so hat sich die Situation in der Gegenwart geändert, wobei vor allem zwei Entwicklungen zu dieser Veränderung geführt haben. Die erste ist das Aufkommen neuer technischer Mittel zur Produktion und Distribution von Bildern, und die zweite ist eine Verschiebung in unserem Verständnis von Kunst, eine Veränderung der Kriterien zur Unterscheidung zwischen Kunst und Nichtkunst. Beginnen wir mit der zweiten Entwicklung. Heute identifizieren wir das Kunstwerk nicht mit einem Objekt, das von einem individuellen Künstler handwerklich so hergestellt wurde, dass Spuren seiner Arbeit sichtbar oder zumindest am Körper des Kunstwerks selbst nachweisbar bleiben. Im 19. Jahrhundert wurden Malerei und Skulptur als Extensionen des Körpers des Künstlers gesehen, als Evokationen der Präsenz seines Körpers selbst nach seinem Tod. In diesem Sinne wurde die Arbeit des Künstlers nicht als «entfremdete» Arbeit verstanden – im Gegensatz zur entfremdeten, industriellen Arbeit, die keine nachvollziehbare Verbindung zwischen dem Körper des Produzenten und dem industriellen Produkt beinhaltet. Spätestens seit Marcel Duchamp und seiner Verwendung von Readymades hat sich diese Situation drastisch gewandelt. Dabei besteht die Veränderung nicht so sehr in der Präsentation industriell produzierter Objekte als Kunstwerke. Vielmehr eröffnet sich dem Künstler dadurch die Möglichkeit, nicht nur Kunstwerke in einer entfremdeten, quasiindustriellen Weise zu produzieren, sondern auch zuzulassen, dass das Kunstwerk den Charakter eines industriellen Produkts beibehält. In diesem Sinne können so unterschiedliche Künstler Boris Groys ist Philosoph und einer der einflussreichsten Medienwie Andy Warhol oder Donald Judd als Beispiele für Kunst nach Duchamp und Kunsttheoretiker der Gegenwart. Er lehrt als Global dienen. Die unmittelbare Verbindung zwischen dem Körper des Künstlers Distinguished Professor an der Faculty of Arts and Science der New York University. und dem Körper des Kunstwerks wurde durchtrennt. In den Kunstwerken sah man nicht länger die Wärme des Künstlerkörpers aufbewahrt, wenn der Körper des Künstlers kalt wurde. Ganz im Gegenteil – der Autor (Künstler) wurde bereits zu Lebzeiten für immer schon tot erklärt und der «organische» Charakter des Kunstwerks zur ideologischen Illusion. Während folglich die gewaltsame Zerstückelung eines lebenden, organischen Körpers ein Verbrechen darstellt, bedeutet die Fragmentierung eines Kunstwerks, das immer schon eine Leiche – oder, besser noch, ein industrielles Produkt oder eine Maschine – ist, kein Verbrechen, sondern wird vielmehr begrüsst. Und genau das ist es, was Hunderte Millionen von Menschen in der ganzen Welt jeden Tag im Kontext der Massenmedien praktizieren. Durch die vielen Biennalen, Triennalen und Documentas sowie die dazugehörige Berichterstattung sind inzwischen Massen von Menschen über avancierte Kunst bestens informiert, und sie sind dazu übergegangen, die Medien auf die gleiche Art wie die Künstler zu benutzen. Zeitgenössische Kommunikationsmittel und soziale Netzwerke wie Facebook, YouTube und Twitter bieten ganzen Bevölkerungen weltweit die Möglichkeit, ihre Fotos, Videos und Texte auf eine Weise zu zeigen, die von keinem postkonzeptualistischen Kunstwerk zu unterscheiden ist. Und das zeitgenössische Design bietet den gleichen Bevölkerungen 74


Schweizer Monat 995 April 2012  Literarischer Essay

die Mittel, ihre Wohnungen und ihre Arbeitsplätze wie künstlerische Installationen zu gestalten und zu erfahren. Zugleich haben der digitale «Inhalt» oder die digitalen «Produkte», die diese Millionen von Menschen täglich präsentieren, keinen direkten Bezug zu ihren Körpern; sie sind ihnen genauso «entfremdet» wie jedes zeitgenössische Kunstwerk, was bedeutet, dass sie einfach fragmentiert und in verschiedenen Kontexten wiederverwendet werden können. Und in der Tat ist das Sampling mit Hilfe von «copy and paste» die üblichste und meistverbreitete Praxis im Internet. Eben hier findet sich die unmittelbare Verbindung zwischen den quasiindustriellen Praktiken der Kunst nach Duchamp und zeitgenössischen Praktiken, wie sie im Internet angewandt werden – einem Ort, an dem selbst diejenigen, die zeitgenössische künstlerische Installationen, Performances oder Environments nicht kennen oder nicht mögen, genau die Formen des Samplings benutzen, auf denen diese künstlerischen Praktiken beruhen. Diese Auslöschung der Arbeit in und durch die zeitgenössische künstlerische Praxis wurde von vielen als eine Befreiung von der Arbeit überhaupt betrachtet. Der Künstler wird dabei eher zu einem Träger und Darsteller von «Ideen», «Konzepten» oder «Projekten» als zu einem Subjekt harter Arbeit, sei sie entfremdet oder nicht. Dementsprechend hat der digitalisierte, virtuelle Raum des Internets phantomatische Konzepte von «immaterieller Arbeit» oder «immateriellen Arbeitern» hervorgebracht, die angeblich den Weg in eine «postfordistische», von harter Arbeit und Ausbeutung befreite Gesellschaft der universellen Kreativität eröffnet haben. Darüber hinaus scheint die Duchampsche Readymade-Strategie das Recht auf intellektuelles Eigentum zu unterminieren – da es das Privileg der Autorschaft abschafft und Kunst und Kultur einem unbeschränkten öffentlichen Gebrauch ausliefert. Duchamps Einsatz von Readymades kann als eine Revolution im Bereich der Kunst verstanden werden, die einer kommunistischen Revolution im Bereich der Politik analog ist. Beide Revolutionen zielen auf die Konfiszierung und Kollektivierung privaten Eigentums ab, ob «real» oder symbolisch. In diesem Sinne kann man sagen, dass bestimmte zeitgenössische Praktiken in Kunst und Internet heute die Rolle (symbolischer) kommunistischer Kollektivierungen inmitten der kapitalistischen Ökonomie spielen. Die Situation erinnert an die romantische Kunst zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts in Europa, als ideologische Reaktion und politische Restauration das politische Leben dominierten. Nach der Französischen Revolution und den Napoleonischen Kriegen erlebte Europa eine Periode der relativen Stabilität und des Friedens, durch die das Zeitalter der politischen Transformation und des ideologischen Konflikts endlich überwunden zu sein schien. Die homogene politische und ökonomische Ordnung, basierend auf wirtschaftlichem Wachstum, technologischem Fortschritt und politischer Stagnation, schien das Ende der Geschichte anzukündigen, und in der künstlerischen Bewegung der Romantik, die überall in Europa aufkam, träumte man von Utopien, pflegte revolutionäre Traumata und entwickelte alternative Lebensformen. Heute ist die Kunstszene ein Ort für emanzipatorische Projekte, partizipatorische Praktiken und radikale politische Haltungen geworden, aber sie ist auch ein Ort, an dem die Erinnerung an die sozialen Katastrophen und Enttäuschungen des revolutionären zwanzigsten Jahrhunderts kultiviert wird. Und die spezifische neoromantische und neorevolutionäre Ausprägung der zeitgenössischen Kultur wird, wie so oft, besonders gut von ihren Feinden erkannt. So spricht Jaron Lanier in seinem Buch «You Are Not a Gadget» vom «digitalen Maoismus» und vom «Bienenstockbewusstsein», die den zeitgenössischen virtuellen Raum dominieren, das Prinzip des intellektuellen Eigentums ruinieren und schliesslich alle Massstäbe herabsetzen und zum Ende der Kultur als solcher führen würden1. Wir haben es hier also nicht mit einer Befreiung der Arbeit, sondern mit einer Befreiung von der Arbeit zu tun – zumindest von ihren manuellen, «unterdrückenden» Aspekten. Aber bis zu welchem Grad ist ein solches Projekt realistisch? In der Tat konfrontiert die zeitgenössische Kunst die traditionelle marxistische Theorie der Wertproduktion mit einer schwierigen Frage: Wenn der «ursprüngliche» Wert eines Produkts auf die akkumulierte Arbeit verweist, die in dieses Produkt investiert wurde, wie kann dann ein Readymade den zusätzlichen Wert eines Kunstwerks erlangen – obwohl der Künstler anscheinend keinerlei zusätzliche Arbeit investiert hat? 75


Literarischer Essay Schweizer Monat 995 April 2012

In diesem Sinne scheint der an Duchamp anknüpfende Begriff der Kunst jenseits von Arbeit das wirkungsvollste Gegenbeispiel zur marxistischen Werttheorie darzustellen – als Beispiel für eine «reine», «immaterielle» Kreativität, die alle traditionellen Vorstellungen von Wertproduktion als Resultat manueller Arbeit überschreitet. Im Falle des Readymade scheint die Entscheidung des Künstlers, ein bestimmtes Objekt als Kunstwerk zu präsentieren, zusammen mit der Entscheidung einer Kunstinstitution, dieses Objekt als Kunstwerk zu akzeptieren, zur Produktion einer wertvollen Kunstware auszureichen – ohne Zusatz manueller Arbeit. Und die Ausbreitung dieser scheinbar immateriellen Kunstpraxis in der gesamten Wirtschaft mittels des Internets hat die Illusion geschaffen, dass eine von Duchamp inspirierte Befreiung von der Arbeit durch «immaterielle» Kreativität – und nicht die marxistische Befreiung der Arbeit – den Weg in eine neue Utopie der kreativen Vielheiten (Multituden) eröffnen würde. Die einzig notwendige Bedingung für eine solche Eröffnung scheint allerdings eine Kritik der Institutionen zu sein, welche die Kreativität der flottierenden Vielheiten (Multituden) mit ihrer Politik der selektiven Inklusion und Exklusion unterdrücken und frustrieren. Hier müssen wir es allerdings mit einer gewissen Verwirrung hinsichtlich des Begriffs «Institution» zu tun haben. Kunstinstitutionen werden, vor allem im Rahmen der «Kritik der Institutionen», zumeist als Machtstrukturen gesehen, die bestimmen, was in den Blick der Öffentlichkeit eingeschlossen wird und was ausgeschlossen bleibt. So werden Kunstinstitutionen weitgehend in «idealistischen», nichtmaterialistischen Begriffen analysiert – obgleich Kunstinstitutionen, in materialistischen Begriffen gesagt, sich doch vielmehr als Gebäude, Räume, Lagerstätten usw. präsentieren und eine entsprechende Menge an manueller Arbeit erfordern, umgebaut, erhalten und genutzt zu werden. So kann man sagen, dass die Ablehnung «nichtentfremdeter» Arbeit den auf Duchamp folgenden Künstler in die Position zurückversetzt hat, entfremdete, manuelle Arbeit anzuwenden, um bestimmte materielle Objekte aus dem Aussen des Kunstraums ins Innere zu transferieren – oder umgekehrt. Die reine immaterielle Kreativität erweist sich hier als eine reine Fiktion, da die altmodische, nichtentfremdete künstlerische Arbeit bloss durch die entfremdete, manuelle Arbeit des Transports von Objekten ersetzt wird. Und die auf Duchamp verweisende «Kunst jenseits von Arbeit» erweist sich eigentlich als Triumph der entfremdeten «abstrakten» Arbeit über die nichtentfremdete «kreative» Arbeit. Eben diese entfremdete Arbeit des Transports von Objekten, kombiniert mit derjenigen Arbeit, die in die Konstruktion und in den Erhalt der Kunsträume investiert wurde und wird, produziert letztendlich unter den Bedingungen der Kunst nach Duchamp den Kunstwert. Die Duchampsche Revolution führt nicht zu einer Befreiung des Künstlers von der Arbeit, sondern zu seiner Proletarisierung durch entfremdete Konstruktions- und Transportarbeit. In der Tat benötigen die zeitgenössischen Kunstinstitutionen keinen Künstler im Sinne eines traditionellen Produzenten mehr. Heute wird der Künstler mehr und mehr für eine bestimmte Zeit als Arbeiter angestellt, um dieses oder jenes institutionelle Projekt zu realisieren. Auf der anderen Seite haben sich kommerziell erfolgreiche Künstler wie Jeff Koons oder Damien Hirst längst in Unternehmer verwandelt. Die Ökonomie des Internets veranschaulicht diese Ökonomie der Kunst nach Duchamp auch für den externen Betrachter. Eigentlich ist das Internet nicht mehr als ein modifiziertes Telefonnetzwerk, ein Mittel zum Transport elektrischer Signale. Als solches ist es keineswegs «immateriell», sondern durch und durch materiell. Wenn bestimmte Telefonleitungen nicht gelegt, wenn bestimmte Geräte nicht produziert werden oder wenn der Telefonanschluss nicht installiert und bezahlt wird, dann gibt es schlicht und einfach kein Internet und keinen virtuellen Raum. Um es in marxistischen Termini zu formulieren, kann man sagen, dass die grossen Unternehmen für Kommunikations- und Informationstechnologie die materielle Basis des Internets und die Mittel zur Produktion der virtuellen Realität kontrollieren: ihre Hardware. Auf diese Weise liefert uns das Internet eine interessante Kombination aus kapitalistischer Hardware und kommunistischer Software. Hunderte von Millionen sogenannter «Contentproduzenten» stellen ihre Inhalte ins Internet, ohne irgendeine Kompensation dafür zu bekommen, wobei diese Inhalte weniger durch eine intellektuelle Arbeit der Entwicklung von Ideen, sondern vielmehr durch die manuelle Arbeit der Bedienung des Keyboards produziert werden. Und die Profite werden von den Konzernen angeeignet, welche die materiellen Mittel der virtuellen Produktion kontrollieren. 1

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Siehe dazu: Jaron Lanier: You Are Not a Gadget: A Manifesto. New York: Alfred A. Knopf, 2010.


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Der entscheidende Schritt hin zur Proletarisierung und Ausbeutung der intellektuellen und künstlerischen Arbeit kam sicherlich mit Google. Googles Suchmaschine arbeitet mit der Fragmentierung individueller Texte zu einer undifferenzierten Masse verbalen Mülls: Jeder individuelle Text, traditionell zusammengehalten durch die Intention seines Autors, wird aufgelöst, anschliessend werden einzelne Sätze herausgelöst und mit anderen flottierenden Sätzen rekombiniert, die angeblich zum gleichen «Thema» gehören. Sicherlich war die einigende Kraft der auktorialen Intention bereits von der jüngeren Philosophie unterminiert worden, vor allem von Jacques Derridas Dekonstruktion. Und in der Tat vollzog diese Dekonstruktion bereits eine symbolische Konfiszierung und Kollektivierung individueller Texte, indem sie diese der auktorialen Kontrolle entzog und der bodenlosen Mülltonne der anonymen, subjektlosen «Schrift» übergab. Es war eine Geste, die anfangs emanzipatorisch erschien, da sie irgendwie mit den kommunistischen, kollektivistischen Träumen synchron zu sein schien. Wenn nun aber Google das gleiche dekonstruktivistische Programm der Kollektivierung des Schreibens realisiert, scheint es wenig anderes zu tun. Allerdings gibt es einen Unterschied zwischen Dekonstruktion und Googeln: Die Dekon­ struktion wurde von Derrida in rein «idealistischen» Begriffen gedacht, als eine unendliche und daher unkontrollierbare Praxis, während Googles Suchalgorithmen nicht unendlich, sondern endlich und materiell – und der Aneignung, Kontrolle und Manipulation durch Staaten und Konzerne unterworfen sind. Die Aufhebung der auktorialen, intentionalen, ideologischen Kontrolle über das Schreiben hat nicht zu dessen Befreiung geführt. Ganz im Gegenteil wurde das Schreiben im Kontext des Internets einer anderen Art von Kontrolle durch Hardware und unternehmenseigene Software unterworfen, durch die materiellen Bedingungen der Produktion und der Distribution der Schrift. Anders gesagt: Durch die völlige Eliminierung der Möglichkeit künstlerischer, kultureller Arbeit als auktorialer, nichtentfremdeter Arbeit vollendet das Internet den Prozess der Arbeit, der im neunzehnten Jahrhundert begonnen hatte. Der Künstler wird hier zu einem entfremdeten Arbeiter, der sich durch nichts von jedem anderen Arbeiter in den zeitgenössischen Produktionsprozessen unterscheidet. Dann aber stellt sich folgende Frage: Was geschah mit dem Körper des Künstlers, als die Arbeit der Kunstproduktion zu entfremdeter Arbeit wurde? Die Antwort ist einfach: Der Körper des Künstlers wurde selbst zu einem Readymade. Michel Foucault hat unsere Aufmerksamkeit bereits auf die Tatsache gelenkt, dass entfremdete Arbeit zusammen mit den industriellen Produkten auch den Körper des Arbeiters erzeugt; der Körper des Arbeiters wird diszipliniert und zugleich von aussen überwacht, ein Phänomen, das von Foucault als «Panoptismus» charakterisiert wurde2. Daraus folgt, dass die entfremdete industrielle Arbeit nicht allein unter dem Aspekt ihrer äusserlichen Produktivität verstanden werden kann – es muss unbedingt berücksichtigt werden, dass diese Arbeit auch den Körper des Arbeiters als einen zuverlässigen Apparat, als ein «verdinglichtes» Instrument entfremdeter, industrialisierter Arbeit produziert. Und dies kann sogar als die grösste Errungenschaft der Moderne gesehen werden, denn diese modernisierten Körper bevölkern inzwischen die zeitgenössischen bürokratischen, administrativen und kulturellen Räume, in denen ganz offensichtlich nichts Materielles produziert wird ausser diesen Körpern selbst. Man kann nun sagen, dass es genau dieser modernisierte, aktualisierte Arbeiterkörper ist, den die zeitgenössische Kunst als Readymade benutzt. Allerdings braucht der zeitgenössische Künstler keine Fabrik und kein Büro zu betreten, um einen solchen Körper zu suchen. Unter den heutigen Bedingungen entfremdeter künstlerischer Arbeit findet der Künstler einen solchen Körper bereits in Form seines eigenen vor. In der Tat wurde in den vergangenen Dekaden der Körper des Künstlers in der Performancekunst, in der Videokunst, in der Fotografie und anderen Kunstformen mehr und mehr zum Fokus der Kunst. Und man kann sagen, dass der Künstler heute zunehmend mit der Exposition seines eigenen Körpers als eines Arbeiterkörpers experimentiert – unter dem Blick eines Betrachters oder einer Kamera, die den panoptischen Blick reproduziert, dem die Arbeiterkörper in Fabriken und Büros ausgesetzt sind. Ein Beispiel für die Exposition eines solchen Arbeiterkörpers findet sich in der Ausstellung «Die Künstlerin ist anwesend» von Marina Abramovic im New Yorker MoMA von 2010: An jedem Tag der Ausstellung sass Abramovic während der Öffnungszeiten des Museums in der immer gleichen Pose im Innenhof des MoMA. Auf diese Weise bildete sie die Situation eines Büroarbeiters nach, dessen primäre Beschäftigung darin besteht, den ganzen Tag lang auf dem gleichen Platz zu sitzen und dabei von seinen Vorgesetzten beobachtet zu wer2

Siehe dazu: Michel Foucault: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1994.

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Literarischer Essay Schweizer Monat 995 April 2012

den, egal, was darüber hinaus getan wird. Wir können sagen, dass die Performance von Abramovic Foucaults Figur der Produktion des Arbeiterkörpers als den wichtigsten Effekt der modernisierten, entfremdeten Arbeit perfekt illustriert. Eben weil sie während der Zeit ihrer Anwesenheit keinerlei Tätigkeit aktiv nachging, thematisierte Abramovic die unglaubliche Disziplin und Ausdauer sowie die physische Anstrengung, derer es bedarf, um vom Beginn bis zum Ende des Arbeitstages einfach nur an einem Arbeitsplatz anwesend zu sein. Gleichzeitig war der Körper von Abramovic denselben Bedingungen der Exposition unterworfen wie alle anderen Kunstwerke des MoMA – die während der Öffnungszeiten des Museums an den Wänden hingen oder auf ihrem Platz standen. Und genau wie wir allgemein annehmen, dass diese Gemälde oder Skulpturen weder ihre Plätze tauschen noch verschwinden, wenn sie nicht dem Blick des Betrachters ausgesetzt sind oder wenn das Museum geschlossen ist, stellen wir uns auch vor, dass der immobilisierte Körper von Abramovic für immer im Museum bleiben wird, genauso unsterblich geworden wie die anderen Werke im Museum. Im Moment seiner Ausstellung enthüllt dieser Arbeiterkörper auch den Wert der Arbeit, die in den Kunstinstitutionen akkumuliert ist (Mittelalterhistoriker wie Ernst Kantorowicz sprechen hier von «Korporationen»). Wenn wir ein Museum besuchen, bemerken wir nicht den Arbeitsaufwand, der notwendig ist, damit Gemälde an den Wänden hängen und Statuen auf ihren Plätzen stehen bleiben. Doch dieser Aufwand wird unmittelbar sichtbar, wenn ein Besucher mit dem Körper von Abramovic konfrontiert wird; die unsichtbare physische Anstrengung, einen menschlichen Körper für eine lange Zeit in derselben Position zu halten, produziert ein «Ding» – ein Readymade –, das die Aufmerksamkeit der Besucher auf sich zieht und ihnen erlaubt, den Körper von Abramovic stundenlang zu betrachten. Man meint oft, dass nur die Arbeiterkörper der zeitgenössischen Celebrities dem öffentlichen Blick ausgesetzt seien. Allerdings dokumentieren inzwischen die durchschnittlichsten, «normalsten» Leute ihre eigenen Arbeiterkörper mittels Photographie, Video, Websites und so weiter. Vor allem aber ist das heutige Leben nicht nur institutioneller Überwachung, sondern auch einer konstant wachsenden Sphäre der Medienberichterstattung ausgesetzt. Unzählige Sitcoms, die weltweit die Fernsehbildschirme überschwemmen, stellen vor unseren Augen die Arbeiterkörper von Ärzten, Bauern, Fischern, Präsidenten, Filmstars, Fabrikarbeitern, Mafiakillern, Bestattern und sogar Zombies und Vampiren aus. Eben diese Allgegenwärtigkeit und Universalität des Arbeiterkörpers und seine Repräsentation machen ihn so interessant für die Kunst. Auch wenn die primären, natürlichen Körper unserer Zeitgenossen sich voneinander unterscheiden, sind ihre zweiten Körper, die Arbeiterkörper, austauschbar. Gerade diese Austauschbarkeit verbindet den Künstler mit seinem Publikum. Der Künstler teilt heute die Kunst mit dem Publikum genau so, wie er früher die Religion oder die Politik mit ihm teilte. Ein Künstler zu sein ist kein exklusives Schicksal mehr; vielmehr ist es charakteristisch geworden für die Gesellschaft als ganze auf ihrer intimsten, alltäglichsten, körperlichsten Ebene. Und hier findet der Künstler eine weitere Gelegenheit, einen universalistischen Anspruch aufzustellen – als eine Einsicht in die Duplizität und Ambiguität der zwei Körper des Künstlers. �

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nacht des monats Schweizer Monat 995 April 2012

Nacht des Monats Michael Wiederstein trifft Stephan Bader

D

ie Zündtemperatur von Holz liegt – je nach Holz – zwischen 270 und 350 Grad Celsius. Wie stark aber muss man ein mittelalterliches Stadttor erhitzen, damit es in Flammen aufgeht? Einmal im Jahr beschäftigen sich die Liestaler mit ihrem eigenen, ganz grossen Chemiebaukasten – und proben den Stadtbrand mit einem feurigen Fasnachtsfest. Bereits am frühen Abend versammeln sich tausende Schaulustige auf dem Wasserturmplatz, um dem Spektakel beizuwohnen. Neben mir steht Stephan Bader. Der junge Mann mit den wuseldunklen Locken ist mit einigen Freunden aus Berlin angereist. Seine Kollegen haben tatsächlich ein Bierfass mitgebracht und versorgen in diesem Moment die Schaulustigen mit der Starkbier-Braukunst aus dem Norden. Stephan Bader stammt aus dem benachbarten Lausen. 2003 wäre er als Kandidat der Grünen einmal fast der jüngste Landrat des Kantons Baselland geworden – nur ein Platz fehlte. Hätte es geklappt, wäre er aber wohl nie auf die Idee gekommen, einen Bioladen «Davon können sich in Berlin zu übernehmen. «Das war zeitweise meine die 1.-Mai-Demonstranten optimistisch-grüne Grossin Kreuzberg eine Scheibe stadt-Utopie», sagt er – sie abschneiden.» scheiterte, nach Berlin ging er aber trotzdem. Neu in der Stadt, ohne Job und nun auch ohne Utopie, kam der Schweizer an einer Bar mit einem älteren Herrn vom Goethe-Institut ins Gespräch. Man redete über dies und das – kurz darauf leitete Stephan ein Hotel, das Hotel des älteren Herrn. «Für ihn war ‹Schweizer› gleich solide. Vor allem in Zeiten der dauerhaften Finanzkrise», sagt Stephan. «Plötzlich meinte er, ich solle doch seinen Betrieb führen – ich, der frischgebackene Bachelor in Soziologie und Politik. Und ich war einfach zu neugierig, um das nicht zu machen.» Der Lausener managt seit nunmehr bald drei Jahren die Geschicke des Art-Hotels Charlottenburger Hof. Und die Freunde, die er heute zum Fest in Liestal mitgebracht hat, sind seine Angestellten. Darauf noch ein fränkisches Starkbier – die Berliner prosten sich zu. Dann schalten die Liestaler das Licht aus. Es ist stockdunkel in den Gassen, die Menge quittiert mit einem vorfreudigen Raunen. 80

Das nun folgende Winteraustreiben haben die Liestaler «Chienbäse» getauft. Am Abend des Fasnachtssonntags werden aus Föhrenscheiten (ich habe nachgeschaut: entflammen bei ca. 270 Grad Celsius) gebundene, brennende «Besen» durch die Altstadt getragen. Keine zwei Meter von uns entfernt kommen sie den Berg hinunter, die schwersten Exemplare wiegen bis zu 100 Kilogramm. «Das Gefälle vermisse ich in Berlin manchmal», sagt Stephan und schaut dann rasch wieder den schwitzenden, verrussten Feuerträgern zu, wie sie einen Teppich aus glimmender Holzkohle auf dem Pflaster hinterlassen. Als einige Dutzend Träger an uns vorbei und – der optische Höhepunkt – durchs Stadttor gewandert sind, flackert weiter oben ein feurig gelber Schein an den Hauswänden. Ein dunkles Rumoren in der bisher andächtig schauenden Menge. Schon sehen wir einen gigantischen Flammenberg um die Kurve kommen. Funken fliegen, Anwohner verschliessen eilig ihre Fenster. Ein Balrog! Tatsächlich kommt kein Feuerdämon vom Berg herab, sondern ein metallener Karren, mit Tonnen brennender Föhrenscheite belegt, ein rollendes, haushohes Inferno. Der knisternde Wagen wird langsam von sechs starken Männern gezogen – oder eher: gebremst. «Es wird gleich heiss!», sagt Stephan. Und tatsächlich: direkt vor uns halten die Männer den Wagen an, um sich von der Feuerwehr mit kühlendem Wasser benetzen zu lassen. Die Flammen schlagen in den Nachthimmel, schützend wenden wir uns ab, halten die Hände vor das Gesicht. Eine gefühlte Ewigkeit brennt es vor uns, neben uns – und auf unserer Kopfhaut. So fühlt es sich zumindest an. Dann ein Ruck, das brüllende Ungeheuer setzt sich wieder in Bewegung, wird von der Zugluft auf dem Platz noch einmal kräftig angefacht und macht dann seinen Weg durch das alte Stadttor. «Wenn es einen Grund gibt, aus Berlin nach Liestal zu kommen», sagt Stephan, der nun etwas Russ im Gesicht hat, «dann dieser Anblick. Davon können sich die 1.-Mai-Demonstranten in Kreuzberg eine Scheibe abschneiden.» Nach vier weiteren Wagen, die durch das Tor rasen, ist das Treiben vorbei. Liestals Wahrzeichen bleibt für einmal stehen. Applaus. Krei­ schende Kinder. Lachen. Wir schlendern durch die Gassen und die Fasnachtsgesellschaften, über glimmende Kohlereste und Konfetti. Am Stadtrand kommt uns eine erste Kehrmaschine entgegen. Und um 8.35 Uhr geht für Stephan der Zug zurück in die Ruhe Berlins.�


Stephan Bader, photographiert von Michael Wiederstein.

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Ausblick Schweizer Monat 995 April 2012

Impressum «Schweizer Monat», Nr. 995 92. Jahr, Ausgabe April 2012 ISSN 0036-7400

Im nächsten «Schweizer Monat»

Die Zeitschrift wurde 1921 als «Schweizerische Monatshefte» gegründet und erschien ab 1931 als «Schweizer Monatshefte». Seit 2011 heisst sie «Schweizer Monat». VERLAG SMH Verlag AG HERAUSGEBER & CHEFREDAKTOR René Scheu rene.scheu@schweizermonat.ch RESSORT POLITIK & WIRTSCHAFT Florian Rittmeyer florian.rittmeyer@schweizermonat.ch RESSORT KULTUR Michael Wiederstein michael.wiederstein@schweizermonat.ch STAGE Sabina Galbiati DOSSIER Jede Ausgabe enthält einen eigenen Themenschwerpunkt, den wir zusammen mit einem Partner lancieren. Wir leisten die unabhängige redaktionelle Aufbereitung des Themas. Der Dossierpartner ermöglicht uns durch seine Unterstützung dessen Realisierung.

Der Pate Viktor Giacobbo im Gespräch

Zwischen den Welten Komponistin Rahel Senn über Drachen und Walzer

Frauen und Männer Psychologe Roy Baumeister über neue Erkenntnisse zur Willenskraft

Der Student als Unternehmer Nobelpreisträger Gary Becker über Investitionen ins Ich

Literarischer Monat #06 Die Orientierungslosen 25+ Newcomer Matthias Nawrat über die Multioptionsgesellschaft

Abflug! Reynald Freudigers «La ville pour horizon»

KORREKTORAT Roger Gaston Sutter Der «Schweizer Monat» folgt den Vorschlägen zur Rechtschreibung der Schweizer Orthographischen Konferenz (SOK), www.sok.ch. GESTALTUNG & PRODUKTION Pascal Zgraggen pascal.zgraggen@aformat.ch MARKETING & VERKAUF Urs Arnold urs.arnold@schweizermonat.ch ADMINISTRATION/LESERSERVICE Anneliese Klingler (Leitung) anneliese.klingler@schweizermonat.ch Rita Winiger rita.winiger@schweizermonat.ch FREUNDESKREIS Franz Albers, Georges Bindschedler, Elisabeth Buhofer, Peter Forstmoser, Titus Gebel, Annelies Haecki-Buhofer, Manfred Halter, Creed Künzle, Fredy Lienhard, Heinz Müller-Merz, Daniel Model, Ullin Streiff ADRESSE «Schweizer Monat» SMH Verlag AG Vogelsangstrasse 52 8006 Zürich +41 (0)44 361 26 06 www.schweizermonat.ch ANZEIGEN anzeigen@schweizermonat.ch PREISE Jahresabo Fr. 165.– / Euro 118.– 2-Jahres-Abo Fr. 297.– / Euro 212.– Abo auf Lebenszeit / auf Anfrage Einzelheft Fr. 19.50 / Euro 16.50.– Studenten und Auszubildende erhalten 50% Ermässigung auf das Jahresabonnement. DRUCK pmc Print Media Corporation, Oetwil am See www.pmcoetwil.ch BESTELLUNGEN www.schweizermonat.ch

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