996 (Mai 2012)

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Dossier Investiere in dich! Studenten als Unternehmer ihrer selbst

Ausgabe 996 Mai 2012 CHF 19.50 / Euro 16.50

D i e Au t o r e n z e i t s c h r i f t f ü r P o l i t i k , W i r t s c h a f t u n d K u lt u r

Kühe fressen keinen Beton Eine Schweizer Pianistin in Singapur: Rahel Senn über den Takt der neuen Welt

Bankgeheimnis! Datenschützer Hanspeter Thür sagt, was sich andere nicht mehr trauen

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Macht’s wie Federer

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Nobelpreisträger Gary S. Becker über die Mehrung des Humankapitals

Kultursubventionen?

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Viktor Giacobbo und Philipp Meier glauben: Weniger ist mehr!


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Schweizer Monat 996  Mai 2012  Editorial

Editorial

H René Scheu Herausgeber

anspeter Thür, Eidgenössischer Datenschutzbeauftragter seit 2001, ruft aus: «Am Ende muss der Datenschützer das Bankgeheimnis gegen die Banken verteidigen!» Für die Linken hört der Schutz der Privatsphäre auf, wo es ums Portemonnaie geht. Und die Bürgerlichen, für die der Datenschutz eigentlich beim Portemonnaie beginnt, geben neuerdings klein bei. Der Zeitgeist ist ein opportunis­ tisches Wesen. Hanspeter Thür jedoch bleibt standhaft. Und er warnt: Westli­ che Demokratien entwickeln sich zu totalen Staaten. Der Staat darf alles – und die Bürger stehen unter Generalverdacht. Mehr im grossen Gespräch ab S. 14.

Rahel Senn ist ein Ausnahmetalent. Die junge Pianistin und Komponistin hat Wurzeln in der Schweiz und in Singapur, vor einem Dreivierteljahr ist sie in den asiatischen Stadtstaat gezogen. Als wir ihren Essay zur Ungleichzeitigkeit der Globalisierungen in den Händen hielten, war rasch klar: Diese Frau spricht aus, was man über das Vorzeigeprojekt Singapur derzeit nur selten hört. Ab S. 74 berichtet sie von städteplanerischen Utopien, kulturellen Idealisten – und von einer Kopie des Matterhorns aus Styropor. Rahel Senn hat ihr universitäres Diplom in der Tasche und ist international erfolg­ reich. Das Studium ist aber keine Garantie für Erfolg, sondern blosse Chance – also eine Investition. Eine Investition auch in das eigene Humankapital, die wichtigste persönliche Ressource. Sind die heutigen Studenten schon echte Unternehmer ihrer selbst? Mehr von Nobelpreisträger Gary S. Becker, Mathias Bins-

wanger, Reiner Eichenberger, Greta Patzke, Birger Priddat und Georg von Krogh im Dossier ab S. 37.

Neue Ideen zum belasteten Verhältnis zwischen der Schweiz und den USA finden Sie ab S. 22 von den Amerikanern Daniel J. Mitchell und Brian Garst; mehr zum schwierigen Umgang von Mann und Frau ab S. 28 von Roy Baumeister und Walter Hollstein; mehr zum erstaunlichen Auftrieb sozialistischer Initia­ tiven in der Schweiz ab S. 35 von Andrea Caroni; mehr zum Halbwissens­ projekt Wikipedia ab S. 25 von René Zeyer und mehr zum neuen helvetischen Kulturkampf von Viktor Giacobbo und Philipp Meier ab S. 68. PS: Die Studenten von heute sind die Magazinleser von morgen. Deshalb lancieren wir zusammen mit unserem Studentendossier ab dem 1. Mai 2012 das Online-Abonne­ ment des «Schweizer Monats». Bestehende Magazin-Abonnenten erhalten kosten­ losen Zugriff auf das neue E-Paper. Registrieren Sie sich auf www.schweizermonat.ch!

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Inhalt  Schweizer Monat 996  Mai 2012

Inhalt

Anstossen

Vertiefen

7 Die Reichen, der Homo oeconomicus und wir Almosenempfänger René Scheu

37 Investiere in dich! Studenten als Unternehmer ihrer selbst

8 Ein bisschen Eigentum… Christian P. Hoffmann

44 Investiere in dich! Florian Rittmeyer spricht mit Gary S. Becker

9 Zu schön, um dazubleiben Xenia Tchoumitcheva

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52 Ich studiere, also will ich Greta Patzke

Selbstopfer Wolfgang Sofsky

40 Wozu eigentlich studieren? Birger P. Priddat

Investiert in alle! Reiner Eichenberger und Anna Maria Koukal

12 Wie der Nationalfonds Max Frisch entlarvt Andreas Kley

56 Einzelkämpfer bringen es nicht weit Florian Rittmeyer trifft Georg von Krogh

13 Das Finanzloch Andreas Thiel

59 Tonnenideologien im Bildungswesen Mathias Binswanger

Weiterdenken

Erzählen

14 Einer gegen alle René Scheu trifft Hanspeter Thür

62 Amazonen Claudia Mäder

22 Keine Angst vor Uncle Sam Daniel J. Mitchell und Brian Garst

63 Bildessay: Amazonen Giorgo von Arb

25 Wissen = Wikipedia? René Zeyer

68 Kulturrevolutiönli Michael Wiederstein trifft Viktor Giacobbo

28 Willenskraft als Muskel Claudia Mäder trifft Roy Baumeister

73 Nehmt ihnen die Kunst weg! Philipp Meier

32 Die Männerfrage Walter Hollstein

74 Wenn Drachen Walzer tanzen Rahel Senn

35 Schlaraffenland? Andrea Caroni

80 Nacht des Monats mit Manon Pfrunder Michael Wiederstein

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Schweizer Monat 996  Mai 2012  Inhalt

14 Staaten wie die USA und Grossbritannien, die die Schweiz unter Druck setzen, betreiben die wichtigsten Offshore-Plätze der Welt. Diese Doppelmoral ist inakzeptabel. Hanspeter Thür

Wer auf alles und jedes eine passende Antwort hat, ist kein Genie, sondern ein Sektierer. Viktor Giacobbo auf Seite

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Die Natur sagt uns: Los, iss, iss, iss! Diesen Ruf müssen wir mit unserem Willen übersteuern. Roy Baumeister auf Seite

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Unsere Idee: Jeder Einwohner erhält bei Erreichen der Volljährigkeit ein Bildungskapital, mit dem er seinen weiteren Bildungsweg nach Matur, Lehrabschluss oder auch Schulabbruch individuell gestalten kann. Reiner Eichenberger und Anna Maria Koukal auf Seite

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52 Studierende, die um ihr Humankapital wissen und sich als aktive «Selbstunternehmer» auffassen, schätzen ihr Umfeld und die damit verbundenen Risiken genau ein. Greta Patzke Titelbild: Photo by boncafe.com. Rahel Senn is spokesperson for Boncafe International.

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Schweizer Monat 996 mai 2012  Notizbuch

Ohne Scheuklappen

Die Reichen, der Homo oeconomicus und wir Almosenempfänger

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ie Reichen. Eine unscheinbare Wendung ist mit voller Wucht zurück. Bürger, Medienleute und Politiker, die nicht klassenkämpferisch veranlagt sind, sondern bloss den Zeichen der Zeit folgen, arbeiten an der Konstruktion eines neuen diskursiven Feindbildes. Man beachte die Verwendung des bestimmten Artikels. Es ist nicht die Rede von Leuten, die mehr oder weniger leisten, besser oder schlechter verdienen, mehr oder weniger besitzen. Es ist die Rede von DEN Reichen. Was sie tun, wer sie sind und was sie bewegt, interessiert nicht; von Interesse ist bloss, dass sie haben. DIE Reichen bilden eine eigene homo­ gene Gruppe, eine eigene Klasse. Und die Logik des Diskurses geht so: Diese Klasse hat sich vom Rest der Gesellschaft verabschiedet. Darum muss sie sich auch nicht wundern, wenn sich nun der Rest der Gesellschaft von ihr verabschiedet. DIE Reichen haben ande­ ren genommen. Darum ist es an der Zeit, DEN Reichen zu nehmen. – Der neue gesellschaftliche Diskurs formiert sich in den Massen­ medien mit grosser Unbekümmertheit. Wenn von DEN Reichen die Rede ist, schwingt stets der Ton sozialer Ächtung mit. Kaum mehr jemand bezeichnet sich deshalb freiwillig selbst als reich. DIE Reichen sind stets die anderen. So kann sich die diskursive Formation ungehindert immer weiter etablieren. Am Ende müs­ sen Leute, die viel geschuftet, geleistet oder einfach Glück gehabt haben, sich ungeachtet ihrer unterschiedlichen Interessen, Hal­ tungen und Schicksale tatsächlich zu einer Gruppe bekennen – als bedrohte Minderheit. Der Homo oeconomicus, an den kein einziger seriöser Ökonom und Unternehmer jemals geglaubt hat, ist zur Leitfigur staatli­ chen Handelns geworden. Die Grundidee: der Mensch ist ein an­ reizgetriebenes Wesen. Bekommt er mehr Geld, arbeitet er mehr. Bekommt er weniger Geld, arbeitet er weniger. Also braucht man bloss die Anreize für die Manager so zu setzen, dass ihr Nutzen mit jenem der Firma zusammenfällt, und alle profitieren. Wie wir mittlerweile wissen, funktioniert dieses simple mechanisti­ sche Denken nicht. Der Mensch, der nie ein solch simpler Homo oeconomicus war, hat sich jedoch derweil an die neuen Anreize gewöhnt und reagiert auf sie. Darum schlägt nun auch der Bund vor, widerspenstige Asylbewerber mit einem kleinen Bonus zu ihrem Glück zu zwingen. Abgewiesene Asylbewerber erhalten

René Scheu Herausgeber und Chefredaktor

künftig 500 Franken Prämie, wenn sie sich ihrer rechtmässigen Ausschaffung nicht widersetzen. Der Kanton Genf will verur­ teilte Kleinkriminelle gar mit einem Bonus von 4000 Franken dazu anstiften, freiwillig in ihr Herkunftsland zurückzukehren. Die Asylbewerber werden ihre Vergütungen maximieren. Sie werden ihre Verwandten schicken. Es wird (noch mehr) Leute geben, die mit Einreisehilfen Geschäfte machen. Die anreizge­ triebenen Asylbewerber werden also den Staat an der Nase her­ umführen. Aber das soll man ihnen bitte schön nicht zum Vor­ wurf machen. Sie handeln so, wie es sich der Staat wünscht: als Homo oeconomicus. Nun wurde also in der Schweiz endlich die Initiative lanciert, die ein bedingungsloses Grundeinkommen fordert. Auch hier treffen wir auf das Menschenmodell des Homo oeconomicus: Gib uns Geld, und wir werden uns entfalten können. Die Idee ist welt­ fremd, verdient jedoch Beachtung. Weltfremd ist sie nicht deshalb, weil sie unfinanzierbar wäre. Weltfremd ist sie vielmehr, weil die Initianten fordern, was längst verwirklicht ist. Wer in einem mit­ teleuropäischen Wohlfahrtsstaat lebt, verfügt heute dank ausge­ bauter sozialstaatlicher Leistungen über ein implizites Grundein­ kommen (auch wenn es an einige Bedingungen geknüpft ist). Die Konstellation ist interessant. Reformfreudige Menschen sollten ernsthaft über diese Idee nachdenken: Jeder Bürger erhält 2500 Franken im Monat, und im Gegenzug wird der Sozialstaat abge­ schafft. Allerdings bleiben ernsthafte anthropologische Zweifel. Philosoph Peter Sloterdijk nennt die Idee eines bedingungslosen Grundeinkommens trotz bester moralischer Intentionen deshalb «ein Attentat auf den Menschen», insofern der Mensch es ver­ diene, «als ein reiches Geschöpf, als ein Freiheitswesen und als ein Selbsthelfer verstanden zu werden». Der Mensch als Almosen­ empfänger? Das bekommt ihm nicht gut. In Zukunft nicht. Und auch heute schon nicht. � 7


KOLUMNE  Schweizer Monat 996  Mai 2012

Freie Sicht

Ein bisschen Eigentum...

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OPA (Stop Online Piracy Act), PIPA (Program on Internatio­ nal Policy Attitudes), ACTA (Anti-Counterfeiting Trade Agreement). Selten haben Akronyme die Gemüter junger Menschen so sehr erhitzt wie in den vergangenen Wochen. Sie treiben tausende Bürger auf die Strasse, führen zu einem Blackout von Internetinstitutionen wie Google und Wikipedia und spülen Politpiraten in deutsche Landesparlamente. Ziemlich genau zur gleichen Zeit findet in der Schweiz eine Abstimmung über die Beschränkung des Zweitwohnungsbaus auf 20 Prozent der lokalen Bausubstanz statt. Mit grosser Mehrheit untersagen die Talkantone und vor allem die Grossstädte den Bergkantonen, den Zweitwohnungsbau nach eigenem Ermessen voranzutreiben. Ferienchalets und Urheberrecht – was haben diese Streitpunkte gemein? Beide Fälle drehen sich letztlich um dasselbe Politikum: den willkürlichen Eingriff in das Recht auf physisches Eigentum. Sicher, das Recht eines Menschen an sich selbst sowie an den Früchten seiner Arbeit ist breit akzeptiert. In Wissenschaft und Gesellschaft ist auch Ferienchalet und Urheberkaum umstritten, dass sichere recht – was haben diese Eigentumsrechte die Grund­ Streitpunkte gemein? lage für Investition, Tausch und wirtschaftlichen Aufstieg darstellen. Der Internationale Index der Eigentumsrechte zeigt anhand empirischer Daten auf, wie jene Staaten einen drastischen Wohlfahrtsverlust erleiden, die das physische Eigentum ihrer Bürger relativieren und dadurch entwerten. Alles schön und gut. Doch betrachten wir das eidgenössische Zweitwohnungsverbot. Der Bewohner eines populären Winter­ sportortes ist glücklicher Eigentümer eines Grundstücks. Der Wert seines Eigentums steigt, je grösser die Nachfrage möglicher Nutzer nach Grund und Boden ist. Schliesst der Staat jedoch ein­ zelne Nutzungsmöglichkeiten aus – wie den Bau von Ferienwoh­ nungen –, so geht dieser Teil der Nachfrage verloren. Das Grund­ stück erleidet einen Wertverlust, der Bewohner wird – zumindest teilweise – enteignet. Die Bauplanung ist bloss ein besonders auffälliges Beispiel für die staatliche Entwertung von physischem Eigentum. Tatsache ist: 8

Christian P. Hoffmann ist Assistenzprofessor für Kommunikationsmanagement an der Universität St. Gallen und Forschungs­leiter am Liberalen Institut.

Jedes Verbot oder jede gesetzliche Einschränkung einer Nutzung beschränkt das mögliche Einsatzspektrum physischen Eigentums, reduziert damit die Nachfrage und führt damit zwangsläufig zu einer Entwertung. Gelegentlich sind solche Verbote notwendig, um Übergriffe auf das Eigentum Dritter zu vermeiden. Doch wes­ sen Eigentumsrecht wird verletzt, wenn ein Grundbesitzer auf sei­ nem Land ein Feriendomizil errichtet? Womit wir schliesslich wieder bei SOPA, PIPA & Co. gelandet wären. Unter der irreführenden Bezeichnung «geistiges Eigen­ tum» will der Staat Ideen und Informationen urheberrechtlich schützen. Doch die Privilegierung eines Urhebers schränkt alle anderen Bürger in der Nutzung ihres physischen Eigentums ein. Wenn der Eigner technischer Gerätschaften bestimmte Produkte, Schriften oder Töne nicht mehr erzeugen darf, weil der Staat die zugrunde liegenden Ideen einem anderen Bürger zuschreibt, wer­ den diese Gerätschaften entsprechend entwertet. Doch was wird einem Urheber genommen, wenn ein anderer dessen Idee auf­ greift und weiterbearbeitet? Durch Ideologie und Klientelismus getrieben, verteilt die Politik heute grosszügig Nutzungsverbote und -einschränkungen, ohne dass diese für den Schutz der Bürgerrechte tatsächlich notwendig wären. Im Falle des Zweitwohnungsbaus ist dies offensichtlich, während derselbe Zusammenhang bei der Verteilung urheber­ rechtlicher Privilegien gerne übersehen wird. Ein übertriebenes Urheberrecht beschränkt unzählige Bürger in der Entfaltung ihrer kreativen und innovativen Energien – also in der Nutzung ihres physischen Eigentums. Dies entspricht einer nachweisbaren Wert­ vernichtung – und ist letztlich Enteignung. Junge Internetnutzer und aufbegehrende Grundeigentümer – so unterschiedlich sie sind, am Ende wollen beide dasselbe: die autonome Nutzung ihres physischen Eigentums. Ohne willkürliche Einschränkungen. �


Schweizer Monat 996 mai 2012  Kolumne

Kultur leben

Zu schön, um dazubleiben

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ie Bedeutung meines aus dem Griechischen stammenden Vornamens lautet: die Fremde. Und genau das ist es, was ich mein ganzes bisheriges Leben lang war. Was mir an­ fangs Mühe machte, hat sich inzwischen als Vorteil erwiesen, den ich bewusst einsetzen kann. In Italien und in den USA nimmt man mich als Schweizerin wahr, in Grossbritannien und Russland sieht man mich als Italienerin, und in der Schweiz galt ich lange als Russin. Ich kann auf der ganzen Welt arbeiten, ohne mich dort fremd zu fühlen und ohne zu vergessen, wo meine Wurzeln sind. Aus heutiger Sicht hatte ich Glück. Und kann mich fragen: Habe ich bewusst darauf hingearbeitet oder war vieles Zufall? So hat es angefangen. Ich, Russin. Mein Vater ist ein russischer Geschäftsmann, der mit meiner Mutter aus Magnitogorsk, einer Industriestadt im Ural, in die Schweiz zog, als ich sechs war. Auf­ gewachsen bin ich also im selbstzentrierten, so hübsch wie un­ wirklich erscheinenden, aber gleichzeitig ziemlich provinziellen Lugano. Die Neue. Die Russin. Nach wenigen Monaten sprach ich Italienisch, mischte mich un­ ter meine Klassenkameraden und wurde später dann auch Wer immer in seinem Schweizer Staatsbürgerin. gemachten Nest bleibt, Gleichzeitig wuchs ich mit entwickelt sich nicht. Pasta, italienischem Fernse­ hen und regelmässigen Rei­ sen nach Como und Mailand auf – Italien wurde meine dritte kulturelle Heimat. Seine bunte, modische Mentalität, voll von Liebe und Leben, wurde Teil meiner Persönlichkeit. Ich, russisch-italienische Schweizerin. Als Schweizer Staatsbürgerin lernte ich, was kulturelle Vielfalt ist – viel wichtiger noch: Ich lernte mehrere Sprachen in der Schule. Ohne die Mehrsprachigkeit hätte ich all die Termine im Nachzug des «Miss Schweiz»-Contests (darunter Autogrammstun­ den in den Bergen mit Blick auf… Kühe!) kaum überstanden. Im deutschsprachigen Teil der Schweiz, in Zürich, verbesserte ich nicht nur meine Deutschkenntnisse, sondern lernte auch bei einer Investmentbank die Relevanz der Disziplin: Der Einfluss des Pro­ testantismus führt hier zu einer effektiveren Ethik der Arbeit als im vergleichsweise chaotisch anmutenden Süden. Ich, diszipli­ nierte russisch-italienisch-deutsche Schweizerin.

Xenia Tchoumitcheva ist Unternehmerin und Model.

Nun mag das alles schon nach einem schönen Portfolio klingen. Aber ich fühlte: Da ist noch mehr! Denn die Schweiz, so vielfältig sie auch ist, ist immer noch ein vergleichsweise kleines, provinzi­ elles Nest. Trotz der Angst meiner Mutter, dass ihr einziges, kleines Kind im Sauseschritt über die Welt (mit einem riesigen und schwe­ ren Koffer) irgendwo verlorengeht, hatte ich – wie viele Schweizer vor mir – das Gefühl, das zu verpassen, was die grosse Welt aus­ macht: die Metropole! Also reiste ich noch weiter: Model- und Show-Business, Finance und Schauspiel in London und New York. Es folgten Asien und Südamerika. Ich suchte die Zentren, in denen die Möglichkeiten ebenso endlos sind wie der Raum für grosse Träume. Xenia, die… Fremde. In London steht heute mein grösster Kleiderschrank. Von hier aus plane ich mein Leben an den verschiedensten Orten. Je mehr ich reiste, desto mehr fühlte ich mich ihnen allen gleichzeitig zu­ gehörig. Ich lernte: Jede unternommene Reise ist eine neue Mis­ sion, das Stück eines Puzzles, das nichts anderes ist als das eigene, globalisierte Leben. Das ist mein Ziel. Denn wer immer in seinem gemachten Nest bleibt, entwickelt sich nicht. Ich habe trotzdem auch immer noch eine eigene Wohnung in Lugano – gleich neben jener meiner Familie. In der Schweiz habe ich ideale Bedingungen vorgefunden, um mich auf die vielfältige Welt vorzubereiten. Die Schweiz war in der Rückschau das per­ fekte Land, um ein sozusagen postnationales, unabhängiges Dasein zu erlernen. Hier bin ich immer noch, um meine Akkus wieder aufzuladen. Die Sozialisierung in diesem heterogenen Land, wo man einander schon fremd erscheint, wenn man nur den nächsten Berg umfährt, erleichtert mein Leben als Fremde in der Fremde. Mit diesem kulturellen Rüstzeug aber einmal ausgestattet, bietet es sich geradezu an, die Schweiz auch zu verlassen – dahin, wo man das im Kleinen Erlernte im Grossen weiterentwickeln kann! Fortsetzung folgt. � 9


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Bild: KEYSTONE / Students for a Free Tibet via AP Television News


Schweizer Monat 996  Mai 2012  Analyse

Sofskys Welt

Selbstopfer

sich vier US-Bürger aus Protest gegen den Vietnamkrieg in Brand. Nach dem Einmarsch der Warschauer-Pakt-Truppen in die Tschechoslowakei wählten in Warschau und Prag drei Dissidenten den Flammentod. Die öffentliche Selbsttötung eines tunesischen Gemüsehändlers im Dezember 2010 gilt mittlerweile als Zündfunken des Aufstands in Arabien. Stets hat das Selbstopfer dieselbe Bedeutung. Es soll nicht nur starke Gefühle wecken und unübersehbare Zeichen setzen. Es folgt dem Prinzip der Äquivalenz. Die Qual der Selbstverbrennung entspricht der Qual des Unrechts; die Marter des

E

Widerstands spiegelt die Tortur der Unterdrückung. Was sind in Pick-up fährt langsam die Strasse herauf, das Motorrad

Protestrufe, Mahnwachen oder Kerzen gegen die Barbarei

kommt aus der Gegenrichtung. Wenig später folgt ein grüner

der Tyrannis? Nicht Symbole, die Pein des Körpers zählt im Kampf

Pkw, auch er bremst nicht ab. Eine schlanke Passantin wird einen

gegen die Macht. Das Bild vermittelt davon einen blassen

weissen Schal schwenken, das letzte Zeichen für die Sterbende.

Eindruck. Es reizt nur die Anschauung und Imagination, löst

Sie ist noch bei vollem Bewusstsein. Man hört Geschrei und

aber keinen Schmerz aus. Seine Unschärfe bestätigt, dass Bilder

die Rufe der Nonne. Sie fordert die Rückkehr des Dalai-Lama,

nur Objekte des Auges, niemals des Fleisches sind.

des geistlichen Oberhaupts. Sekunden später bricht sie zusammen.

Das Selbstopfer ist kein Selbstmord, es ist ein Akt der Resistenz.

Das Standbild aus dem Videofilm stammt aus dem November

Unter den Formen des Widerstands nimmt die Selbsttötung

2011. Der Film ist das einzige Bilddokument, das von den Selbst-

eine besondere Stellung ein. Wie das Martyrium weist sie die

verbrennungen in Osttibet in Umlauf ist. Sein historischer

Macht in ihre Schranken. Das Opfer entzieht sich der Unterwer-

Wert ist einzigartig. Heimlich wurde der Film gedreht, unter

fung. Das Regime kann es unmöglich zwingen, am Leben zu

Lebensgefahr ausser Landes geschmuggelt und von einer

bleiben und seinen Glauben zu widerrufen. Jeder Befehl prallt

Exilgruppe der Weltöffentlichkeit übergeben. Mittlerweile sind

an ihm ab. Indem es die Freiheit zur Selbstvernichtung nutzt,

Akte des Selbstopfers fast schon Normalität geworden. Trotz der

legt es die Unvollkommenheit der Macht bloss. Tote kann sie nicht

drakonischen Repression durch die chinesische Besatzung wählten

beherrschen. Daher die wütenden Reaktionen der chinesischen

in den letzten Monaten über dreissig Tibeter das Martyrium

Obrigkeit. Der Märtyrer verkörpert die Tapferkeit reiner Duldung.

vollkommener Selbstauslöschung. Von einigen Opfern existiert

Er lässt es geschehen. Wer sich indes selbst verbrennt, gibt sein

nicht einmal ein Passbild zur Erinnerung. Es sind nicht nur

Leben aktiv hin. Er attackiert den Feind, indem er Hand an

junge Mönche, die der Gehirnwäsche in «Umerziehungslagern»

sich legt. Sein Todesmut gleicht der Tapferkeit des Helden. Auch

entgehen wollten, sondern auch Schülerinnen und ältere Bauern.

der Held opfert sein Leben für die Nation, für den Glauben,

Die Nonne Palden Choetso war 35 Jahre alt, als sie Benzin über

für die Freiheit. Mit der Gewissheit des Untergangs hält

ihren Körper goss und sich anzündete.

er aus bis zum letzten Atemzug. In tiefster Verzweiflung

Empfindsame Gemüter mögen die Zumutungen der Wirklichkeit

vollbringt er den höchsten Akt der Moral, die Preisgabe seiner

abwehren wollen und nach Zensur rufen. Doch sollte die Empö­

selbst. Davor sollten auch die Zeitgenossen in postheroischen

rung über das Grässliche nicht dem Dokument gelten, sondern

Gesellschaften die Augen nicht verschliessen. �

der Despotie, gegen die sich der Widerstand richtet. Die Realität zu verleugnen, spielt dem Regime direkt in die Hände. Nichts käme ihm mehr gelegen, als die Protesttaten totzu­ schweigen. In einigen Fällen mussten Demonstranten die verkohlten Körper vor dem Zugriff der Polizei schützen, um sie zum Gedenken hinter die Klostermauern zu bringen. Sich bei lebendigem Leib zu verbrennen, ist keine Erfindung buddhistischer Mönche. Zwischen 1965 und 1970 setzten

Wolfgang Sofsky ist Soziologe und Autor.

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KOLUMNE  Schweizer Monat 996  Mai 2012

Zumutungen von oben

Wie der Nationalfonds Max Frisch entlarvt

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ublikationen aus Bern haben es in sich. Da wäre zum Bei­ spiel das Forschungsmagazin «Horizonte», das vom Schwei­ zerischen Nationalfonds herausgegeben wird und mit einem Skandal aufwartete: Der «Schweizer Nationaldichter» wird des ko­ lonialistischen Denkens überführt (Dezember 2011, Nr. 91, S. 22 f.). Wenn der Schweizerische Nationalfonds könnte, so würde er wohl gerne die schweizerischen «Nationaldichter» ernennen. Da er aber nur Subventionen zu Zwecken der Forschung vergibt, hält er sich vornehm zurück. An seiner statt lässt er dies durch seine Forscher tun. Im besagten Text heisst es, dass nach Jeremias Gott­ helf, Gottfried Keller und Friedrich Dürrenmatt nun Max Frisch im Jubiläumsjahr neu als «Nationaldichter» inthronisiert wurde – womit der Text ihn natürlich selbst inthronisiert hat. «National­ dichter» – was ist denn das? Die Auswahl des Nationalfonds scheint etwas einseitig, es werden da nur deutschsprachige Nationaldichter genannt. Die andern Landesteile sind quantité négligeable und ha­ ben bestenfalls Regionaldichter vorzuweisen, die aber eben nicht unter das Förderprogramm des Nationalfonds fallen. Wenn der Nationalfonds Jetzt liegt Frisch am indirekt «inthronisiert», so postkolonialen Boden, dürfte er kaum uneigennüt­ völlig dekonstruiert. zige Zwecke verfolgen. Je hö­ her der Sockel, desto tiefer der Sturz und desto lauter der Aufprall: Will der Nationalfonds die exorbitanten Resultate seiner Forscher noch grösser machen, indem er Frisch erhöht, so dass die Forschungsleistung in noch grellerem Licht aufscheint? Und nebenbei fällt auch etwas für die Institution ab, die derart grossartige Forschung ermöglicht? Der Nationalfonds verlangt in seinen Forschungsgesuchen die Darlegung der «Methoden, mit denen die Forschungsziele erreicht werden sollen». In den Augen des Nationalfonds ist «die» Methode wie eine Mechanik, die zwingend zum geforderten Forschungser­ folg führt. Nun geht es also darum, wissenschaftlich formuliert, eine «kritischere Auseinandersetzung» mit dem Grossschriftsteller zu führen. Welcher Methode befleissigt sich eine sprachwissen­ schaftliche Arbeit? Das ist das Einfachste der Welt, dafür stehen seit etlichen Jahren einige französische Philosophen wie Derrida, 12

Andreas Kley ist ordentlicher Professor für öffentliches Recht, Verfassungsgeschichte sowie Staats- und Rechtsphilosophie an der Universität Zürich.

Foucault usw. Pate: Es sind die dekonstruktivistischen und postko­ lonialistischen Methoden, die eine neue Deutung von Frisch erlauben. Dabei wird sich, wie es heisst, zwingend zeigen, dass «Frischs Texte (…) oftmals hinter die Kritik zurück(fallen), die sie formulieren». Kurz und gut, Kritiker Frisch wird dekonstruiert, und der Nationalfonds übernimmt die Aufgabe der geistigen Lan­ desverteidigung, die sie zu Frischs Zeit nicht mehr erfüllte. Jetzt wird Frischs Kritik an der Schweiz endlich gerächt. Damit der Sturz auch wirklich weh tut, legt die Frisch-kriti­ sche Forschung die härteste Messlatte an den Grossmeister. Sie bemüht nicht nur die inzwischen etwas abgegriffene Genderfor­ schung, sondern sie deckt den «abwertenden Blick auf aussereu­ ropäische Kulturen» auf, der sich klar in der Schilderung einer Tanzszene in einem Jazzlokal äussert. Über den «Nationaldichter» wird der Rassismusverdacht verhängt, ohne dass das Wort jemals fällt. Und zur Bestätigung wird der andere Grossschriftsteller, nämlich Dürrenmatt, bemüht, der zu Frischs Amerikaberichten gesagt haben soll, das sei «billiges Kino». Jetzt liegt Frisch am post­ kolonialen Boden, völlig dekonstruiert. Um jeden Verdacht des Sockelsturzes von sich zu weisen, lässt der Nationalfonds sagen, mit dieser Forschung wolle man Frisch «nicht vom Sockel stossen». In diesem Fall hilft tatsäch­ lich nur noch Derridas Dekonstruktion: Der Sockelsturz ist kein Sockelsturz! (in Anlehnung an Derridas «Die Konstante ist keine Konstante»). Die Schweizer Schriftsteller müssen sich ab jetzt vor der dekonstruktivistischen Gewalt des Nationalfonds fürch­ ten. Nachdem sie von der Pro Helvetia aufgepäppelt worden sind und Erfolge verbucht haben, kommt der Nationalfonds und lässt sie wieder dekonstruieren und am postkolonialen Boden zer­ schellen. Forschung ist Sensation ist Skandal ist Erfolg. Oder irgendwie so. Hauptsache Dekonstruktion. Also braucht es den Nationalfonds. �


Schweizer Monat 996  Mai 2012  karikatur

von Andreas Thiel

Das Finanzloch # 4

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«Das Bankgeheimnis ist Ausdruck eines fundamentalen Prinzips des helvetischen Rechtsstaates: des Schutzes der Privatsphäre, zu der auch die finanzielle Privatsphäre gehört.» Hanspeter Thür

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Schweizer Monat 996  Mai 2012  grosses Gespräch

Einer gegen alle Er verteidigt das Bankkundengeheimnis. Den automatischen Informationsaustausch nennt er inakzeptabel. Die deutschen Avancen erinnern ihn ans Faustrecht. Und die westlichen Demokratien sieht er auf dem Weg zu totalen Staaten. Der eidgenössische Datenschützer Hanspeter Thür bleibt unbequem. René Scheu trifft Hanspeter Thür

Herr Thür, beginnen wir mit dem Bekenntnis: Steht der Eidgenössische Datenschutzbeauftragte im Jahre 2012 immer noch hinter dem schweizerischen Bankgeheimnis? Ich stehe zu 100 Prozent hinter dem Bankgeheimnis als Schutz der Privatsphäre der Bankkunden. Allerdings muss ich sogleich präzi­ sieren: Genau jene, die das Prinzip in Anspruch nehmen, haben es mit ihrem Geschäftsverhalten ad absurdum geführt. Sie meinen die Banken. Aber wie Sie sagen: Das Bankgeheimnis ist ja eigentlich ein Bankkundengeheimnis. Es schützt die Kunden – unter anderem auch vor deren Banken. Das ist korrekt, und das wird heute viel zu wenig bedacht. Das Bankgeheimnis ist Ausdruck eines fundamentalen Prinzips des helvetischen Rechtsstaates: des Schutzes der Privatsphäre, zu der auch die finanzielle Privatsphäre gehört. Das Bankgeheimnis ist kein Steuerhinterzieher-Geheimnis, auch wenn dies nun viele so darstellen. Daran ändert auch nichts, dass die Banken, die vom Bankgeheimnis profitierten, eben dieses auf den Scheiterhaufen der Geschichte geworfen haben. Sie gehen mit den Banken hart ins Gericht. Wir sprechen hier nicht von Einzelfällen, sondern von einem Ver­ halten mit System. Der Schutz der finanziellen Privatsphäre war und ist kein Freipass dafür, strafbare Handlungen zu begehen im Glauben, dass man dafür nicht belangt werden kann. Wer die Frei­ heit missbraucht, muss sich nicht wundern, wenn er am Ende die Freiheit verliert. Auch hier gilt: Datenschutz ist nicht Täterschutz. Es gehört gerade zur Freiheit, dass man sie missbrauchen kann. Aber vor allem: Politik, Institutionen und Gesellschaft standen in der Schweiz lange Zeit grossmehrheitlich hinter dem Geschäft mit unversteuertem Geld aus dem Ausland. Wer seine Freiheit missbraucht, darf sich nicht wundern, dass er be­ langt wird! Deshalb habe ich dieses Geschäftsmodell auch immer kritisiert. Man braucht aber nicht in den Habitus der moralischen Entrüstung zu verfallen. Man kann ganz nüchtern festhalten: Ein Geschäftsmodell im Zeitalter der Globalisierung darauf aufzu­ bauen, dass man Bürgern hilft, ihre Steuern am Fiskus vorbeizu­ schleusen, ist höchst angreifbar und deshalb naiv. Und es ist umso

Hanspeter Thür ist Rechtsanwalt und seit 2001 Eidgenössischer Datenschutzund Öffentlichkeitsbeauftragter. Von 1987 bis 1999 war er Nationalrat für die Grüne Partei.

trauriger, wenn man dabei zugleich in Kauf nimmt, dass dadurch der eigene Rechtsstaat Schaden nimmt. Viele haben hier kurzfristiges Profitstreben über wichtige geschäftliche und rechtsstaatliche Überzeugungen gestellt. Und zu viele haben hier zu lange zugeschaut. Nun überbieten sie sich darin, den Schutz der finanziellen Privatsphäre klein- und schlechtzureden. Deshalb ist es gerade jetzt wichtig, den Schutz mit Verve zu verteidigen – sonst geht nämlich viel mehr verloren als ein Geschäftsmodell. Ja, klar, nur will das jetzt kaum jemand hören, weil sich die Schwei­ zer Banken selbstverschuldet in einer Abwehrschlacht befinden. Also müssen überzeugte Verteidiger wie Sie eben lauter schreien. Was es jetzt braucht, ist eine offene und transparente Diskussion, im Parlament und in der Öffentlichkeit. Der neuerdings vorge­ brachte Vorschlag, Gruppenanfragen zuzulassen, böte dazu den perfekten Anlass. Sind Gruppenanfragen ein zulässiges Instru­ ment, um den systematischen Missbrauch eines Rechtsschutzes zu verhindern, oder geht dieses Instrument schon zu weit? Diese Diskussion findet nicht wirklich statt. Es dominieren Scheinheiligkeit und das Schielen auf Umfragen und Stimmungen. Die Vertreter der Banken halten sich zurzeit aus verständlichen Gründen lieber zurück, auch wenn sie sich damit keinen Gefallen tun. Die bürgerlichen Politiker, die sich lange kompromisslos hin­ ter die Banken gestellt haben, schweigen aus Scham. Und die Lin­ ken polemisieren, weil das Bankgeheimnis schon lange auf ihrer Abschussliste steht – obwohl sie sich ansonsten für Datenschutz engagieren. So kommen wir nicht weiter. Helfen Sie uns weiter. Sind Gruppenanfragen aus Ihrer Sicht zulässig? Wenn es darum geht, Muster der Steuerumgehung zu erkennen, die den Rechtsschutz des Bankgeheimnisses systematisch miss­ brauchen, habe ich damit im Prinzip kein Problem. Der Teufel liegt 15


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bei solchen Vorlagen natürlich im Detail. Klar ist aber, dass zwei Bedingungen erfüllt sein müssen, damit Gruppenanfragen zuläs­ sig sind. Erstens braucht es ein einheitliches Muster, das den Ver­ dacht auf Steuerdelikt begründet erscheinen lässt. Und zweitens braucht es das Mitwirken der Bank am deliktischen Verhalten. Es darf also nicht willkürlich nach Personen gefahndet werden, und die Gruppenanfragen müssen im rechtsstaatlich sauberen Rah­ men eines Amtshilfeverfahrens abgewickelt werden. Unter diesen Bedingungen wird der Kerngedanke des Schutzes nicht verletzt. Gegen Gruppenanfragen spricht, dass es sich nicht um einen konkreten Verdacht gegen eine klar identifizierbare Person handelt. Das wäre eigentlich Voraussetzung für ein rechtsstaatlich lupenreines Vorgehen. Im Fokus stehen auch bei Gruppenanfragen Personen. Sie werden zwar nicht mit Vor- und Nachname benannt, aber aufgrund eines klar umrissenen Verhaltens eindeutig identifiziert. Wenn wir auf der von Ihnen vertretenen Sicht beharren, drehen wir uns wieder im Kreis – die Schweizer Banken rücken keine Namen raus, und die ausländi­ schen Steuerbehörden verfügen zwar über einen begründeten Ver­ dacht auf Methoden der Steuerumgehung, aber nicht immer über alle die Delinquenten betreffenden Details. Aus meiner Sicht muss hier die Schweiz Hand bieten, wenn sie plausibel die Haltung ver­ treten will, dass es ihr um den Schutz der Privatsphäre, nicht aber um den Schutz deliktischen Verhaltens geht. Solche Verfahren wer­ den im Rahmen eines Amtshilfeverfahrens abgewickelt und erfül­ len somit unsere rechtsstaatlichen Standards, da die Betroffenen auch das Recht haben, Einsprache zu erheben und sich zu verteidigen. Dann müsste die Schweiz aber die Anonymität der Angeschuldigten so lange garantieren, bis deren Schuld nachgewiesen ist. Sonst bezahlen sie einen hohen Preis, um ihr Recht auf Verteidigung wahrzunehmen – die Offenlegung von Namen und Identität. Das wäre wünschbar, ist aber letztlich Verhandlungssache. Nicht verhandeln lässt sich das Recht des Angeschuldigten auf Verteidi­ gung. Ich sage es noch einmal: Es ist höchste Zeit, dass wir in der Schweiz über solche Fragen offen debattieren. EU und USA interessiert diese Debatte nicht wirklich. Sie streben den automatischen Informationsaustausch an. Damit habe ich nun wirklich grosse Mühe. Dem Ziel des Informa­ tionsaustauschs liegt eine Idee zugrunde, die ich nicht akzeptie­ ren kann: Die Steuerbehörden haben automatisch und in jedem Fall das uneingeschränkte Einsichtsrecht in die Bankkonten des Bürgers, weil man ihm unterstellt, ohne vollständige Transparenz würde er Steuern hinterziehen. Wenn der Staat in jedem Bürger einen potentiellen Steuerhinterzieher sieht, dann traut er seinen Bür­ gern nicht mehr. Das wäre eine fatale Entwicklung. Der Bürger steht unter Generalverdacht. An die Stelle der Unschuldsvermutung tritt die Schuldvermutung. Darauf läuft der automatische Informationsaustausch letztlich hin­aus. Natürlich ist es so, dass Bürger immer wieder Versuche un­ 16

ternehmen, den Fiskus zu umgehen. Der Staat sollte hier keine falsche Milde walten lassen, sondern konsequent gegen Steuer­ hinterzieher vorgehen. Zugleich sollte er sich jedoch davor hüten, in jedem Bürger einen potentiellen Gesetzesbrecher zu sehen. Damit bestraft er all jene, die ehrlich sind und ihre Steuern korrekt be­ zahlen. Und vor allem: er sät Misstrauen, das stets neues Miss­ trauen hervorbringt. Die Steuern sind in vielen EU-Ländern auf einem historischen Höchststand – und je höher die Steuern, desto grösser die Bereitschaft, Steuern zu hinterziehen. Staaten haben verschiedene Möglichkeiten, um die Steuerehrlichkeit ihrer Bürger zu erhöhen: Sie können Steuern senken, das System vereinfachen oder ihre Bürger unter Generalverdacht stellen und automatischen Zugriff auf deren Daten fordern. Wie wir gerade sehen, wird letztere Variante verfolgt. Das kann man nicht so pauschal sagen. Schauen Sie: In der Schweiz ist es letztlich das Volk, das über die Höhe der Steuern entscheidet. Für die Mehrheit der Bürger stehen Steueraufkommen und staatli­ che Leistungen in einem akzeptablen Verhältnis, und es ist klar, dass diese Entscheidungshoheit dem Vertrauen zwischen Staat und Bürger förderlich ist. Die Schweiz ist nun aber wohl der einzige Staat der Welt, in dem die Bürger in finanziellen Angelegenheiten über so viel Mitspracherecht verfügen. Andere Staaten gehen anders damit um, und es ist nicht an der Schweiz, sie zu belehren. Was ich sagen will: Ist es aus Bürgersicht nicht rational, Steuern am Fiskus vorbeizuschleusen, wenn eine Steuerquote von insgesamt 50 Prozent und mehr das Sparen und persönliche Vorsorgen verunmöglicht? Es scheint vielleicht kurzfristig rational, aber es ist auf jeden Fall nicht konsequent. Sie können nicht auf der einen Seite von den Wohltaten jenes Staates profitieren, in dem Sie leben, und auf der anderen Seite nicht den Preis dafür bezahlen wollen, den eben dieser Staat festsetzt. Wer die Steuerquote als zu hoch erachtet bzw. mit dem Preis-Leis­ tungs-Verhältnis nicht mehr einverstanden ist, dem bleibt nur die Ab­ stimmung mit den Füssen. Er muss auswandern. Den eigenen Staat zu betrügen und das unversteuerte Geld in die Fluchtburg Schweiz zu bringen – das ist keine Lösung. Und wir als Schweizer sollten uns hüten, die anderen – wir sprechen ja von demokratisch legiti­ mierten Staaten! – moralisch zu belehren und listig zugleich vom unversteuerten Geld eines Teils ihrer Bürger zu profitieren. Das ist für mich eine völlig inakzeptable Haltung. Es wundert mich nicht, dass sie im Ausland auch Widerstand bis Empörung hervorruft. Sie haben einmal gesagt: «Wenn wir so weit sind, dass der Zweck alle Mittel heiligt, ist der liberale Rechtsstaat am Ende.» Nun haben deutsche Steuerbehörden nicht nur CDs mit illegal beschafften Bankkundendaten erworben, sie haben auch Steuerfahnder eingesetzt, die sich Material aus Schweizer Banken beschafften. Das ist aus rechtsstaatlicher Sicht skandalös. Die deutschen Steu­ erfahnder haben gegen schweizerisches und deutsches Recht verstossen und müssen zur Rechenschaft gezogen werden.


Hanspeter Th端r, photographiert von Philipp Baer.

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Hanspeter Th端r, photographiert von Philipp Baer.

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Das wird nicht geschehen. Es war ja der deutsche Staat, der sie angestiftet hat, und er wird dem Haftbefehl der Schweiz kaum Folge leisten. Gleiches mit Gleichem zu vergelten führt nicht weiter. Was Deutschland hier vormacht, ist nichts anderes als die Wiederein­ führung des Faustrechts: Jeder Staat verfolgt die eigenen Delin­ quenten auf eigene Faust, wenn es sein muss, auch unter Verlet­ zung des Rechts und der Souveränität anderer Staaten. Das ist inakzeptabel. Unter Rechtsstaaten gibt es für solche Fälle klare Regeln. Durchsetzungsrechte werden an andere Staaten delegiert. Und die Schweiz bietet Deutschland ja auch Hand, deutsche Steu­ erhinterzieher zur Rechenschaft zu ziehen. Aus deutscher Optik tut sie dies wohl zu wenig. Das mag schon sein. Aber das berechtigt nicht zur Selbstjustiz. Die deutschen Behörden müssen das Gespräch mit den Schweizer Be­ hörden suchen. Sonst landen wir im Wilden Westen, in dem jeder selbst für seine eigene Gerechtigkeit sorgt. Die Empörung kommt vielen gelegen. Damit kann auch in der Schweiz der Widerstand gegen den automatischen Informationsaustausch gebrochen werden. Die Schweiz darf, ja muss ihre Rechtsordnung verteidigen. Aber sie muss eben auch eine Lösung anbieten, die die legitimen Fis­ kalbedürfnisse der anderen Staaten erfüllt. Ist die Abgeltungssteuer diese Lösung? Aus meiner Sicht ist sie das. Diese Steuer darf durchaus prohibitiv hoch sein. Ausländische Kunden, die ihre finanziellen Verhältnisse gegenüber ihrem Staat nicht offenlegen wollen, haben so die Wahl: Entweder sie bezahlen Steuern, die höher sind als im eigenen Land, wobei sie ihre Anonymität gegenüber dem Fiskus wahren, oder sie legen ihre finanziellen Verhältnisse offen. Das ist ein fairer Deal, der beide Rechtsordnungen respektiert. Der Fiskus kommt zu seinem Geld, und die Schweiz hält am Schutz der Privatsphäre fest. Stimmt. Aber der grosse Nachteil des Deals ist, dass die Schweiz so zum Steuereintreiber für ausländische Staaten wird. Das ist die Kröte, die wir schlucken müssen. Wenn es darum geht, unehrlichen Leuten auf die Schliche zu kommen, gibt es keine perfekten Lösungen. Hier braucht es eine Portion helvetischen Pragmatismus, zumal er ja absolut vereinbar ist mit den rechts­ staatlichen Prinzipien beider involvierten Parteien. Das geht zu weit. Dann riskieren Sie à la longue den automatischen Informations­ austausch! Das geht zu weit! Was halten Sie vom Vorschlag, dass die Banken von ihren ausländischen Kunden eine Selbstdeklaration verlangen sollen, wonach diese nur versteuertes Geld den Händen der Banken anvertrauen? Dieser Vorschlag ist für die Tribüne gedacht und letztlich eine Ali­ biübung. Darum geht die Selbstdeklaration für mich in die falsche

Richtung. Wir sollten vielmehr zeigen, dass wir es ernst meinen mit der Abgeltungssteuer – und das heisst eben: dass wir eine pro­ hibitiv hohe Steuer auf die Vermögen ausländischer Kunden erhe­ ben. Wer die finanziellen Verhältnisse in seinem Herkunftsland offenlegt, kann die Steuer zurückfordern; wer lieber auf Anonymi­ tät setzt, bezahlt dafür einfach einen hohen Preis – er bezahlt in der Schweiz mehr dafür, als er in seinem Herkunftsland bezahlen müsste. Damit ist allen gedient, und dann braucht es auch keine gutgemeinte, aber letztlich unnütze, weil nicht überprüfbare Selbstdeklarationspflicht von Kunden. Spielen wir die Sache aus Sicht des Realisten durch. Wenn der automatische Informationsaustausch zum internationalen Standard avanciert, wird sich die Schweiz dann weiterhin auf den Standpunkt stellen können, dass dies mit ihrer Rechtsordnung unvereinbar sei? Allgemein gilt: die Schweiz ist ein kleines Land und tut gut daran, die internationalen Regeln einzuhalten. Päpstlicher als der Papst braucht man deswegen nicht zu sein. Aber hier geht es auch um Machtpolitik. Gerade Staaten wie die USA und Grossbritannien, die die Schweiz unter Druck setzen, betreiben die wichtigsten OffshorePlätze der Welt. Diese Doppelmoral ist inakzeptabel. Das Problem ist: Wir sind ziemlich isoliert, und solange wir keine gute Lösung mit unseren Nachbarn gefunden haben, fällt die Kritik am Ende auf uns selbst zurück. Kehren wir zuerst vor unserer eigenen Türe. Das Konzept der Abgeltungssteuer liegt seit zehn Jahren in der Schublade. Es wurde erst hervorgekramt, als das alte Regime nicht mehr aufrechtzuerhalten war. Die Frage ist, ob die anderen Staaten sich mittelfristig mit einer solchen Steuer zufriedengeben. Das ärgert mich an der Schweiz – statt selber aktiv zu werden, haben wir wieder einmal so lange gewartet, bis der Druck von aussen so gross wurde, dass wir handeln mussten! Damit haben wir nicht nur einen Teil der Handlungsfreiheit preisgegeben. Wir haben uns der Möglichkeit beraubt, international Standards zu setzen. Die Idee der Abgeltungssteuer ist gut, keine Frage. Und sie kommt den aus­ ländischen Staaten entgegen, keine Frage. Die Frage ist nun einfach, ob sie noch in die schuldenbewegte Zeit passt. Wir müssen die Ab­ geltungssteuer darum auf jeden Fall prohibitiv hoch ansetzen. Dies aus zwei Gründen: erstens, um zu zeigen, dass es uns wirklich um den Schutz der Privatsphäre geht und nicht weiterhin um dreimal­ kluge Geschäftemacherei, und zweitens, um die Attraktivität dieses Systems für den ausländischen Fiskus zu gewährleisten. Es geht den Staaten angesichts ihrer düsteren Finanzlage gegenwärtig vor allem um die Einnahmen – sie brauchen schlicht und einfach Geld. Das ist eine Chance für die neue Abgeltungssteuer. Wenn es um die Unterstützung der Abgeltungssteuer geht, frage ich mich: Wie viel Bedeutung messen die international tätigen Schweizer Banken dem Bankgeheimnis eigentlich noch zu? Mein Eindruck ist, dass die Grossbanken mit dem automatischen Informationsaustausch sehr gut leben könnten. Wenn alle weltweit der gleichen Praxis folgen müssen, haben sie ja keinen Wettbe­ 19


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werbsnachteil. Diese Haltung ist auch nicht weiter erstaunlich. Eine Abgeltungssteuer bedingt einen grossen administrativen Aufwand – bedeutet also neue Kosten. Da sagen sich viele: Das Geschäftsmo­ dell mit unversteuertem Geld ist in der Schweiz ohnehin vorbei, also sollten wir unsere Dienstleistungen nicht unnötig verteuern. Die Effizienz als Feind des Bankgeheimnisses? Das ist reiner Opportunismus. Am Ende muss der Datenschützer das Bankgeheimnis gegen die Banken verteidigen! Auch im Inland wächst der politische Druck auf das Bankgeheimnis. Kantonale Finanzdirektoren hätten gerne ähnliche Zugriffsrechte auf Finanzdaten wie ihre Kollegen aus den EU-Staaten. Hand aufs Herz: Glauben Sie, dass es das Bankgeheimnis für Schweizer Bürger in 20 Jahren noch geben wird? Das ist eine ketzerische Frage. Die Antwort darauf hängt zweifel­ los stark von dem ab, was international geschehen wird. Ich frage anders: Wird die Schweiz das Bankgeheimnis freiwillig auf inländischen Druck bzw. vorauseilenden Gehorsam hin abschaffen? Das kann ich mir nicht vorstellen. Verschiedene Vertreter des Schweizer Fiskus haben sich bereits in diese Richtung geäussert. Die Argumentation geht so: Gilt für ausländische Bankkunden der Informationsaustausch, für inländische hingegen nicht, so widerspricht dies dem Grundsatz der Nichtdiskriminierung. So bleibt dem Inland nichts anderes übrig, als sich dem Ausland anzupassen… …das letzte Wort in dieser Frage dürfte das Volk haben. Der Schutz der Privatsphäre ist in der Schweiz ein hohes Gut, und ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass das Stimmvolk be­ reit wäre, diesen Schutz zu relativieren. «Der Staat, in dem es nichts Privates mehr gibt, ist der totale Staat.» Ist dies eine präzise Definition des totalen Staates? Ich finde schon.

Meinung vor, dass alles, was sie betrifft, wichtig ist und darum öf­ fentlich sein soll. Man tauscht sich mit 1000 Freunden aus, wobei die ganze Community alle intimen Details mitbekommt, stellt die privatesten Bilder ins Netz, gibt zu allem und jedem einen Kommen­ tar ab. Das Bewusstsein für einen persönlichkeitsrelevanten Schutz­ bereich schwindet. Wenn ich das, was vor 20 Jahren in meiner Fiche stand, mit der Tiefe der Informationen vergleiche, die heute im Internet abrufbar sind, nicht zuletzt weil Hinz und Kunz sie freiwil­ lig ins Netz stellen, so wundert mich gar nichts mehr. Nicht nur Ge­ heimdienste, Polizeibehörden und andere staatliche Stellen bedie­ nen sich dieser Informationen, auch Personen und Organisationen wollen diese Daten für ihre Zwecke nutzen, sprich: missbrauchen. Informationen und Daten gegen Vernetzung und Dienste: das ist der Deal zwischen Usern und Social Media. Was ist es, das die User bewegt, das Wertvollste von sich preiszugeben? Ist es Narzissmus? Ist es ein urmenschlicher Kommunikationstrieb? Die Freude am Austausch? Es ist all dies zusammen und noch etwas Weiteres: ein Mangel an Phantasie. Viele Leute im Westen haben heute das Gefühl, in der li­ beralsten aller Welten zu leben. Und sie gehen davon aus, dass dies ein ewigwährender Zustand sei. Sie können sich schlicht nicht vor­ stellen, dass auch Staaten mit freiheitlichen Ordnungen wie die westlichen dereinst wieder in einer autoritären Art und Weise re­ giert werden könnten. Sie machen sich mithin keine Vorstellung da­ von, dass liberale Demokratien sehr brüchige Institutionen sind. Sie sehen Ihre Aufgabe darin, die Phantasie für alternative bedrohliche Szenarien zu fördern? Ich bin weder Prophet noch Angstmacher. Ich erinnere bloss an die fundamentalen Prinzipien des Persönlichkeitsschutzes in unserem Rechtsstaat und sorge dafür, dass sie eingehalten werden. Ich versu­ che, die Menschen für Datenschutzprobleme zu sensibilisieren. Und ich beobachte die gegenwärtigen Entwicklungen sehr genau.

Also sind wir auf dem Weg zum totalen Staat. Wenn dem Staat in der Informationsbeschaffung immer weniger rechtsstaatliche Grenzen gesetzt sind, dann ist das eine aus freiheit­ licher Sicht beunruhigende Entwicklung. Aber die liberale Staatskritik ist auf einem Auge blind. Denn der Staat ist bloss einer von mehre­ ren Akteuren. Private Firmen wie Mastercard, Facebook oder Google sammeln ebenfalls fleissig Daten über ihre Kunden oder User, wobei nicht klar ist, was genau sie damit anstellen – oder anstellen könn­ ten. Und der Staat wiederum hat von Fall zu Fall freien Zugriff dar­ auf. Wir leben aus Datenschutzsicht in einer schwierigen Zeit.

Sie tun dies offensichtlich mit wachsender Sorge. Sind Sie, was die Zukunft des Datenschutzes angeht, wirklich so pessimistisch? Keineswegs. Ich mache den Job nun schon einige Jahre, und ich stelle fest: An bestimmten Schnittpunkten entsteht immer wieder Unbeha­ gen, und zwar dann, wenn Bürger oder User merken, dass ihre Selbst­ bestimmung eingeschränkt wird. Heute machen viele private Infor­ mationen öffentlich, aber sie tun dies aus freien Stücken. Wenn nun die sozialen Netzwerke die Einstellungen so verändern, dass der User nicht mehr frei über das verfügen kann, was ihn betrifft, dann wächst seine Skepsis – und sein Widerstand. Solche Prozesse entwickeln sich dialektisch. Wir können gerade beobachten, wie sich in den Köpfen vieler User Gegenreaktionen gegen die Dominanz der sozialen Netz­ werke bemerkbar machen.

Kunden und User scheinen kein Problem damit zu haben, ihre Daten preiszugeben. Da muss sich der Datenschützer vorkommen wie der einsame Rufer in der Wüste. Oder wie eine Instanz aus einer anderen Zeit. Ich gebe Ihnen recht: Heute herrscht gerade unter jungen Leute die

Also sind Sie ein Optimist, der den Pessimisten mimt? Ich bin zutiefst überzeugt: Der Mensch will sich à la longue nicht bevormunden lassen und begehrt gegen jene auf, die ihn bevor­ munden wollen. �

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Debatte  Schweizer Monat 996  Mai 2012

Keine Angst vor Uncle Sam Die US-Steuerbehörden machen Jagd auf ihre Bürger in der ganzen Welt. Dabei wissen sie insgeheim: Die Steuerflucht ist das Ergebnis schlechter amerikanischer Steuergesetze. Warum wagt die Schweiz es nicht, die US-Bürger für sich einzunehmen, indem sie die US-Regierung genau daran erinnert? von Daniel J. Mitchell und Brian Garst

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uch wenn viele Schweizer es zurzeit so sehen: Die Schweiz verfügt nicht über das exklusive Privileg, von der US-Regie­ rung unter Druck gesetzt zu werden. Doch macht sie ihr Status als Bastion gesunder Steuerpolitik und finanzieller Privatsphäre zweifellos zu einer besonders attraktiven Zielscheibe eines neuen amerikanischen Fiskalimperialismus. Um sich gegen die Angriffe zur Wehr zu setzen, sollte die Schweiz zuerst einmal verstehen, welche Motive hinter den politischen Angriffen der USA stecken. Da dies die Amerikaner besser wissen als die braven Schweizer, haben wir diesen Beitrag verfasst. In einigen Fällen sind die amerikanischen Angriffe auf die Souveränität der Schweiz das Ergebnis unilateraler US-Entschei­ dungen. Die USA bürden mit Gesetzen wie dem Foreign Account Tax Compliance Act (FATCA) der ganzen Welt beträchtliche büro­ kratische Belastungen auf, um eine ziemlich armselige Summe an Steuerdollars einzukassieren. Der FATCA strebt danach, ausländi­ sche Finanzinstitute (FFI) als Stellvertreter in den Dienst des In­ ternal Revenue Service (IRS) zu stellen – oder zugespitzt: Banken auf der ganzen Welt sollen zum verlängerten Arm der amerikani­ schen Steuerbehörde werden. Natürlich erwarten die USA, dass die Finanzinstitute die Kosten dafür selber tragen. Jenseits des FATCA, der alle Länder betrifft, muss sich die Schweiz mit einer spezifisch bilateralen Drangsalierung beschäfti­ gen. Das Verfahren gegen die UBS, die Anklage gegen Wegelin und Aufforderungen zum Informationsaustausch bei Gruppenanfra­ gen sind Beispiele dafür, dass die USA an der Schweiz ein Exempel statuieren wollen. Diese bilateralen Massnahmen führen in der Tat zu einer nicht nur für die Schweiz beunruhigend anmutenden Konstellation: Die Weltmacht Nummer eins tritt mit geballter Macht gegen ein kleines und friedfertiges Land an. Aber auch hier bedarf es der Relativierung. Die Obama-Admi­ nistration unterstützt zahlreiche multilaterale Initiativen im Rah­ men der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD), die alle dasselbe Ziel verfolgen: Untergra­ bung des Steuerwettbewerbs und Beseitigung der finanziellen Privatsphäre. Die US-Regierung hegt durchaus starke Sympathien für das Modell eines automatischen Informationsaustauschs, das durch die Europäische Kommission im Rahmen der Richtlinie zur Zinsbesteuerung gefördert wird. Der Grund liegt auf der Hand: Der 22

Daniel J. Mitchell ist Senior Fellow des Cato Institute in Washington und Autor von «Global Tax Revolution: The Rise of Tax Competition and the Battle to Defend It» (2008).

Brian Garst ist Leiter für Government Affairs am Center for Freedom and Prosperity.

Informationsaustausch vergrössert die Macht des Staates, freien Zugriff auf die finanziellen Verhältnisse ihrer Bürger zu haben. Was aber ist letztlich der fundamentale Antrieb für das ag­ gressive Vorgehen der Amerikaner? Ganz einfach: die USA haben durch die mehrfache und allumfassende Besteuerung von Vermögen und Investitionen das weltweit wohl schlechteste Steuersystem für grenzüberschreitende Aktivitäten. Dieser selbstzerstörerische Ansatz gilt für Arbeitseinkommen, Unternehmens- und Kapitaler­ träge – und zwar auf der ganzen Welt. Das US-Steuersystem ist «imperialistisch». Dies ist ein präziser Begriff, denn US-Recht gilt für US-Bürger immer und überall. Die ganze Welt ist amerikani­ sches Territorium. Und es ist letztlich diese schlechte Steuerpolitik, die die uni-, bi- und multilateralen Angriffe motiviert und Kon­ flikte mit jenen Nationen provoziert, die gute Steuergesetze haben und Investitionen anziehen. Das schlechte fiskalische Umfeld der USA hat in den letzten Jahren die weltweiten Auswirkungen dieser schlechten Steuerpo­ litik verschärft. Budgetüberschreitungen von Präsident Bush und Präsident Obama und politische Demagogen, die einen riesigen Topf voller Gold am Ende des steuerlichen Regenbogens verspre­ chen, geben dem IRS die Lizenz, in der Jagd nach mehr Einkünften noch aggressiver vorzugehen. Aus Schweizer Sicht ist es ein leichtes, die Vereinigten Staaten in dieser Geschichte als skrupellosen Bösewicht zu sehen, den nichts anderes als der Hunger nach Macht und der Wunsch nach Unterdrückung antreibt. Wer so denkt, übersieht allerdings das Wesentliche. Ein guter Schriftsteller weiss, dass jeder Bösewicht sich in der eigenen Erzählung der Geschichte zugleich als einen Helden darstellt. Und es ist nun genau diese Heldenerzählung, die in den USA kursiert. Die amerikanische Regierung stellt sich zu Hause als heldenhafter Protagonist dar, der tapfer jene finsteren Hindernisse abbaut, die gierige amerikanische Steuerhinterzieher vor der Zahlung ihres fairen Anteils an den Fiskus schützen.


«Die Schweiz muss offensiv das Argument vertreten, dass der Konflikt mit der US-Regierung das Ergebnis schlechter amerikanischer Steuergesetze ist – und sie sollte dies in den USA tun.» Daniel J. Mitchell und Brian Garst Anzeige

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Debatte  Schweizer Monat 996  Mai 2012

Fairness ist zweifellos ein wesentlicher Bestandteil des ameri­ kanischen Ethos, das bis zur Gründung des Landes zurückgeht. Die Amerikanische Revolution nährte sich mitunter aus dem Be­ wusstsein, dass Grossbritannien den amerikanischen Kolonien unfaire Steuern und eine willkürliche Regierung aufgebürdet hatte. Seitdem glauben Amerikaner, dass die Bürger Anrecht auf eine faire Behandlung durch den Staat haben und dass vor dem Gesetze alle gleich sind. Doch ist dies nur die halbe Wahrheit – in den USA tobt gerade ein Kampf um die Deutungshoheit dessen, was «Fair­ ness» meint. Einige Vertreter innerhalb der politischen Klasse, die sich ebenfalls auf die Gründung der USA berufen, sehen Fairness nicht als eine Frage gleicher Behandlung, sondern gleicher Ergeb­ nisse. Nach dieser Ansicht ist es ausgeschlossen, dass Unter­ schiede in Einkommen und Wohlstand davon herrühren, dass einige härter arbeiten und mehr leisten als andere; solche Unter­ schiede müssen vielmehr eine Folge von Diskriminierungen sein, mithin ein Beweis für etwas Unheimliches und Unfaires. Viele Vertreter dieser Ansicht handeln, als wäre die Wirtschaft ein vorgegebener Kuchen. Logische Folge dieser Denkweise: Es ist unmöglich, reich zu werden, ohne jemand anderen arm zu machen. Wer hat, hat es anderen genommen. Das ist eine Rhetorik, die sich in Zeiten exorbitanter Steuersätze und leerer Staatskassen natür­ lich anbietet, auch wenn sie kompletter Unsinn ist. Viele Wähler, die von Existenzsorgen geplagt sind, lassen sich so emotional an­ sprechen und mobilisieren. Die politischen Verfechter dieser Rhe­ torik geben vor, den Klassenkampf zu besänftigen, während sie ihn in Wirklichkeit anheizen. «Reiche» Menschen mit «Offshore»Geld werden damit zu einem leichten Ziel. Wirksame Gegenstrategien Wie aber kann, wie soll die Schweiz nun auf die amerikani­ schen Angriffe reagieren, wenn sie sich diesen Zusammenhang vergegenwärtigt? Eine wirksame Verteidigung erfordert mehrere Strategien. Es ist klar: Die Schweiz muss sich dringend schützen. Der Faktor Zeit ist entscheidend. Wie viele internationale Firmen sind Schweizer Institutionen bereits daran, amerikanische Kunden loszuwerden. Kunden, die der amerikanischen Steuerpflicht unterstehen, sind langfristig schlicht zu teuer und zu riskant. Dies ist zweifellos eine schlechte Nachricht für Überseeamerikaner, die durch die schlechten Gesetze aus Washington grosse Unannehmlichkeiten erfahren. Aber Schweizer Finanzinstitute, die sich von der ameri­ kanischen Wirtschaft lösen können, sollten mit Vorteil von dieser Möglichkeit Gebrauch machen. Ohne direkte Investitionen in amerikanische Aktien und Anleihen fallen allfällige Verknüpfungen weg, die vom IRS ausgenutzt werden könnten. Das Problem: Nicht alle Schweizer Firmen können sich dies leisten. Dieser wirksame Ansatz ist deshalb vermutlich für die grosse und diversifizierte Finanzbranche der Schweiz als Ganzes nicht realistisch. Die Fir­ men müssen sich des verbleibenden Restrisikos auf jeden Fall be­ wusst sein; die Amerikaner haben weitere Pfeile im Köcher, die sie jederzeit gegen sie abschiessen können. Es ist an den Firmen, sich 24

rechtlich umfassend abzusichern. Die Schweizer Regierung kann Hilfe bieten, indem sie sich hinter ihre Unternehmen stellt und sich einigen der ungeheuerlichen Forderungen der amerikani­ schen Regierung widersetzt. Das amerikanische Justiz- und das amerikanische Finanzmi­ nisterium sind derzeit durch linke Ideologien geleitet. Das macht sie zweifellos verhandlungsresistenter als für die Schweiz wünsch­ bar. Dennoch sind nicht alle Karrierebürokraten, die die Vereinba­ rungen mit der Schweiz aushandeln, unvernünftig. Und vor allem: das amerikanische Aussenministerium weiss um die Unvereinbar­ keit der amerikanischen Steuergesetze mit dem Rechtsverständ­ nis und der Wirtschaftspolitik der Schweiz. Jenseits dieser eher defensiven Taktiken ist eine proaktive Agenda dringend notwendig. Die Schweiz sollte offensiv das Argu­ ment vertreten, dass der Konflikt mit der US-Regierung das Ergeb­ nis schlechter amerikanischer Steuergesetze ist – und sie sollte dies in den USA tun! Die Schweizer Regierung vermag viele ameri­ kanische Bürger für sich einzunehmen, wenn sie darauf hinweist, dass die Wahrung der finanziellen Privatsphäre als Teil der Men­ schenrechte zu verteidigen sei und dass die USA dem Rest der Welt nicht eine Politik diktieren sollten, die ebendiese Rechte untergrabe. Wesentlich ist für die Schweiz auf jeden Fall, sich aktiv und selbstbewusst in die Debatte über Fairness und gute Steuerpolitik einzubringen. Die Schweiz kann in den USA auf viele Freunde und Verbündete in Politik und Wirtschaft zählen. Werden sie als Für­ sprecher gewonnen, erzeugt dies weitere Unterstützung unter den Mitgliedern des Kongresses, die die Schweiz oft kaum kennen, un­ ter den Public-Policy-Gruppen, Wissenschaftern und Medien. Die Botschaft dabei ist so einfach wie überzeugend: Die Schweizer Steuerpraxis sollte nachgeahmt, nicht verfolgt werden! Flankierend dazu sollten Schweizer Vertreter von Staat, Admi­ nistration und Privatwirtschaft ihren amerikanischen Kollegen freundliche Beratung in Steuerfragen anbieten. Denn zurzeit ver­ folgen diese eine Steuerpolitik, die nicht nur die eigene Wirtschaft untergräbt, sondern in der ganzen Welt Unmut gegenüber den USA schafft. Der Wunsch wächst, Uncle Sam in Schranken zu hal­ ten – einige meinen gar, dass die Zeit gekommen sei, die Rolle des Dollars als weltweite Leitwährung zu beenden. Amerikanische Politiker benötigen eindeutige Zeichen von aussen, die sie wach­ rufen und daran hindern, sich selbst und anderen noch mehr Schaden zuzufügen. Eine überzeugende und solide Strategie, die sowohl auf defen­ siven Manövern als auch auf einer selbstbewussten Charmeoffensive basiert, hat Aussicht auf Erfolg. Die Alternative besteht darin, die USA in ihren Forderungen zu besänftigen oder mit klei­ neren Zugeständnissen den Schaden zu begrenzen. Ein solcher Ansatz würde US-Politikern jedoch nicht nur erlauben, das ameri­ kanische Volk weiterhin an der Nase herumzuführen, sondern er würde darüber hinaus den Nährboden für noch aggressiveres amerikanisches Vorgehen bieten. � Aus dem Amerikanischen übersetzt von Florian Rittmeyer


Schweizer Monat 996  Mai 2012  Debatte

Wissen = Wikipedia? Über eine Welt, in der alles und das Gegenteil von allem wahr ist. von René Zeyer

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er Mensch ist ein mitteilungsbedürftiges Wesen. In den guten alten Zeiten konnten diese Bedürfnisse im Treppenhaus beim Schwatz mit den Nachbarn, am Arbeitsplatz neben der Kaffeema­ schine und beim Stammtisch vor einem Bier befriedigt werden. Die Halbwertszeit der dabei gewonnenen Erkenntnisse war relativ überschaubar, sie endete meistens mit dem abschliessenden Satz: muss noch einkaufen, arbeiten, schlafen gehen. Wer einer grösseren Öffentlichkeit die eigene Meinung aufdrängen wollte, verfasste einen Leserbrief an sein Lokal- oder Weltblatt. Erfolgte sogar ein Abdruck, wurde das Werk sorgfältig ausgeschnitten, aufgeklebt, in eine Klarsichthülle gesteckt und im Treppenhaus, am Arbeitsplatz oder am Stammtisch herumgezeigt, bis nach oben gerollte Augen dem Verfasser klarmachten, dass er es nun mal gut sein lassen sollte. Ein darüber hinausgehendes Mitteilungsbedürfnis wurde relativ einfach begrenzt: Es kostete Geld. Vorbei, verweht, nie wieder, seit das Internet interaktiv gewor­ den ist. Damit traten Klatsch, Schwatz und Meinung ins Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit ein. Sie tun dies eher harmlos in Form von persönlichen Blogs oder Twitter. In einem InternetTagebuch, das von jedem technischen Laien mit wenigen Hand­ griffen aufgesetzt werden kann, werden Verwandte und Bekannte mit Mitteilungen belästigt, die früher völlig zu Recht unter Aus­ schluss der Öffentlichkeit und unter dem Titel «Mein liebes Tage­ buch» geduldigem Papier anvertraut wurden. Tweets haben den Vorteil, dass jeder Unsinn seine Grenze bei 140 Anschlägen findet. Der angerichtete Schaden ist begrenzt. Auf der anderen Seite ist der Verbreitung der eigenen Meinung finanziell praktisch keine Grenze mehr gesetzt. Kostete früher der Massenversand eines Briefs zumindest Papier, Couvert und Porto, verstopft heute eine an alle@ adressierte E-Mail problemlos Hunderte oder gar Tau­ sende von Eingangskonten. Gratis. Sie kann aber immerhin ohne grösseren Aufwand ungelesen gelöscht werden. Unangenehmer ist bereits die Kommentar-Funktion auf elek­ tronischen Medien-Plattformen. In der Gewissheit, dass nicht nur beim «Spiegel» oder beim «Tages-Anzeiger» die potenzielle Chance besteht, dass Zehntausende, sogar Hunderttausende die meistens völlig überflüssige eigene Meinung zur Kenntnis nehmen, meldet sich hier Volkes Stimme zu Wort. Opiniert, räsoniert, queruliert und erklärt auf Stammtischniveau die Welt. Interessant ist hier

René Zeyer ist promovierter Germanist, freier Publizist und Autor u.a. von «Cash oder Crash. Abzocker verstehen – eine Gebrauchsanweisung».

das Phänomen, dass sich meistens spätestens nach dem zehnten Eintrag das Thema des kommentierten Artikels weitgehend verlo­ ren hat und spätestens ab der zwanzigsten Wortmeldung mindes­ tens ein Schreiber einem anderen Links- oder Rechtsradikalismus, die Verwendung von Nazi-Vokabular, Dummheit, Nachplappern, Uninformiertheit, Lüge und allgemein niedere Gesinnung vorge­ worfen hat. Worauf sich dann ein wildes Gezanke und Gezeter unter den Kommentatoren entwickelt, das schon einen Tag später nicht mal sie selbst interessiert. Psychohygiene und Schwarmintelligenz Neben diesen möglicherweise sogar einen wertvollen Beitrag zur Psychohygiene leistenden Formen der Vervielfältigung von unnützen Ansichten unterscheidet sich das Internet aber in zwei Aspekten ganz wesentlich von früheren Formen des Meinungsaustauschs. Zu­ In den Kommentaren auf elek- nächst vergisst es nichts. Wer möchte schon gerne tronischen Medien-Plattformen erklärt Volkes Stimme auf daran erinnert werden, was er vor sechs Jahren nach Stammtischniveau die Welt. dem zuvielten Bier am Stammtisch gelallt hat. Glücklicherweise kommt man dort sehr selten in diese Verlegenheit. Anders im Internet. Eine selbst nur mässig gelenkige Suche mit Google, und schon ist jede Peinlichkeit, jede Dummheit, jede noch so gerne vergessene Äusserung wieder auffindbar, gnadenlos irgendwo gespeichert. Zwar nicht in Stein gemeisselt, aber reproduzierbar, original im Te­ rabyte-Meer vorhanden, das irgendwo auf einem Server schwappt. Ein zweiter Aspekt des Internets ist die Hoffnung auf die soge­ nannte Schwarmintelligenz. Also die Selbstkontrolle und dadurch resultierende Verbesserung einer Informationsplattform wie zum Beispiel Wikipedia. Wer Informationen im Netz sucht, geht davon aus, dass eine Google-Suche sozusagen alles zusammenkehrt, 25


Debatte  Schweizer Monat 996  Mai 2012

worauf man dann mit geschickten Handgriffen das wenig Brauch­ bare aus dem grossen Berg von Unfug und Datenstaub herausklau­ ben muss. Ein Rückgriff auf Wikipedia mit ihren immerhin bereits rund 1,4 Millionen Einträgen alleine auf Deutsch sorgt doch für mehr Sicherheit, denn hier verbindet sich das Wunder Internet, jeder kann mitmachen, mit lexikalischem Anspruch. Es ist sozusa­ gen ein sich selbst fortschreibender, korrigierender, dadurch im­ mer verlässlicher funktionierender Organismus entstanden, die nächste Stufe der Wissensbereitstellung. Sagen jedenfalls die Anhänger des meistkonsultierten Nachschlagewerks der Welt. Mittlerweile hat selbst das Monument aller Nachschlagewerke, die Encyclopædia Britannica, ihre Web-Ausgabe zur Erweiterung für jedermann freigegeben. Demokratisch, frei, selbstregulierend. Allerdings gibt es die Administratoren, Aufseher, Überwacher, die im besten Fall korrigierend, im schlechtesten Fall zensurierend eingreifen. Denn Freiheit ohne Grenzen führt auch hier zu Will­ kür, Unfug und Erkennt­ nisverlust statt -gewinn. Die Grenzziehung bei Wi­ Wenn alle Wahrheiten gleich- kipedia erfolgt durch an­ onyme, nicht behaftbare zeitig vorhanden sind, dann ist alles wahr und gleichzeitig und deshalb an einem Glaub­w ürdigkeitsdefizit auch unwahr. leidende Administratoren, die zudem gratis arbeiten. Kritiker werfen dieser Art von Wissensvermittlung vor, dass sie nur einen Schritt von einer «Quantenenzyklopädie» entfernt sei, in der wahre Information zum selben Zeitpunkt existiert und gleichzeitig nicht existiert. So verquer sind auch Erkenntnis und wenn wohl nicht ewige, so zumindest vermeintlich gesicherte Wahrheit ins Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit im Internet eingetreten. Noch nie war es so einfach, vom Schicksal der Andamanen bis zum Fort­ pflanzungsverhalten der Zwitscherschrecke, vom arabischen Frühling bis zum Zusatzabkommen zum Doppelbesteuerungsab­ kommen mit den USA mit wenigen Handgriffen alles zu erfahren. Falls man da auf eine bedauerliche Lücke stossen sollte, ist es je­ dem der rund 3 Milliarden Menschen mit Internetzugang freige­ stellt, sie zu füllen. Oder die 260 Millionen Webseiten um eine zu vermehren. Oder mindestens die 160 Millionen Blogs um einen zu ergänzen. Oder wenigstens den 300 Milliarden täglichen E-Mails einen kostenlosen Brief hinzuzufügen. Oder zumindest den 117. Kommentar zu einem entsprechenden Artikel im «Spiegel» oder «Tages-Anzeiger» zu posten. Hier verkommt das Internet zur Schwatzbude und Zeitvernichtungsmaschine, alle diese Plattfor­ men werden ja ständig mit neuem Brei gefüllt. Gratis. Und die Wahrheit? Aber ist so der Informationsvermittlung, der Wahrheitsfin­ dung, dem Erkenntnisgewinn gedient? Kaum. Schon die im Mo­ ment monopolartige Suchmaschine Google filtert mit einem streng geheimgehaltenen Algorithmus die Auswahl und Reihen­ 26

folge der Treffer einer Suche. Internet-Lexika werden von anonymen Administratoren kontrolliert. In der Tradition der katholischen Kirche, die versuchte, mit einem Index Librorum Prohibitorum ihre Schäfchen vor schädlicher Lektüre zu bewahren. Dazu gehörte Diderots Encyclopédie, natürlich Kant, und Jean-Paul Sartre schaffte es als einer der letzten zu einem Eintrag, bis das fromme Unterfangen 1966 eingestellt wurde. Dieser Index hatte aber immerhin den Vorteil, gut und böse, richtig und falsch für jeden erkennbar zu trennen. Mit nachlassender Dominanz der Kirche, die auf liebgewonnene Gewohnheiten wie Scheiterhaufen, Ketzer­ verbrennungen und Inquisition verzichten musste, war es jedem Leser freigestellt, sein ewiges Seelenheil durch die Lektüre solcher Werke zu gefährden. Oder eben nicht. Viel heimtückischer ist da das Internet. Wenn alle Wahrheiten gleichzeitig vorhanden sind, Wahrheit im Unendlichen verschwindet, dann ist alles wahr und gleichzeitig auch unwahr. Dann wurden die Anschläge vom 11. September von der CIA geplant, dem Irak und Bin Laden oder von allen zusammen. Dann gibt es eine jüdische Weltverschwö­ rung und gab es keine KZ oder umgekehrt. Dann ist die Erde eine Scheibe und eine Kugel. Oder existiert nur in unserer Einbildung. Gibt es in dieser allgemeinen Auflösung kein einziges Krite­ rium, das hilft? Vielleicht nur ein ganz banales: was nichts kostet, ist nichts wert. Das macht eigentlich nichts, wenn es sich lediglich um die eigene Meinung handelt. �


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Debatte  Schweizer Monat 996  Mai 2012

Willenskraft als Muskel Wer die Willenskraft trainiert, hat Ausdauer, ist belastbar und trifft die besseren Entscheidungen, sagt der amerikanische Sozialpsychologe Roy Baumeister. Ein Gespräch über Kreativität, Selbst­kontrolle und die Frage, warum sich Männer trotz viel Willenspotential einfacher ablenken lassen als Frauen. Claudia Mäder trifft Roy Baumeister

Herr Baumeister, ich nehme an, dass Sie sich trotz des grossen Temperaturunterschieds zwischen Florida und Zürich rasch ans hiesige Klima gewöhnt haben. Das zwinglianische Ambiente an der Limmat müsste Ihnen als Verfechter von Selbstbeherrschung und Willenskraft sehr behagen? Da ich heute von Lissabon kam, war der Klimaschock moderat (lacht). Es gibt übrigens den eigentümlichen Befund, dass ein küh­ leres Klima die Selbstkontrolle steigert. Wahrscheinlich hängt das damit zusammen, dass das Überleben in kühleren Gefilden eine grössere Herausforderung darstellt und also mehr Willenskraft erfordert. So genau weiss das niemand. Sicher ist jedoch: Selbst­ kontrolle ist eine der wich­ tigsten Voraussetzungen für ein langfristig gutes Unser Unbewusstes weiss und erfolgreiches Leben.

nicht unbedingt, was gut ist für uns.

Sie plädieren folglich dafür, jetzigen Verlockungen zugunsten von späteren Gewinnen zu widerstehen. Die Zukunft aber ist ungewisser denn je – wäre da nicht «carpe diem» das angezeigte Motto? Die Leute reagieren nach verschiedenen Mustern auf unsichere Aussichten. Laut Studien haben reiche Menschen die Tendenz, Sparbemühungen und Vorsichtsmassnahmen zu verstärken, wäh­ rend ärmere Leute der Unsicherheit eher mit dem Motto «Zum Teufel mit der Zukunft» trotzen und die Gegenwart zu geniessen versuchen. Obwohl ich nicht aus reichem Elternhaus stamme, glaube ich, dass es immer besser ist, sich für die Zukunft zu rüsten. Unsere ganze Spezies tut das, und zwar besser als jedes andere Tier: Das Vorausdenken ist eine spezifisch menschliche Qualität. Die vorsorgende Ameise gehört also ins Reich der Fabeln? Definitiv. Ein Eichhörnchen vergräbt seine Nuss im Herbst nicht mit der Absicht, sich für den Winter etwas Gutes zu tun, sondern aus spontaner Freude am Nussvergraben. Tiere haben keinen Sinn für die Zukunft. Für die Entwicklung der menschlichen Spezies aber war das vorausschauende Planen zentral. Man denke nur an den Ackerbau: Anstatt irgendeinen Samen sofort zu essen, haben 28

Roy Baumeister ist einer der führenden Psychologen der Gegenwart. Er lehrt als Professor für Sozialpsychologie an der Florida State University und ist Autor (zusammen mit John Tierney) von «Die Macht der Disziplin» (2012).

unsere Vorfahren begonnen, ihn zu pflanzen, zu bewässern, zu warten – um später reiche Ernte einzufahren. Die Idee, auf späteren Lohn zu setzen, war für unsere Kultur enorm wirkungsmächtig. Selbstkontrolle als evolutionäre Notwendigkeit? Weniger Notwendigkeit als Instrument: Selbstkontrolle ist ein Mit­ tel, das uns die Evolution gab, um unsere Lebensfähigkeit in unse­ rem Umfeld zu steigern. Selbstkontrolle ist jene Fähigkeit, die uns die Anpassung an ein regelhaftes Leben ermöglicht. Das soziale Le­ ben, unsere menschliche Kultur, ist voller Regeln – Kultur funktio­ niert ja nur, wenn die Spielregeln eingehalten werden. Und dank der Willenskraft zur Selbstbeherrschung haben wir uns so entwickelt, dass wir in der Lage sind, diese Regeln zu befolgen; also in ein Res­ taurant zu gehen, ohne dem Tischnachbarn in den Teller zu greifen, pünktlich zur Arbeit zu erscheinen, uns regelmässig zu waschen… Sind das nicht Automatismen? In der Komfortzone, in der sich zumindest der westliche Mensch eingerichtet hat, scheint Selbstüberwindung bestenfalls den Stellenwert eines narzisstischen Accessoires zu haben: Man beisst sich durch einen Marathon oder eine Diät, um seine Selbstzufriedenheit zu steigern. Von Automatismus kann keine Rede sein. Wenn man mir die Wahl liesse, über den schlechten Witz meines Chefs entweder zu lachen oder keine Miene zu verziehen, würde ich automatisch letzteres tun. Aber oft habe ich keine Wahl. Und deshalb lache ich, wenn es sein muss! Unser Unbewusstes weiss nicht unbedingt, was gut ist für uns. Deshalb kommt der Willenskraft die Aufgabe zu, die auto­ matischen Reaktionen zu übersteuern und uns die Möglichkeit zu geben, bewusst anders zu reagieren. Solche Kraftakte vollbringen wir nicht nur beim Marathonlaufen, sondern jeden einzelnen Tag, und zwar dutzendfach. Wie führt diese Selbstkasteiung zu einem besseren Leben? Nur schon die Lebensdauer ist mit der Selbstkontrolle verbunden:


Schweizer Monat 996  Mai 2012  Debatte

Selbstbeherrschtere Menschen leben nachweislich länger als Leute, die sich schlechter im Griff haben. Deutlich sieht man das bei gläu­ bigen Menschen. Von ihrer Religion dazu angehalten, die Gelüste zu zügeln, verfügen sie über eine substanziell höhere Lebens­erwartung als Leute, die sich Genüssen unkontrolliert hingeben.

kann. Mir selbst geht es ähnlich: Ich arbeite hart an meinen Forschungen und lasse auf meinem Schreibtisch die Unordnung herrschen. Aufräumen wäre gut, ich weiss, aber es verschleisst Energien, die ich für Wichtigeres brauche. Mit seinen Disziplinres­ sourcen muss man überlegt haushalten.

Wer sich in Verzicht übt, mag länger, da gesünder leben. Lässt sich aber von Beständigkeit auf Zufriedenheit schliessen? Die hochdisziplinierten und langlebigen Japaner rangieren in Glücksindizes bloss im hinteren Mittelfeld. Glück zwischen verschiedenen Kulturen zu vergleichen, ist schwie­ rig, weil man an verschiedenen Orten unterschiedliche Dinge dar­ unter versteht. Ganz grundsätzlich ist Glück eine wenig geeignete Messgrösse, denn wir haben unsere Fähigkeiten nicht entwickelt, um glücklich zu sein. Die Natur schert sich nicht um unser Glück. Was die Natur interessiert, ist unsere Reproduktionsrate. Fort­ pflanzung setzt Überlebensfähigkeit voraus, weshalb im natürli­ chen Sinn erfolgreich ist, wer überleben und sich reproduzieren kann – hier schneiden Leute mit höherer Selbstkontrolle eindeu­ tig besser ab.

Das gelingt Frauen offenbar besser als Männern: Sie zitieren in Ihrem neuen Buch eine Studie, die zeigt, dass Männer den Kopf verlieren, wenn sie mit Bildern attraktiver Frauen konfrontiert werden – während Frauen rationalen Argumenten auch nach vorgeführten Verlockungen zugänglich bleiben. Verfügen Frauen über die grösseren Kontrollreserven? Sigmund Freud ging vom Gegenteil aus und vertrat die These des starken männlichen Super-Egos. Ein Blick auf männliche Verhal­ tensweisen genügt aber, um diesen Ansatz zu entkräften: Männer sind aggressiver, krimineller, drogensüchtiger und also eindeutig häufiger von Problemen betroffen, die sich aus Willensschwäche ergeben. Daraus zu schliessen, dass Frauen willensstärker seien, wäre aber verkürzend, denn Männer haben auch viel stärkere Triebe und Impulse zu kontrollieren. Das erfordert mehr Kraft, und die Männer sind vermutlich gerade deshalb rascher «ausgeschöpft», weil sie über eine etwa gleich grosse Disziplinreserve verfügen wie die Frauen. Wobei bei der heutigen Erziehung die männliche Selbstkontrolle wohl mittelfristig tatsächlich sinken wird.

Reproduktion würde ich eher mit Unbeherrschtheit als mit Diszi­ plin assoziieren. Früher musste sich ein Mann an die Spitze eines riesigen Konkur­ rentenfeldes arbeiten, um Gelegenheit zur Fortpflanzung zu er­ halten; das war nur mit Willenskraft möglich. Jetzt liegen die Dinge aber tatsächlich etwas anders: Heute braucht man Willens­ kraft, um sich nicht fortzupflanzen. Deshalb haben willensschwä­ chere Leute häufig mehr Kinder. Sobald es aber um die Versorgung der Kinder geht, wird Selbstkontrolle wieder zentral. Nicht zu­ letzt, weil selbstbeherrschtere Leute dank ihrer verminderten Im­ pulsivität tendenziell stabilere Beziehungen führen. Hier ist es sicher dienlich, Impulse zu disziplinieren. Andere Bereiche aber leben gerade von der Leidenschaftlichkeit; man denke an die Kreativität, die sich öfter mit Exzessen als mit Kontrolle paart. Wenn man erfolgreiche Künstler studiert, findet man überra­ schend viel Disziplin. Wie viele andere grosse Schriftsteller machte sich George Bernard Shaw zum Beispiel eine Vorgabe: jeden Tag fünf Seiten zu schreiben. Das tat er jahrelang, und im Verlaufe dieses Prozesses verbesserte sich sein Schreiben. Auch in der Kunst beruht Fortschritt auf Disziplin. Schon Horaz wusste jedoch, dass von einem Wassertrinker kein gutes Gedicht zu erwarten sei. Die Alkoholikerrate unter Schriftstellern ist überdurchschnittlich hoch. Ja, wobei es aber auch viele Alkoholiker gibt, die nicht kreativ sind! Jedenfalls hängt das damit zusammen, dass unsere Willensreser­ ven beschränkt sind und sich jeder Mensch entscheiden muss, wo­ rin er dieses knappe Gut investieren will. Will man in der Kunst erfolgreich sein, verwendet man seine ganze Kraft darauf – und akzeptiert damit, dass der Rest des Lebens zum Chaos werden

Weshalb? Wegen unserer abnormen Kultur. Normalerweise baut die Kultur auf der Natur auf, d.h. die kleinen natürlichen Unterschiede zwi­ schen Mann und Frau werden von der Kultur ins Extreme gestei­ gert. Unsere Kultur aber versucht, die Unterschiede zu tilgen und die Geschlechter gleich zu behandeln. Müssen Entscheidungen getroffen werden, heisst die Losung, zumindest in amerikanischen Schulen: im Zweifel für die Mädchen. In Fragen der Klassenzim­ mertemperatur mag das belanglos sein, verheerend aber wird es, wenn Knaben ständig zu hören bekommen, dass sie ihr Selbstver­ trauen stärken müssten. Mädchen brauchen diese Ermutigung, Knaben aber müssten eher auf den Teppich zurückgeholt werden. Lob ist kein geeignetes Mittel, um Männer von guter Qualität her­ vorzubringen. Der Titel Ihres neuen Buches – «Die Macht der Disziplin: Wie wir unseren Willen trainieren können» – suggeriert, dass die Willenskraft grundsätzlich gesunken sei. Ist der Mensch schwächer oder sind die Verlockungen stärker geworden? Beides, glaube ich. Im Viktorianischen Zeitalter sah man die Ge­ sellschaft im Abstieg begriffen – und erhöhte Selbstbeherrschung und Moral, um Gegensteuer zu geben. Willensstärke und Selbst­ kontrolle lagen damals als wichtige Tugenden absolut im Trend. Manche Leute schrieben dieser exzessiven Betonung von Wille und Disziplin eine Mitverantwortung für die beiden Weltkriege zu. Dadurch geriet die Willenskraft in Verruf, wobei natürlich auch andere Entwicklungen ihren Abfall beförderten. 29


Roy Baumeister, photographiert von Philipp Baer.

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Schweizer Monat 996  Mai 2012  Debatte

Zum Beispiel der Rückgang der Religion, die das entbehrungsreiche irdische Leben paradiesisch abzugelten versprach. Inwiefern ist das Streben nach kurzfristigem Gewinn Resultat unserer radikalen Orientierung auf das Diesseits? Manchmal denke ich, dass es umgekehrt ist: Vielleicht interessie­ ren sich die Leute heute deshalb weniger für die Religion, weil sie das Hier und Jetzt zum Massstab erhoben haben? Wie dem auch sei, mit der Religion ist tatsächlich eine Kraft weggefallen, die als Katalysator für die Selbstbeherrschung funktionierte. Ebenso wichtig wie die religiöse war mit Blick auf die schwindende Willenskraft aber auch die wirtschaftliche Entwicklung. Können Sie das konkretisieren? Im 19. Jahrhundert musste man hart arbeiten, um erfolgreich zu sein. Hatte man unter grossem Aufwand etwas hergestellt, konnte man es auf dem Markt verkaufen – weil es den Käufern von Nutzen war. Seit Mitte des 20. Jahrhunderts kann man aber dank techno­ logischer Fortschritte eine unbeschränkte Menge von Dingen her­ stellen – und muss die Leute davon überzeugen, sie zu kaufen. Wurde die viktorianische Gesellschaft aufs Sparen und Vorsorgen getrimmt, wird die heutige zu Kauf und Konsum animiert und dazu angehalten, mit zahllosen neuen Produkten das Leben im Hier und Jetzt zu geniessen. Interessanterweise zeigen Sie ja aber in Ihrem Buch, dass die Verlockungen, mit denen wir im Verlaufe eines Tages am meisten kämpfen, sehr banal sind: Essen, Schlafen, Sex. Das stimmt. Aber deren Verfügbarkeit ist enorm gestiegen. Eine absolute Herausforderung stellen nur schon die in unbeschränk­ ter Menge verfügbaren Esswaren dar. Während des grössten Teils seiner Geschichte musste der Mensch der Nahrung nicht wider­ stehen, sondern möglichst viel davon zu kriegen versuchen, um zu überleben. Die Natur sagt uns deshalb: Los, iss, iss, iss! Diesen Ruf müssen wir mit unserem Willen übersteuern.

während Schokolade nur einen kurzen Energie-Kick verschafft und dann verpufft. Auch das Hühnchen beflügelt keine Diät. Die Diätfrage ist in der Tat ein spezielles Problem. Gemäss unseren Untersuchungen sind die Effekte einer starken Willenskraft beim Essen sehr viel geringer als in der Schule oder bei der Arbeit, wo Personen mit stärkerer Selbstdisziplin die Nachteile von schwä­ cherer Intelligenz ausgleichen können. Auf diesen Feldern ist ein gefüllter Energiespeicher von grösstem Nutzen. Ihr Konzept der ernährbaren Willenskraft scheint irgendwo zwischen Körper und Geist zu siedeln. So etwas hat Tradition: Descartes meinte, den Schnittpunkt von Materie und Seele in der Zirbeldrüse gefunden zu haben, und einige Materialisten des 19. Jahrhunderts sahen das menschliche Verhalten von der Nahrung gesteuert. Wo positionieren Sie sich gegenüber solch überkommenen Thesen? Wie die meisten Leute glaube ich nicht mehr an den cartesiani­ schen Dualismus, an eine gewissermassen separate Realität des Geistes. Wir Wer einen Tag lang die haben subjektive Erfah­ schlechten Witze seines Chefs rungen, die auf einer Kom­ bination von physischen belachen musste, hat seine Vorgängen und – nun ja – Willensreserven stark abgebaut. etwas anderem beruhen. Es handelt sich hier um ei­ nen eigentümlichen Aus­ tausch: Wie wir von physischen Elementen dazu gelangen, be­ wusste Erfahrungen zu produzieren, weiss niemand genau. Ich versuche deshalb einfach pragmatisch, mit den neusten wissen­ schaftlichen Erkenntnissen zu arbeiten und zum Beispiel die Wichtigkeit des Hirns zu berücksichtigen.

«Essen» ist ein wichtiges Stichwort für Ihr Konzept der Willenskraft: Sie gehen davon aus, dass der Wille wie ein Muskel durch Glucose genährt wird und proportional zum Blutzuckergehalt wächst… Der Effekt ist nicht linear, das heisst, man kann seine Willenskraft durch den Konsum von glucosehaltigen Lebensmitteln nicht beliebig steigern. Unsere Tests zeigen aber, dass Glucose hilft, die Willens­ kraft wieder aufzubauen, wenn sie durch starke Beanspruchung erschöpft ist. Wer einen Tag lang die schlechten Witze seines Chefs belachen musste, hat seine Willensreserven stark abgebaut und kann durch Zufuhr von Glucose seinen Speicher wieder auffüllen.

Die heutige Hirnwissenschaft hat eine Tendenz, das Handeln der Menschen auf neuronale Prozesse zurückzuführen und die Existenz des freien Willens anzuzweifeln. Was macht Sie sicher, dass der Mensch über die Möglichkeit verfügt, sich willentlich selbst zu disziplinieren? Meine Laborexperimente. Täglich sehe ich, wie sich Menschen be­ wusst dafür entscheiden, ihre Hand in Eiswasser zu tauchen – oder es bleiben zu lassen. Klar: was immer man macht, etwas im Hirn hilft, dass es passiert. Was passiert, ist aber zumindest teil­ weise immer auch vom Bewusstsein gesteuert. Diese Tatsache lässt sich nicht leugnen – und nicht mit dem Studium neuronaler Prozesse wegerklären. �

Das klingt, mit Verlaub, ziemlich paradox: Um den Willen aufzubringen, mich vom Essen abzuhalten, muss ich erst eine Tafel Schokolade essen? Besser wäre ein Stück Hühnchen. Glucose stammt ja nicht nur aus Zucker, und Protein verbrennt der Körper über eine längere Zeit,

Das Treffen mit Roy Baumeister fand anlässlich einer Veranstaltung von ZURICH. MINDS in Zürich statt.

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Essay  Schweizer Monat 996  Mai 2012

Die Männerfrage Fakten und Fiktionen: Einige Gedanken zum vergessenen Geschlecht der Emanzipationsverlierer von Walter Hollstein

D

ie feministische Doktrin von der Unterdrückung des weibli­ chen Geschlechts lässt sich schon seit Jahren nur noch ideo­ logisch aufrechterhalten. Die Ideologen und ihre Fürsprecher in den Medien haben in der Tat ganze Arbeit geleistet. Aufmerksame Soziologen und Statistiker hingegen wissen längst: Die Frauen sind die eigentlichen Gewinnerinnen der Modernisierung. Ihr Aufstieg im Laufe der vergangenen dreissig Jahre ist eklatant. Sie machen die besseren Schulabschlüsse, studieren häufiger, dominieren ganze Fachbereiche und stellen die Mehrheit der kompetenten Berufsanfänger. Die Emanzipationsverlierer sind heute Jungen und Männer. Das lässt sich selbst in der Arbeitswelt dokumentieren, wo angeb­ lich die Dominanzen der Männer verankert sind. Die Entwicklung der Wirtschaft tendiert seit geraumer Zeit in Richtung des «weibli­ chen» Dienstleistungsgewerbes und zur sukzessiven Schrump­ fung der «männlichen» Industriearbeit. Dementsprechend steigt die weibliche Erwerbstätigkeit, während die männliche ebenso kontinuierlich abnimmt. Seit einigen Jahren ist die männliche Arbeitslosenquote in Industriestaaten höher als die weibliche.1 Es ist klar, dass dies die Zukunftsperspektiven der nachwachsenden männlichen Generation nicht gerade beflügelt, ebenso wenig wie der immer wieder kolportierte Slogan «Die Zukunft ist weiblich». In den USA ist die Botschaft bereits angekommen. Dort spricht man mittlerweile nicht mehr von Rezession, sondern von «Heces­ sion» – vom Rückgang des «Er». Entgegen solchen Trends werden weiterhin nur Mädchen und Frauen systematisch gefördert. Was zunächst unter dem Label der Frauenpolitik vertreten wurde, wird seit einigen Jahren als Gleich­ stellung oder auch Geschlechterpolitik dargestellt. Die neutralere Begrifflichkeit hat allerdings nichts an den alten Inhalten geän­ dert. Was einst als Frauenförderung historisch richtig und wichtig war, ist heute bloss noch falsch und kontraproduktiv. Die Gewaltfrage Ein deutliches Beispiel für die selektive Wahrnehmung ist die Darstellung geschlechtsspezifischer Gewalt. Nach herrschender Lehre sind grundsätzlich Frauen die Opfer gewalttätiger Männer. Besonders krass hat dies im vergangenen Jahr die österreichische Frauenministerin mit einer Plakataktion dokumentiert: Eine Frau

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Walter Hollstein ist Professor für Soziologie und Autor von «Was vom Manne übrig blieb – Krise und Zukunft des starken Geschlechts» (2008). Er war Gutachter des Europarates für Jugendkriminalität und für Männer- und Geschlechterfragen.

und zwei Kinder sitzen – mit Schutzhelmen ausgestattet – ver­ schreckt vor ihrem Ehemann und Vater. Die Realität hingegen sieht anders aus. Frauen sind in gleichem Masse gewalttätig wie Männer; Gewalt hat also kein Geschlecht. Buben werden beispiels­ weise signifikant häufiger von ihren Müttern körperlich gezüch­ tigt als von ihren Vätern. Insgesamt sind in den westlichen Län­ dern Männer zu 75 Prozent Opfer von Gewalt, Frauen nur zu knapp 25 Prozent.2 Diese Befunde kommen nicht überraschend. Schon vor rund vierzig Jahren haben in den USA Forscher gezeigt, dass Gewalt zwischen den Geschlechtern annähernd gleich verteilt ist. Dafür wurden sie von Feministinnen verleumdet, angegriffen und terro­ risiert. Die Gründe für die Angriffe liegen auf der Hand – sie sind ideologisch und pragmatisch zugleich. Wird Frauen ebenso wie Männern Gewalt nachgewiesen, zerbricht der Mythos vom «fried­ fertigen Geschlecht», zerfällt mithin die konstruierte Kluft zwi­ schen weiblichen Opfern und männlichen Tätern. Pragmatisch betrachtet lässt sich dann auch die Einseitigkeit der Schutzpolitik gegenüber Frauen nicht mehr aufrechterhalten. Damit verlöre auch die Diabolisierung des Männlichen ein seit langem zementiertes Vorurteil. Galten Männer noch bis tief in die 1960er Jahre primär als Schöpfer der Kultur, Entdecker, Weise oder Staatenlenker, so setzte mit dem Beginn des Feminismus eine grundlegende Umwertung von Männlichkeit ein. Männer werden seither vorgestellt als Zerstörer der Natur, Kriegstreiber, Gewalttä­ ter, Kinderschänder oder – in der Werbung – als Trottel. In ihrem Buch «Pornographie» postuliert die amerikanische Radikalfeminis­ tin Andrea Dworkin ebenso schlicht wie dezidiert: «Terror strahlt aus vom Mann, Terror erleuchtet sein Wesen, Terror ist sein Le­ Steffen Kröhnert, Reiner Klingholz: «Not am Mann. Von Helden der Arbeit zur neuen Unterschicht?». Studie des Berlin-Instituts für Bevölkerung und Entwicklung, 2009. 2 Peter Döge: «Männer – die ewigen Gewalttäter? Gewalt von und gegen Männer in Deutschland». Wiesbaden: VS-Verlag, 2011. 1


Schweizer Monat 996  Mai 2012  Essay

benszweck.» Das Dworkinsche Lösungsrezept ist konsequent: «Ich möchte einen Mann zu einer blutigen Masse geprügelt sehen.» «Male Bashing» nennt man das in den USA. Tatsächlich scheint die Abwertung von Männern inzwischen so selbstverständlich geworden zu sein, dass auch niemand mehr aufmerkt, wenn zum Beispiel die Air France alleinreisende Männer nicht mehr neben Kindern sitzen lässt. Im Klartext geht diese Massnahme von der Annahme aus, dass jeder Mann – bloss weil er Mann ist – unter dem Generalverdacht steht, ein Kinderschänder zu sein. Wenn man präzis verfolgt, wie männliche Eigenschaften in den vergangenen vier Jahrzehnten dargestellt worden sind, wird ein drastischer Perspektivenwechsel deutlich. Wurden früher zum Beispiel Mut, Leistungswille oder Autonomie von Männern hoch­ gelobt, so werden heute diese einstigen Qualitäten als Aggressivi­ tät, Karrierismus und Unfähigkeit zur Nähe stigmatisiert. Der Basler Zoologe Adolf Portmann hat schon vor Jahrzehnten eindringlich darauf hingewiesen, dass wir uns als biologische Mängelwesen Bilder selber erschaffen müssten, um uns in der Welt überhaupt orientieren zu können. Die moderne Neurobiolo­ gie geht noch weiter und definiert menschliches Leben als bilder­ generierenden Prozess. Das Bild, das wir von uns als gemachtes Bild haben, ist identitätsstiftend. Ist dieses Bild negativ und ver­ ächtlich, führt es zu Identitätsstörungen. Diverse Arbeiten bele­ gen mittlerweile den engen Zusammenhang zwischen der Erosion des Männerbildes auf der einen Seite und der dramatischen Zu­ nahme von Jungengewalt andererseits3. Nach dem soziologischen Gesetz der «self fulfilling prophecy» exerzieren Buben, was ihnen zugeschrieben wird. Werden sie als Gewalttäter dargestellt, sehen sie sich irgendwann als Gewalttäter und handeln wie solche. Zwischen Frauen und Männern besteht inzwischen eine tiefe gleichstellungspolitische Gerechtigkeitslücke. Die Folgen sind be­ trächtlich, das belegen zahlreiche Studien und Publikationen: Jungen sind zum Problemgeschlecht geworden. Psychische Stö­ rungen treten bei ihnen achtmal häufiger auf als bei Mädchen. Der Anteil von Jungen in Förderschulen beträgt zwei Drittel. Dreimal so viele Jungen wie Mädchen sind heute Klienten von Erziehungs­ beratungsstellen, und in der Pubertät bringen sich achtmal so viele Buben um wie Mädchen. Vaterlos und weiblichkeitsüberfrachtet So vaterlos die junge Generation heute erzogen wird, so weib­ lichkeitsüberfrachtet ist sie zugleich. Jungen werden in einem en­ gen Frauenkäfig von Müttern, Omas, Tanten, Erzieherinnen, Kin­ dergärtnerinnen, Lehrerinnen und Sozialarbeiterinnen gross. Sie werden mit weiblichen Werten, Verhaltensmustern und Anpas­ sungsforderungen zugeschüttet; aber sie sind angehende Männer, möchten und müssen wissen, was Männlichkeit bedeutet und wie sie gelebt werden kann. Wenn das von Frauen abstrakt oder manchmal auch abfällig vermittelt wird, entsteht ein Unbehagen, das Aggression erzeugen kann. In Kindergärten, Ganztagseinrich­ tungen, Schulen und Beratungsinstanzen stossen Jungen ständig an weibliche Grenzsetzungen. In ihrer Motorik und Renitenz drü­

cken sie dann häufig ihren Widerstand gegen die Erziehungsein­ richtungen als weibliche Bastionen aus. Die amerikanische Philo­ sophin Christiana Hoff Sommers hat das sarkastisch kommentiert: Tom Sawyer und Huckleberry Finn würden heute in der Frauen­ schule Ritalin verordnet bekommen, um ruhiggestellt zu werden. Das Weibliche ist heute – zumindest ideologisch und normativ – mehr wert als das Männliche. Das Weibliche ist in vielen Berei­ chen inzwischen auch selbstverständlich geworden, ohne dass es als solches reflektiert würde. Dementsprechend zeigen sich junge Männer heute geplagt von der Angst, als Geschlecht bald überflüssig zu werden4. Inzwischen ist die Situation so weit gediehen, dass eine kritische Auseinandersetzung mit feministischen Postulaten schon als antidemokratisch diffamiert wird. Ein eklatantes Beispiel dafür ist die Schrift «Geschlechterkampf von rechts», die die SPDnahe Friedrich-Ebert-Stiftung herausgegeben hat; sie konnotiert in schlichtem Denken die Kritik am Feminismus mit Rechtsextre­ mismus5. Das hat Folgen, die sich für das Gemeinwesen als überaus schädlich erweisen. Verunsicherte Männer wagen sich zum Bei­ spiel immer später in die Welt hinaus; die Hälfte der 25jährigen wohnt noch zu Hause; bei den über 30jährigen leben noch 14 Prozent im «Hotel Junge Männer zeigen sich Mama». Verunsicherte Män­ ner sind auch zögerlich, heute geplagt von der Angst, eine Partnerschaft ein­ als Geschlecht bald zugehen und sich auf eine überflüssig zu werden. feste Beziehung einzulas­ sen. Viele junge Männer trauen es sich einfach nicht mehr zu, für Familie und Kinder verantwortlich zu sein. Ar­ beitgeber klagen über ihre männlichen Auszubildenden. Ihnen fehle es an Disziplin, Wille zur Kontinuität, Standfestigkeit und Frustrationstoleranz. Das bestätigt auch das Lehrpersonal. Der prototypische Problemschüler ist heute männlich. Insofern wäre es gesellschaftlich produktiv, sich an ein Um­ denken über die reale Wertigkeit des Männlichen zu wagen. Die historische Fehlleistung der bisherigen Gleichstellungspolitik be­ steht darin, dass sie Männer grundsätzlich nur als Sündenböcke erkennt, aber nicht als Ansprechpartner wahrnimmt. Das ist – ob­ jektiv betrachtet – ein Skandal. Um das zu ändern, müssten aber die Männer mutig für ihre eigenen Belange einstehen. �

Vgl. Anthony Clare: «Männer haben keine Zukunft». Bern, Scherz, 2002; Susan Faludi: «Männer – das betrogene Geschlecht». Rowohlt: Reinbek, 2001; Dan Kindlon, M. Thompson: «Raising Cain: Protecting the Emotional Life of Boys». New York: Ballantine Books, 1999. 4 «20jährige Frauen und Männer heute». Studie von Sinus Sociovision, 2007. 5 Thomas Gesterkamp: «Geschlechterkampf von rechts». WISO-Diskurs, 2010. 3

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Schweizer Monat 996  Mai 2012  DEBATTE

Schlaraffenland? Staatlich begrenzte Managergehälter, Mindestlohn, Erbschaftssteuer: Neue Volksinitiativen fordern mehr staatliche Eingriffe. Was bewegt jene, die den neosozialistischen Aufstand proben? Und was wären die Folgen? von Andrea Caroni

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er Schweiz droht eine bedrohliche Flut. Eine Vielzahl sozialis­ tischer Ergüsse hat sich zu Volksinitiativen verdichtet. Von den Strassen her fliessen die Unterschriften zum Bundeshaus und dann durch die Kanäle der parlamentarischen Verfahren. Dort ver­ dichten sich die Ströme zu Abstimmungsvorlagen und brechen in Kürze mit Wucht auf das Stimmvolk herein. Das sind die Initiativen, die die SP und die Juso auf nationa­ ler Ebene lanciert haben: die «Erbschaftssteuer»-Initiative, die Mindestlohn-Initiative und die «1:12»-Initiative (während am Horizont bereits die Volksinitiative für ein bedingungsloses Grundeinkommen anrauscht). Was begünstigt solche sozialisti­ schen Ströme? Und wie lassen sich die Dämme der liberalen Ge­ sellschaft stärken?

«1:12 – für gerechte Löhne» Die älteste der drei Volksinitiativen hat die jüngsten Urheber: Im März 2011 reichten die Juso 113 000 gültige Unterschriften für die Volksinitiative «1:12 – für gerechte Löhne» ein. Die Initiative will, dass in einem Unternehmen der höchste Lohn nicht mehr als das Zwölffache des tiefs­ ten Lohns betragen kann. Damit wollen die Initian­ Die Initiative ist nicht bloss ten Lohnungleichheiten wirtschaftsfeindlich, sondern bekämpfen und gleichzei­ auch willkürlich: Warum nicht tig Tieflöhne anheben. Aus liberaler Sicht ist 1:52 oder 1:7 – oder gleich 1:1? die Initiative grober Un­ fug. Sie verletzt ein Er­ folgsrezept des Schweizer Arbeitsmarktes, wonach Löhne unter den Vertragsparteien frei ausgehandelt werden. Löhne bilden so nicht mehr Arbeitspro­ duktivität ab, sondern staatliche Egalisierungsbestrebungen. Die Initiative ist jedoch nicht bloss wirtschaftsfeindlich, sondern auch willkürlich: Warum nicht 1:52 oder 1:7 – oder gleich 1:1? Und sie nützt nicht mal jenen, die sie zu schützen vorgibt. Die meisten Leute arbeiten ohnehin in Unternehmen mit geringeren Lohn­ spannen, und die andern haben nichts davon, wenn einige wenige Leute im Topmanagement weniger verdienen oder im Ausland beschäftigt werden.

Andrea Caroni ist promovierter Jurist und einziger Nationalrat des Kantons Appenzell Ausserrhoden (FDP).

«Mindestlohn-Initiative» Im März 2012 teilte die Bundeskanzlei mit, dass die «Mindest­ lohn-Initiative» der SP mit 112 000 gültigen Unterschriften zu­ stande gekommen sei. Diese Initiative verlangt landesweite Min­ destlöhne in Form eines gesetzlichen Mindeststundenlohns von 22 Franken sowie die staatliche Förderung von Mindestlöhnen in Gesamtarbeitsverträgen. Die Initiative ist quasi die Ergänzung zum jungsozialisti­ schen Vorschlag. Während jene die Topverdiener mit einem (re­ lativen) Maximallohn ins Visier nimmt, möchte diese Initiative die Tieflohnempfänger mit einem Mindestlohn ansprechen. Sie birgt indes bedeutend mehr Schadenspotential, denn ihr Anwen­ dungsbereich wäre enorm. Wie ein Maximallohn verhindert auch ein Mindestlohn, dass ein Arbeitgeber und ein Arbeitnehmer den Lohn vereinbaren, der der Produktivität des Arbeitnehmers entspricht. Zu einem überhöhten Lohn können sich Unterneh­ men weniger produktive Arbeitskräfte leisten, was Arbeitslosig­ keit schafft. Wie beim Maximallohn der «1:12»-Initiative leidet der Unternehmensstandort Schweiz. Mehr noch als bei der «1:12»Initiative aber verlieren hier auch die angemassten Schutzbefoh­ lenen. Es sind nämlich die wenig produktiven Arbeitsmarktteil­ nehmer, die angesichts zu teurer Löhne am ehesten arbeitslos werden. «Erbschaftssteuerreform» Die dritte Initiative diente der SP als Wahlkampfinstrument 2011. Seit letztem August läuft die Sammelfrist für die «Erb­ schaftssteuerreform». Diese will Erbschaften und Schenkungen landesweit zu 20 Prozent besteuern, bei einem Freibetrag von 2 Millionen Franken und einer Teilzweckbindung für die AHV. Der Vorschlag mag für viele zunächst verlockend klingen: Würde er nicht zur Chancengleichheit beitragen, die Staatskassen füllen und dabei ohne die negativen Anreize von Einkommensoder Konsumsteuern auskommen? In Wahrheit schlägt auch diese Initiative dem Liberalismus ins Gesicht. 35


DEBATTE  Schweizer Monat 996  Mai 2012

Zunächst teilentmündigt sie die Kantone in ihrer Steuerho­ heit. Sodann greift sie nicht nur ins Eigentum der Erben, sondern auch der Erblasser ein, die die Verfügungsfreiheit über einen be­ trächtlichen Teil ihres Nachlasses verlieren. Dies wiederum setzt Anreize gegen das Sparen und Investieren und für die Verschwen­ dung zu Lebzeiten. Weiter greift die Steuer auf Werte zu, die be­ reits zahlreiche Male versteuert wurden. Sie ist unternehmer­ feindlich, denn sie bringt all jene in Bedrängnis, denen eine Unternehmung oder andere illiquide Werte überlassen wurden. Sie vernebelt den Blick auf dringenden Reformbedarf bei der AHV. Und schliesslich ist die vorgesehene Rückwirkung per 1. Januar 2012 rechtsstaatlich inakzeptabel.

nen gegenüber steht eine – für die Mehrheit viel weniger sichtbare – andere Minderheit, die wegen der überhöhten Löhne künftig arbeitslos wird oder bleibt. Natürlich sind «Schlaraffenland-Politiker» in der politischen Arena rhetorisch im Vorteil. Wie süss klingen doch ihre Verspre­ chen von «mehr Lohn, mehr Ferien und mehr Rente für alle», alles natürlich ohne Verzicht, ohne harte Arbeit und Wettbewerb. Wer auf die wirtschaftlichen Realitäten hinweist, gilt als kaltherziger Kapitalist. Dafür dürfen sich jene den Mantel moralischer Überle­ genheit umlegen, die ihrer Klientel zu ihrem «fairen» oder «gerech­ ten» Anteil am Kuchen verhelfen wollen, der im Schlaraffenland gebacken wird.

Die Umstände Was für ein politischer und gesellschaftlicher Untergrund begünstigt es, dass der Pegelstand sozialistischer Initiativen an­ steigt? Und welche Umstände erhöhen die Gefahr, dass eine sol­ che Initiativenflut nicht einfach abebbt, sondern mit Volkes Zustimmung gar in die Verfassung einfliesst? Da ist zum einen die aktuelle Grosswetterlage. Die jüngsten Finanz- und Wirtschaftskrisen haben bei vielen Menschen das Vertrauen in die freie Marktwirtschaft geschwächt. Etatisten nut­ zen die Stimmung geschickt, indem sie jegliches Staatsversagen ausblenden (sei es die Befeuerung von Immobilienblasen, den weltweiten Haushaltsschlendrian oder jobfeindliche Arbeits­ marktregulierungen). Da­ für rufen sie zur Hexen­ jagd gegen die «Abzocker», Wir leben nicht in «Spekulanten» oder die «1 Prozent» (Occupy Wall einer «Klassengesellschaft», Street). In dieser aufge­ sondern in einer heizten Stimmung gedei­ «Chancengesellschaft». hen «Wir alle gegen jene wenigen»-Initiativen wie von selbst. Dass sich eine Mehrheit an einer Minderheit auslässt, liegt jedoch nicht nur am Zeitgeist – im Gegenteil, es ist im Mehrheits­ prinzip der Demokratie angelegt. Verfassungsmässige Grund­ rechte schützen zwar den einzelnen vor der Willkür der Mehrheit. Doch wer schützt die Minderheit vor verfassungsändernden Ini­ tiativen? Politiker, die der Mehrheit Vorteile zulasten einer (schwach organisierten) Minderheit versprechen, erhöhen ihre Wahl- und Abstimmungschancen. Die «1:12»-Initiative (alle gegen ein paar Topverdiener) und die «Erbschaftssteuerreform» (alle ge­ gen ein paar Grosserben) reiten auf dieser Welle. Bei der «Mindestlohn»-Initiative ist ein verwandter Mechanis­ mus am Werk. Einer Minderheit, die sichtbar und gut organisiert ist, kann es gelingen, die Mehrheit mit ihrem Anliegen zu beein­ drucken, wenn die Verlierer gar nicht oder nur als unbedeutende Minderheit wahrgenommen werden. Im vorliegenden Fall gehören jene zur profitierenden Minderheit von Mindestlöhnen, die einen Job haben, sich seiner sicher sind und auf mehr Lohn hoffen. Ih­

Vom liberalen Abwehrdispositiv Wie können nun liberale Geister die freiheitliche Gesellschaft gegen sozialistische Sintfluten stärken? Ein wichtiger Baustein im liberalen Damm ist es, sich konse­ quent für den Föderalismus einzusetzen. Sozialismus ist zumeist auch Zentralismus. Wer als Föderalist in die Debatte steigt, verlegt den Schauplatz der Diskussion von den «Schlaraffenland»-Argu­ menten weg und hin zum Erfolgsmodell unseres vielfältigen Bun­ desstaates. Unternehmerisch denkende und handelnde Menschen müs­ sen zwar eine Antwort auf tatsächliche und empfundene Exzesse haben – und ja, hier tun sie gut daran, auch selbstkritisch zu sein. Zugleich müssen sie ihren Fokus jedoch vor allem auf die hundert­ tausende Schweizer Unternehmen legen, die dank einer (noch) sehr freien Wirtschaftsordnung Millionen von Arbeitsplätzen an­ bieten und Löhne bezahlen können, von denen letztlich auch der (Sozial-)Staat lebt. Eine «Mindestlohn»- oder eine «1:12»-Initiative sollten vor diesem Hintergrund doch einfach zu entlarven sein als Anschläge auf unseren Arbeitsmarkt, um den uns die Welt benei­ det. Dabei ist es natürlich dienlich, wenn sich die Topexponenten der Wirtschaft bewusst sind, welche Symbolkraft ihr Verhalten auf die breite Bevölkerung hat. Freiheitliche Geister müssen auf die Durchlässigkeit unserer Gesellschaft hinweisen und sie, namentlich in der Bildungspolitik, glaubwürdig bekräftigen. Wir leben nicht in einer «Klassengesell­ schaft», sondern in einer «Chancengesellschaft». Wenn jeder die Möglichkeit hat, es zu etwas zu bringen, dann weicht Neid der An­ erkennung – nicht zuletzt aus dem Kalkül, ja selber im Erfolgsfalle die eigenen Früchte behalten zu wollen. Schliesslich dürfen Liberale das Feld der Moral nicht kleinlaut den linken Strömungen überlassen. Sie sollten für ihre freiheitli­ che Weltanschauung mit Stolz moralische Überlegenheit rekla­ mieren. Der Liberalismus achtet und schützt das Individuum. Er bewahrt die Märkte, welche Wohlstand und Fortschritt und damit auch das Fundament unseres Sozialstaates schaffen. Und er schützt die dezentrale Ordnung, welche Vielfalt und Selbstbestim­ mung ermöglicht. Auf dass unsere freiheitliche Gesellschaft diesen Fluten auch im Zeitenlauf widersteht! Als freiheitlicher Fels in der Brandung. �

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Investiere in dich!

Studenten als Unternehmer ihrer selbst Dossier

Bild: Universität Zürich, Ursula Meisser

Wozu eigentlich studieren? Birger P. Priddat 2 Investiere in dich! Florian Rittmeyer spricht mit Gary S. Becker 3 Investiert in alle! Reiner Eichenberger und Anna Maria Koukal 4 Ich studiere, also will ich Greta Patzke 5 Einzelkämpfer bringen es nicht weit Florian Rittmeyer trifft Georg von Krogh 1

Für die Unterstützung bei der Lancierung des Dossiers danken wir der Gebert Rüf Stiftung. 37


«Der ehemals linke Glaubensgrundsatz von der Chancen­ gleichheit ist längst durch die Institutionen marschiert und hat sich nahezu ins Gegenteil verkehrt – auch im Bildungssektor. Statt allen jungen Menschen gute Rahmen­ bedingungen für ihre je unterschiedliche Arbeits- und Gesellschaftsmarktfähigkeit zu geben, arbeiten die in Amt und Würde stehenden Kleriker des Bildungsestablish­ ments an allerlei Harmonisierbarem: Studentenquoten sollen dem europäischen Mass angenähert, Selektionshürden abgebaut und Semester­ gebühren keinesfalls erhöht werden. In dieser Optik sind Menschen, die studieren, eine von der schädlichen Leistungsgesellschaft bedrohte Bevölkerungsminderheit, die allerhand Unterstützung und Förderung benötigt. Bloss, wie verträgt sich diese bildungspolitische Hätschelei mit dem in der Schweiz seit einiger Zeit postulierten und volkswirtschaftlich einleuchtenden Exzellenzgedanken? Ein hervorragendes Bildungssystem definiert sich über seine Alumni. Der Schweiz zu wünschen sind eigenverant­ wortliche, leistungs- und wandlungsfähige junge Menschen mit grossem Selbstvertrauen – Unternehmer ihrer selbst.» Philipp Egger, Geschäftsführer der Gebert Rüf Stiftung

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IntroDossier

Investiere in dich! Studenten als Unternehmer ihrer selbst

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einrich von Kleist, Nick Hayek, Mark Zuckerberg – sie alle haben ihr Hochschulstudium frühzeitig hingeschmissen. Sie sahen ihre wertvolle Zeit und Energie anderswo besser investiert, verfolgten eine «freie Geistesbildung» oder gründeten ein Unternehmen. 72 Prozent der Studenten an

Schweizer Hochschulen gehen einen anderen, manchmal ebenso abenteuerlichen Weg. Zum Beispiel Fabian. Er beklettert überhängende Wände und studiert Jus. An den Betrieb moderner Massen­ universitäten hat er sich längst angepasst. Seine Arbeiten gibt er pünktlich ab, er ist ein gerngesehener Gast an WG-Partys und hat eine klare Vorstellung davon, in welcher Art von Kanzlei er später arbeiten will. Den Grossteil seiner Zeit verbringt er deshalb – im Bologna-Jargon gesprochen – mit fleissigem Punktesammeln. Corina weiss, dass ein Studium der Jurisprudenz der künftigen finanziellen Sicherheit zuträglich ist. Doch sie interessierte sich früh für Epigenetik und hat derweil ein Studium der Biologie gewählt. Was sie später damit anfangen wird, ist offen. Sie

sammelt keine Punkte, sie sucht Wissen.

Gemeinsam ist den beiden die Hoffnung, dass ihnen das Studium berufliche Möglichkeiten eröffnet, die ihnen ein gutes Einkommen bieten und ihrer Vorstellung von einem guten Leben entsprechen. Und sie stellen sich auch die gleichen Fragen: Sind die eigene Zeit und eigenes, in das Studium gestecktes Geld gut investiert? Mache ich, was mich begeistert? Bin

ich hier, weil ich muss oder weil ich will?

Wer so denkt, hat verinnerlicht, dass für das Studium kostbare Ressourcen des eigenen Humankapitals ange­ zapft werden, dieses aber zugleich vermehrt wird. Kurzfristige Verlockungen sind allgegenwärtig, aber Bildung ist, so kann verallgemeinert gelten, eine Investition in eine ungewisse Zukunft. Studenten, die das – bewusst oder unbewusst – bejahen, sind

Unternehmer ihrer selbst. Ganz unabhängig von individuellen

Zukunftsplänen. Was bringt Studenten – und Lernende allgemein – dazu, sich dieses Bildungs-Mehrwerts auch tatsächlich bewusst zu sein? Wir haben mit dem Vater der Humankapitaltheorie gesprochen und Vordenker der Wissensge­ sellschaft zu Wort kommen lassen. Ihre vielfältigen Ideen zum Thema «Studenten als Unternehmer ihrer selbst» richten sich an all jene, die noch nicht ausgelernt haben. Die Redaktion

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Dossier  Schweizer Monat 996  Mai 2012

Wozu eigentlich studieren?

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Neugier erst schafft die Leidenschaft, sich auf die Mühen des Verstehens einzulassen. Alles andere ist bloss Fortsetzung der Schule mit ihren Qualen und Pflichten. Einige kritische Gedanken. Und dazu ein Manifest für den zeitgenössischen Studenten. von Birger P. Priddat

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ie Eltern wollen, dass man einen «an­ ständigen Beruf» anstrebt. Viele junge Leute setzen dies gleich mit «Karriere». Doch ist ein Studium bloss eine Eintritts­ karte für höhere Einkommensschichten? Wenn ich mich heute entscheiden sollte, zu studieren, würde ich das gleiche tun wie 1974: das studieren, was mich im­ mer schon interessiert hat. Ich entschied mich damals zwar für Volkswirtschafts­ lehre, weil ich Karl Marx verstehen wollte. Aber: aus Langeweile über das tatsächliche Studium begann ich schon bald, in die Phi­ losophie zu gehen, um mich dort nach den Ideen anderer kluger Köpfe zu erkundigen. Überhaupt: wir Neustudenten haben da­

Viele der heutigen Studenten wissen etwas – aber nichts damit anzufangen.

mals nicht an der, sondern die Universität studiert – wir haben wohl ein Fach als Aus­ gangsbasis gewählt, aber sonst alles, was uns irgendwie interessierte, in allen Fakul­ täten, die uns interessierten. An einen Beruf hat bei der Wahl des Studiums damals kaum jemand wirklich gedacht. Zu studieren bedeutete, ein Geistesleben zu beginnen. Was damals die Regel war, ist heute die Ausnahme. Die Uhren ticken 2012 anders als 1974: Auf das Studium folgt oftmals eher eine Serie von Praktika als ein geregelter Beruf, die Berufswahl gestaltet sich ob des 40

grösseren Angebots unübersichtlicher, ebenso die Wahl des Studienfachs, das einen heute für den Beruf qualifizieren soll. Ich kenne genug Studenten, deren einziges Ziel es ist, ein Examen zu machen, ergo: ein Zer­ tifikat anzustreben. Sie besuchen Seminare, um Prüfungen zu machen. Vermeintliches Ticket um Ticket. Vermeintliche Eintritts­ karte um Eintrittskarte. Das abgeschlos­ sene Studium als reiner Karrieretreiber! Bologna Diese Haltung wird verstärkt durch die modernen Universitäten, die in den letzten Jahren verstärkt zu verlängerten Schulen geworden sind, deren (Bologna-)Program­m­­ ziel heisst: Ausbildung. Viel Wert wurde deshalb auf Verwert­ barkeit und Klassifizierung des Wissens und der Studenten gelegt, was sich in Stu­ dien- und Lehrplänen, in Punktetabellen und Scheinen manifestiert und in der Ge­ samtheit nicht unbedingt den Eindruck hinterlässt, den einzelnen in seiner Selbst­ bestimmung – seiner Selbstausbildung also – zu unterstützen. Bologna ist die Kopie ei­ ner angloamerikanischen Auffassung von Ausbildung in europäischer Anpassung, zugespitzt: reine fachliche Kompression zum Zertifikateerwerb. Die Folgen: grosse Veranstaltungen, wenig Kontakt zwischen Professoren und Studenten, viele Prüfun­ gen, grosse Stoffdichte, educational stress. Da jedes Modul selber geprüft wird, gibt es keine übergreifenden Prüfungsfragestel­ lungen mehr. Die enge Fachlichkeit domi­ niert, die universitäre Atmosphäre des freien Denkens ist für junge Studierende kaum mehr spürbar.

Birger P. Priddat ist Ökonom und Philosoph. Er ist Inhaber des Lehrstuhls für Politische Ökonomie an der privaten Universität Witten/Herdecke, deren Präsident er von 2007 bis 2008 war.

Das alles läuft unter der vorgeschobe­ nen Prämisse, dass der Bachelor (BA) kurz und knackig «auf die Praxis» vorbereiten soll – wobei ich bis heute kaum einen Kol­ legen kenne, der dazu in der Lage wäre. Allein schon aus dem Grund, weil niemand «die Praxis» wirklich kennt. Das ist kein Vorwurf an die Kollegen, sondern nur ein Hinweis darauf, dass Universitäten eigent­ lich etwas ganz anderes vorbereiten als Praxis: nämlich den Umgang mit Theorien, mit Wissenschaft, mit Weltbildern. Ausbil­ dung ist gut und richtig, aber an den Orten, an denen sie tatsächlich geschehen kann: in den Unternehmen, Organisationen, Ver­ waltungen, Verbänden etc., also dort, wo die Universitätsabgänger später landen. Universitäten bilden: Weltbilder. Wissen ist nicht Wissensmanagement Vielen gelingt es, auf diese Art ihr Studium «durchzubringen». Viele der heu­ tigen Studenten wissen etwas – aber nichts damit anzufangen. Sie degradieren sich selbst zu ungebildeten kognitiven Spei­ chern mit zunehmenden Verlustraten – ich bin deshalb immer wieder erschrocken über den Mangel an geistiger Navigations­ fähigkeit derer, die so ihre Examina been­ det haben. Um nämlich etwas über längere Zeit sinnvoll einsetzen zu können, muss man sich damit identifizieren, es muss einen bewegen und erfüllen. Nur so hält es sich im Neocortex – und auch in der Seele.


Bild: Universit채t Z체rich, Frank Br체derli

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Dossier  Schweizer Monat 996  Mai 2012

Wissen kann man sich als intellectual fast food aus den Netzen und Datenbanken besorgen: (fast) alles, was man will. Was aber davon relevant ist, was man tatsäch­ lich braucht und wie man es, aus dem vie­ len, was angeboten wird, intelligent zu­ sammenstellt, so dass Erkenntnisse und Urteile daraus entstehen – das alles lernt man nicht, wenn man viel weiss (und mehr noch weiss, was man nicht weiss). Man lernt es nur, indem man sich eingehend und intensiv damit beschäftigt, Wissen einzuschätzen, zu interpretieren, zu sortie­ ren. Kurz: man muss verstehen lernen. Wir befinden uns also an dieser Stelle bereits eine Ordnung höher. Das Studium darf in diesem Sinne keine blosse Belieferung von Wissen sein, sondern vielmehr ein aktiver Suchvorgang, neugiergetrieben und aus­ formbar in Gesprächen mit anregenden Geistern. Wenn man nun also konstatiert, dass das heutige BA/MA-System nach Bolo­ gna diese Freiheit nicht mehr bietet, so muss man die Frage nach einer Alternative stellen. Wie kann diese heute aussehen? Das 8-Punkte-Programm Wegweisend für die Universität der Zu­ kunft können acht Punkte sein, die wir an der Universität Witten/Herdecke gemein­ sam mit den Studenten festgeschrieben und seit 1984 in einer Art Pilotprojekt in die Praxis umgesetzt haben. Ich möchte sie im folgen­ den kurz skizzieren. 1) Das Studium ist ein freies Studium. Es mag trivial klingen, und natürlich gibt es auch bei uns Pflichtveranstaltungen, aber Studenten sollten im Prinzip weitestge­ hend wählen dürfen, was sie interessiert. Das gilt in der eigenen Fakultät wie auch im generelleren studium fundamentale. Die Freiheit des Studiums reicht bis hin zur freien Bestimmung über die Themen der Abschluss- und Seminararbeiten. 2) Mehr Seminare, weniger Vorlesun­ gen! Die Studenten sollten nicht in anony­ men Hörsälen sitzen, in denen man sich mit iPods, Laptops und Hochglanzmagazi­ nen beschäftigen kann, sondern in einem übersichtlichen Kreis. Im Grossteil des Se­ minars wird über die fachspezifische For­ schungsliteratur diskutiert; es kommt also 42

nicht nur auf die Vorbereitung, sondern auch auf das selbständig erarbeitete Ver­ stehen der Theorien an – nicht aber auf ihre dozentische Verabreichung. Man kann Theorien im Dialog (mäeutisch) entwickeln – so erzielen sie eine höhere Wirkung als durch frontales Eintrichtern. Die Studen­ ten besuchen genau die Seminare, die The­ men haben, die sie neugierig auf das Ein­ dringen in Gedankenwelten machen, die sie bisher nur ahnen, aber nicht bestim­ men konnten. 3) Kleine Gruppen! Optimal sind 7 Stu­ denten in einem Seminar, gut sind 15, in Gruppen mit über 25 Studenten entstehen Subgruppen im Seminar, die keine geschlos­ sene Diskursgemeinschaft mehr bilden. Hier liegt das Hauptproblem vieler Staats­ universitäten: ihre Ressourcen. Zu wenig Lehrende kommen auf zu viele Studenten. Wir wissen mittlerweile aus mannigfachen Studien, dass dieses Ressourcenproblem über kurz oder lang ein pädagogisches Pro­ blem generiert. 4) Ständige Interaktion: Eine selbstver­ ständliche Erreichbarkeit in den Büros, auf den Fluren, per E-Mail und per Telefon ge­ hört zu einer tragfähigen Bildungsinstitu­ tion. Die Präsenz stärkt den inneruniversi­ tären Zusammenhalt und sorgt für ein anderes Klima als eines, in dem jeder Pro­ fessor nur eine anonyme Adresse, Telefonoder Raumnummer, jeder Student bloss eine Matrikelnummer ist. 5) Seminare, Kolloquien und auch Sprechstunden sind Übungen in sozialer Kompetenz: in der Art und Weise, wie man miteinander reden (zuhören und angemes­ sen reden) lernt, wie man Diskurse gelin­ gen macht, ohne falsche Dominanz, aber auch ohne Passivität. Team competences, aber auch leadership sind tragfähige Ne­ benprodukte einer diskursiven Bildung. Denn: wer nicht miteinander redet, kann auch nicht voneinander lernen. 6) Studenten müssen als junge Erwach­ sene betrachtet werden, nicht als pädagogi­ sches Frühobst. Wer häufig miteinander redet, der kennt und achtet sich auch. 7) Das bereits genannte studium fundamentale ist keine Bildungsfloskel, sondern der an der Universität Witten/Herdecke

seit 25 Jahren erprobte Kern der Universi­ tätsausbildung aller Fakultäten. Jeder Stu­ dent ist hier zu 10 Prozent seines Faches zum studium fundamentale verpflichtet; die meisten nehmen freiwillig an mehr überfakultativen Seminaren teil. Es gilt hier, Themen zu bearbeiten, die den Hori­ zont systematisch erweitern in Philoso­ phie, Kunst, Geschichte, Politik und Sozio­ logie. Man kann sich als verantwortlicher Entscheider später nicht qualifiziert in der Welt bewegen, ohne diese zumindest an­ satzweise zu kennen. Wer vernünftige Ent­ scheidungen treffen will, der sollte doch immerhin wissen, was hinter dem Begriff «Vernunft» steckt. 8) Studenten sollten parallel zum offi­ ziellen Studium zur Mitarbeit bei Projekten angehalten sein: in der Universität, in der Wirtschaft, in der Gesellschaft. Die Univer­ sität muss diese Projektdimension fördern und unterstützen, sie als Praxis verstehen, wenn es um einen netzwerkorganisierten, freiwilligen und umso effizienteren Teil der Bildung kommunikativer, organisatori­ scher und sozialer Kompetenzen geht, die im Seminar nur sehr partiell erlernt wer­ den können. Der Effekt: real cases ersetzen die theoretischen case-studies, diese nur intellektuellen Spielwiesen. Kooperation auf allen Ebenen Natürlich macht auch uns der BolognaProzess weiterhin zu schaffen; wir betrach­ ten ihn aber als eine Herausforderung für neue, intelligente Lösungen. Dabei sind auch die Studenten zu einem nicht unerhebli­ chen Teil gefordert, ihren Teil beizutragen. Die Zeppelin University in Friedrichs­ hafen lässt sich – zu Recht – dafür feiern, dass sie einen Studenten zum Vizepräsi­ denten ernannt hat. Das kann eine innova­ tive Form der Mitbestimmung sein, in Witten/ Herdecke haben wir ein anderes Kooperati­ onsmodell: Die Studenten machen die Ver­ träge über die Studiengebühren und sind Gesellschafter der GmbH. Unter strate­ gisch festgelegten Bedingungen zahlen sie an die Universität diese Gebühren aus. Wit­ ten/Herdecke hat das sozial verträgliche Finanzierungsmodell des «umgekehrten Generationenvertrages» schon vor 15 Jahren


Manifest für den zeitgenössischen Studenten

ausgearbeitet – auch dies übrigens von Stu­ denten. Die Idee: die Studenten zahlen die anfallenden Gebühren nicht direkt, son­ dern später. Die jeweils aktuell Verdienen­ den finanzieren also die jeweils aktuell Studierenden. Das bedeutet: jeder kann in Witten studieren, ohne von den Eltern ali­ mentiert werden zu müssen. Über Studien­ gebühren macht sich hier folglich auch nur Sorgen, wer später gar nicht arbeiten gehen möchte. Das ist in der Wirtschaft unge­ wöhnlich, aber ein Kooperationsmodell, das die Studenten zu Partnern der Univer­ sitätsleitung macht. Deshalb hat sich auch keine Studentenvertretung im klassischen Sinne herausgebildet: Die hier entwickelte Form der governance ist effektiver, da sie in einem hohen Mass an Verantwortung ge­ koppelt ist, an Kapitalverantwortung näm­ lich. Das hat zur Folge, dass, wenn Studenten

Und noch ein spezifischer Rat in eigener Sache: Wenn ich heute ein BA/MA-Programm für mich auswählen müsste, so würde ich im Bachelor-Programm Philosophie, Literaturwissenschaft, vielleicht auch Soziologie studieren. Diese Studiengänge legen Grundlagen für das Verständnis von Wissenschaft, Wissensmanagement und Wissenschafts­ betrieb. Im anschliessenden Master könnt ihr diese Grundlagen anwenden und dasjenige tiefergehende Studium aufnehmen, in dem ihr – vielleicht – später arbeiten möchtet.

Das Studium ist die einzige Zeit des längeren Nachdenkens im Leben. Es muss sich also lohnen.

Es lohnt sich nicht, ein Fach alleine zu studieren! Man muss sich zwar irgendwo anmelden, kann aber, partisanenartig, überall in die Vorlesungen und Seminare gehen. Man muss nur fragen – sinnvoll zur Bestimmung der eigenen potentiellen Tätigkeitsfelder ist das allemal. Wer sich anfänglich irrte, kann nur dank dieser gesammelten Erfahrungen wissen, wann es sich lohnt, doch etwas anderes neu anzufangen. Alles, was passiert, auch die Irrwege, ist nicht verloren, wenn man irgendwann findet, was man sucht (und im Suchen erst das Finden lernt).

Euer Studium sollte kein Durcharbeiten von Pflichtenkatalogen sein, sondern ein Schwimmen in geistiger Anregung. Für alles, was euch nicht anregt: hört auf! Geht aus Seminaren, Vorlesungen, die euch langweilen! Gründet Arbeitsgruppen, in denen Pflichten aufgeteilt werden, so dass man sie minimiert! Unterhaltet euch angeregt, auf eure Art, dann zusammen darüber! Dabei springt mehr heraus, als in der Ödnis schlechter Seminare geliefert – und nicht abgeholt – wurde.

Bewegt euch unternehmerisch! Daraus folgt eine Regel: Immer dann, wenn ihr mehr wissen wollt, seid ihr richtig. Immer dann, wenn es euch langweilt, seid ihr falsch.

Investiert in eure Neugier! Studiert also das, was ihr wollt! Investiert ferner in das, was euch treibt, belebt, was ihr wissen wollt! Der Profit, der return on investment, ist eure geistige Anregung und Befriedigung – nur in Verbindung mit ihr kann das gesammelte Wissen für den künftigen Beruf auch fruchtbar gemacht werden. Geht Umwege, wenn sie euch voranbringen! Findet heraus, was euch voranbringt! Habt euch selbst im Auge, nicht die Prüfungen!

Schweizer Monat 996  Mai 2012  Dossier

sich berechtigt regen, dies keine Fakultät ignoriert. Bologna kann folglich nur eine Folie sein, auf die wir die Universität neu zu schreiben lernen, und zwar unter Mitwir­ kung aller Beteiligten. Ob man den vielzi­ tierten Humboldt unbedingt kopieren muss, bleibt dabei offen: Es reicht zunächst, intelligente Lösungen für neugierschaf­ fende Verhältnisse zu schaffen. Damit sichergestellt ist, dass Studenten anders hinausgehen, als sie in die Uni hereinka­ men. Denn das ist Bildung: sich zu dem hin verändern, was man immer schon wollte. Smart, selbstbewusst, verantwortungsbe­ reit. Das sind keine Schlagworte, sondern harte Bildungsereignisse. Ich kann deshalb nur allen Studenten und solchen, die es gern wären, zurufen: Traut euch, einzigartig zu werden! Traut euch, ihr selbst zu werden! �

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Dossier  Schweizer Monat 996  Mai 2012

Investiere in dich!

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Ob das Wort gemocht wird oder nicht: «Humankapital» ist allgegenwärtig. Gary S. Becker hat dem Konzept vor sechs Jahrzehnten zur globalen Verbreitung verholfen. Heute fragt er sich, welche Renditen Eltern von Studierenden winken – und warum Frauen künftig mehr verdienen könnten als ihre männlichen Kollegen. Florian Rittmeyer spricht mit Gary S. Becker

Herr Becker, Sie sind einer der Pioniere in der Erforschung des Humankapitals und wurden dafür mit dem Nobelpreis für Ökonomie ausgezeichnet. Heute ist das Konzept etabliert… …finden Sie? Sure enough! Wie haben sich Begriff und Wahrnehmung verändert, seit Sie sich als junger Doktorand das erste Mal damit beschäftigt haben? Die moderne Analyse von Humankapital begann vor 60 Jahren. Forscher fragten sich, wie verstanden werden kann, was Einkommensunterschiede zwischen Indi­ viduen verursacht und was ökonomische Entwicklung beeinflusst. Die neue Sicht der Humankapitaltheorie war: Arbeitskraft ist eine Form von Kapital. Und in der Tat: Menschen investieren in das Lernen, in­ nerhalb und ausserhalb des Jobs. Als diese Sicht einmal formuliert war, erwies sie sich als mächtige Antriebsmaschine zur Beant­ wortung vieler ökonomischer Fragen. Heute sprechen sogar die Politiker in den USA über die Bedeutung von Bildung und Investitionen in Humankapital. Also hat sich Ihr Ansatz durchgesetzt. Das ist für einen Wissenschafter eine schöne Genugtuung. Oh ja. Neue Ideen stossen oft auf Wider­ stand. Es ist immer ein intellektueller Kampf. Der Begriff «Humankapital» wurde in Deutschland vor nicht allzu langer Zeit zum Unwort des Jahres gekürt. Aber insge­ samt trifft zu: Das Konzept hat sich welt­ weit durchgesetzt. Gesellschaften entwi­ ckeln sich global zu Wissensgesellschaften, 44

und überall, wo Wissen angewendet wird, steht Humankapital im Zentrum. Deshalb investieren Entwicklungsländer stark in das Bildungswesen.

Gary S. Becker Er erhielt im Jahr 1992 den Nobelpreis in Wirtschaftswissenschaft für seine Forschung zu ökonomischen Erklärungen menschlichen Verhaltens in Gebieten wie Familie, Bildung, Kriminalität sowie Diskriminierung in Arbeits-

Und aufsteigende Wirtschaftsräume wie Ostasien nehmen die Idee begeistert auf. Sie haben die Chance begriffen, die dieser Ansatz bietet. Als China nach 1979 die wirt­ schaftliche Entwicklung vorantrieb, sagten mir die Leute bei Besuchen in China jeweils: «Unsere Ressource ist unser Humankapital. Und das machen wir uns zunutze. Mit einem Willen, hart zu arbeiten, und mit Investi­ tionen, die wir in die Bildung unserer Kin­ der stecken.» Heute sehen wir: Länder, die über viel Wissen verfügen, sind reich, und Länder, die keinen Zugang zu Wissen ha­ ben, sind arm. Ist es so einfach: Wenn ich in mich investiere, verdiene ich mehr? Das kommt darauf an, wie gut die Investi­ tionen sind, die Sie in sich selbst tätigen. Die Forschung zeigt: In einem Land wie der Schweiz, den USA oder China verdienen Leute mit mehr Fachkenntnissen und mehr Fähigkeiten mehr, und vor allem verdienen gebildete Leute substanziell mehr. Also ist es auch rentabel, nicht nur in mich selber, sondern auch in andere zu investieren, zum Beispiel auch in einen klugen Studenten ausserhalb des Familienkreises. Aber diese Art von Anlegen ist nicht weit verbreitet. Warum? Der Gedanke ist interessant, aber proble­ matisch. Wenn jemand Geld verleiht, damit sich der Schuldner ein Haus oder eine Ma­

und Gütermärkten.

schine kaufen kann, so muss der Schuldner eine Sicherheitsleistung erbringen. Die Si­ cherheit ist in diesem Fall die Maschine oder das Haus. Was aber nicht geht: Men­ schen als Pfand verwenden. Die Unmög­ lichkeit, Menschen als Pfand zu nutzen, ist der Entstehung eines kommerziellen Mark­ tes für Anleihen auf Humankapital abträglich. In Shakespeares «Kaufmann von Venedig» bietet Antonio als Pfand «ein Pfund Fleisch» seines eigenen Körpers. Das dürften aber die wenigsten tun, weil sie sich damit in eine unauflösbare Abhängigkeit begeben... ...richtig. In der Vergangenheit verwendeten sich Menschen innerhalb einer Vertrags­ knechtschaft selbst als Pfand. Die Leute, die im 17. Jahrhundert in die USA einwan­ derten, mussten sich verpflichten, zwei bis vier Jahre für jemand anderen zu arbeiten, um damit ihre Überfahrt bezahlen zu kön­ nen. Wir haben die Sklaverei glücklicher­ weise abgeschafft und verunmöglichen, dass sich Menschen in ein Vertragsverhält­ nis nach altem Muster begeben. Wer heute in andere Menschen investiert, besitzt diese nicht mehr. Wer Menschen als Anlagegüter behandelt, setzt sich dem Vorwurf aus, diese zu erniedrigen. Andererseits sind Überlegungen zur Rentabilität bei Investitionen in Perso-


Schweizer Monat 996  Mai 2012  Dossier

nen allgegenwärtig. Ich denke da beispielsweise an junge Fussballtalente. Humankapital stellt letztlich Menschen ins Zentrum, und das ist gut so. Wenn Men­ schen ein Anlagegut haben, über das sie verfügen, ist das nicht erniedrigend. Nehmen wir Ihr Beispiel aus dem Sport. Ich mag Tennis. Ein guter Tennisspieler wie zum Beispiel Roger Federer ist sicherlich ein ex­ trem talentierter graziöser Spieler, aber seinen Wert steigert er durch was? Durch Investitionen in seine Ausdauer, seine Tech­ nik, kurz: in sich selbst! Tennisspieler sprechen nicht von Humankapital, aber sie handeln so, als hätten sie sämtliche Werke von Gary Becker gelesen. Exakt. Sie werden vielleicht sogar den Be­ griff «Humankapital» nie gehört haben; das hindert sie aber nicht daran, dieses zu steigern. (lacht) Tennisspieler sind ihre ei­ genen Unternehmen. Es kann auch sein, dass übergeordnete Unternehmen in die Fähigkeiten ihrer Angestellten investieren. Ein Fussballclub kann Geld in das Training seiner Spieler stecken – aber letztlich ist es der Fussballspieler selbst, der dieses Kapital besitzt. Er mag bei einem Team unter Ver­ trag stehen, aber nach dem Auslaufen des Vertrags kann er das Team verlassen und andere Teams für sein Talent bieten lassen. Das ist der Unterschied zur Sklaverei. Wie verändern sich meine Werte und Prioritäten, wenn ich mir das Konzept des Humankapitals bewusst zu eigen mache? Wenn Sie verstehen, was Humankapital be­ deutet und wie Sie es steigern, beeinflusst das Ihren persönlichen Erfolg positiv. Ein­ fach ausgedrückt: Sie begreifen, dass Sie etwas heute machen müssen, um morgen etwas besser machen zu können. Das erfordert ein diszipliniertes Leben. Oft steht der Realisierung langfristiger Pläne unmittelbare Bedürfnisbefriedigung im Weg. Deshalb versuchen Eltern ihren Kindern auch beizubringen, sich an einem längeren Zeithorizont statt nur am unmittelbaren Nutzen zu orientieren! Hausaufgaben sind mühsam, zahlen sich aber aus. Die wich­ tigste langfristige Orientierung ist der Wille

zur Bildung. Jugendliche und übrigens auch Erwachsene, die dies nicht begreifen, werden zu Schulabbrechern oder laufen Gefahr, irgendwann mit einem schlechten Job ohne Aufstiegsmöglichkeiten dazuste­ hen. Was man jungen Menschen sagen muss – und ich sage es ihnen immer wie­ der: Dein Humankapital entscheidet dar­ über, wie gut es dir in Zukunft gehen wird, nicht nur im monetären Sinn, sondern auch in bezug auf die berufliche Befriedi­ gung. Es findet also schon früh eine Art Vorentscheidung statt, die über die Art von Berufen, die man ausüben kann, über den Zugang zu höheren Positionen, über die Wahlmöglichkeiten bei Lebensraum und Arbeitszeit und viele andere Faktoren be­ stimmt. In der Ökonomie betonen wir die Bedeutung von Wahlmöglichkeiten – und gut gehegtes und gepflegtes Humankapital erweitert die Wahlmöglichkeiten! Das klingt sehr rational. An mir selber beobachte ich, dass ich nicht immer rational handle. Zunächst: Menschen schauen sich an, wel­ che Wahl sie haben. Sie klassifizieren diese Wahlmöglichkeiten und treffen dann Ent­ scheidungen – das kann rational oder irra­ tional sein, sie tun es nun einmal. Wenn sie Entscheidungen treffen, nützt es ihnen, dass sie sich der Beschränkung ihrer ver­ schiedenen Ressourcen bewusst sind: Sie haben begrenzte Zeit, sie haben begrenzte finanzielle Mittel. Diesen Entscheidungen messen sie einen Wert zu – in der Ökono­ mie sprechen wir vom Nutzen. In Anbe­ tracht der Unsicherheit dieser Welt treffen sie nach bestem Wissen eine Wahl, die den Nutzen maximiert, den sie für sich selber erfassen. Also postulieren Sie, dass wir subjektiv rational handeln? Und ist rationales Handeln – wie soll ich sagen – wirklich rational? Ich definiere es als rationales Verhalten, ja. Menschen haben unterschiedliche subjek­ tive Präferenzen und Motive – einige sind altruistisch veranlagt und wollen anderen helfen, einige sind sehr egoistisch, einige wollen Peinlichkeiten vermeiden, andere wiederum sind extrovertiert und kümmern

sich nicht um Peinlichkeiten. Ein Grossteil der traditionellen Wirtschaftswissenschaf­ ten hatte eine verengte Sicht auf das Han­ deln von Menschen. Aber eine enorme Vielzahl von Dingen, die Menschen tun, ist mit der grundlegenden Perspektive von Ra­ tionalität vereinbar. Welche Wahl haben Sie selbst als Student getroffen? Waren Sie sich bewusst, dass Sie in sich selber investierten? Ich wusste am Anfang nicht, was ich mit meinem Studium anfangen sollte, aber ich ging davon aus, dass gute Leistungen mir helfen würden, wofür auch immer ich mich entscheiden würde. Zugleich war mir klar, dass ich nur durch harte Arbeit und gute Leistungen vorankommen würde. Ich inter­ essierte mich für Mathematik und später dann für Ökonomie, aber ich belegte auch Fächer wie Griechische Geschichte, Philoso­

Was ich jungen Menschen immer wieder sage: Dein Humankapital entscheidet darüber, wie gut es dir in Zukunft gehen wird.

phie des Wissens und Russisch. Ich dachte, es könnte vielleicht irgendwann nützlich sein. Das war Ende der 1940er, Anfang der 1950er Jahre – die Sowjetunion wurde als mächtiges Land angesehen, und ich dachte mir: Was auch immer die Zukunft bringt, Russisch könnte nützlich sein. Wir wissen: Es kam anders. Russland fiel zurück. Und auch wenn ich später daraus keinen direk­ ten Nutzen ziehen konnte, kann ich heute sagen: Russisch ist eine wunderschöne Spra­ che. Allein um Tolstoi im Original zu lesen, hat es sich für mich schon gelohnt. Sollten wir uns also von einer Karriereplanung lösen und nach dem Vorbild von Steve Jobs auch in Bereiche investieren, die auf den ersten Blick nichts mit unserem beruflichen Ziel zu tun haben? Steve Jobs wanderte in seiner intellektuel­ len Entwicklung weit herum. Er brach das 45


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Reed College ab, er versuchte sich in ver­ schiedenen Kursen. Eines seiner Talente war Design. Kalligraphie stellte sich als gu­ tes Training heraus für jemanden, der mit ausserordentlichen Talenten ausgestattet war. Zufallsfunde – in der Wissenschaft spricht man von Serendipity – können eine grosse Rolle spielen. Das ist der Vorteil der freien Künste: Man entdeckt neue Fächer. Von 20 Dingen erweist sich vielleicht eines als erfolgreich in bezug auf den späteren beruflichen Werdegang. Steve Jobs erkun­ dete neben der Kalligraphie viele andere Dinge, die sich als weit weniger nützlich herausstellten. Aber es ist gut, neue Dinge zu erkunden, wenn man jung ist. Absolut. Statt junge Menschen auf einen vorgegebe­ nen Pfad zu weisen, sollten wir auf Flexibi­ lität setzen. Wer weiss schon, was morgen, was übermorgen gefragt ist? Einige Leute sprechen – besonders mit Blick auf die USA – von einer Blase im Bildungsmarkt… Eine Blase bedeutet, dass Leute Investitio­ nen tätigen, die sich nicht auszahlen. Bis­ her gibt es keine Evidenz, dass wir im Bil­ dungsmarkt eine Blase erleben. Und ich glaube auch nicht, dass es jemals Evidenz geben wird. Das Wachstum im Bildungs­ sektor basiert auf permanenten und realen Faktoren, nämlich der Nachfrage nach Leu­ ten, die über mehr Kenntnisse und Fähig­ keiten verfügen. Technologisierung und Globalisierung unserer Gesellschaften ver­ langen danach. Viele Leute beklagen sich über hohe Studiengebühren und dass sich Bildung nicht mehr auszahle. Es stimmt: Die Studiengebühren an amerikanischen Universitäten sind gestiegen. Aber der finan­ zielle Nutzen ist noch schneller gestiegen! Sie beschäftigen sich in Ihren Forschungen mit der Frage, warum Frauen in der Hochschulbildung so stark aufsteigen. Haben Sie schon eine Erklärung gefunden? Wenn man auf die weltweit vorhandenen Daten schaut, ist klar: Die Bildung von Frauen, besonders die Hochschulbildung, ist im Verhältnis zu Männern stark gestie­ gen. Das gilt übrigens auch für viele Ent­ wicklungsländer. In China immatrikulieren 46

sich an Hochschulen mehr Frauen als Män­ ner. Sogar im Iran, wo der Beschäftigungs­ anteil von Frauen tief ist, sind mehr Frauen als Männer an Hochschulen eingeschrie­ ben. In den USA sind es 60 Prozent Frauen, die einen vierjährigen Abschluss erwerben. 1970 waren es nur etwa 40 Prozent. Sie haben meine Frage noch nicht beantwortet. Warum überholen Frauen die Männer? Ausschlaggebend ist sicher: Mehr Frauen arbeiten und die Geburtenraten sind tiefer. Dies würde jedoch nur erklären, warum Frauen gegenüber Männern aufholen. Un­

Statt junge Menschen auf einen vorgegebenen Pfad zu weisen, sollten wir auf Flexibilität setzen. Wer weiss schon, was morgen gefragt ist?

sere Studie kommt zu einer einfachen Er­ klärung für den Spurwechsel der Frauen: Sie sind einfach die besseren Studierenden. Und warum ist das so? Das wissen wir noch nicht. Wir können an­ hand von Daten bisher nur feststellen, dass Frauen im Schnitt besser abschneiden und in ihrer schulischen Leistung weniger schwanken. Bei Männern ist es so, dass ei­ nige gross herauskommen und an die abso­ lute Spitze vordringen. An der Spitze sind Männer stärker repräsentiert als Frauen. Aber es gibt auch viel mehr Männer ganz unten: Sie fliegen aus der Schule, brechen vorzeitig ab. Frauen machen dies nicht in annäherndem Masse. Humankapitalfor­ scher betonen dabei die Angebotsseite. Wir zeigen, dass in Anbetracht der Nach­ frage nach Leuten mit Hochschulbildung leicht eine Situation entstehen könnte, in der Frauen gebildeter werden als Männer. Das dürfte Einfluss haben auf die längerfristige Entwicklung der Lohnunterschiede zwischen Frauen und Männern. Genau. Sie werden gerade kleiner – und künftig könnten Frauen sogar mehr verdie­

nen. Jedenfalls, wenn sie damit fortfahren, sich besser als ihre männlichen Konkur­ renten auszubilden. Das wird auch dazu führen, dass sie einen fast so grossen Teil der Erwerbstätigen stellen. Sie und Ihre männlichen Kollegen müssen sich also in den nächsten Jahren auf noch mehr Kon­ kurrenz einstellen. Ich sollte also doch noch Russisch lernen? Besser: Chinesisch! (lacht) �


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Investiert in alle!

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Wir verschwenden Bildungskapital. Es kommt nicht an, wo es sollte – beim einzelnen. Darum fordern wir ein bedingungsloses Grundkapital für alle Mitglieder einer Schweizerischen Bildungsgenossenschaft. Sind wir bereit für eine grosse Reform der Studienfinanzierung? von Reiner Eichenberger und Anna Maria Koukal

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ie Schweiz der Zukunft wird durch die Personenfreizügigkeit und Globalisie­ rung geprägt. Die Einkommen und Arbeits­ marktchancen der inländischen Arbeit­ nehmer hängen damit immer weniger von der Arbeitsnachfrage, dafür umso mehr von ihren eigenen Fähigkeiten und damit ihrer eigenen Bildung ab. Früher verknappten Zugangsbarrieren zum Schweizer Arbeitsmarkt und Wande­ rungskosten das Arbeitsangebot, also die Menge und Qualität der verfügbaren Ar­ beitskräfte. Deshalb wurden die Löhne und Qualifikationsanforderungen an Arbeit­ nehmer stark durch Wachstum und Schwankungen der Arbeitsnachfrage be­ einflusst. Mit dem Abbau der Marktzutritts­ barrieren kann sich heute und erst recht in Zukunft das Arbeitsangebot jedoch viel schneller an die Nachfrageentwicklung an­ passen. Folglich versagen die traditionellen Politikansätze zur Steigerung individueller Einkommen zunehmend, weil sie durch verstärkte Zuwanderung neutralisiert wer­ den. So ziehen staatliche Massnahmen zur Konjunktur- und Wachstumsförderung vermehrt entsprechend qualifizierte aus­ ländische Arbeitskräfte an. Deshalb blei­ ben die Verknappung des Faktors Arbeit und damit gewichtige Lohneffekte für die einheimische Arbeitsbevölkerung aus. Ähnlich bewirken hohe Minimallöhne, wie sie die Gewerkschaften zum Schutz der niedrig qualifizierten Arbeitnehmer for­ dern, genau das Gegenteil. Sie wären näm­ lich so hoch, dass sie für Zuwanderer sehr attraktiv wären. Da heute aber viele Zu­ wanderer in den Niedriglohnbranchen bes­ ser qualifiziert sind als die bisherigen in­

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ländischen Arbeitnehmer, würden sie letztere verdrängen. Folglich kann der Staat den Wohlstand inländischer Arbeitnehmer fast nur noch über die Bildungspolitik beein­ flussen. Doch auch diese ist den Folgen der Internationalisierung unterworfen.

Reiner Eichenberger ist ordentlicher Professor für Theorie der Wirtschaftsund Finanzpolitik an der Universität Fribourg sowie Forschungsdirektor von CREMA (Center of Research in Economics, Management, and the Arts).

Anna Maria Koukal studiert Volkswirtschaft, Sozialpolitik und Soziale Arbeit und ist Unterassistentin am Lehrstuhl

Die Folgen der Internationalisierung Durch die zunehmende Öffnung der Schweiz wird das Angebot an Ausbildungs­ willigen für die Hochschulen und Unter­ nehmungen durch internationale Bewerber erweitert. Das ist für die Ausbildungsinsti­ tutionen sehr angenehm. Sie können nun aus den Besten Europas und oft der ganzen Welt auswählen. Hinzu kommt, dass die Inter­n ationalisierung Bildungs­i nstitu­t io­ nen hilft, ihr Ausbildungs­angebot zu ver­ bessern. Dank ihrer ver­gleichsweise guten finanziellen Lage können sie auf dem inter­ nationalen Markt sehr gute Lehrpersonen rekrutieren. Das wiederum macht sie für fähige Auszubildende attraktiver. Wenn die Ausbildungsgänge internatio­ nalisiert und Auszubildende alleine auf­ grund von Leistung ausgewählt werden, wächst jedoch die Gefahr, dass nicht mehr allen Schweizer Bewerbern ein Studien­ platz ihrer Wahl zur Verfügung steht. Weil die Schweiz ein kleines Land ist, wirkt sich ihre Politik besonders stark auf das Aus­ mass der Zuwanderung relativ zur einhei­ mischen Bevölkerung aus. Dies ist auch im Bildungsbereich sichtbar. So stammten im Herbstsemester 2011/12 rund 24 Prozent der Studierenden an Schweizer Universitäten aus dem Ausland – Austauschprogramme und Ausländer mit Schweizer Matur nicht mitgezählt.

von Reiner Eichenberger.

Deshalb gilt in einer Welt ohne Zugangs­ regulierung: je attraktiver die Aus­bil­dungs­ möglichkeiten in der Schweiz werden, desto grösser wird der Anteil internationaler Bewerber und desto weniger kommen staat­ lich finanzierte Bildungsinvestitionen den eigentlichen Adressaten zu. Eine zukunfts­ fähige Bildungspolitik muss also sicherstellen, dass staatlich unterstützte Ausbildungsan­ gebote auch weiterhin der inländischen Bevölkerung offenstehen. Nicht nur die Qualität der Bildung, son­ dern auch die im internationalen Vergleich herausragenden Beschäftigungsmöglich­ keiten während und nach der Ausbildung sowie die vergleichsweise gute Finanzlage machen die Schweiz zu einem immer attrak­ tiveren Bildungsstandort. So müssen viele Ausbildungsinstitutionen anderer Länder ihr Angebot infolge finanzieller Überlas­ tung einschränken oder vermehrt kosten­ pflichtig machen. Illustrativ für diese Ent­ wicklung ist die britische Bildungspolitik, die mit einer Verdopplung oder gar Verdrei­ fachung der Studiengebühren auf die fi­ nanzielle Schieflage reagiert. Damit stellt sich die Frage, wie die grossen Potentiale des internationalen Marktes genutzt wer­ den können, ohne dabei die Position der Schweizer Auszubildenden zu schwächen.


Schweizer Monat 996  Mai 2012  Dossier

Eine auf den ersten Blick naheliegende Lösung wäre, im Bildungsbereich Auslän­ derquoten einzuführen oder von den aus­ ländischen Auszubildenden höhere Ge­ bühren zu verlangen. Eine solch pauschale Diskriminierung ausländischer Bewerber ist jedoch aus vielerlei Gründen proble­ma­ tisch. Erstens kann sie die besten auslän­ dischen Bewerber oder Personen mit dringend benötigtem Humankapital, bei­ spielsweise im Gesundheitssektor, ab­ schrecken. Zweitens kann sie eine Preisdis­ kriminierung von Schweizer Studenten im Ausland zur Folge haben. Drittens ist oft unklar, wer als ausländischer Bewerber gelten soll – viele Auszubildende waren schon vor ihrer Ausbildung für einige Zeit in der Schweiz und haben teilweise auch hier gearbeitet; folglich sind die Abgren­ zungsprobleme gross. Viertens können sol­ che speziellen Ausländergebühren und

-quoten schwerwiegende Fehlanreize set­ zen, weil sie zumeist nicht genügend nach Studiengängen differenziert werden. Eine pauschale Diskriminierung ist deshalb bis­ her kaum vorgenommen worden, obwohl Hochschulen bzw. ihre Träger schon heute in Eigenregie entscheiden könnten, ob sie Ausländerquoten oder spezielle Auslän­ dergebühren einführen wollen. Mit der schnell wachsenden Vielfalt der Ausbildungsgänge wird es immer schwie­ riger und weniger wünschenswert, jeden Ausbildungstyp in der Schweiz anzubieten. Vielmehr ist es sinnvoll, auch im Bereich der Bildung die internationale Arbeitstei­ lung und Spezialisierung zu nutzen. So wollen immer mehr Schweizer eine Ausbil­ dung im Ausland absolvieren. Dies verspricht auch Effizienzgewinne, denn gemessen am relativ hohen Schweizer Preisniveau ist eine Ausbildung im Ausland aus Schweizer Per­

spektive quasi ein Schnäppchen. Schweden beispielsweise subventioniert deshalb sei­ nen Studierenden das Studium in anderen Ländern. In der Schweiz müssen die Kosten für eine Ausbildung ausserhalb der Staats­ grenze bisher von den Auszubildenden selbst finanziert werden. Zusammenfassend ergibt sich folgen­ des Bild: Durch die Globalisierung wird das individuelle Humankapital zur entschei­ denden Bestimmungsgrösse des individu­ ellen Einkommens. Zugleich bewirkt die Globalisierung einen stärkeren Wettbe­ werb um qualitativ herausragende Ausbil­ dungsplätze. Die Schweizer ihrerseits stre­ ben häufiger Ausbildungen im Ausland an, die aber bisher aus privaten Mitteln der Studierenden finanziert werden müssen. Die Einbettung der Bildungsdebatte in einen globalisierten Kontext eröffnet Chancen für eine zukunftsfähige Refor­

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mierung der Schweizer Bildungspolitik. Im internationalen Vergleich hat die Schweiz grundsätzlich ideale Voraussetzungen, um weit mehr Ressourcen pro Kopf in die Bil­ dung zu investieren: Sie ist im Vergleich zu den EU-Ländern sehr reich – das Prokopf­ einkommen ist zu laufenden Wechselkur­ sen umgerechnet rund 80 Prozent höher als etwa in Deutschland – und sie hat eine tiefe Verschuldung. Allerdings stellt sich die Frage, wie die vorhandenen Mittel am effektivsten eingesetzt werden können. Die neue Giesskanne für Studierende Traditionell ist die Bildungspolitik und -finanzierung stark objektbezogen, das heisst der Staat fördert ausgewählte Ausbil­ dungsgänge und -institutionen. Unter den Bedingungen der Internationalisierung des Bildungsmarktes ist diese Strategie jedoch völlig ineffizient. Viele der angesprochenen Probleme lassen sich lösen, wenn zu einer

subjektbezogenen Finanzierung der Aus­ bildung übergegangen wird. Eine direkte Förderung der Auszubildenden hat vier we­ sentliche Vorteile. Erstens können gezielt Schweizer Aus­ zubildende gefördert werden, ohne dabei die Nebenwirkung diskriminierender Stu­ diengebühren zu erzeugen. Zweitens werden die Auszubildenden befähigt, auch ausländische Bildungsange­ bote wahrzunehmen, ohne diese gänzlich aus der eigenen Tasche finanzieren zu müssen. Eine Verzerrung der Entscheidung zwischen einem Studium im In- und Ausland würde so vermieden. Gleichzeitig können die angesprochenen Effizienzgewinne rea­ lisiert werden. Drittens trägt die subjektbezogene För­ derung dem Umstand Rechnung, dass die Bildung inzwischen viel stärker über das ganze Leben verteilt ist. So beschränkt sich die Ausbildung nicht mehr auf die Vorer­

werbsphase, sondern findet in wesentlich vielfältigerer Ausgestaltung als früher statt. Um das vielgepriesene «lebenslange Lernen» zu ermöglichen, sollten die Auszubildenden nicht nur bei der Absolvierung eines tradi­ tionellen Universitäts­studiums unterstützt, sondern die verschiedenen Arten von Bil­ dungsinvestitionen möglichst gleichmässig subventioniert werden. Viertens entstehen bessere Anreize für Bildungsinstitutionen, attraktive Ausbil­ dungsprogramme anzubieten und die Qua­ lität der Lehre zu verbessern. Bedingungsloses Grundkapital Wir stellen folgenden Vorschlag zur Diskussion: Jeder Einwohner erhält bei Er­ reichen der Volljährigkeit ein Bildungska­ pital, mit dem er seinen weiteren Bildungs­ weg nach Matur, Lehrabschluss oder auch Schulabbruch individuell gestalten kann. Dieses Bildungskapital, das nach unseren

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Schätzungen wohl einen Wert von CHF 40 000 bis 70 000 haben sollte, kann unter gewissen Auflagen zur Finanzierung der direkten und indirekten Kosten der Ausbil­ dung verwendet werden. Das Bildungskapital als subjektbezo­ gene Förderung ermöglicht, die Ausbildung der bisherigen Einwohner der Schweiz in ef­ fizienter Art zu gewährleisten, ohne dabei eine Quersubventionierung internationaler Auszubildender zu generieren. Die Finan­ zierung der Universitäten und Fachhoch­ schulen kann von der heutigen Art der Fi­ nanzierung mindestens teilweise auf eine Beitragsfinanzierung der Studierenden umge­ stellt werden. Die Studiengebühren könnten dann entweder bei allen Ausbildungsgängen einen einheitlichen fixen Prozentsatz der Vollkosten decken oder je nach Bewertung des öffentlichen Nutzens eines Studiums zwischen verschiedenen Studiengängen dif­ ferieren. Neben den bisher genannten Vor­ teilen würden dadurch die Anreize der Stu­ dierenden zunehmen, ihre Studienwahl an den tatsächlichen Kosten und Nutzen ihres Studiums auszurichten. Neu haben sie nun direktere Informationen über die tatsächli­ chen Kosten ihres Studiums, was seinerseits die Anreize verbessert, das Studium im vor­ gesehenen Zeitrahmen zu absolvieren. So­ bald die Co-Finanzierung durch den Staat nach Ausbildungsgängen differenziert erfol­ gen soll, müssen die zuständigen Stellen den gesellschaftlichen Wert der Ausbil­ dungsgänge abzuschätzen versuchen. Oft wird sich zeigen, dass dies nicht oder nur schwer möglich ist. Gerade das ist aber eine sehr wichtige Information und Grundlage für Finanzierungsentscheide. Zugleich er­ halten die Bildungs­institutionen stärkere Anreize, den Stu­dierenden ein möglichst gutes Preis-Leistungs-Verhältnis zu bieten, um auf dem Markt bestehen zu können. Dies gilt insbesondere für Weiterbildungen: das Bildungskapital erleichtert es den Bür­ gern, sich auf dem zweiten Bildungsweg weiterzubilden. Um die Anreize für die Empfänger des Bildungskapitals so zu gestalten, dass sie ihre Bildungsentscheidung möglichst effi­ zient treffen und nicht ins Blaue hinein studieren, fliessen alle Gelder, die eine Per­

son bis zum Pensionseintritt nicht für Bil­ dung verwendet hat, in ihr Alterssparkapi­ tal der zweiten Säule. Später könnte das Konzept des Bildungskapitals zu einem breiter angelegten bedingungslosen Grundkapital – keineswegs zu verwechseln mit dem aus unserer Sicht völlig unsinni­ gen bedingungslosen Grundeinkommen – erweitert werden, das weitere Bereiche der sozialen Sicherung abdeckt. Schliesslich stellen sich drei Fragen: Wie lässt sich das Bildungskapital finanzie­ ren? Wie sollen ausländische Studierende gefördert werden? Und wie kann der Sys­ temübergang gestaltet werden? Ob die öffentliche Hand zusätzliche oder weniger Mittel aufbringen muss, hängt von der Höhe des Bildungskapitals, der Höhe der neuen Studien- und Ausbil­ dungsgebühren sowie dem Ausmass der öf­ fentlichen Zusatzfinanzierung ab. Da das Bildungskapital die Effizienz im Bildungs­ bereich erhöht und nur den einheimischen Auszubildenden ausbezahlt wird, kann das neue System leicht so ausgestaltet werden, dass die öffentliche Hand Mittel einspart. Wegen seiner Fokussierung auf einheimi­ sche Auszubildende sollten die Mittel vor allem von den bisherigen Einwohnern auf­ gebracht werden. Keine neuen Steuern Für die Finanzierung des Bildungskapi­ tals der einheimischen Auszubildenden schlagen wir vor, dass sie nicht aus allge­ meinen Steuermitteln erfolgen, sondern von einer neu zu gründenden «Schweizeri­ schen Bildungsgenossenschaft» getragen werden soll. Mitglieder dieser Genossen­ schaft sind alle Schweizer Bürger und wohl auch die schon länger in der Schweiz le­ benden Ausländer, die durch repräsenta­ tiv- und direktdemokratische Instrumente die Politik mitgestalten können. Diese Kör­ perschaft würde Eigentümerin der alten und von früheren Generationen ererbten Vermögenswerte und -ansprüche des Staates wie Boden- und Immobilienbesitz, Swiss­ com, Post, Nationalbankgewinne etc. Ihre Gewinne könnten sie dann ihren Mitglie­ dern unter anderem in Form des Bildungs­ kapitals ausschütten.

Durch diese Art der Finanzierung hätte das Bildungskapital keinerlei diskriminie­ renden Charakter. In den meisten europäi­ schen Ländern wurden die öffentlichen Mittel zur Befriedigung der Konsumziele der früheren und gegenwärtigen Generatio­ nen von Einheimischen eingesetzt. Im Ge­ gensatz dazu würden die Schweizer die öf­ fentlichen Ersparnisse in das Humankapital der Einheimischen und somit in ihre Zu­ kunft investieren.

Das Bildungskapital soll nach unseren Schätzungen wohl einen Wert von CHF 40 000 bis 70 000 haben.

Zur Förderung von ausländischen Aus­ zubildenden liegt es nahe, die besonders guten Studierenden aus den allgemeinen Kantons- und Bundesbudgets entspre­ chend ihrer Leistung zu unterstützen, weil sie positive Externalitäten auf die anderen Studierenden bewirken. Um einen möglichst fliessenden Über­ gang in das neue System zu gewährleisten, wird jedem in der Schweiz geborenen Kind jährlich ein Anteil des Bildungskapitals gut­ geschrieben, so dass bei Erreichen der Voll­ jährigkeit das volle Bildungskapital verfügbar ist. Ähnlich wie im dänischen Rentensys­ tem wird die Höhe des Bildungskapitals also von der tatsächlich in der Schweiz ver­ brachten Kinder- und Jugendzeit bestimmt. Das erleichtert es, die kurzfristige Attrakti­ vität des Bildungskapitals für Zuwanderer zu senken. Wird eine schnelle Einführung gewünscht, können in einer Übergangsphase die Einzahlungen konzentriert in den späten Jugendjahren stattfinden. In einer Welt, die zunehmend von in­ ternationalem Wettbewerb und Migration aufgrund unterschiedlicher Arbeits- und Ausbildungsmöglichkeiten geprägt ist, bie­ tet ein individuelles Bildungskapital eine zukunftsträchtige Möglichkeit, gezielt das Humankapital und damit das Einkommen der bisherigen Einwohner zu fördern. � 51


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Ich studiere, also will ich

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Die Arbeitswelt ändert sich rasant. Und mit ihr die Hochschulen. Wird das Studium virtueller und unpersönlicher? Nicht unbedingt. Denn wenn sich Studierende als Unternehmer ihrer selbst sehen, fordern sie mehr von sich selbst – und von ihrer Hochschule. von Greta Patzke

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ch verlasse den Hörsaal als Dozierende nach einer interessanten Stunde: Nichts hält die Freude an der eigenen Forschung mehr am Leben, als deren Grundlagen mo­ tivierten Studenten zu vermitteln. Die Ein­ heit von Forschung und Lehre scheint sich wacker über die Jahrhunderte zu halten und hat offenbar auch in den reformatori­ schen Universitätsunruhen des späteren 20. Jahrhunderts nichts an Faszination ein­ gebüsst. In einer freien Minute aber, die bald darauf dem Lesen der weltweiten Neu­ igkeiten gewidmet ist, wird die Freude an dieser traditionellen und persönlich inten­ siven Lehrtätigkeit mit einer ernüchtern­

Mit dem gleichen Enthusiasmus wie für die eigene Start-up-Firma können Studierende auch ihre Ausbildung «bewirtschaften».

den Schlagzeile konfrontiert: Es geht um eine Initiative zur Auslagerung der Lehre von morgen auf Web-Plattformen, die mich als physisch anwesende, dozierende Per­ son als ein «Relikt von vor 1000 Jahren» be­ zeichnet. Spontan frage ich mich: Kann das sein? Ziehe ich meine Motivation aus einer Art Bildungstraum? Bevor wir uns von Traditionen voreilig verabschieden, scheint es sinnvoll, ihren besten Gehalt herauszuschälen und auf die Regelung der konkreten universitären Pro­ bleme anzuwenden: z. B. steigende Nach­ frage nach Studiengängen für eine sich 52

rasch verändernde Arbeitswelt. Was richtig ist: Das Universitätsstudium nimmt seit Humboldts Zeiten mehr und mehr die Züge einer Regelausbildung an, um unseren Be­ darf an Fachkräften für neue technologi­ sche und gesellschaftliche Aufgaben zu de­ cken. Die Hochschulpraxis ist deshalb herausgefordert, kreativ zu reagieren: Neue technologische und, wie im folgenden ge­ zeigt, konzeptionelle Modelle der Interak­ tion von Studierenden und Hochschule können trotz der weiter wachsenden Stu­ dierendenzahlen – und der nicht immer in gleichem Masse ansteigenden räumlichen und personellen Hochschulressourcen – eine tiefgreifende Entpersönlichung und Virtualisierung des Studiums verhindern und einem potentiellen Verlust an Ausbil­ dungsqualität langfristig entgegenwirken. Mit neuen Medien stehen den Studierenden und Dozierenden heute überdies schnelle Kommunikationswege offen, die es auch an einer «Massenuniversität» erlauben sollten, mit vielen Studienanfängern in sinnvollem und konstruktivem Austausch zu bleiben. Hochschulen suchen den Schlüssel zur Lösung struktureller Probleme in der mate­ riellen und technischen Optimierung und werben um finanzielle Drittmittel. Dabei liegt eine wichtige, oft übersehene «Drittmittel­ ressource» ganz nah: nämlich in uns selber. Humankapital… Um diese Ressource anzuzapfen, ist es hilfreich, sich des – humanistisch bisweilen skeptisch betrachteten – Begriffs des «Hu­ mankapitals» zu bedienen: Studierende und Dozierende erkennen ineinander ihr grosses Kapital und steigern im Ausbil­

Greta Patzke ist SNF-Förderungsprofessorin (Tenure Track) für Anorganische Chemie an der Universität Zürich. Sie entwickelt in ihrer Forschungsgruppe neue oxidische Nanomaterialien für aktuelle Anwendungen in Umwelt- und Energietechnologie. Ihr interdisziplinäres Team arbeitet darüber hinaus auch an biologisch aktiven Oxoclustern.

dungsalltag Effizienz und Humanität glei­ chermassen. Drei Wechselbeziehungen sind im Lichte dieses Humankapitalkonzeptes ausbaufähig: (a) die Anforderungen der Studierenden an sich selbst, (b) ihre Forde­ rungen an die Hochschule und (c) deren Erwartungen an die Studierenden. Begreifen sich Studierende selber als aktives Humankapital, werden sie automa­ tisch zu «Unternehmern ihrer selbst». Sie legen sich detailliert Rechenschaft über ihre eigenen Stärken und Schwächen ab, ganz wie bei der Gründung eines Unter­ nehmens: Wie investiere ich das mir von Natur, Familie und Gesellschaft geschenkte geistige Kapital nachhaltig und optimal? Wie sieht der «Businessplan» für mein Le­ ben aus? Und was wird Jahre später mein «mission statement» in dieser Welt sein? Mit dem gleichen Enthusiasmus wie für die erste eigene Start-up-Firma, nach deren Gründung jeder Tag zählt, können Studierende auch ihre eigene Ausbildung «bewirtschaften». Klassische Probleme des Studiums, wie Prüfungsangst und umfang­ reiches Lernstoffvolumen, verlieren an Dramatik, wenn man ein Ziel vor Augen hat: mit kalkuliertem Risiko Hürden zu nehmen und danach seinen eigenen Markt­ wert zu geniessen und zu vergrössern. Da­ mit beginnen Studierende, ihre Hochschule


Greta Patzke, photographiert von Florian Rittmeyer.

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in der «Bewirtschaftung» ihres Kapitals zu verpflichten. Die Hochschule muss zum einen sicherstellen, dass Studierenden nur wirklich zukunftsrelevante und für sie lohnenswerte Investitionsmöglichkeiten ihrer Zeit und ihres intellektuellen Kapitals angeboten werden. Zum andern muss den Studierenden von Anfang an – durch rasche und transparente Prüfungs- und Auswahl­ strategien – deutlich werden, wie viel und welche Art von «Bildungskapital» sie sich persönlich am besten aneignen und dann auch vermehren können. Studierenden, die um ihr Humankapi­ tal wissen und sich als aktive «Selbstunter­ nehmer» auffassen, schätzen ihr Umfeld

Schon in der Ausbildung sollten die Studierenden einfordern, dass ihre Ideen gehört, bedacht und auf den Prüfstand gelegt werden.

und die damit verbundenen Risiken genau ein und versuchen beides zu verändern. Seit Jahrhunderten war die Studenten­ schaft eine Quelle der gesellschaftlichen Kritik und der Reformansätze. Diese wur­ den zwar nicht immer in passender Weise artikuliert und gefordert, aber sie haben das Gesicht der Hochschule durch studen­ tische Selbstbestimmungsorgane und ein neues Verhältnis zwischen Dozierenden und Studierenden über die letzten 100 Jahre verändert. Zu Recht stehen nun die Vermittlung der Wissensinhalte und die in­ ternationale Standardisierung der Ausbil­ dung im Vordergrund. Dennoch bleibt die «unternehmerische Stimme» der Studie­ renden wichtig, um Lehr- und Studien­ pläne attraktiv und aktuell zu gestalten und wahre interdisziplinäre und interna­ tionale Mobilität vor reine Formalismen und Reglemente zu stellen. Wenn die Weichen für ihr Berufsleben früh, verantwortlich und klar gestellt wer­ den sollen, erfordert dies hohe Standards der Hochschule, aber ihrerseits auch Flexi­ bilität gegenüber Studierenden mit einem, 54

sagen wir, «unkonventionellen Start». Ent­ täuschte Erwartungen dürfen nicht zur Resignation führen, denn das Humankapi­ tal ist zu kostbar, um es einfach ungenutzt abzuschreiben. Die Schuld für ein unbe­ friedigendes Bildungserlebnis liegt nicht zwangsweise beim Studierenden, sondern evtl. auch bei einer Institution, die zu wenig auf ihn eingegangen ist. Nach einer orien­ tierenden «Unternehmensberatung» durch die Hochschule können die nicht erfüllten Ansprüche sogar Grundlage eines Auf­ bruchs zu neuen Bildungswegen sein. Um diese Rolle aber wahrnehmen zu können, sind Hochschulen darauf angewiesen, dass die Studierenden mit einem soliden «Start­ kapital» in der Schulbildung ausgerüstet sind, das sie dann an der Hochschule ge­ mäss ihren Talenten und Interessen einset­ zen können. Denn eines muss klar sein: Die Universität kann sich nicht damit aufhal­ ten, Basiswissen zu vermitteln, das andern­ orts hätte vermittelt werden müssen. …und die richtige Nutzung Ein besonders erfolgreicher Unterneh­ mer betreibt «branding», er sticht heraus durch Markenzeichen und ein spezielles, unverkennbares Profil, in das seine Kunden ihr Vertrauen setzen. Studierende müssen den Willen dazu zeigen, und die Hochschule sollte ihr Curriculum konstant daraufhin überprüfen, ob den Studierenden und Do­ zierenden noch genügend Mög­lichkeiten bleiben, um den vermittelten Stoffumfang in einen grösseren – gesellschaftlichen und interdisziplinären – Zusammenhang zu stel­ len und miteinander kritisch zu betrachten. Dieser Auswahl- und Anpassungsprozess im Lehrplan ist nicht immer einfach, aber er vernetzt Studierende und Dozierende und hält letztere an, den «Marktwert» ihrer Ab­ solventen in bester Weise zu steigern. Erfolg der Studierenden und struktureller Fort­ schritt an der Hochschule stärken gegensei­ tige Akkreditierung und Zugehörigkeitsge­ fühl: Eine renommierte «Alma mater» wird zum wichtigen Posten im Lebenslauf, wäh­ rend die Hochschule gerne auf ihre erfolg­ reichen Alumni verweist. Der Begriff «unternehmen» hat zuletzt auch einen abenteuerlustigen Charakter.

Unternehmerische Studierende sollten nicht nur trocken ihr Feld beackern, son­ dern zu neuen Ufern aufbrechen und auch «Risikokapital» in neue Ideen investieren. Besonders in den naturwissenschaftlichtechnischen Fächern verringert sich die Altersdifferenz zwischen Lehrenden und Lernenden kontinuierlich durch den Ein­ bezug der Doktorierenden in die Ausbil­ dung, die ihrerseits von einer Straffung des Studiums zeitlich profitiert haben. Viele wissenschaftliche Durchbrüche wurden von jungen Forschern erzielt, die eben erst dabei waren, die akademischen Stufen zu ersteigen – naturwissenschaftliche Bei­ spiele wären William Lawrence Bragg oder Rudolf Mössbauer. Schon in der Ausbil­ dung sollten die Studierenden einfordern, dass ihre (nicht immer konventionellen) Ideen gehört, bedacht und auf den Prüf­ stand gelegt werden, damit sie aktiv ihre intellektuellen «Aktien» in Forschung als Wissenskapitalbildung investieren kön­ nen, sobald sie die ersten Qualifikationen erfolgreich ausweisen können. Es schliesst sich somit wieder der Kreis von Forschung und Lehre: Ideen und Per­ sönlichkeiten entstehen im direkten Dialog und nicht nur auf standardisierten WebPlattformen. Bin ich also als physisch an­ wesende Dozierende überflüssig? Nein. Ein solches «Relikt» bin ich erst, wenn ich mich dem Dialog verweigere oder – dem Modell des lehrmeisterlich-universitären Vorle­ sers aus den 50ern gleich – unflexibel werde und mich auf meinen DozierendenLorbeeren ausruhe. Unser Humankapital in Europa ist nur ein kleinerer Teil der Welt, und umso mehr bedeutet für uns nun jeder Aktivposten. Ein gutes Semester an der Universität wirkt wie die Perlen an einer Kette: Alle halten zusammen, keiner darf fehlen und alle glänzen auf ihre Art – wie viele auch immer es sind. �


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Dossier  Schweizer Monat 996  Mai 2012

Einzelkämpfer bringen es nicht weit

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Georg von Krogh erforscht, was Strategien erfolgreich macht. Studenten rät er, auf Dialog statt Monolog, auf Mitarbeit statt Egotrip zu setzen. Und sich eine simple Frage immer wieder zu stellen: Wie möchte ich eigentlich mein Leben leben? Florian Rittmeyer trifft Georg von Krogh

Herr von Krogh, die Rede vom Kampf um Talente geht um. Wer sucht denn heute eigentlich wen aus: die Studenten die Hochschule oder die Hochschule die Studenten? Studenten wollen gute Studienplätze. Und der Wettbewerb um diese Plätze hat sich in den letzten Jahren massiv verschärft. In unserem Departement Management, Tech­ nology and Economics an der ETH können wir mittlerweile bloss etwa ein Drittel der Bewerbungen berücksichtigen. Zugleich ist es so, dass die ETH in einem Wettstreit mit­ spielt, in dem sie um die Gunst der besten Studenten der Welt buhlt. Unser Bildungs­ angebot muss so attraktiv sein, dass die brillanten Köpfe aus der Schweiz, Indien, China oder auch Skandinavien für ihr Mas­ terprogramm an die ETH kommen – statt ans MIT zu gehen. Das ist der globale Bildungswettbewerb im Jahre 2012. Wer vor zehn Jahren in der Schweiz studierte, traf auf eine überschaubarere Lage. Wenn Sie damit gemütlich meinen, hat dies mit der heutigen Situation in der Tat wenig zu tun. Die jungen Leute sind heute mobil und extrem ambitioniert. Als ich 1994 als Professor für Wirtschaftswissenschaften in St. Gallen anfing, waren Ausbildung und Forschung noch relativ regional ausge­ richtet. Die meisten Studenten kamen aus der Schweiz, einige aus Österreich und Deutschland. Heute ist es so, dass die Hochschulen von überall her Bewerbungen bekommen. Dies gilt gerade für die Schweiz. Die Hochschulen haben ein Topniveau, die Schweizer sind kosmopolitisch und das Land beherbergt tolle Firmen. 56

Was treibt die Studenten an: die Aussicht auf eine lukrative Karriere oder die wissenschaftliche Neugier? Einige Studenten sind im Studium extrin­ sisch motiviert. In der Wissenschaft spre­ chen wir von einem separable outcome: Ich will ein gutes Ergebnis erreichen, anhand von Zielen, die mir von aussen vorgegeben werden. Aber es gibt auch die anderen, de­ nen es um die Sache geht. Solche Studen­ ten diskutieren viel leidenschaftlicher. Sie begreifen: Um den Stoff zu verstehen, muss ich mich reinknien und durchbeissen, muss ich eine klare Position einnehmen. Sie mögen diesen wissenschaftlichen Kampfgeist. Klar. Und ich glaube: Die intrinsisch moti­ vierten Studenten, die es nicht in erster Li­ nie auf gute Noten abgesehen haben, erzie­ len am Ende zumeist die besten Noten. Ich finde es aber absolut okay, wenn Studenten ihre Hochschuljahre als Mittel zum Zweck sehen. Sie sollen ihren Spass haben, keine Frage, aber ohne ein klares Ziel vor Augen ist es schwierig, jene Leistung abzuliefern, die wir von unseren Studenten verlangen. Dazu bedarf es eines motivierenden Umfelds. Sind Sie ein guter Motivator? Das müssen Sie meine Studenten fragen. Aber jemanden für eine Frage, ein Problem oder eine Theorie zu begeistern, das ist es, was mich selbst als Professor antreibt. Was ursprünglich extrinsisch motiviert war, beispielsweise eine gute Note zu bekom­ men, wird plötzlich zu etwas, das man tut, weil es Spass macht. In der Motivationsthe­ orie spricht man von der internalisierten

Georg von Krogh ist Professor für Strategisches Management und Innovation an der ETH Zürich und u.a. Mitglied des Forschungsrates des Schweizerischen Nationalfonds.

extrinsischen Motivation: Das ist es, was ich in meinen Kursen zu erreichen suche. Aus Sicht der Studenten heisst das: Ich bin nicht mehr der brave Konsument, und mein Professor ist nicht mehr der Allwissende, der mich belehrt. So ist es! Die Wissensvermittlung hat sich radikal verändert. Der Frontalunterricht ist nur noch ein Teil des Unterrichts. An die Stelle des professoralen Monologs ist der Dialog zwischen Professor und Studenten getreten. Wir sehen uns alle als Lernende, die dasselbe Ziel verfolgen: Wissen zu schaffen, zu vertiefen, zu verändern. Klar, der Professor hat mehr Erfahrung und ei­ nige Bücher mehr gelesen, aber auch er lernt ständig dazu. Das klingt nach Wissenscommunity, einem alten Ideal der Wissenschaft. Ja, warum nicht? Aber auch die Studenten untereinander bilden eine Community. Sie sind häufig eingebunden in Gruppenarbei­ ten, sie müssen Fallstudien präsentieren und werden in Forschungsprojekte invol­ viert. Wenn wir interessante Arbeiten ha­ ben, versuchen wir, mit den Studenten ge­ meinsam etwas in einer akademischen Fachzeitschrift zu publizieren. Die betrei­ ben zum Teil auch Forschung auf einer ho­ hen Ebene und machen methodisch sehr saubere Arbeit.


Georg von Krogh, photographiert von Thomas Burla.

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Dossier  Schweizer Monat 996  Mai 2012

Das klassische Professor-Studenten-Verhältnis gibt es nicht mehr? Die guten alten Sprechstunden? Wir kommunizieren auch schon mal über E-Mail oder Twitter. Und wir wollen alle weiterkommen. Keine Spur von «Früher war einiges auch besser»? Nehmen wir das intellektuelle Niveau: Wie ist es verglichen mit 1994? Das Niveau hat sich verbessert – nicht zu­ letzt durch den Wettbewerb unter den Hochschulen. Die Studenten leisten mehr, aber sie fordern auch mehr, in der Lehre und im persönlichen Austausch. Heute wollen sie Referenzbriefe, sie wollen Prak­ tika machen, Abschlussarbeiten haben, die wirklich erstklassig sind. Ich bin immer wieder erstaunt, wie ehrgeizig die Studen­ ten auch im Selbstmarketing sind. Was bedeutet das für den Wettbewerb unter den Studenten? Sie kooperieren mit ihren Kommilitonen und wissen zugleich, dass diese später bei der Jobsuche zu ihren Konkurrenten werden. Es braucht beides, um komplexe Probleme zu lösen: Konkurrenz und Kooperation. In meinem Kurs zu Strategischem Manage­ ment benote ich zur Hälfte die Leistung des Teams, das ein Problem löst, und zur Hälfte die Leistung des einzelnen Studenten. Da­ bei stelle ich fest: Früher war der Wille zur Kooperation etwas ausgeprägter als heute. Die Wettbewerbskomponente ist zum Teil stärker geworden – vielleicht zu stark. Bedeutet das: Viele sind auf dem Egotrip? Sagen wir es so: Ein gesundes Selbstbe­ wusstsein ist sicher gut. Und unser Aus­ bildungssystem fördert das Brillante von Individuen, die in ihr Humankapital inves­ tieren. Das ist alles wunderbar, nur: als Ein­ zelkämpfer bringt man es auch nicht weit. Man muss auch Beziehungs- oder Sozialka­ pital entwickeln. Man arbeitet heute über­ all in Teams, in Netzwerken, muss andere motivieren, das Beste aus sich und den an­ deren herausholen. Das geht im Zeitalter des Individualismus zuweilen unter. Wenn Sie zurückblicken, haben Sie sich als 58

Student an den ganzheitlichen Ansatz gehalten, den Sie vertreten? Ich begann als Ingenieurwissenschafter in der Marinetechnologie. Von Kindesbeinen an hatte ich diese Leidenschaft für Segel­ boote. Als ich dann mit dem Studium an­ fing, besuchte ich ein halbes Jahr lang Kurse in Hydrodynamik und Design von Schiffsrümpfen. Das war sehr motivierend! Nach einem halben Jahr kam aber der De­ partementsvorsteher und sagte: So, jetzt ist Schluss mit den Spielereien, ab sofort geht es nur noch um die Ölbranche und um Ölplattformen. Das sind diese riesigen Klötze in 100 Metern Höhe, die auf dem Meeresboden stehen, und wir mussten die Wellenbewegungen um diese Festkörper herum berechnen. Das war etwas zu eng und immer dasselbe und nicht das, was ich im Kopf hatte, als ich mit dem Studium an­ fing. So schloss ich es möglichst schnell ab mit einem Master und wählte dann eine andere Materie, nämlich Ökonomie und Management. Vielleicht bedeutet ganz­ heitlich auch, unterschiedliche Welten zu verstehen.

Achte nicht auf Moden! Denn die kommen und gehen. Achte auch nicht auf Angebot und Nachfrage!

Warum sind Sie in der Akademie geblieben? Mein Wissensdurst! Ich war kurz in der Pri­ vatwirtschaft tätig und habe einige Firmen gegründet. Aber meine Leidenschaft gilt der Forschung – bis heute. In unserer wissensbasierten Ökonomie stelle ich mir als zukunftsorientierter Akteur ständig die Frage: Welches Wissen ist in der Welt von morgen gefragt? Können Sie mir einen Kompass mitgeben? Das wissen wir nicht und können es auch nicht wissen. Darum sollten wir uns darauf einstellen, dass unser Wissen im Fluss bleibt. Ein Student muss deshalb immer ge­

willt sein, für seine Zukunft zu lernen. Das heisst: er oder sie muss aber auch gewillt sein, sein Leben lang zu lernen. Damit meine ich nicht, ein Leben lang Schulen und Kurse zu besuchen, sondern sich stän­ dig neu zu orientieren – durch das Lesen von wissenschaftlichen Artikeln auf einem Fachgebiet und durch Neugierde im Alltag. «Lernen lernen» heisst die Devise. Ein hehres Ideal, das in der Praxis infolge Zeitmangels vergessen geht? Hier liegt ein zentrales Problem vieler Füh­ rungskräfte. Wenn sie eine gewisse Hierar­ chieebene erreichen im Unternehmen, ver­ lieren sie sehr oft ihre Neugier. Sie sind vierzig und glauben, bereits alles zu wis­ sen. Ich habe das bei vielen Managern er­ lebt. Das ist wohl ein anthropologisches Phänomen. Der Mensch ist von Natur aus träge, und irgendwann sagt er sich: Ich habe mir meine Sporen abverdient, habe es zu etwas gebracht; bisher hat ja alles ganz gut funktioniert, also machen wir so weiter. Wenn dieser Punkt erreicht ist, werden sehr oft jene jungen Leute am Aufstieg ge­ hindert, die innovativ und motiviert sind. Das ist schlecht für das Unternehmen, aber nicht immer schlecht für die jungen Leute: die gründen dann nämlich oft ihre eigene Firma und sind ziemlich erfolgreich. Wenn ein Hochschulanwärter sich fragt, was er studieren soll, was raten Sie ihm? Achte nicht auf Moden! Denn die kommen und gehen. Achte auch nicht auf Angebot und Nachfrage! Denke langfristig und frag dich grundsätzlich: Wie möchte ich eigent­ lich mein Leben leben? Wo sehe ich mich in zehn Jahren? �


Schweizer Monat 996  Mai 2012  Dossier

Tonnenideologien im Bildungswesen

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Je mehr junge Menschen studieren, desto besser! Das denken viele. Und die Bildungspolitiker wiederholen es die ganze Zeit. Dennoch ist es falsch. Eine höhere Akademikerquote führt nicht zu einem höheren Bildungsniveau der Bürger. Sie führt bloss zu einem tieferen Niveau der Hochschulen. von Mathias Binswanger

B

ildung gilt als Grundlage sowohl für den persönlichen Erfolg als auch für die Wettbewerbsfähigkeit ganzer Nationen. Und deshalb braucht es, so meinen Par­ teien von links bis rechts, möglichst viele Investitionen in Bildung. Kein Wunder des­ halb, dass Tonnenideologien im Bildungs­ wesen besonders populär sind. Je früher Kinder eingeschult werden, umso besser. Je mehr junge Menschen studieren, umso besser. Je mehr Weiterbildungskurse absol­ viert werden, umso besser. Auf höchster Ebene findet deshalb in­ zwischen ein absurder Wettbewerb zwi­ schen Ländern und Regionen um den Anteil der jungen Bevölkerung statt, der eine Hochschulausbildung absolviert. Der Wett­ bewerb wird begleitet von der Veröffentli­ chung internationaler Studien, die die «Qua­ lität» der Bildung in den einzelnen Ländern miteinander vergleichen. Dabei ist der wich­ tigste «Qualitätsindikator» der «Prozentsatz junger Menschen mit tertiärem Bildungsab­ schluss». Die Schweiz schneidet in diesen Studien notorisch schlecht ab. Hier absol­ viert nämlich nach wie vor ein relativ gros­ ser Teil junger Menschen eine sogenannte Berufslehre, die über Jahrhunderte eine hohe Qualität von Handwerk, industrieller Produktion und Dienstleistungen ermög­ lichte. Dessen ungeachtet plädieren nicht wenige Schweizer Bildungspolitiker dafür, den bewährten Sonderfall Schweiz mit Be­ rufslehre durch eine bildungsmässige Mas­ senabfertigung zu ersetzen, die in Tat und Wahrheit im Ausland längst in eine Sack­ gasse geführt hat. So wurde 2009 in einem Weissbuch zur «Zukunft Bildung Schweiz» gefordert, dass

die Maturitäts- oder Abiturquote von gegen­ wärtig etwas über 20 Prozent auf 70 Prozent zu erhöhen sei.1 Nur noch die schwächsten dreissig Prozent der Jugendlichen sollen also in Zukunft die Lehrbank drücken. Alle andern sollen akademisch ausgebildet wer­ den, um damit «den Marktwert der Bil­ dungsmarke Swiss made» zu erhöhen. Studieren wozu? In diesem Zusammenhang macht es Sinn, sich einmal zu vergegenwärtigen, was man in der Hirnforschung über Intelligenz

Die Zahl der intelligenten Schüler und Studenten lässt sich durch Umgestaltung des Bildungssystems nicht erhöhen.

weiss. Gemäss Gerhard Roth, dem Rektor des Instituts für Hirnforschung an der Uni­ versität Bremen, ist Intelligenz das Persön­ lichkeitsmerkmal mit dem höchsten Grad an genetischer Determiniertheit. Mit an­ dern Worten: die Zahl der intelligenten Schüler und Studenten ist weitgehend re­ formresistent und lässt sich durch Umge­ staltungen des Bildungssystems nicht er­ höhen. Wenn wir also den Anteil der Maturanden von gegenwärtig 20 Prozent auf 70 Prozent erhöhen wollen, dann klappt dies nur, indem wir das Niveau der Akademien der Wissenschaften Schweiz: «Zukunft Bildung Schweiz», Bern 2009.

1

Mathias Binswanger ist Professor für Volkswirtschaftslehre an der Fachhochschule Nordwestschweiz und Autor von «Sinnlose Wettbewerbe. Warum wir immer mehr Unsinn produzieren» (2010).

Matura so lange absenken, bis 70 Prozent eines Jahrgangs in der Lage sind, diese zu bestehen. In verschiedenen Ländern war man in dieser Hinsicht schon recht erfolg­ reich. Ein deutsches Abitur zählt heute kaum mehr etwas, und in Finnland schaf­ fen mittlerweile sage und schreibe 95 Pro­ zent aller Schüler den Abschluss bei den dort 12 Jahre dauernden Einheitsschulen. Was aber ist die Folge derart hoher Ma­ turitätsquoten? In erster Linie verbringen Jugendliche in diesen Ländern einfach viel mehr Zeit in Schulzimmern, wo sie die Zeit bis zur Matura mehr oder weniger gelang­ weilt aussitzen. Doch was dann nach der Schule kommt, ist weniger toll. Ein Gross­ teil dieser künstlich hochgezüchteten Ma­ turanden macht nachher gar nie einen Hochschulabschluss und bleibt irgendwo auf der Strecke. In Finnland sind das etwa die Hälfte der Maturanden, was die gross­ artigen 95 Prozent mit Gymnasialabschluss schnell wieder relativiert. Das Problem ist aber, dass diese Schüler keine Berufsaus­ bildung haben und zu keiner Zeit auf eine praktische Tätigkeit vorbereitet wurden. Kein Wunder, haben die Länder mit hohen Maturitätsquoten deshalb auch hohe Ju­ gendarbeitslosigkeitsquoten (Alter 15 bis 24), die im Februar dieses Jahres in Finn­ land bei 19,8 Prozent und in Italien sogar bei 31,9 Prozent lagen. Da wirken die 3,5 Prozent in der Schweiz doch sympathisch bescheiden. 59


Dossier  Schweizer Monat 996  Mai 2012

Eine hohe Maturitätsquote ist also ein hervorragendes Mittel, um die Jugendar­ beitslosigkeit zu fördern. Doch es kommt noch besser. Diejenigen, die tatsächlich studieren, müssen dies zum grössten Teil unter Bedingungen tun, unter denen aka­ demische Bildung zu einem schlechten Scherz wird. In überfüllten Hörsälen versu­ chen sie, etwas von dem zu erhaschen, was früher einmal eine Vorlesung war und jetzt zu einer Art Rummelplatz geworden ist. Natürlich hat man auf diese allgemeine De­ generation der universitären Bildung in Ländern wie Deutschland längst reagiert. Der neue Trend heisst: Gründung von Eli­ teuniversitäten, die die Crème de la Crème des Nachwuchses ausbilden sollen. Auf diese Weise entsteht dann ein noch viel eli­ täreres Bildungssystem, bei dem nur noch das Studium an ein paar wenigen Eliteuni­ versitäten zählt und der grosse Rest der Stu­ denten seine Zeit an zweit- und drittklassi­ gen Massenuniversitäten verplempert. Ziel: mittelmässige Massenakademiker? Was in dem Weissbuch im Jahr 2009 als ein Manko identifiziert wurde, nämlich der geringe Anteil der Studenten in der Schweiz, ist somit in Wirklichkeit eine der grössten Stärken. Die Schweiz hat es bisher ge­ schafft, die Entwicklung in Richtung Mas­ senuniversitäten im Zaum zu halten und die Qualität der universitären Ausbildung generell an Universitäten und Fachhoch­ schulen zu wahren. Worauf es nämlich an­ kommt, ist nicht die Zahl der Studenten, sondern ob die intellektuell begabten jun­ gen Menschen eines Landes eine qualitativ gute Ausbildung an den Universitäten und Fachhochschulen erhalten können. Der Wettbewerb um möglichst viele Studenten führt jedoch dazu, dass sich auch all die jungen Menschen an Universitäten tum­ meln, die eigentlich ganz andere Begabun­ gen besitzen. Eine Lehre machen nur noch diejeni­ gen, die keine andere Wahl haben, und das hat fatale Folgen. Die Qualität der Fachar­ beiter und Handwerker geht immer mehr zurück, während Jugendliche, die ausge­ zeichnete Facharbeiter wären, sich zuneh­ mend als mittelmässige Studenten an Fach­ 60

hochschulen und Universitäten abmühen. Der Lehrabsolvent wird durch die an Stu­ dentenquoten orientierte Bildungspolitik zu einem Menschen zweiter Klasse degra­ diert, was tendenziell zu einem Volk von mittelmässigen Massenakademikern führt. Doch das ganze verquere Bildungsden­ ken setzt nicht erst bei den Jugendlichen im Gymnasium bzw. an der Universität ein, sondern bereits im Kindergarten. Kinder sollen möglichst früh eingeschult werden, um dann sofort mehrsprachig sowie inter­ kulturell und sozial kompetent für eine spätere Karriere herangezüchtet zu wer­ den. Und damit man auch weiss, wie er­ folgreich dieses Heranzüchten in den ein­ zelnen Ländern abläuft, hat man seit zehn Jahren die sogenannten Pisa-Tests, die es erlauben, das «Bildungsniveau» von Schü­ lern in verschiedenen Ländern, Regionen und Schulen miteinander zu vergleichen. Folgerichtig hat sich sofort auch ein Wett­ bewerb um ein möglichst gutes Abschnei­ den bei diesen Vergleichen etabliert, um beim nächsten Pisa-Vergleich noch besser abzuschneiden. Reformitis als Dauerzustand So sind Reformen und Veränderungen im Bildungswesen mittlerweile zum Dauer­ zustand geworden. Damit verbunden ist auch eine stets wachsende Bildungsbüro­ kratie. Der Zürcher Psychologe und Hoch­ schuldozent Jürg Frick schrieb dazu vor kurzem im Zürcher «Tages-Anzeiger»: «Die Bürokratisierung nimmt von Jahr zu Jahr zu: Papiere, Konzepte, Programme, Formu­ lare, Untersuchungen, Befragungen, Statis­ tiken, Tabellen, Berichte, Leistungsverein­ barungen.»2 Das eigentliche Kerngeschäft von Leh­ rern, nämlich das Unterrichten, wird durch diese Tätigkeiten mehr und mehr verein­ nahmt, da die Lehrer ihre Zeit für die Kon­ zeption ihres Unterrichts statt für den Un­ terricht selbst aufwenden müssen. Und um die Schulen und Universitäten herum ent­ steht eine gewaltige Verwaltungsbürokra­ tie. So hat ein Schulpsychologe im Kanton Zürich für die Zeit von 1975 bis 2008 für seine Gemeinde festgestellt, dass die Schü­ lerzahl und die Klassenlehrerstellen in dem

Zeitraum um 20 Prozent gestiegen sind. Die Stellenzahl in der Schulverwaltung stieg hingegen um 355 Prozent.3 Und dieser Fall ist wohl typisch für die ganze Schweiz sowie auch für Deutschland und andere Länder. Im Namen von Effizienz und Qua­ lität wird hier eine neue Bürokratie errich­ tet, die der Qualität des Unterrichts letzt­ lich schadet und den Lehrern die Freude an ihrer Arbeit verdirbt. Und die Schweiz zieht nach… In bezug auf Bildung herrscht in der Schweiz somit eine merkwürdige Schizo­ phrenie. Auf der einen Seite sind wir stolz auf unser System und betonen dessen Bei­ trag zum Erfolg unseres Landes. Doch gleichzeitig nehmen Experten jede Gele­ genheit wahr, dieses System durch Refor­ men zu demontieren und auf europäisches Mittelmass zurechtzustutzen. Es lässt sich einmal mehr folgendes Phänomen beob­ achten: Reformen und Konzepte, die sich im Ausland nicht bewährt haben, werden in der Schweiz zeitlich verzögert auch noch eingeführt. Und dies mit noch mehr Akri­ bie, so dass sie sich hierzulande dann noch schlimmer auswirken. Wann hören wir endlich mit diesem Unsinn auf? �

Martin Beglinger: «In der Falle. Wie die Schule von Reformwahn und Bildungsbürokratie erdrückt wird». In: «Das Magazin», 15. Mai 2010. 3 Vgl. Beglinger, zit. 2


Schweizer Monat 996  Mai 2012  Dossier

Worauf es ankommt, « ist nicht die Zahl der Studenten, sondern ob die intellektuell begabten jungen Menschen eine qualitativ gute Ausbildung erhalten können.» Mathias Binswanger

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BildEssay  Schweizer Monat 996  Mai 2012

Amazonen von Claudia Mäder

Wie, was ich für ein Kind war? Das brauche ich Ihnen doch nun

und in den Gefriertruhen im Keller stapelten sich Berge von

wirklich nicht zu erzählen, wie so eine Knabenkindheit

Munifleisch, so hoch, es gab kein Weiterkommen mehr, keinen

im Amazonenstaat verläuft, hören Sie mir bloss mit dieser

Platz für meine Grösse in der hiesigen Enge, kein Ansehen

Maskerade auf, das wissen Sie ja wohl selber am besten,

für mein gekröntes Männerhaupt in dem emanzipierten Land,

dass so eine einzelne Brust keinen rechten Mann zu nähren

das nie keine Könige gewollt hatte, laut meiner Schwester,

vermag, halbherzig war das alles, seit der Sieg der Frauen

der Perfiden, die mir den Mund wässrig machte mit ihrem

die Mütter in fremde Gefilde getragen hatte, an die Urne und

Gerede von sonderbaren Schwingstaaten, die drüben

weiss Gott wohin, und Gott weiss, die war ja auch nur ein Kind

in Amerika über den Kopf des mächtigsten Mannes der Welt

ihrer Zeit, die Mutter, wie die sich vom Schwung der Sechziger

entschieden, die mir mit ihrem süssen Gesang den Verstand

herausnahm, was ihr daran grad so passte, nämlich die

verwirrte, derart, dass ich mit meinen gesammelten Kräften

Freiheit, auf LSD und Beatles zu verzichten und sich

in das verheissene Paradies aufbrach, einknickte im Sand,

mit Wagner aufzuputschen, uns den Walküren auszusetzen,

der mich im Reich des Sonnenscheins empfing, von Sägemehl

die meine Schwester verzückten und mich entsetzten,

keine Spur, dafür Fleisch, mehr als die ganze Arktis je kühlen

mir Augen und Ohren öffneten für die weibische Kriegslust,

könnte, notdürftig eingepackt in leopardengemusterte Stoffe,

die uns überall umgarnt, und das biestische Treiben, mit

hübsch, aber etwas sinnlicher hatte ich mir die Sirenen

dem die Töchter des Mars nach Unterwerfung trachten, trat

vorgestellt, wilder vor allem, ihre Kriegslust war matt, nicht

mir unverhohlen entgegen, als mir die Lehrerin Verse wüster

zerbeissen noch verstümmeln wollten sie mich, bloss ausneh-

Dichtkunst in den Kopf zwang: Küsse und Bisse, das reimt

men, aber dass kampflos bei mir nichts zu holen ist, ging

sich, weiss ich doch, doch erkannte ich damals die Spielerei

denen partout nicht ins Köpfchen, liess sich selbst mit sanften

nicht, spürte nur dumpf, dass der Mann um etwas kämpfen

Hieben nicht einbleuen, und so ergebe ich mich nun halt

musste, wusste zwar nicht wie, weil mit Pfeil und Bogen

ohne Widerstand, Sie sehen ja, wie ich Ihnen zu Füssen liege

war die kühne Frauenmeute ja nicht zu schlagen, stieg aber

auf Ihrer Couch, und ich höre ja, wie lüstern das Blut unter

trotzdem sofort in die Hosen, um den Röcken dereinst gestärkt

Ihrer weissen Bluse wallt, so ziehen Sie die doch endlich

zu begegnen, begann ich an Gewicht zuzulegen, Hand an

aus und machen Sie keine langen Worte. Wir wissen ja beide,

meinesgleichen und die Schwäche auf den Rücken zu legen,

dass Sie nur darauf warten, mich einzuverleiben.

jede Schwäche, überall, auf jeder Alp schwang ich obenauf

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von Giorgio von Arb

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BildEssay  Schweizer Monat 996  Mai 2012

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BildEssay  Schweizer Monat 996  Mai 2012

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Kulturinterview  Schweizer Monat 996  Mai 2012

Kulturrevolutiönli Von Mao Zedong bis Pius Knüsel: Satiriker Viktor Giacobbo über Macht und Machtmissbrauch in Politik, Wirtschaft und Kultur. Und über einige andere Dinge, die damit nur bedingt zu tun haben. Michael Wiederstein trifft Viktor Giacobbo

Herr Giacobbo: Pro-Helvetia-Direktor Pius Knüsel hat kürzlich die «Halbierung der Subventionskultur» laut angedacht. Was halten Sie als Leiter einer Kulturinstitution von seiner Idee? Ganz unrecht hat er nicht. Automatisierte Kultursubventionen, deren Zweck nicht von Zeit zu Zeit hinterfragt wird, führen zu künstlerischer wie ökonomischer Trägheit. Ein Beispiel, bitte. Wenn im Zürcher Opernhaus das Bühnenbild nicht funktioniert, dann wird einfach ein neues produziert. Der Geldsegen, der dem Opernhaus jedes Jahr vom Staat zuteil wird, verleitet ja geradezu dazu. Ich will die beiden Institutionen nicht im Detail miteinander vergleichen – aber mit der Portokasse des Opernhauses stellen wir im Casinotheater eine ganze Produktion auf die Beine. Wenn un­ ser Budget nicht reicht, müssen die Künstler eben auf eine ausgefallene Idee Wer mit öffentlichen Geldern kommen, künstlerisch inno­ vativ sein. Andersherum gilt produziert, ist immer den Lokalpolitikern Rechenschaft aber auch: Es gibt Kunst­ formen in der Schweiz, die schuldig. ohne Subventionen nicht überleben würden. Wenn man einen Schweizer Spiel­ film machen will, ist der Markt hierfür so klein, dass sich das in den seltensten Fällen rechnet. Zugestanden. Das ganz grosse Popcornkino wird hierzulande aber ohnehin niemand produzieren wollen. Für die Blockbuster gibt es Hollywood, und wer es etwas kleiner haben will, geht nach Babelsberg. Die teuren Experimente mit dem «Tatort» haben gezeigt, dass man das Filmschaffen vielleicht besser den anderen überlässt, statt auf Teufel komm raus mitzumischen. Das kann man so sehen – ich sehe es noch etwas anders: Es gibt auch in der Schweiz ein paar clevere Leute, die mit knappem Budget grosse Erfolge erzielen. Zum Beispiel «Der Sandmann» von Peter Luisi. Das dünne Finanzpolster hat das Team durch Ideen ersetzt – und natürlich durch das gekonnte Erzählen einer gro­ tesk-schönen Geschichte. Die technischen Voraussetzungen beim 68

Viktor Giacobbo ist Satiriker und lebt in Winterthur. Er ist Verwaltungsratspräsident der dort ansässigen Casinotheater AG und führt gemeinsam mit seinem Kollegen Mike Müller durch den satirischen Wochenrückblick «Giacobbo/Müller» im Schweizer Fernsehen.

Film sind heute tatsächlich so, dass man auch sehr günstig produ­ zieren kann. Wenn die Kulturförderung einen Teil dazu beitragen kann, so soll sie das auch tun! Also doch! Vertritt Kulturunternehmer Giacobbo also auch die etablierte Meinung, dass der Fokus auf eine grosse Anzahl zahlender Zuschauer oder Zuhörer gleichzeitig die Qualität herabsetze? Unabhängigkeit von privaten Geldern, so sagt man, sorgt erst für die richtige Qualität. Das habe ich nicht gesagt! Und das wäre auch ein Trugschluss. Ausserdem verstehe ich mich nicht als Kulturunternehmer, ich bin Satiremacher, am TV als freier Mitarbeiter und im Casinotheater einer von mehreren, der gute Produktionsbedingungen organi­ siert. Aber zu Ihrer Frage: Wer sich im Kulturbetrieb umsieht, wird feststellen, dass private, finanziell erfolgreiche Kulturkonzepte qualitativ nicht schlechter sind als staatlich subventionierte. Und öffentlich subventioniert heisst noch lang nicht unabhängig. Wenn in einem traditionellen Stadttheater eine provokative Insze­ nierung aufgeführt wird, dann hört man doch schnell einen zorni­ gen Politiker rufen: «Und das mit unseren Steuergeldern!» Das Pendant im Fernsehen lautet: «Und das mit unseren Gebührengel­ dern!» Wer mit öffentlichen Geldern produziert, ist immer der in­ stitutionalisierten Öffentlichkeit oder, banal formuliert, den Lo­ kalpolitikern Rechenschaft schuldig. Redlicherweise muss man konstatieren: Finanziell unabhängig ist der Künstler egal welchen Metiers nie. Trotzdem: auch private Investoren können Einfluss auf das entstehende Kulturgut ausüben. Das kommt immer auf die Partner und Vorzeichen an. Weil wir im Casinotheater keine Subventionen kriegen, kann uns auch nie­ mand von der Politik dreinreden. Und wir haben unsere Sponso­ ren von Anfang an so konditioniert, dass sie damit rechnen müs­ sen, selber zur Satirezielscheibe zu werden.


Viktor Giacobbo, photographiert von Michael Wiederstein.

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Kulturinterview  Schweizer Monat 996  Mai 2012

Ihre Sponsoren hätten an dieser Stelle auch keine andere Antwort hören wollen. Keine Ahnung, was die hören wollen. Die kriegen aber – genau wie Sie – das zu hören, was den Tatsachen entspricht. Wenn unsere Partner damit nicht einverstanden wären, würden sie ja unser Haus nicht unterstützen. Unsere Position ist eindeutig: Sowohl bei uns in der Sendung als auch im Casino geniessen die Geldgeber keine Satireverschonung. Das Theater existiert jetzt seit zehn Jahren, und es hat noch nie einen Sponsor gegeben, der uns Vorschriften gemacht hätte. Kritik ist okay, aber dreinreden? Das liegt nicht drin. Das kann ich kaum glauben. Das ist Ihr Problem. Dann haben Sie sehr emanzipierte Sponsoren. Nein, wir haben clevere Sponsoren, die wissen, dass man mit einem Kleinkunsttheater nicht dieselbe Partnerschaft pflegt wie mit einem Fussballverein. Verdienen oder verlieren Sie nun Geld mit dem Theater? Das Casinotheater ist ein KMU. Es läuft gut, weil das Restaurant und der Eventbetrieb selbsttragend sind. Auch erfolgreiche Thea­ terproduktionen tragen einen Teil dazu bei. Reich wird man aber damit nicht. Wir sind jeweils froh, wenn wir das Jahr mit einer schwarzen Null abschliessen. Theatermachen ist teuer, auch wenn von der Gastronomie noch etwas quersubventioniert wird. Wir produzieren pro Jahr zwei bis drei Theaterinszenierungen, für die jeweils ein bis zwei Monate geprobt wird – und in der Zeit kommt mit der Bühne kein einziger Franken rein. Für diese «Ausfallzeit» haben wir Sponsoren und einen wohlgesinnten Freundeskreis, ganz öffentlich und transparent. Trotzdem kursieren seit Jahren die Gerüchte um Sie als «KabarettPaten», der sich da eine Goldgrube geschaffen hat. Gerüchte sind das nicht, sondern nur ewiggleiche Fragen der Jour­ nalisten. Der Gag des Paten ist offensichtlich rechercheresistent! Ich wäre der weltweit dümmste Mafiaboss, weil ich nicht persön­ lich möglichst viel Geld aus dem Casinotheater raushole, sondern im Gegenteil dort mein halbes Vermögen investiert habe – das ich wohl nie wiedersehen werde, nebenbei bemerkt. Es sind auch Künstler, die dieses Gerücht streuen… Natürlich, das sind ein paar wenige Beleidigte, die bei uns nicht auftreten, weil unsere künstlerische Leitung – und das bin nicht ich – deren Qualität ungenügend findet. Wir versuchen, mit unse­ rer Programmation das ganze Spektrum abzudecken. Niemand nimmt Nachwuchsförderung so ernst wie wir, wenn wir junge Künstler ihre Uraufführungen und Premieren bei uns durchführen lassen und wir gleichzeitig auch das Risiko übernehmen. Es gibt aber für ein Gastspieltheater auch eine Unabhängigkeit gegenüber Künstlern und deren Agenten – und wenn da meine Rolle des Mafiabosses hilft, übernehme ich diese Knattercharge gern. 70

Stichwort Machtmissbrauch: Sie hegten einige Zeit Sympathien für Mao Zedong, nicht? Zu Zeiten des kleinen roten Büchleins, meinen Sie? (lacht) Jaja, ich wurde im berühmten Jahr 1968 politisiert, war damals ziemlich chinafreundlich und einer der Jüngsten in einer linken Winterthu­ rer Gruppierung, die sich «Kritisches Forum» nannte. Bis die Fronten ideologisch so grotesk verhärtet waren, dass ich ausgetreten bin. Da wurden von ein paar Winterthurer Spass-Trotzkisten unter anderem Balkons von Luxuswohnungen abgesprengt… Nein, wir haben nie etwas gesprengt. Streiche gespielt, sicher. Aber von Gewalt habe ich nie etwas gehalten. Wer hat Ihnen denn das erzählt? Das Geheimnis bleibt in der Familie. Was ich aber verraten kann: Auch mit Peter Stamm habe ich kürzlich über seine «wilden Jahre» gesprochen. Der geht mit seiner Jugendrebellion ganz gelassen um. Das geht mir genauso. Ich bin sogar dankbar für diese Zeit; sie hat mich und meinen Zugang zur Politik geprägt. In keiner Schule wurde man so in abstraktes Denken eingeführt wie während der Diskussionsrunden in der Gruppe. Ich lernte dort, Theorie zu lesen und zu Da gibt es viele Schwurbler verstehen. Wir haben das ganze «Kapital» von Marx vom Dienst, bei denen Sie gelesen, diskutiert, bespro­ bezüglich Moral mehr auf chen. Es gab dann noch Ihre Rechnung kommen. viel verstiegene neomar­ xistische Theorie, die wir büffelten, und langsam wurde das Ganze ziemlich dröge und ideologisiert – die ganze an­ fängliche kreative Debattierfreudigkeit war dahin. Theorie schön und gut – die «rote» Praxis in China oder in der UdSSR musste doch jeden klardenkenden Menschen stutzig machen? Ja, offenbar habe ich später als andere klar zu denken begonnen. Als ich damals merkte, dass es ideologisch engmaschiger zu wer­ den begann, wurde ich auch nachdenklich. Josef Stalin wollte ich nämlich nie zu meinen ideologischen Referenzen zählen, auch Mao Zedong schrieb ich nach anfänglicher Euphorie rasch ab. Trotzdem habe ich mir aber die Mühe gemacht, die entsprechen­ den Bücher zu lesen, zumindest jeweils einen Teil davon. Bis ich feststellte, dass vernünftige junge Leute aus meinem direkten Um­ feld in eine Art ideologischen Strudel hineingerieten: Sie glaubten irgendwann, die ganze Welt erklären zu können. Ich habe plötz­ lich gemerkt: Ich könnte die ganze Welt erklären. Und ich hatte für alles eine Schublade... …wer so umfassend zu wissen und zu verstehen glaubt, sitzt in erhöhter Position auf dem selbsternannten «Richterstuhl der Vernunft». Wieso sind Sie von diesem bequemen Platz heruntergestiegen? Das war kein bequemer Platz. Wer auf alles und jedes eine pas­


Schweizer Monat 996  Mai 2012  Kulturinterview

sende Antwort hat, ist kein Genie, sondern ein Sektierer. Es ist er­ schreckend, wenn man mit 25 feststellt, dass man offenbar selbst einer ist. Kürzlich habe ich die Stalinismus-Bücher von Simon Sebag Montefiore und von Jörg Baberowski gelesen – und bin nochmals erschrocken, zu welchen Absurditäten totalitäre Sys­ teme fähig sind. Wer einmal ideologisch gefangen war, erkennt umso besser, was es bedeutet, frei zu denken. Da sind Sie der perfekte Kandidat für die Deutung der Gegenwart: Wie steht es heute um die Freiheit in der Schweiz? Darauf kann man nur mit Allgemeinplätzen antworten. Etwa, dass die Schweiz trotz allem noch eines der freiesten Länder der Welt ist. Zufrieden? Deutlicher, bitte. Ich würde jetzt gerne eine Moralpredigt von Ihnen hören. Da gibt es viele Schwurbler vom Dienst, bei denen Sie bezüglich Moral mehr auf Ihre Rechnung kommen. Ausserdem eigne ich mich weder als Prediger noch als Lehrer – generell bin ich sowieso didaktisch nicht zu gebrauchen.

Ich habe gehört, dass Sie ein sehr freiheitlich denkender Mensch seien. Aber wenn Sie jetzt Klartext reden, dann vergraulen Sie Ihre Kulturkollegen. Also schweigen Sie lieber. Jetzt beginnen aber Sie zu schwurbeln – ich vergraule doch nichts lieber als die eigene Szene. In unserer Sendung lassen wir auch das eigene Unternehmen, ja sogar uns selber nicht aus.

bezeichnet. Komik ist immer Geschmackssache und wird das auch bleiben. Wenn wir beginnen würden, alles durchzuplanen, auszu­ tarieren und zu testen, hätten wir schon verloren. Das schönste Kompliment für einen Politsatiriker ist aber, wenn er über die Komik Menschen überzeugen kann, sich für Politik überhaupt zu interessieren. Egal, auf welche Partei man abfährt, es gilt immer noch die alte schöne Banalität: Wer nicht Politik macht, mit dem wird Politik gemacht. Das ist jetzt aber wieder so schön brav gesagt, wie in der Schule. Wenn jemand nicht zufrieden ist mit der Politik, dann erinnern Sie ihn einfach freundlich daran, dass er in der schönsten aller Welten lebt? Diese Schule hätte ich besuchen wollen, in der so gesprochen wird... …wieso machen Sie es nicht wie Beppe Grillo in Italien und werden Politiker? Das wäre doch ein schöner Beitrag zu unserer Debattenkultur. Zum einen bin ich nicht Beppe Grillo, der in Italien besser Komiker bleiben würde, weil er nämlich in der Politik auf Granit beissen und so seinen Einfluss auf die Leute verlieren wird. Zum andern bin ich ganz sicher nicht konkordanzkompatibel. �

Es macht Ihnen also Spass, den Leuten auf die Füsse zu treten? Dem Gaddafi bin ich stets gern auf die Füsse getreten. (lacht) Ich gehe aber nicht generell davon aus, dass ich jemandem auf den Zehen stehen muss – um mich an meiner Arbeit erfreuen zu können. Ich artikuliere bloss meine Meinung und freue mich an ihrer Reichweite. Im Satiregeschäft muss man eine Neigung dazu haben, sich äussern zu wollen – und natürlich einen Standpunkt, von dem aus man das tut. Allerdings: ohne Lust an einem gewissen Klamauk oder ohne Lust am Kindischsein geht es auch nicht. Wie sieht denn Ihr Standpunkt heute aus? Der Standpunkt bin ich selber. Das, was ich je nach Thema gut oder schlecht finde. Ich fühle mich freier, wenn ich mir ganz prag­ matisch eine Meinung zu den diversen aktuellen Fragen bilde, statt mich einem selber gebastelten Überbau unterzuordnen oder mich einer eng definierten parteipolitischen Linie anzuschliessen. Dies macht mich auch in einem satirischen Talk lockerer und ich kann dort auch zuweilen eine Pointe über meine eigenen politi­ schen Positionen machen. Mike Müller und ich, wir finden unsere Positionen bei aufkommenden politischen Sachfragen nicht auf einer Agenda. Wir sind nicht an eine Partei oder ein Milieu gebun­ den. Was wir komisch finden, bringen wir ins Programm. Auch wenn es ein Teil des Publikums nicht lustig findet? Jeder Komiker wird von einem Teil des Publikums als nicht lustig 71


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Schweizer Monat 996  Mai 2012  Dossier

Nehmt ihnen die Kunst weg! Die neue Diskussion über einen 50-Prozent-Schnitt bei den Kulturinstitutionen geht am Thema vorbei. Statt sich über Promillegrenzen für öffentliche Subventionen zu streiten, sollten Kulturschaffende dem überfälligen Strukturwandel ins Auge schauen – und auf «kreative Zerstörung» setzen. von Philipp Meier

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ür Kunstvermittlerinnen und -vermittler ist Reflexion eine Kernkompetenz. Das sollte man zumindest meinen. Nach der Ankündigung (!) einer Vorschau (!) zum Buch «Kulturinfarkt» im «Spiegel» brannten jedoch bei vielen die geistigen Pferde durch. Wer sich neugierig in einen diskursiven Austausch stürzen wollte, musste zuerst reihum und beinahe tagelang richtigstellen, dass es sich beim Vorschlag der vier Herren aus Deutschland und der Schweiz um einen Um- und nicht Abbau der öffentlichen Kultur­ gelder handle. Kaum war dies geklärt, klammerten sich die Kriti­ ker umgehend an die nächstbesten Argumente, um nicht über eine Veränderung des Status quo nachdenken zu müssen: Die Absender seien die falschen und deren Vorschläge viel zu vage. Die Verweigerung, sich überhaupt auf das Gedankenspiel für eine neue Verteilung der öffentlichen Kulturgelder einzulassen, zieht sich quer durch die Kulturlandschaft. Sogar Verlierer im ak­ tuellen System schlagen sich reflexartig auf die Seite der tradierten insti­ Die Verweigerung, sich über- tutionellen Kunstvermitt­ lung. Die breite Ablehnung haupt auf das Gedankenspiel manifestierte sich letzt­ einzulassen, zieht sich quer endlich durch die fast durch die Kulturlandschaft. durchwegs negativen Kri­ tiken in den Medien. Im besten Fall wird ein ganz kleines «bedenkenswert» unter vielen grossen «aber» erstickt. Hätte der Beweis für einen infarktähnlichen Zustand in der Kunst­ vermittlung gefehlt, spätestens durch all diese Reaktionen wurde er sichtbar. Im Kunstvermittlungswesen herrscht eine alarmie­ rende Kritikunfähigkeit. Diese entstammt einer diffusen Mi­ schung aus Betriebsblindheit, fehlender Neugierde und überheb­ licher Ignoranz gegenüber gesellschaftlichen Umwälzungen. Zurück zum Buch «Kulturinfarkt». Vier Herren, die je nach Gesinnung der Kritiker «Kulturbürokraten» oder «Kulturmanager» geschimpft werden, haben ein Gedankenspiel vorgeschlagen: Die Hälfte der Museen und Theater sollen geschlossen und das damit freiwerdende Geld neu verteilt werden. Nichts mehr und nichts weniger. Ein solcher Eingriff würde den Horizont der Kulturland­ schaft auf einen Schlag massiv lichten. In Anlehnung an den Slo­

Philipp Meier ist Direktor des Dada-Hauses «Cabaret Voltaire» in Zürich.

gan der Zürcher 80er Jugendbewegung «Nieder mit den Alpen, freie Sicht aufs Mittelmeer!» liesse sich folgender Weckruf formu­ lieren: «Nieder mit den Institutionen, freie Sicht auf das www!» Weil fünfzig Prozent der Institutionen bestehen blieben, ge­ mäss den Ausführungen der Buchverfasser sogar besser dotiert als bisher, würde unser gewachsenes Kultur- und Kunstverständnis noch lange nicht in Frage gestellt. Mit der Hälfte der Museen und Theater blieben im deutschsprachigen Teil Europas wohl mehr Kunstinstitutionen erhalten als Fabrikbauten, die ans Industrie­ zeitalter erinnern. Dieser Vergleich hinkt überhaupt nicht, denn genau in diesen Zusammenhang müssten die mehr oder weniger etablierten Kunstinstitutionen gestellt werden. Die Museen und Theater referenzieren in erster Linie auf ein Zeitalter der Maschinen. Kunst wird hier ins immer gleiche enge räumliche Korsett mit denselben festgelegten Vermittlungsabläu­ fen gezwängt. In einer Zeit, in der Wissen fast immer und überall abgerufen werden kann, gibt es wenig Anachronistischeres, als eine Skulptur in einem Haus auf einen Sockel zu stellen (oder ein Stück auf eine Bühne zu bringen) und darauf zu warten, bis die Menschen sich beides anschauen kommen. Und damit die Men­ schen überhaupt wissen, dass da jemand auf einer Bühne steht oder irgendein Bild an der Wand hängt, muss darüber hinaus auch noch viel Geld in Werbung gesteckt werden; abgesehen davon, dass der Erhalt und Betrieb eines Hauses mit einem solch stati­ schen Kunstvermittlungskonzept Unsummen verschlingt. Wenn nun Konsens darüber bestehen würde, dass die Schlies­ sung der Hälfte aller Kunstinstitutionen noch lange nicht der Un­ tergang des Abendlandes bedeutet, dann liesse sich trefflich dar­ über streiten, wie die restlichen fünfzig Prozent der freiwerdenden Gelder verwendet werden könnten. Genau zu dieser dringlichen Diskussion hat das Buch «Kulturinfarkt» die Türe aufgestossen. Wenn Kunstvermittler auf Biegen und Brechen diese Diskussion über gänzlich neue Formen, Wege, Kanäle und Plattformen ver­ hindern wollen, dann muss man sich fragen dürfen, ob die Kunst bei ihnen gut aufgehoben ist. � 73


Literarischer Essay  Schweizer Monat 996  Mai 2012

Wenn Drachen Walzer tanzen Eine 25jährige Pianistin zieht von Zürich nach Singapur. Auf der Suche nach ihren kulturellen Wurzeln stellt sie fest: Der Stadtstaat sucht sie ebenfalls. Singapur würde am liebsten Europa und die ganze Schweiz importieren – und verleugnet dabei die eigene Identität. Kann ein Matterhorn aus Styropor wirklich die kulturelle Zukunft sein? von Rahel Senn

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ch bin die Tochter eines Schweizers und einer Singapurerin. Habe mein Leben in der Schweiz verbracht und bin achtsprachig aufgewachsen. Als Kind fühlte ich mich stets missverstanden. Ich war ein Problemkind. Als Teenager bin ich oft ausgerastet. Und heute wäre ich vielleicht drogenabhängig oder Dauergast im Burghölzli, wenn nicht die Musik dazwischengekommen wäre. Ich spüre den Menschen durch die Musik. Ich spüre jedes Lebewesen, jedes Ding durch seinen Puls. Ich teile daher die Meinung mancher Musiker nicht, dass kulturelle Unterschiede in der Musik verschwinden. Musik sei eine universelle Sprache. Blabla. Musik gehe über Grenzen. Blabla. Musik sei für alle da. Blabla. Es macht einen Unterschied, ob ich für ein europäisches oder ein asiatisches Publikum spiele. Es geht dabei um den Puls, der nicht nur jedem Menschen, sondern auch jedem Kontinent eigen ist. Es geht um den Walzer einer Kultur – oder eben den Nichtwalzer einer Kultur. Im Januar letzten Jahres lag in meinem Zürcher Briefkasten mein Klavierdiplom. Endlich! Jetzt war ich also Pianistin. So viele Jahre hatte ich mich abgerackert für dieses Stück Papier. Geändert hatte sich aber wenig. Nur an die Hochschule zu fahren brauchte ich nicht mehr, ich musste mich nicht mehr in Seminaren langweilen, mich nicht mehr mit Kompositionen beschäftigen, die mehr Mathematik waren als Musik. Ansonsten ging es mir wie den meisten Studienabsolventen: Ich merkte plötzlich, dass ein Rahel Senn Die Pianistin Rahel Senn wurde soeben als erste Schweizerin abgeschlossenes Universitätsstudium nur der Beginn eines noch grösse­ zum internationalen «Young Steinway Artist» ernannt. ren Studiums ist, das sich Leben nennt. Mein Leben hat sich seitdem über Die Tochter eines Schweizers und einer Singapurerin leitet Kontinente hinweg verschoben. Derzeit bin ich mit meinem Solo-Klavierseit 2011 das interdisziplinäre Musikdepartement an der Raffles Institution in Singapur. Ab Juni schreibt sie Programm «Retour à l’Art brut» in Asien unterwegs, und seit Juli 2011 eine exklusive Kolumne für den «Schweizer Monat». leite ich das interdisziplinäre Musikdepartement an der staatlich organi­ www.rahelsenn.com sierten Raffles Institution in Singapur. Da sich mein Management in Singapur befindet, trete ich hier regelmässig auf. Mir wird immer deutli­ cher: In Singapur gibt es eine Spannung zwischen mir und meinen Zuhörern, etwas, das die Ein­ heit meiner Seele in erheblichem Masse stört. Eine Spannung, die mir auch im singapurischen Alltag auffällt. Ich spüre den Menschen durch die Musik – vor allem dann, wenn sie innehält. Drachenstaat Singapur Singapur reitet ganz vorne auf dem Zug der Globalisierung und ist eine der teuersten Städte der Welt. Und alles wird immer teurer. Der kleine Stadtstaat ist – neben Südkorea, Taiwan und Hongkong – einer von vier Drachenstaaten, manchmal auch Tigerstaaten genannt. Die offizielle Definition für einen Drachen- bzw. Tigerstaat lautet: Newly Industrialized Country. Tigerstaat klingt aber aufregender, Drachenstaat fast doppelt so aufregend. Die Asiaten verwenden Tierna­ 74


Bild: Rahel Senn, art-management.com.

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Literarischer Essay  Schweizer Monat 996  Mai 2012

men gerne in ihrer Sprache. Vor allem die der starken Tiere. Singapura – der Name kommt aus dem Sanskrit (singha = Löwe, pura = Stadt) und wurde der Insel gemäss einer Legende wie folgt zuteil: Im 14. Jahrhun­ dert soll der hinduistische Prinz und spätere Herrscher Singapurs, Sang Nila Utama, aus Sumatra auf die Insel geflüchtet sein. Seine Heirat mit einer buddhistischen Prinzessin aus Java hatte zu politischen Unru­ hen zwischen Sumatra und Java geführt. Damals war Singapur nur ein Dschungel. So kam dem jungen Prinzen bei seiner Ankunft ein Löwe entgegen. Anstatt ihn zu bekämpfen, hatte er dem Tier in die Augen geschaut, und es war wieder gegangen. Nach diesem wundersamen Ereignis gab der Prinz «seiner» Stadt den Namen Löwenstadt – Singapura. Seit 1964 ist der Merlion das Wahrzeichen Singapurs, ein Fabelwesen mit dem Kopf eines Löwen und einem Fischkörper. Heute ist Singapur zum grössten Teil von Chinesen bevölkert (76,8 Prozent), 13,8 Prozent sind Malaien und 7,9 Prozent Inder. In der Statistik gibt es 1,4 Prozent «andere». Darunter zählt man die Gastar­ beiter, die Ausländer. Und auch die Eurasier, denn von denen gibt es hier so viele, dass sie eine eigene Rasse bilden. Rassen, die das Land überbevölkern; 7126,2 Einwohner müssen einen Quadratkilometer miteinander teilen. Singapur ist der flächenmässig kleinste Staat Südostasiens und hat etwa die Grösse Hamburgs. «Singapore is a fine city», sagt ein englisches Sprichwort. Im Jahr 1867 wurde Singapur offizielle briti­ sche Kronkolonie. Im Zweiten Weltkrieg besetzten die Japaner den Stadtstaat. Nach Kriegsende wurde er erneut von den Briten beschlagnahmt, bevor er 1963 seine Unabhängigkeit erlangte. Mit der Wahl des ersten Premierministers Lee Kuan Yew, der von den Singapurern nach wie vor als Vater der Nation geehrt wird, im Jahre 1959, wurde der Kronkolonie erstmals eine autonome Regierung gewährt. Von da an ging es rasch bergauf. Die Singapurer brachen ihre alte Welt einfach ab: Die zahllosen Huren, deren Dienste von den Seeleuten genutzt worden waren, wurden der Landesgrenze verwiesen, die bösen Jungs und ihre Waffen von den Strassen in Gefängnisse und Zeughäuser verbannt, Drogenverbote verhängt, das Bildungssystem revidiert, es wurde gebaut und alte Gebäude wurden abgerissen. Mit Geboten und Verbo­ ten hat Lee Kuan Yew aus dem ehemaligen Drogenumschlagplatz und Hurenviertel das gemacht, was das heutige Singapur ist: ein Volk aus zusammengewürfelten Rassen, das in Frieden und gegenseitigem Respekt zusammenlebt. A fine city Die Doppeldeutigkeit ist kein Zufall. Singapur ist eine tolle Stadt. Aber auch bekannt für die hohen Geld- und Sozialstrafen. Und tatsächlich: in Singapur wird man für den Konsum von Essen und Trinken in der U-Bahn und den U-Bahn-Stationen gebüsst. Man wird auch gebüsst, wenn man auf den Boden spuckt oder wenn man beim Pinkeln auf öffentlichem Grund erwischt wird. In Singapur darf man sich in Bars oder Restaurants keine Zigaretten anzünden, auch nicht im Umkreis von fünf Metern von einem öffentli­ chen Gebäude – die imaginären Grenzen sind nach strengem Mass gezogen. Wenn mehr als drei Personen öffentlich über Politik oder Religion diskutieren wollen, brauchen sie dafür eine staatliche Lizenz. Wer die Liste der Verbote und Gebote – und vor allem die Strafen bei Nichtbeachtung derselben – kennt, gehorcht fast widerstandslos. Bis vor sechs Jahren war auch die Ein­ fuhr von Kaugummi verboten. Inzwischen ist die Regierung toleranter geworden: In Apotheken darf heute ein Raucher bei Vorweisen eines Arztzeugnisses und des Personalausweises eine Packung Nikotinkau­ gummi erstehen. Singapore is a fine city. Wenn die Apothekerin jedoch vergisst oder absichtlich versäumt, die Personaldaten des Kunden aufzuzeichnen, kann dies mit einer Geldstrafe von 3000 Singapurdollar – das sind rund 2200 Schweizer Franken – geahndet werden. Ab und zu kommt auch die Methode «Prügel mit Rohrstock» zum Zug. Dabei wird mit einem für solche Zwecke extra elastischen Bambusstock der Hintern des Straftäters versohlt. Dies geschieht zum Beispiel, wenn jemand Unwahrheiten verbreitet und die Lügen ihm nachgewiesen werden können (3 bis 8 Schläge). Lieber geht man also zur Strafe mit einer neonleuchtenden Weste (Aufschrift: ORDER FOR CORRECTIVE WORK) den Strand säubern. Auch in Sachen Sex zeigt sich der Tigerstaat neuerdings toleranter, denn während sexuelle Praktiken, die von der Regierung als unnatürlich angesehen werden, nach wie vor illegal sind (darunter der Sex unter Homosexuellen), ist seit fünf Jahren der Anal- und Oralverkehr für Heteros erlaubt. Die Regierung hat überdies zwar 2003 das Verkaufsverbot des Cosmopolitan aufgehoben, aber für den Playboy erachtet sie die singapurische Gesellschaft als «noch nicht bereit». 76


Schweizer Monat 996  Mai 2012  Literarischer Essay

Bestrafen, wenn’s sein muss. Töten, wenn’s sein muss. Während Singapur weltweit eines der Länder mit der niedrigsten Kriminalitätsrate ist, weist es die höchste Zahl von Todesstrafen aus, wenn man die Zahl der Todesurteile mit der Zahl der Einwohner proportional rechnet. Eine Studie hat verglichen: In den USA würden pro Jahr 8000 Menschen umgebracht, wenn Singapurs Regierung dort waltete. Manchmal habe ich beim blossen Gedanken an die vielen Ver- und Gebote Todesangst, denn jedermann hier weiss: Big Brother is watching you. In Singapur gehören Videokameras zur Standarddeko. So wie in Zürich Stras­ senlaternen zu den Strassen gehören. Trotzdem wächst die Zahl der Einwohner in Singapur. Immer mehr Ausländer kommen zu Karriere­ zwecken hierher. Der kleine Stadtstaat lockt die besten Ingenieure, die gewieftesten Banker und die schlausten Naturwissenschafter aus der ganzen Welt an. Neuerdings auch Künstler. Die knappe Wohnfläche ist schon lange ein Problem. Deshalb versucht man, mittels Landaufschüttung aus der Davidsinsel eine Goliathsinsel zu machen. In den letzten 50 Jahren ist die Insel um rund 120 km2 Land reicher geworden, bis 2030 sollen noch einmal 130 km2 dazukommen. Es wäre ja schliesslich schwach, wenn Singapur sagen würde: «Unser Land ist einfach zu klein für die stetig wachsende Bevölkerung.» Es ist ein Charakterzug von Asiaten, Schwäche zu verbergen. Singapur ist ein Tigerstaat. Löwenstadt. Stadt der Löwen. Stadt der schnellen Technik. Stadt der hohen Häuser. Die Höhle des Drachen 2012 ist das Jahr des Drachen. An Neujahr haben sich die Chinesen «Happy Dragon Year!» gewünscht. Und in den Fortpflanzungsheften für den Menschen wurde den Möchtegerneltern prophezeit, dass Dra­ chen-Babys toll wären. Im Sinne von: «Ran an die Säcke, damit sich der Drachenstaat möglichst vieler Drachenbabys erfreuen kann!» Drachen finden die Chinesen toll, weil sie die positiven Werte eines Lebe­ wesens verkörpern. Darum hat man in den meisten chinesischen Haushalten einen Marmor- oder Holz­ drachen in der Vitrine stehen, und zum chinesischen Neujahr hängt eine chinesische Familie zusätzlich einen Papierdrachen vor die Tür. Rot soll er sein, und darunter sollen Lichter brennen, damit das böse Biest mit dem Namen Nian nicht in die Wohnung gelange. Nun, um es gleich vorwegzunehmen: Vielleicht wird sich in fünf Jahren niemand mehr vor den Biestern fürchten, die die Ahnen erfunden haben. Weil in Singapur alles zunehmend westlich sein soll. Weil in Singapur Walzer gespielt werden soll. Die Singapurer zu Weihnachten Plastikchristbäume mit Neonlichterketten und Ronald-McDonald-Weihnachtskugeln in die Wohnzimmer stellen und spätestens in der nächsten Generation auf das chinesische Neujahr pfeifen sollen. Das ist eine Übertreibung, aber die Neigung ist augenscheinlich. Wenn man aus dem Fenster schaut und statt der Birken Palmen winken, wenn die Kollegen nach dem Ausgang anstatt auf den Döner bei Habibi auf eine Nudelsuppe Lust haben, wenn man sich durch die Massen in den Metrostationen drängeln und sich in den Einkaufszentren alle zwei Meter umdrehen muss, um sich zu entschuldigen, weil man mit dem Arm die Einkaufstüte des anderen gestreift hat – dann wird einem erst bewusst, dass man ganz, ganz weit weg ist von zu Hause. Und wenn ich mich dann mit Heimweh und Sehnsucht nach Birken, Dönern und mehr Platz in ein Café setze und die Menschen um mich herum an­ schaue und die wild zusammengewürfelte Schar aus Asiaten, Amerikanern, Europäern, Eurasiern beob­ achte, wird mir bewusst: Ich habe ein Land kennengelernt, das vielleicht einmal das Matterhorn in seiner wirklichen Grösse aus Styropor heraussägen und teure Uhren und Militärsackmesser und Käse exportie­ ren wird. Aber: Schnee schmilzt unter der Sonne, und Kühe fressen keinen Beton. Manchmal, wenn ich durch die Strassen gehe, der Verkehr geordnet an mir vorbeischlängelt, die Busse die Werbung vorbeitragen und das Licht der untergehenden Sonne sich an den Fenstern der Hoch­ häuser bricht, kommt es mir vor, als befände ich mich in einem Spielzeugland, und die Menschen würden wie Playmobilfiguren von der Regierung herumgeschoben. Man hat den Leuten kleine Paradiese in die grosse Betonwüste gebaut – sogenannte Condominiums. Das sind jeweils fünf bis sechs Hochhäuser, die von einer Mauer umgeben und von Sicherheitsleuten bewacht werden. Zu jeder Hochhausgruppe gehören ein Swimmingpool und ein Fitnessraum, manchmal auch ein Spa. Die kleinen Paradiese tragen Namen wie «La Nouvelle», «Castle Green», «Newton One» oder «Maplewoods». Es sind kleine Städte in der grossen Stadt. Ein bisschen Privatsphäre in einem Land, dessen Boden knapp wird. Neben mir am anderen Tisch sitzt eine chinesische Familie: die Grossmutter und ein junges Ehepaar mit Kind. Die ältere Dame füttert das Kind mit Schlagsahne und fragt dabei skeptisch: «Ist das denn wirk­ 77


Literarischer Essay  Schweizer Monat 996  Mai 2012

lich geniessbar, dieses weisse Zeug?» Ich kann mir ein Schmunzeln nicht verkneifen. Eine solche Frage zeigt den tiefen Graben zwischen Tradition und Globalisierung. Die Grossmutter zählt zu jener Genera­ tion, die den Zweiten Weltkrieg erlebt hat, die Invasion der Japaner, die Kolonialzeit unter der Herrschaft der Engländer. Die Absonderung Singapurs von Malaysia. Sie hat erlebt, wie sich Singapur mit seinem langjährigen Premierminister Lee Kuan Yew zum autonomen Stadtstaat emporgearbeitet hat. Innerhalb von zwei Generationen hat sie mit Singapur das durchgemacht, was die meisten europäischen Länder in zwei oder drei Jahrhunderten erlebten. Dieser kulturelle Generationengraben macht meine Suche nach den Wurzeln nicht einfach. Singapur – Bankerstadt, Entertainmenthub etc. Die Stadt möchte am liebsten überall an der Spitze sein. Und die Regierung ordnet an, auf der Überholspur zu fahren. Diese kennt nur eine Richtung: rasant vorwärts. Die Regierung hat alles unter Kontrolle. Sie hat alle Zügel in der Hand. Walzer für Drachen Vielleicht haben die Singapurer gerade deshalb einen ganz anderen Zugang zur Musik. Ein Bekannter von mir, der an der hiesigen Hochschule unterrichtet – Neuseeländer –, ärgerte sich einmal über seine Klavierstudenten, die den Walzer zwar technisch perfekt, aber emotional stumpf daherklimpern. Offen­ bar gelingt die Verwestlichung Singapurs durch die Musik nicht ganz so geschmeidig wie bei den ober­ flächlichen Dingen aus Wirtschaft und Politik. Lee Kuan Yew äusserte einmal den Wunsch, Singapur zur Schweiz Asiens zu machen. Vorbild und Kopie. Singapur, die Schweiz Asiens? Bin ich nach Singapur gekommen, um eine Kopie meines Heimatlan­ des zu sehen? Wo ist das ursprüngliche Singapur? Wo beginnt die «Schweiz Asiens»? Die Schweiz (mit Heidi und den Bergen) steht – nicht nur in Singapur – für Qualität, ja in gewissen Kreisen sogar für Pres­ tige. Die Swiss Brands haben sich hier bestens etabliert – an der Orchard Road, mir gerade gegenüber, zum Beispiel steht das Patek-Philippe-Geschäft zwischen dem Mövenpickrestaurant und Swatch. Auch die Schweizer Banken sind hier kaum zu übersehen. Aber nicht nur Switzerland hat in Singapur einen guten Ruf, grundsätzlich erachten die Singapurer ganz Europa, um nicht zu sagen: den ganzen Westen, als Ideal von Wohlstand. Nur: An diesem Punkt relativiert sich der Begriff des Wohlstands. Den alten Chinesen ging alles um das Praktische. Der Sinn fürs Praktische äussert sich in den banals­ ten Dingen des Alltags. Zum Beispiel sehe ich in den äusseren Bezirken manchmal verrostete Fahrräder stehen, an denen nach wie vor die Plastikverpackung klebt, schliesslich soll eine solche Verpackung zum Schutz des Gefährts gereichen. Der moderne Singapurer kennt diese Denkweise. Sie ist in ihm verankert, aber zugunsten der Globalisierung ist er bereit, sie zu verleugnen. Es schneidet sich Tradition mit Erneue­ rung. Ob diese Erneuerung auch in der Kultur gelingt? In der Musik? In Singapur hat die Globalisierung den Menschen überholt. Wirtschaftlich und politisch ist der Dra­ chenstaat globalisiert. Es funktioniert: Singapur ist sowohl in ökonomischer als auch in politischer Hinsicht Vorbild für die meisten asiatischen Nachbarstaaten geworden. Die vielen Einwanderer – die Ge­ sichter der Globalisierung – haben aber auch ihre eigenen Kulturen mitgebracht. Ihre Musik. Ihren Walzer. Die Bewohner des Drachenstaates haben Gefallen an ihm gefunden. Wollen mittanzen. Aber: Können Dra­ chen Walzer tanzen? «Wer bin ich?», hatte ich mich gefragt, bevor ich meine Heimat verliess. Jetzt weiss ich: «Ich bin sowohl Walzer- als auch Drachenkind.» Die Antwort fand ich in der Heimat meiner Mutter. In einem Land, das in diesem Moment noch lauter schreit: «Wer bin ich?» �

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nacht des monats  Schweizer Monat 996  Mai 2012

Nacht des Monats Michael Wiederstein trifft Manon Pfrunder

«W

ieso haben wir Theatermenschen es verlernt, für die Leute zu spielen?», fragt mich die junge Frau ziemlich aufgebracht. «Wieso hat eine ganze Zunft verlernt, dass Theater für die Leute da ist – und nicht für Selbstverwirklichungsschau­ spieler, -regisseure und -autoren?» Manon Pfrunder, junge Schweizer Schauspielerin, steht neben mir und macht sich Gedanken zum «guten» Theater. Anspruchs­ voll solle es ja schon sein, sagt sie, geistreich und auch kritisch. Aber ansonsten? «Der Theaterbetrieb ist selbst eine einzige grosse Inszenierung...», sagt sie leicht nachdenklich. Und sie weiss, wo­ von sie redet, auch wenn sie nicht genau weiss, wo es mit ihr hin­ gehen wird. «Zwei deutsche Agenturen sind an mir interessiert», sagt sie. Ihre langen braunen Haare um ihren rechten Zeigefinger wickelnd, stellt sie nach einer Pause lachend fest: «Jetzt geht es wohl ans Planen meiner Theaterzukunft.» Manon hat im letzten Winter «2 nach Orff» von Marcus Ever­ ding in Zürich inszeniert. Um ihn für das Projekt zu begeistern, ist sie mit ihrer Eigeninterpretation des vielschichtigen Stoffes nach München gefahren. Nachdem sie Everding bei einem Kaffee eine persönliche Einführung gegeben hatte, stimmte er dem Projekt schliesslich zu, vergass aber nicht, ihr mitzuteilen, dass er sie bei der ersten Anfrage zu ihren Änderungen an seinem Text am liebsten «gleich umgebracht» hätte. Manon lacht. «Trotzdem ist er zur Pre­ miere gekommen.» Heute stehen keine verstimmten Autoren auf unserem Programm, sondern für einmal gar keiner. Manons Wunsch: Theatersport in Miller’s Studio – alles wird hier mit Hilfe des Publikums live improvisiert. «Warst du schon einmal bei einem Impro-Theater-Fest?», fragt Manon mich flüsternd, als wir uns in den Saal setzen. Ich muss verneinen. Mehr als die «Schillerstrasse» verbinde ich damit nicht. Für sie sei es auch das erste Mal, sagt sie. «Ist bestimmt gute Unterhaltung, wenn auch nicht tiefgründig.» Aber genau daran mag es liegen, dass Spannung und Drive in diesem Theatersaal für alle spürbar sind, erklärt mir Manon in der Pause. «Wir Theaterleute müssen wieder lernen, beim Zuschauer Lust auf Theater zu wecken. Viele Leute haben Hemmungen, in die grossen Häuser zu gehen, weil die Stücke einfach zu abgedreht, zu schwierig und auch nicht besonders einnehmend sind.» Das Schweizer Theatersport-Team liegt derweil mit 0:3 hinter dem Team USA-Kanada und muss aufholen. Das Team hat hierfür

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offenbar nur zwei Möglichkeiten: Entweder es gefällt dem Publi­ kum auf der Bühne besser als das gegnerische Team – das ist hier und heute für die Schweizer leider nicht der Fall –, oder es bindet das später über die gezeigte Leistung abstimmende Publikum mit ein. Regelmässige Besucher des Impro-Theaters, die sich gegen exponierte Momente absichern wollen, nehmen in der Mitte Platz. Wir haben das leider nicht getan. Zwei Minuten später stehen wir bereits im Scheinwerferlicht auf der Bühne. Manon kommt aus dem Lachen nicht heraus. Vor ihr steht reglos eine andere junge Schauspielerin, der freundliche Herr direkt vor mir hat uns eben heraufgeholt. Wir, die rot angelaufenen Publikumsjoker des Teams Schweiz, sollen die beiden «bedienen» – während sie sich unterhalten. Mög­ Das Publikum lacht, lichst passend zum Dialog natürlich. 3, 2, 1 – los! Wir ob über oder dank uns, bewegen also Arme, Kopf, das ist bis zuletzt sogar Beine und den gan­ nicht klar. zen Rumpf unserer zwei menschlichen «Puppen». Das Publikum lacht, ob über oder dank uns, das ist bis zuletzt nicht klar. Dann: Applaus. Manon, ganz der Profi, ergreift meine Hand und wir verbeugen uns. Die Schweiz wird gegen das Team USA-Kanada dennoch mit 1:5 verlieren. Den einen Punkt gab es für unsere «Puppen-Num­ mer». Als wir das Miller’s Studio verlassen, streut sich in uns ein erlebnisbefreiter Frohsinn aus – eine Art kulturelle Bereicherung, die man nach gutem Kino, einer guten Oper oder eben nach gutem Theater verspürt. «Das ist Kunst», sagt Manon losgelöst. «Sie ent­ steht dort, wo das Handwerk den Betrachter berührt. Nirgends sonst.» �


Manon Pfrunder, photographiert von Michael Wiederstein.

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Ausblick  Schweizer Monat 996  Mai 2012

Impressum «Schweizer Monat», Nr. 996 92. Jahr, Ausgabe Mai 2012 ISSN 0036-7400

Im nächsten «Schweizer Monat»

Die Zeitschrift wurde 1921 als «Schweizerische Monatshefte» gegründet und erschien ab 1931 als «Schweizer Monatshefte». Seit 2011 heisst sie «Schweizer Monat». VERLAG SMH Verlag AG HERAUSGEBER & CHEFREDAKTOR René Scheu rene.scheu@schweizermonat.ch RESSORT POLITIK & WIRTSCHAFT Florian Rittmeyer florian.rittmeyer@schweizermonat.ch RESSORT KULTUR Michael Wiederstein michael.wiederstein@schweizermonat.ch STAGE Sabina Galbiati DOSSIER Jede Ausgabe enthält einen eigenen Themenschwerpunkt, den wir zusammen mit einem Partner lancieren. Wir leisten die unabhängige redaktionelle Aufbereitung des Themas. Der Dossierpartner ermöglicht uns durch seine Unterstützung dessen Realisierung. KORREKTORAT Roger Gaston Sutter Der «Schweizer Monat» folgt den Vorschlägen zur Rechtschreibung der Schweizer Orthographischen Konferenz (SOK), www.sok.ch. GESTALTUNG & PRODUKTION Pascal Zgraggen pascal.zgraggen@aformat.ch MARKETING & VERKAUF Urs Arnold urs.arnold@schweizermonat.ch

Freie Rede Börne-Preisträger Götz Aly über Gerechtigkeit und Neid

Was ist eigentlich ein Bürger? Norbert Bolz, Deirdre McCloskey und Cédric Wermuth über Bürgerlichkeit

Die Schweiz als Datentresor Der Unternehmer Franz Grüter über ein neues Geschäftsmodell

Vom Boot aus gesehen Der Schriftsteller Klaus Modick über den kreativen Akt des Übersetzens

ADMINISTRATION/LESERSERVICE Anneliese Klingler (Leitung) anneliese.klingler@schweizermonat.ch Rita Winiger rita.winiger@schweizermonat.ch FREUNDESKREIS Franz Albers, Georges Bindschedler, Ulrich Bremi, Elisabeth Buhofer, Martin Dolezyk, Peter Forstmoser, Titus Gebel, Manfred Halter, Creed Künzle, Fredy Lienhard, Heinz Müller-Merz, Daniel Model, Dietrich Schindler, Irene Staehelin, Ullin Streiff, Jost Wirz ADRESSE «Schweizer Monat» SMH Verlag AG Vogelsangstrasse 52 8006 Zürich +41 (0)44 361 26 06 www.schweizermonat.ch ANZEIGEN anzeigen@schweizermonat.ch PREISE Jahresabo Fr. 165.– / Euro 118.– 2-Jahres-Abo Fr. 297.– / Euro 212.– Abo auf Lebenszeit / auf Anfrage Einzelheft Fr. 19.50 / Euro 16.50.– Studenten und Auszubildende erhalten 50% Ermässigung auf das Jahresabonnement. DRUCK pmc Print Media Corporation, Oetwil am See www.pmcoetwil.ch BESTELLUNGEN www.schweizermonat.ch

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