Schweizer Monat, Sonderthema 13, Dezember 2013

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D i e Au t o r e n z e i t s c h r i f t f ü r P o l i t i k , W i r t s c h a f t u n d K u lt u r

Sonderthema 13 / Dezember 2013

Vorsorgen oder versorgen? Lösungsansätze für die zweite Säule


«Die Versicherten vertrauen der zweiten Säule grosse Teile ihrer Altersguthaben an. Soll das Vertrauen langfristig gestärkt werden, braucht es Transparenz und Reformen, die aus ehrlichen Analysen und einer offenen Diskussion verschie­dener Lösungsansätze hervorgehen.» Heinz Soom, Geschäftsführer der Valitas Sammelstiftung BVG


Vorsorgen oder versorgen? Lösungsansätze für die zweite Säule

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äulen sind eigentlich starre Gebilde, aber das helvetische 3-Säulen-Modell ist dennoch in Bewegung geraten. Ins Wanken gebracht hat es der Mittelpfeiler: die berufliche Vorsorge. Die Lebenserwartung der Beitragszahler und späteren Bezüger dehnt sich täglich um drei bis vier Stunden aus, die Kapitalmarktrenditen liegen im Billiggeldumfeld unter den ambitionierten Vorgaben der Gesetzgeber, und die Finanzierungslücke der öffentlich-rechtlichen Pensionskassen beträgt 44 Milliarden Franken. Die aus diesen Entwicklungen resultierende Nervosität in Expertenkreisen steht in krassem Gegensatz zur weitverbreiteten Ruhe – oder ist es Resignation? – der Öffentlichkeit. Die wenigsten Versicherten fragen ihre Pensionskasse, wie sie ihr Geld anlegt; wie es um den Deckungsgrad steht; wie hoch die Verwaltungskosten sind und welchen Einfluss undurchsichtige, politisch festgelegte technische Parameter auf ihre Rente haben. Sie verzichten darauf in gutem Glauben. Doch auf welchem Fundament ruht dieser Glaube? Vorsorgen oder versorgen? Wir haben zusammen mit der Valitas Sammelstiftung BVG zwei Kenner der Materie eingeladen, solche und andere Fragen vor versammeltem Publikum zu diskutieren. Es kam zu einer Begegnung mit Unterhaltungswert – und Erkenntnisgewinn. Der Publizist Beat Kappeler fordert mehr Eigenverantwortung, eine freie Wahl der Kassen und eine Ausrichtung am Markt. Daniel Lampart, Chefökonom des Schweizerischen Gewerkschaftsbunds, will hingegen die Leistungen der AHV ausbauen, die Freiheit der Pen­sionskassen beschränken und mehr politische Mitbestimmung. Das Streitgespräch finden Sie dokumentiert ab S. 6. Die Untersuchungen von Jérôme Cosandey (S. 18) und Andreas Valda (S. 21) zeichnen ungeschönte Bilder der heutigen Situation. Wie Schweden und Chile ihr (marodes) Vorsorgesystem reformiert haben (und was die Schweiz von ihnen lernen kann), zeigen der Bankier Karl Reichmuth (S. 24) und der ehemalige chilenische Arbeitsminister José Piñera (S. 28). Das vorliegende Sonderthema schliesst an die Sonderpublikationen «Der mündige Versicherte. Kostenwahrheit für die berufliche Vorsorge» (Juni 2012) und «Zeitbombe? Reformideen für die berufliche Vorsorge» (Februar 2011) an. Der Ansatz bleibt derselbe: Einer redlichen Analyse von Problemen werden konkrete Lösungsansätze entgegengesetzt. Solche fallen auf fruchtbaren Boden, wenn Versicherte und Unternehmen sich als mündige Akteure wahrnehmen, die mitbestimmen können und wollen. Die Beiträge auf den folgenden Seiten bieten dazu eine solide Grundlage. Die Redaktion

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Schweizer Monat Sonderthema 13 Dezember 2013

Inhalt

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«Das ist Schwarzmalerei» – «Das zu sagen ist Schönfärberei» Eine Debatte zwischen Beat Kappeler, Daniel Lampart und René Scheu

18 44 Milliarden fehlen Jérôme Cosandey 21 Wenn die Milliarden fliessen Andreas Valda 24

Schweden studieren statt schwarzsehen Karl Reichmuth

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Das chilenische Modell José Piñera

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06 Sparen kann, wer sparen will. – Sie sind ein Romantiker. Beat Kappeler und Daniel Lampart

28 Ein Gespenst geht um die Welt – der Bankrott der staatlichen, auf dem Umlageverfahren aufgebauten Rentensysteme. José Piñera

Jérôme Cosandey auf Seite

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73 Prozent der öffentlich-rechtlichen Pensionskassen wären Ende 2012 nicht in der Lage gewesen, sämtliche versprochenen Renten ihrer Versicherungen auf einen Schlag auszuzahlen.

Andreas Valda auf Seite

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Die Sozialpartner und politischen Parteien tun gut daran, eine ehrlich tiefe, aber garantierte Rente vorzuschlagen, wie es Lebens­ versicherer tun.

Karl Reichmuth auf Seite

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Das Langzeitziel der BVG-Reform in der Schweiz muss die Wieder­herstellung des Eigentumsgedankens sein. 5


Selbstvorsorge, « die auf Selbstverantwortung beruht: Das ist das Modell, für das ich seit Jahren kämpfe.» Beat Kappeler

Ach was, das ist doch « naiv. Ihre Variante führt bloss dazu, dass die Pensionskassen auf Kosten der Beitragszahler sparen bzw. verdienen.» Daniel Lampart

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«Das ist Schwarzmalerei» – «Das zu sagen ist Schönfärberei» Sie loben beide das helvetische 3-Säulen-Modell. Die künftige Gestaltung der Vorsorge regt jedoch beider Streitlust an. Beat Kappeler will mehr, Daniel Lampart weniger privates Sparen. Protokoll einer Begegnung zwischen einem ehemaligen und einem aktuellen Sekretär des Schweizerischen Gewerkschaftsbunds. Eine Debatte zwischen Beat Kappeler, Daniel Lampart und René Scheu

Herr Kappeler, gehen wir gleich in medias res.1 In Artikel 1 des Bundesgesetzes über die berufliche Alters-, Hinterlassenen- und Invalidenvorsorge heisst es, die berufliche Vorsorge ziele zusammen mit der AHV darauf ab, die Fortsetzung der gewohnten Lebenshaltung in angemessener Weise zu erlauben. Sie wirken sehr jung und schreiben auch wie ein junger Wilder, beziehen allerdings – dieses Geheimnis muss ich nun lüften – bereits eine Rente. Ist die Rente hoch genug? Kurzum, ist der Zweck des Bundesgesetzes erfüllt? Kappeler: Hin und wieder gehen meine Frau und ich über die Bücher und stellen fest: Wenn wir bloss die Renten zusammenrechnen, die wir beziehen, würde es nicht ganz reichen für den gegenwärtigen Lebensstil. Aber ein würdiges Leben wäre es dennoch, und es ist ja jedem Bürger unbenommen, in der Zeit seines Lebens zusätzlich einen schönen Batzen anzusparen. Und ganz abgesehen davon kann man ja auch über das Pensionsalter hinaus weiterarbeiten, was ich mit grosser Leidenschaft tue. Wir beziehen also eine Rente aus dem Journalistenverband, die ich geäufnet habe, als ich vor 22 Jahren wieder freier Journalist wurde, meine Frau hat ihre Rente – sie hat beim Staat Bern gearbeitet, der noch nicht ganz bankrott ist und seine Pensionskasse auch nicht –, und dann haben wir natürlich noch die AHV. Insofern blicke ich relativ gelassen in die Zukunft; den privaten Konsum kann man ja allenfalls etwas modulieren. Sollte es wegen der liederlichen Politik der westlichen Notenbanken zu schwerer Inflation kommen, wäre die AHV davon nicht betroffen, weil sie indexiert ist – das beruhigt. Sollte hingegen die Wirtschaft dereinst wieder schön wachsen, würde die zweite Säule über ihre Aktienbeteiligungen vom Wachstum profitieren. Ich finde heute wie damals, als das Stimmvolk 1972 das Zwei- bzw. Dreisäulenmodell der Vorsorge annahm, dass wir hier in der Schweiz ein durchdachtes Modell entwickelt haben, das was taugt. Sie haben also nicht das Gefühl, dass Sie bereits auf Kosten der Jungen leben? Kappeler: Selbstverständlich tue ich das – allerdings gegen meinen Willen. Ich habe in der zweiten Säule des Journalistenverbands – und dereinst, wenn ich dann mal entkräftet niedersinke, auch in Das ist die leicht gekürzte Wiedergabe eines Streitgesprächs, das am 3. April 2013 im Zunfthaus zur Waag in Zürich auf Einladung dieses Magazins stattfand. Mehr zu weiteren Debattenveranstaltungen unter: www.schweizermonat.ch 1

Beat Kappeler ist Publizist, Buchautor, Kolumnist der «NZZ am Sonntag» und ein intimer Kenner der zweiten Säule. Von 1977 bis 1992 amtete er als Sekretär des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes (SGB). Veröffentlichung zum Thema: «Wie die Schweizer Wirtschaft tickt» (NZZ 2011).

Daniel Lampart ist promovierter Wirtschaftshistoriker, Chefökonom und Sekretariatsleiter des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes (SGB).

René Scheu ist Chefredaktor und Herausgeber dieses Magazins.

der Pension der «Neuen Zürcher Zeitung» – einen viel zu hohen Umwandlungssatz im obligatorischen Teil. Gemäss nachvollziehbaren Berechnungen wandern in der zweiten Säule gegenwärtig pro Jahr rund 3 Milliarden Franken von den jüngeren Beitragszahlern zu den älteren Empfängern. Davon profitiere ich als Pensionär – auch wenn sich meine Rolle als Profiteur dadurch ein wenig relativiert, dass ich weiterhin arbeite und also schön brav in die zweite Säule und übrigens auch in die AHV einzahle. Diese etwas traurige Botschaft scheint freilich noch nicht bei allen Jungen angekommen zu sein. Vor der Abstimmung über die eigentlich dringende Senkung des Umwandlungssatzes im März 2010 begegnete ich in den Strassen Berns einer Studentin, die gegen die Vorlage mobil machte. Ich habe ihr warm die Hand gedrückt und mich dafür bedankt, dass sie sich für meine Interessen einsetze und bereit sei, für meine Rente zu arbeiten. Sie war ziemlich perplex. Herr Lampart, sind Sie mit den Leistungen der Pensionskasse des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes zufrieden? Lampart: Selbstverständlich. Unsere Pensionskasse ist wahrscheinlich eine der überobligatorischsten, die es gibt. Wir haben das Rentenalter 62, auf das wir grossen Wert legen, und streben einen Lohnersatz von 75 Prozent an. Wir haben ein Leistungsprimat, womit wir mittlerweile zu einer Minderheit gehören. Wenn man sich also der beliebten Autoanalogie bedienen will, kann man sagen: Es ist ein sehr solides Modell, das wir da fahren. Fast schon ein luxuriöses. Sie sind Jahrgang 1968. Gehen Sie davon aus, dass Sie nach Ihrer Pensionierung auch wirklich die 75 Prozent Ihres letzten Lohnes erhalten werden? 7


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Lampart: Im Moment sind das einfach die Leistungen, die reglementarisch so vorgesehen sind. Sie beruhen nach meiner Meinung auf Berechnungen mit realistischen Annahmen. Natürlich können Sie nun schwarzmalen. Tatsache aber ist: Das System hat bisher gut funktioniert. Und ich habe gute Gründe anzunehmen, dass es dies auch weiterhin tun wird. Kappeler: Wo bleibt hier der Ehrgeiz? Als ich Sekretär des SGB war, bestand das erklärte Ziel darin, die Leute mit 60 Jahren in die Pension zu schicken – unter Beibehaltung des bisherigen Lebensstandards. Wird hier also sozusagen Sozialabbau am heiligen Baum betrieben – aus einem neuen Realismus heraus, den ich übrigens sehr begrüsse? Lampart: Die Mehrheit der Versicherten unserer Pensionskasse hat sich für das Rentenalter 62 entschieden. Daraus lässt sich erkennen, dass unsere Leute gerne arbeiten. Sie haben auch einen interessanten Job. So weit, so gut. Wir haben in der Schweiz ein 3-Säulen-Modell: die AHV nach Umlageverfahren, die berufliche Vorsorge nach dem Kapitaldeckungsverfahren und die private Vorsorge. Daran wurde von meinen Gesprächspartnern nicht gerüttelt. Kann ich also – ungeachtet der kleinen Sticheleien – festhalten, dass Lampart und Kappeler das helvetische Modell für vorbildlich halten? Lampart: Ich beginne von hinten. Die dritte Säule kann man aus meiner Sicht streichen. Denn sie hilft vorwiegend den Anbietern, also den Banken und den Versicherungen. Die Kombination von erster und zweiter Säule ist jedoch in der Tat eine gute Lösung. Was ich feststelle, ist folgendes: Wir haben in der Schweiz eine Art politischen Meinungszyklus. Einmal wird die erste Säule schlechtgeredet, dann wieder die zweite Säule, wobei stets dasselbe Schreckensgespenst beschworen wird: die demographische Entwicklung. Fakt ist, dass das grosse AHV-Fiasko bis heute nicht eingetreten ist – die AHV bietet sichere Renten seit bald 70 Jahren. Nachdem die Zahlen der AHV ziemlich erfreulich geworden sind, klagen die Bürgerlichen über ein Demographieproblem der zweiten Säule, über die Gefahr einer Verwandlung des Kapitaldeckungsin ein Umlageverfahren… …Sie bestreiten, dass gegenwärtig eine Umverteilung in der zweiten Säule stattfindet? Lampart: Das tue ich nicht, aus einem einfachen Grund: Das ist im System so vorgesehen. Die Vorsorgegelder der zweiten Säule befinden sich in den Vorsorgeeinrichtungen in einem Topf. Durch diese Kollektivierung werden die Risiken aller Versicherten «gepoolt» – das ist nötig in einer dynamischen Welt mit Hochs und Tiefs. Nun haben wir als Folge der Finanzkrise eben seit einigen Jahren tiefe Zinsen. Aber das wird sich wieder ändern. Der Vorteil der zweiten Säule besteht gerade in ihrer langfristigen Perspektive – es widerspricht dem Sinn der zweiten Säule, einfach gegenwärtige Entwicklungen zu extrapolieren. Panikmache ist darum absolut fehl am Platze. Beide Arten der Rentenfinanzierung haben ihre Vorteile. Das Umlageverfahren der AHV hat eine starke solidarische Kompo8

nente und ist sehr effizient. Und das Kapitaldeckungsverfahren der Pensionskassen bietet den Vorteil eines langfristigen Horizontes und der Diversifizierung der Anlagemöglichkeiten auch im Ausland. Wie sehen Sie das, Herr Kappeler? Kappeler: Ich befürchte in der Tat, dass wir uns hier im Prinzip einig sind: Das Schweizer Modell der Vorsorge ist insgesamt sehr durchdacht. Den ökonomischen Fatalismus von Herrn Lampart teile ich hingegen nicht – wir werden darauf bestimmt zurückkommen. Und vor allem: der Seitenhieb von Herrn Lampart gegen die dritte Säule ist ziemlich deplaciert. Zwangssparen und freiwilliges Sparen gehören zusammen. Seit meinen Gewerkschaftszeiten sage ich: «Das ist Dächlikappen-Sozialismus, wenn man immer sagt, die armen Lastwagenchauffeure könnten nicht sparen!» Ich habe schon oft gestaunt, wie viel solche Leute auf die hohe Kante zu legen vermochten. Lampart: In der Regel können jene sparen, die gut verdienen. Kappeler: Mit dem Lohn steigen oftmals auch die Ansprüche. Ihre Behauptung stimmt darum bestenfalls zur Hälfte. Sparen kann, wer sparen will. Lampart: Sie sind ein Romantiker. Offensichtlich haben sich die Arbeitsbedingungen verschlechtert, seit Sie nicht mehr für den SGB arbeiten. Kappeler: Ach was. Darf ich eine kleine Anekdote erzählen? Nur zu. Kappeler: Im Jahre 1985, als die zweite Säule im Parlament unter Dach und Fach war, ging der zuständige Sekretär für Sozialpolitik des SGB im Gang freudig auf und ab und sagte jubelnd: «Jetzt müssen wir nicht mehr sparen!» Diese Haltung, wonach die Sozialversicherungen den Vollersatz der Vorsorge privater Personen bilden sollen, empfinde ich als stossend. Das ist Zynismus pur und so, als würde man sagen: Irgendjemand sorgt schon für mich, ich kann zu meinen aktiven Zeiten alles Geld verprassen. Die Selbstvorsorge leistet einen wichtigen Beitrag zum Freiheitsgrad des einzelnen Menschen, gerade bei einfachen Einkommensbezügern. Sie ist Ausdruck des Zutrauens, das die Menschen in ihre Fähigkeiten haben. Und sie führt zu einer breiteren Streuung von Vermögen. Wir haben in allen westlichen Ländern eine ziemlich schiefe Vermögensverteilung, die stets steiler ist als die Einkommensverteilung. Mein Ziel war es seit je, hieran zu schrauben, nur eben nicht mit staatlichen Massnahmen. Das ist ein gesellschaftliches Ziel, das ich nicht aufgeben würde. Lampart: Eben. Und es ist ja gerade Aufgabe des Staates, hier korrigierend, d.h. umverteilend einzugreifen… …wir kommen vom Thema ab. Das Stichwort «Demographie» ist gefallen. Herr Kappeler, können wir uns unsere jetzige Vorsorge angesichts einer schrumpfvergreisenden Bevölkerung noch leisten – oder folgt irgendwann das böse Erwachen? Kappeler: Demographie meint in diesem Zusammenhang zwei Dinge: höhere Lebenserwartung und weniger Nachwuchs. Die


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AHV ist mit beiden Herausforderungen konfrontiert, die zweite Säule nur mit der ersten. Insofern ist die zweite Säule halbimmun gegenüber den demographischen Entwicklungen in Mitteleuropa, weil jeder sein eigenes Alterskapital aufbaut und es verzinst zurückerhält, ohne Umverteilungen und mit Anlageflexibilität. Darum ist die zweite Säule auch so wichtig. Nur so entgehen wir dem Mackenroth-Engpass. Gerhard Mackenroth war ein deutscher Professor, der in den 1950er Jahren gesagt hat: Ob zweite Säule oder Umlageverfahren, spielt eigentlich keine Rolle, weil letztlich alles – auch die Dividenden, die Zinsen usw. – immer von den Jungen erarbeitet werden muss für die lebenden Alten. Der liebe Mann dachte in den 1950er Jahren nicht daran, dass man international anlegen kann und so aus dieser Zwangslage herauskommt. Deutschland hat aus diesem Grund, aus einer Fehlüberlegung eines Soziologen, ebendieses Mackenroths, den man benennen kann, damals keine zweite Säule eingerichtet. Lampart: Ich bin immer wieder überrascht, dass jene, die üblicherweise mit dem Markt argumentieren, jede Marktlogik vergessen, wenn es um Demographie geht. Das finde ich völlig bizarr. Überlegen Sie sich mal, was im Rahmen einer demographischen Alterung in einer Marktwirtschaft geschieht. Da gibt es nämlich wunderbare Anpassungsmechanismen, die gemäss marktwirtschaftlicher Logik einen grossen Teil der Probleme bereits entschärfen… …nun bin ich aber gespannt. Konkreter, bitte. Lampart: Gerne. Die demographische Alterung ist auch überhaupt nichts Neues – sie ist bereits seit über 50 Jahren voll im Gang. Jeder kennt das ja aus seinem persönlichen Umfeld: Die Urgrosseltern hatten mehr Kinder als die Grosseltern, die Grosseltern mehr als die Eltern – und die Eltern mehr als man selbst. Und dann auch kann jeder feststellen, dass die Grosseltern tendenziell älter wurden als die Urgrosseltern – und die Eltern älter als die Grosseltern. Was also geschieht angesichts dessen in einem simplen marktwirtschaftlichen Modell? Die Arbeitskräfte werden knapper, und wenn ein Faktor knapper wird, steigt der Preis. Das bedeutet, dass die Löhne steigen. Wenn die Löhne steigen, gibt es in der Regel eine Reaktion der Unternehmen: Sie rationalisieren. Das wiederum führt dazu, dass die Produktivität Schritt hält, um die höheren Löhne zu bezahlen. Es fliessen dadurch über die Lohnprozente mehr Gelder in die AHV – ganz abgesehen davon, dass sich dadurch auch neue Ertragsmöglichkeiten für das Anlagekapital bieten. Das sind ökonomische Zusammenhänge, die dazu führen können, dass sich die AHV in einer Phase der demographischen Alterung zu einem rechten Teil selber finanziert… Kappeler: …Ihr Lob auf die Marktwirtschaft ehrt Sie, doch ist die Sache nicht ganz so einfach. Die Anpassung der Renten in einer schrumpfenden oder stagnierenden Bevölkerung verläuft natürlich nicht automatisch. Sie blenden aus, dass eine Erhöhung der Löhne bzw. eine Senkung der Arbeitszeit bei gleichbleibenden Löhnen erst einmal zu einem Verlust von Arbeitsplätzen führen kann – schauen Sie sich nur Frankreich an… Lampart: …Sie polemisieren gegen die Marktwirtschaft?

Kappeler: Nein, ich weise bloss darauf hin, dass Ihr Modell nicht differenziert genug ist. Innovation und Produktivitätsfortschritt hängen noch von vielen anderen Dingen ab – vom Bildungsgrad der Leute, vom Arbeitsethos, vom Stand der Technik. Nehmen wir die Schweiz. Der AHV geht es nicht deshalb gut, weil wir über eine besonders tolle Produktivität verfügen. Der Grund ist ein anderer: Wir haben in den letzten zehn Jahren massenweise gutverdienende junge Leute importiert, die die AHV schön mitfinanzieren. Nur wollen all diese Leute irgendwann auch mal eine Rente – und spätestens dann müssen wir über die Bücher. Die langfristige Generationenbilanz der AHV ist weniger rosig, als Sie sie schildern. In Tat und Wahrheit ist bloss der momentane Kassenstand erfreulich. Zurück zur zweiten Säule. Herr Kappeler, als ich 2010 unseren kleinen Verlag gründete, habe ich mich erstmals ausführlich mit der zweiten Säule beschäftigt. Und ich habe bald gemerkt: Ich will weg von einem grossen Versicherer und hin zu einer agilen Sammelstiftung, die ihre Kosten transparent ausweist. Dabei habe ich mir zwei Fragen gestellt: Warum kümmern sich Arbeitnehmer kaum um ihre zweite Säule? Und warum können sie nicht selbst entscheiden, welcher Pensionskasse sie sich anschliessen? Kappeler: Ich denke, dass die beiden Fragen zusammenhängen. Wer keine freie Wahl hat, interessiert sich eben auch nicht für die Sache. Das ist problematisch, denn das Geld, das der Versicherte über viele Jahre anspart, ist sein Eigentum. Dieses Bewusstsein ist in der Schweiz sehr schwach ausgeprägt – die von Ihnen geschilderte Gleichgültigkeit ist die logische Folge. Hätte der Versicherte die Wahl, würde er sich nicht nur für sein Geld interessieren, sondern auch darauf pochen, dass er in der Anlagepolitik seines Geldes mitreden kann. Selbstvorsorge, die auf Selbstverantwortung beruht: Das ist das Modell, für das ich seit Jahren kämpfe. Herr Lampart, Selbstbestimmung ist ein hoher Wert unter Linken – auch mit Blick auf die Vorsorge? Lampart: Selbstverständlich. Herr Kappelers Vorschlag scheitert aber leider an einer banalen Feststellung: Die Mehrheit der Bevölkerung will das schlicht nicht. Ich verstehe, dass es Leute gibt, die Freude daran haben, ihre Pensionskasse zu wählen. Es gibt auch Leute, die Freude daran haben, den Stromanbieter selber auszuwählen. Es gibt aber eben eine Mehrheit von Leuten, die das überhaupt nicht will. Die wollen einfach eine Rente, und zwar eine garantierte Rente, weil sie es vorziehen, sich mit anderen Dingen im Leben zu beschäftigen. Kappeler: Der Vergleich hinkt. Es geht hier um das Eigentum der Bürger – oftmals um den Hauptteil ihrer Ersparnisse! Lampart: Die Realität sieht nun mal so aus, dass die Mehrheit der Leute in der Schweiz keine Freude daran hat, den Anbieter zu wechseln und ein mühsames Benchmarking zu veranstalten, um herauszufinden, welche Pensionskasse nun die beste für ihre Bedürfnisse sei. Und die Leute sind ja nicht blöd. Sie wissen, dass sie keine Experten sind und schnell Gefahr laufen, über den Tisch ge9


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Daniel Lampart und Beat Kappeler, photographiert von Thomas Burla.

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«Es braucht realistische politische Vorgaben und eine Behörde, die deren Umsetzung bzw. Einhaltung überprüft.» Daniel Lampart

zogen zu werden. Das kann dramatische Ausmasse annehmen, wie ich aus meinem Bekanntenkreis weiss, von Leuten, die sich das angesparte Kapital der zweiten Säule ausbezahlen liessen. Sie gingen also mit dem Geld zur Bank, erhielten ein strukturiertes Produkt mit drei Aktien drin empfohlen – und dem Zusatz, dass das Ganze liquidiert wird, wenn eine der Aktien unter einen bestimmten Wert fällt, und sie nur einen Teil der Anlage erhalten. Vermarktet wurde das Ganze unter dem Label «kapitalgeschützt». Es ist ihnen darum nicht zu verargen, dass sie das Kleingedruckte nicht lasen oder nicht in letzter Konsequenz verstanden. Kurz, die Leute wurden betrogen. Es mag solche Leute geben – und es ist nichts dagegen einzuwenden, dass sie die Verantwortung für die Verwaltung ihrer Vorsorgegelder auch delegieren können. Aber warum soll ich meine Pensionskasse nicht frei wählen können, wenn mir daran gelegen ist? Fair wäre hier doch allein das Credo: jedem das seine. Lampart: Wir leben in einer Demokratie. Das heutige Modell, hinter dem die Mehrheit der Bevölkerung steht, sieht das nicht vor. Es wäre auch ökonomisch falsch, da man viele Ausgleichsmechanismen einbauen müsste. Wenn Sie das wollen, müssen Sie die Mehrheit von Ihren Ideen überzeugen. Herr Kappeler wird Ihnen dabei sicher gerne helfen. Kappeler: Kollege Lampart spricht nun wie ein Konservativer. Selbstverständlich lässt sich das Modell verändern. Länder wie Chile und Schweden haben vorgemacht, wie’s geht. Ich bin zuversichtlich, dass sich die Versicherten nicht nur von den Pensionskassen, sondern auch von den Politikern emanzipieren. Herr Kappeler, mich würde wundernehmen: Haben Sie sich Ihr angespartes Kapital auszahlen lassen? Kappeler: Ich habe mir das lange überlegt und es dann doch nicht getan. 12

Warum nicht – widerspricht das nicht Ihrem Plädoyer für mehr Eigenverantwortung? Kappeler: Keineswegs. Der Grund ist einfach und mit dem Liberalismus kompatibel: Ich bin ein grundskeptischer Mensch und misstraue mir selber als Ökonomen – vor allem im fortgeschrittenen Alter. Ich habe das bei älteren Leuten erlebt, dass sie mit 80, 85 Jahren impulsiv beschliessen: «Jetzt mach ich dies und jenes!» Deshalb lasse ich mein Geld lieber von Profis verwalten. Profis bewahren die Ruhe, gerade in Jahren, in denen man leicht erschrecken kann über seltsame Bewegungen auf dem Kapitalmarkt. Herr Lampart, nach wie vor besteht die Möglichkeit, sich das Vorsorgekapital auf einmal statt in Rentenform auszahlen zu lassen, obwohl der Bundesrat das nun ändern will. Wie stehen Sie dazu? Lampart: Ich halte das für keine besonders gute Idee. Die Frage ist doch: Was passiert, wenn einer eine späte Berufung als Spekulant entdeckt und sein Geld verliert? Die Allgemeinheit muss in extremis für ihn aufkommen… Lampart: …eben. Darum ist der Zwangscharakter in der Vorsorge wenigstens teilweise gerechtfertigt. Kappeler: Da muss ich dem Kollegen für einmal recht geben. Die Kapitalauszahlung wäre nur möglich, wenn zugleich der Artikel in der Bundesverfassung von 2000 wieder abgeschafft würde, der besagt: Jeder Einwohner auf diesen 40 000 Quadratkilometern hat das Recht auf eine menschenwürdige Existenz. Man müsste zwischen «Existenz» – also Essen, Schlafen, Heizung – und «Menschenwürde» – einem dehnbaren Begriff, der Partizipation am wachsenden Wohlstand bedeutet – unterscheiden. Das erste ist garantiert, das zweite nicht. Lampart: Meinen Sie das im Ernst?


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«Die totale Sicherheit gibt es nicht.» Beat Kappeler

Kappeler: Der Bezüger müsste eine Erklärung unterschreiben, dass er dies so akzeptiert. Der Empfänger müsste seine Einwilligung geben, dass er im äussersten Fall bereit wäre, mit einer Wolldecke in eine Kartonschachtel unter die Brücke zu ziehen. Aber man kann diese Person ja nicht verhungern lassen, ergo… Kappeler: Suppenküche! Das wäre trotzdem Moral Hazard. Kappeler: Nein, Wolldecke, Kartonschachtel, Suppenküche. Solange wir aber eine totale Existenzgarantie, die sich dazu noch dynamisch an das Wirtschaftswachstum bindet, in der Verfassung stehen haben, gibt es einen legitimen Zwang zum Obligatorium – zur Vermeidung des Trittbrettfahrens. Da sind wir uns eigentlich schön einig. Lampart: Ich warte auf die Initiative. Sie können sie ja mal lancieren. Kappeler: Wegen der Kartonschachtel? Lampart: (lacht) Ja, genau. Herr Lampart, die Linke hat sich darauf eingeschossen, angeblich überhöhte Verwaltungskosten der Pensionskassen anzuprangern. Nun, mir scheint, das sei nicht das grösste Problem… Lampart: …da muss ich vehement widersprechen: Das ist vor allem bei den Lebensversicherern ein grosses Problem. Sie sind nicht effizient organisiert. «Effizient» heisst: möglichst kostengünstig und leistungsfähig. Wir haben also ein Obligatorium, aber im Gegensatz zu anderen obligatorischen Systemen – von der Arbeitslosenversicherung bis zur Krankenversicherung – werden die Kosten einfach nicht überwacht. Die Finanzmarktaufsicht Finma, die eigentlich dafür zuständig wäre, kontrolliert bloss die grossen Versicherer, und auch sie nur unter dem Gesichtspunkt, ob die Solvenz gegeben ist oder nicht. Sie will nicht wissen, ob die Versicherungen ein opti-

males Preis-Leistungs-Verhältnis bieten. Und den Arbeitgebern ist dies weitgehend egal. Die Schwierigkeit besteht letztlich in einem klassischen Principal-Agent-Problem. Der Arbeitgeber bucht die Versicherung, zahlt sie aber nicht – das tut der Arbeitnehmer. Wer zahlt, entscheidet also nicht, wohin er geht. Wir brauchen dringend eine geeignete Überwachungsbehörde… Kappeler: …eben gerade nicht. Das verteuert bloss die Kosten! Was wir brauchen, ist Wettbewerb unter Pensionskassen… Lampart: …der sich am Ende bloss als Pseudowettbewerb herausstellt und die Kosten erhöht. Nein, Herr Kappeler, Sie irren. Kappeler: Wenn ich Wahlfreiheit der Pensionskassen durch die Beitragszahler fordere, dann meine ich eben dies: einen echten Wettbewerb unter den Kassen. Ich gehe davon aus, dass die freie Wahl zur Bildung von etwa 30 bis 40 starken, unabhängigen Pensionskassen führen würde, die sich nach verschiedenen Präferenzen differenzieren würden. Der Wettbewerb sorgt dafür, dass die Kosten niedrig bleiben – dafür brauchen Sie keine Spezialbehörde, Herr Lampart. Lampart: Ach was, das ist doch naiv. Ihre Variante führt bloss dazu, dass die Pensionskassen auf Kosten der Beitragszahler sparen bzw. verdienen. Sie sprechen wie ein Anwalt der Pensionskassen, nicht wie ein Vertreter der Versicherten. Kappeler: Sie reden wie ein Politiker und versprechen den Leuten die totale Sicherheit. Die totale Sicherheit gibt es nicht. Lampart: Es braucht realistische politische Vorgaben und eine Behörde, die deren Umsetzung bzw. Einhaltung überprüft. Kappeler: Das ist Mumpitz. Bei den Pensionskassen müsste man wie bei den Banken über jedes Eingangstor eine Tafel hängen, auf der steht: «Hier können Sie Ihr Vermögen verlieren.» Wäre dieses Wissen in den Köpfen verankert, könnten wir auch gleich die Finma abschaffen. Denn der Anleger wüsste, dass er sich genau überlegen muss, wohin er sein Geld trägt. Wir haben ja bereits lauter politisch bestimmte Sätze: den Mindestsatz, den Umwandlungssatz, die Anlagerichtlinien, wobei diese Probleme schaffen, statt sie zu lösen. Das ist auch verständlich. Die Politiker versprechen ihren Kunden lieber zu viel als zu wenig – sie wollen ja wiedergewählt werden. Ich halte kurz fest, dass es einen Konsens gibt: Die Verwaltungskosten sind tendenziell zu hoch. Nach Ihnen, Herr Kappeler, kriegt man sie mit Wettbewerb in den Griff; Sie, Herr Lampart, sagen, man bekomme sie durch Supervision unter Kontrolle. Nehmen wir einmal den politisch bestimmten Mindestzins. Der beträgt im Moment 1,5 Prozent und muss sich im Grunde an einem risikolosen Zins bemessen, weil die Pensionskassen ja keine grossen Risiken eingehen sollen. Die Höhe von 1,5 Prozent ist im aktuellen Niedrigzinsumfeld ziemlich ambitioniert. Oder wie sehen Sie das, Herr Lampart? Lampart: Sie dürfen den Blick nicht so sehr verengen. Diese 1,5 Prozent sind nicht zu hoch, sondern zu tief angesetzt, wenn Sie sehen, was die Pensionskassen in den letzten – sagen wir: zehn – Jahren erwirtschaftet haben. Nur als Erinnerung: 2012 lag die Rendite ungefähr bei 7 Prozent. 13


Beat Kappeler und Daniel Lampart, photographiert von Thomas Burla.

Daniel Lampart, RenĂŠ Scheu und Beat Kappeler, photographiert von Thomas Burla.

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«Jährlich werden in der zweiten Säule 3 Milliarden Franken – dreitausend Millionen – von Jung zu Alt umverteilt.» Beat Kappeler

Kappeler: Dank den Aktien! Lampart: Einverstanden. Das Problem ist in der Tat, dass sich die Politik einfach an den Lebensversicherern orientiert, und diese werden von der Finma so erzogen, dass sie ausschliesslich Obligationen und ein paar Immobilien als Assets halten. Nur schon diese Anlagen! (lacht) Wie können Sie in einem System, in dem Sie längerfristig Kapital binden, nur Obligationen halten? Das versteht wirklich kein Mensch. Ich komme auf meinen Punkt zurück: Hier bräuchte es eine bessere Aufsicht! Kappeler: Ich bin insofern ganz bei Ihnen, lieber Kollege, als ich sagen würde: «Das eben ist der Fluch der bösen Tat, dass sie, fortzeugend, immer Böses muss gebären.» War das jetzt Goethe? Kappeler: Ich weiss es nicht. Vielleicht doch Schiller? Schiller ist immer gut und «Die Glocke» eine grosse Fundgrube. «Wilhelm Tell» auch: «Die Axt im Haus erspart das Schafott.» [Gelächter] Kappeler: In meinem Modell würde zuallererst einmal den Versicherten und den Institutionen gesagt: «Nichts ist sicher.» Das ist Punkt eins. Und Punkt zwei: «Seid vorsichtig.» Dann legt man sehr tiefe Vorgaben fest, oder besser noch: man verzichtet ganz darauf. Stattdessen kann man, wenn gut gewirtschaftet wurde und die Reserven schön gefüllt sind, eine 13. Rente sprechen, die aber nicht verbindlich ist und im nächsten Jahr auch wieder entfallen kann. Diese Variabilität wäre genau die richtige Botschaft an die Versicherten und die Kassen: Nichts ist sicher, aber wenn’s hinhaut, kriegt ihr etwas. Der Finanzwissenschafter Martin Janssen hat mir vorgerechnet, wie hoch die Unterdeckung der Pensionskassen ist – gegenwärtig zwischen 35 und 50 Prozent.2 Das sind beängstigende Zahlen, wenn man in der zweiten Säule von einem Vorsorgekapital von 600 oder

650 Milliarden ausgeht. Die Verwaltungskosten verblassen angesichts solcher Perspektiven. Kappeler: So ist es. Und ich habe ja bereits gesagt: Jährlich werden in der zweiten Säule 3 Milliarden Franken – dreitausend Millionen – von Jung zu Alt umverteilt. Lampart: Da ist sie wieder, die Panikmache. Das sind rein buchhalterische Zahlen, die erst mal gar nichts besagen. In einer Versicherung gibt es immer solche, die zahlen, und solche, die Leistungen beziehen. Die Frage ist, wie die Finanzflüsse verlaufen. Es ist unbestritten, dass wir noch immer an den Folgen einer tiefgreifenden Finanzkrise leiden. Die Zinsen sind auf einem historisch tiefen Niveau. Das ist aber politisch so gewollt. Und es führt natürlich dazu, dass, wenn Sie im Moment Ihr Geld in Obligationen anlegen und davon ausgehen, dass die Risiken am Markt richtig bewertet sind – das wäre wiederum ein anderes Thema –, Sie natürlich relativ wenig Zins erhalten im Vergleich zu früher. Nur darf das einen nicht allzu sehr beunruhigen. Die Altersvorsorge ist nicht so eingerichtet, dass jährlich ausgeglichen werden muss, sondern Sie zahlen 40 Jahre in eine zweite Säule ein und haben dann eine Rente in der Grössenordnung von 20 Jahren – eine Durchschnittsbiographie vorausgesetzt. Das System muss so kalibriert sein, dass es über diese längeren Zeiträume hinweg ungefähr im Gleichgewicht bleibt. Darum – entspannen wir uns. Die Welt ist voller Nervosität, und manchmal wär es gut, etwas mehr Gelassenheit oder Abgeklärtheit an den Tag zu legen. Niemand hier im Saal wird behaupten, jetzt ginge der Kapitalismus unter. Oder doch? [Gemurmel] Lampart: Ich jedenfalls würde es nicht behaupten. Kappeler: Die SP will den Kapitalismus überwinden. So steht es im Parteiprogramm! 2

Siehe «Schweizer Monat», Sonderthema, 5. Juni 2012, S. 1–24.

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Schweizer Monat Sonderthema 13 Dezember 2013

«Es gibt heute einfach keine ernsthafte Alternative zum Kapitalismus. Und der Kapitalismus, der wächst.» Daniel Lampart

Herr Lampart, verstehe ich Sie richtig: Sie haben eben ein Plädoyer für Wirtschaftswachstum abgegeben? Lampart: Das ist kein Plädoyer! Was ich sage, ist: Es gibt heute einfach keine ernsthafte Alternative zum Kapitalismus. Und der Kapitalismus, der wächst. Das ist eine Systemeigenschaft. Er wächst. Und so werden wir Wirtschaftswachstum haben, aber der Kapitalismus hat auch Krisen, und er kann tiefe Krisen haben wie die jetzige. Haben die Kapitalisten nun plötzlich ein Problem damit? Dass Sie dieses Vertrauen in den Kapitalismus haben – nun ja, das freut mich echt. Zum Schluss sind wir also doch noch beim Weltanschaulichen angelangt… Lampart: …für wen halten Sie mich? Ich bin ein Ökonom und sehe das realistisch. Es erschüttert mich zu sehen, wie Leute, die behaupten, sie hätten eine Ahnung von Finanzmärkten, plötzlich daherkommen und davon ausgehen, dass sich die heutigen tiefen Zinsen einfach extrapolieren lassen. Ein Freund von mir, Chefökonom einer grösseren Bank, hat mir erzählt, er habe bei seinen Mitarbeitern nachgefragt, ob sie eigentlich wüssten, wie die Bundesobligation im Vorjahr rentiert hätte. Als Antwort erhielt er Werte um die eins Komma irgendwas, worauf er meinte: «Falsch. 2 Prozent!» Daraufhin erntete er bloss erstaunte Blicke. So kurz ist das Gedächtnis! Noch zu Beginn der Finanzkrise im Jahr 2008 waren es über 3 Prozent. Erinnern Sie sich hier im Saal? Wenn Sie den Kapitalismus modellieren, dann gehen Sie in der Regel davon aus, dass ein risikoloser Zinssatz ungefähr so hoch ist wie das nominelle BIP-Wachstum. In der Schweiz liegt das irgendwo bei 3 Prozent. Dann erhalten Sie noch etwas, weil Sie das Geld binden. Das war in der Vergangenheit vielleicht 1 Prozent über 10 Jahre. Ich trete hier vielleicht fast als Apologet des Kapitalmarktes auf, aber es ist eigentlich nur eine banale Überlegung, wie man sie im Grundstudium lernt. Das ist keine Prognose, das sind fundamen16

tale Zusammenhänge – betrachten wir doch bitte die etwas grösseren Zusammenhänge. Kappeler: Da fehlt mir nicht das Vertrauen in den Kapitalismus, sondern in den gepfuschten Kapitalismus, in dem wir leben – und in dem die Notenbanken die Zinsen eben seit 5 Jahren auf 0 drücken. Was bleibt, ist die Versprechung, dass die Fed das bis mindestens 2015 so weiterziehen und dann langsam abbauen werde. Wer’s glaubt, wird selig. Die Staaten können sich einen Ausstieg in absehbarer Zeit gar nicht erlauben, wenn sie nicht bankrottgehen wollen. Heute haben wir eine Durchschnittsverzinsung der gigantischen Staatsschuld der USA von 15, 16 Billionen, die kostet im Jahr etwa 350 Milliarden Dollar. Das sind ungefähr 2 Prozent, und je länger sich die Tiefzinsperiode erstreckt, umso tiefer fressen sich die Tiefzinsen in diese Zinslast hinein und minimieren sie. Wenn Sie nur, statt wie heute 1,8 Prozent für 10jährige Obligationen und unter 1 Prozent für 2jährige Obligationen in Amerika, mal 5 Prozent wie meistens hätten, wäre Amerika bankrott. Und Japan sowieso. Und England. Und der grösste Teil Westeuropas. Lieber Kollege, die Notenbanken werden nicht aussteigen können aus dieser Tiefzinspolitik – oder dann nur mit einer Perspektive ab 2025. Insofern fehlen der zweiten Säule in absehbarer Zeit wirklich wichtige Ertragsmöglichkeiten. Herr Lampart, einverstanden? Lampart: Ich bleibe dabei: Herr Kappeler übertreibt. Kappeler: Das sind Fakten. Lampart: Das ist Schwarzmalerei. Kappeler: Das zu sagen ist Schönfärberei. �


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«Es fehlt mir nicht das Vertrauen in den Kapitalismus, sondern in den gepfuschten Kapitalismus, in dem wir leben.» Beat Kappeler

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44 Milliarden fehlen Der Tag der Kostenwahrheit naht. Öffentlich-rechtliche Pensionskassen sind angehalten, sich in den nächsten zehn Jahren auszufinanzieren. Die Deckungslücke ist beträchtlich: Jedem Kantonsangestellten fehlen im Durchschnitt 69 000 Franken an Alterskapital. Was tun? von Jérôme Cosandey

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Prozent der öffentlich-rechtlichen Pensionskassen wären Ende 2012 nicht in der Lage gewesen, sämtliche versprochenen Renten ihrer Versicherungen auf einen Schlag auszuzahlen. Kurz, knapp drei Viertel befanden sich in Unterdeckung. Das zeigt eine neue Studie des Beratungsunternehmens Complementa. Diese Zahl ist weniger auf ein Missmanagement der Kassen zurückzuführen, sondern vielmehr das Ergebnis gesetzlicher Sonderregelungen, die solche Unterdeckungen während Jahrzehnten spezifisch zuliessen. Neu müssen öffentlich-rechtliche Pensionskassen innert 10 Jahren vollkapitalisiert werden, d.h. einen Deckungsgrad von 100 Prozent ausweisen – eine Forderung, die seit jeher für privatrechtliche Einrichtungen galt. Damit präsentiert sich eine Rechnung, deren Höhe dazu verleitet, notwendige Schritte hinauszuzögern. Der ausgewiesene Finanzierungsbedarf ist beträchtlich und beträgt alleine für die kantonalen Pensionskassen 30 Milliarden Franken. Diese Zahl berücksichtigt allerdings nicht die Schwankungen, die durch den Einsatz unterschiedlicher, von den Kassen frei wählbarer Rechenparameter, wie des technischen Zinses, entstehen. Dieser Diskontierungssatz zukünftiger Verpflichtungen variiert zwischen 2,5 Prozent (Kanton Bern) und 4,25 Prozent (Kanton Freiburg) und hat einen signifikanten Einfluss auf die Bilanz einer Kasse. Rechnet man nun den Finanzierungsbedarf mit einem einheitlichen technischen Zins von 3,0 Prozent, wie die Schweizer Kammer der Pensionskassenexperten für 2013 vorgibt, ergibt sich ein Finanzierungsbedarf von über 44 Milliarden Franken. 69 000 Franken pro Versicherten Die Finanzierungslücke der kantonalen Pensionskassen in Milliarden Franken ist für den einzelnen kaum fassbar. Plastischer wird sie, wenn man sie auf die einzelnen Versicherten (Aktive und Rentner) umrechnet. Im Schweizer Durchschnitt beträgt der Fehlbetrag pro Versicherten 69 000 Franken per Ende 2012, wobei erhebliche regionale Unterschiede festzustellen sind (Grafik). Während in Appenzell (AI, AR), in Obwalden und in Uri die Renten bereits vollfinanziert sind, fehlen für jeden Genfer Staatsangestellten 174 000 Franken. In der lateinischen Schweiz (FR, GE, JU, NE, TI, VD, VS) sind es im Schnitt 127 000 Franken. Bei solchen Beträgen ist es legitim, nicht nur über die Finanzierung, sondern 18

Jérôme Cosandey ist Projektleiter bei Avenir Suisse, wo er die Bereiche Altersvorsorge und Finanzierung der Sozialversicherungen verantwortet. Er promovierte an der ETH Zürich und hält einen Master der Universität Genf in internationaler Wirtschaftsgeschichte.

auch über die Leistungen nachzudenken. Im Kanton Genf wird deshalb neu das Rentenalter 64 eingeführt, in der Waadt ist eine Erhöhung von 60 auf 62 Jahre vorgesehen. Betroffene Mitarbeiter werden eine Erhöhung des reglementarischen Rentenalters vehement bekämpfen. Das ist verständlich und nachvollziehbar. Verständlich ist aber auch die Empörung jüngerer Steuerzahler, welche die Finanzierungslücke in Milliardenhöhe füllen und selber bis zum 65. Lebensjahr arbeiten müssen. Diese Empörung schwellt vor allem dann an, wenn die zukünftigen Renten auch nach der Sanierung nicht vollständig vorfinanziert werden und wenn Privilegien wie Vorpensionierungen ohne Leistungskürzungen bestehen bleiben. Eine solche Reaktion darf nicht als Votum gegen die Staatsangestellten verstanden werden, sondern ist lediglich ein Ruf nach mehr Fairness und nach gleichen Regeln für alle in der zweiten Säule. Teilkapitalisierung heisst Umverteilung Wenn dieser Ruf weiterhin zu hören ist, dann nur deshalb, weil ihm nur halbherzig gefolgt wurde. Gemäss neuem Bundesrecht dürfen öffentlich-rechtliche Pensionskassen künftig weiterhin einen Deckungsgrad unter 100 Prozent anvisieren, falls sie bis Mitte 2014 ausdrücklich eine Staatsgarantie erhalten. Dann müssen sie lediglich bis 2052 einen Deckungsgrad von 80 Prozent erreichen. Man spricht von einer Teilkapitalisierung. Diese wird primär in der Romandie angestrebt, allerdings diskutieren sie auch andere Kantone wie zum Beispiel Basel-Stadt. Das System der Teilkapitalisierung im BVG ist nicht nur für jene stossend, denen dieses fragwürdige Privileg zu Recht verwehrt bleibt. Eine Teilkapitalisierung – oder Dauerunterdeckung – bedeutet nichts anderes, als dass laufende und heute versprochene Renten nicht mit genügend Kapital unterlegt sind. Die fehlenden Mittel werden über Steuergelder finanziert (innerhalb der gleichen Generation) oder als implizite Schulden verbucht (Übertragung der Kosten auf kommende Generationen). In beiden Fällen sind das Umverteilun-


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gen, die der beruflichen Vorsorge, in der jeder für seine eigene Vorsorge sparen soll, systemfremd sind. Die Sonderbehandlung öffentlich-rechtlicher Vorsorgeeinrichtungen wird damit begründet, dass der Staat eine dauerhafte Existenz pflege: Es wird immer einen Arbeitgeber (den Staat), Arbeitnehmer (die Beamten) und Steuerzahler geben, die die Finanzierung der Renten garantieren können. Jederzeit einen Deckungsgrad von 100 Prozent zur Sicherstellung der laufenden und versprochenen Renten zu verlangen, sei deshalb nicht nötig. Diese Argumentation greift zu kurz. Auch wenn der Staat nicht verschwindet, wird er seine Aufgaben laufend anpassen

müssen. Die Umwandlung der SBB, der Post und der Swisscom in Aktiengesellschaften sind Beispiele dafür, wie in den letzten Jahren Sektoren der Verwaltung in die Selbständigkeit entlassen und privatrechtlich organisiert wurden. Die Pensionskasse dieser Betriebe befand sich zum Zeitpunkt der Ausgliederung in Unterdeckung, ein Hinausschieben dieser impliziten Schulden war nicht mehr möglich. Durch die Umwandlung in Aktiengesellschaften und die damit verbundene Rechtsformänderung der jeweiligen Pensionskasse wurden deren Schulden explizit. So musste der Bund 21 Milliarden Franken für die Ausfinanzierung dieser Vorsorgeeinrichtungen mobilisieren. Diese Fälle sind in ihrer

Finanzierungslücke pro Versicherten mit erheblichen regionalen Unterschieden Lücke pro Versicherten in tausend CHF 0 50 100 150 200 GE

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VD

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Lateinische Schweiz 127 JU

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Für die Schätzung der Finanzierungslücke pro Versicherten (Aktive und Rentner) wurden der Vermögensstand und der Deckungsgrad der kantonalen Pensionskassen per 31.12.2012 verwendet. Daraus wurde die Finanzierungslücke mit einem einheitlichen technischen Zins von 3,0 Prozent und bei einer Vollkapitalisierung (Deckungsgrad 100 Prozent) ermittelt.

Quelle: Jahresberichte der kantonalen Pensionskassen per 31.12.2012, Avenir-Suisse-Berechnungen

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Grössenordnung extrem. Ähnliches kann sich aber auch auf Ebene der Kantone und Gemeinden ereignen. Man denke zum Beispiel an die Privatisierung von Spitälern, Wasseraufbereitungs- und -behandlungsanlagen oder von städtischen Elektrizitätswerken. Nebst dem Aufgabenkatalog der staatlichen Körperschaften kann sich auch deren Einzugsgebiet verändern. Seit 2000 haben über 600 Gemeinden fusioniert. Was im Zuge politischer Fragen leicht vergessen geht: Unterschiedliche Deckungsgrade der Gemeindekassen können die Kosten einer Fusion massiv beeinflussen. Die Frage, wer diese Ausfinanzierungskosten trägt – die Bürger einer einzelnen Gemeinde vor der Fusion oder die Bürger beider Gemeinden nach der Fusion –, birgt das Potential, ein Fusionsvorhaben zum Scheitern zu bringen. Das Argument der Dauerhaftigkeit staatlicher Institutionen ist also nicht stichhaltig. Dritter Beitragszahler fällt aus Nebst prinzipiellen Überlegungen sprechen auch ökonomische Gründe gegen eine Teilkapitalisierung. Befürworter der Ausnahmeregelung argumentieren, dass die Sanierung einer teilkapitalisierten Kasse günstiger als im Falle einer Vollkapitalisierung sei, da die gesetzlich vorgeschriebene Finanzierungslücke kleiner ist. Dieser Eindruck trügt. Eine Kasse in Unterdeckung hat weniger Kapital, das an den Finanzmärkten investiert werden kann. Dadurch fallen die Erträge des «dritten Beitragszahlers», der Zinseszinsen, geringer aus und müssen durch zusätzliche Lohn- oder Sanierungsbeiträge kompensiert werden. Jedes Hinausschieben der Sanierungsmassnahmen lässt deshalb die Kosten einer Ausfinanzierung steigen und bürdet die Verantwortung für die Vollkapitalisierung den kommenden Generationen auf. Das ist zweifelsfrei der einfachere Weg. Aber wer derartige Schritte unterstützt, handelt unverantwortlich. Die Sanierung öffentlich-rechtlicher Körperschaften hat deshalb hohe Priorität, auch wenn es in Anbetracht der Kosten Übergangsfristen braucht. Das Ziel ist jedoch klar: Innerhalb der geltenden gesetzlichen Bestimmungen muss die Vollkapitalisierung unter Verzicht auf die Staatsgarantie angestrebt werden. Als zweitbeste Lösung soll innert kurzer Frist eine Ausfinanzierung – meinetwegen mit Staatsgarantie – anvisiert werden. So wird im Kanton Bern darüber diskutiert, die Sonderregelung einer Teilkapitalisierung zu nutzen, um einen Deckungsgrad von 100 Prozent, sprich Vollkapitalisierung, allerdings erst innert einer Frist von zwanzig Jahren zu erreichen. Langfristig müsste allerdings die 2010 verabschiedete Sonderbehandlung öffentlich-rechtlicher Körperschaften aufgehoben werden. Nur so kann der Grundsatz, dass jeder für seine eigene berufliche Vorsorge sparen soll, wieder hergestellt und langfristig gewahrt werden. �

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«Langfristig müsste die 2010 verabschiedete Sonderbe­handlung öffentlich-rechtlicher Körperschaften aufgehoben werden.» Jérôme Cosandey


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Wenn die Milliarden fliessen Die berufliche Vorsorge der Schweiz gilt im Ausland als Vorbild. Doch im Inland hat das Vertrauen in das Versprechen der Verfassung gelitten. Je mehr die Politik an der Rente schraubt, desto eher werden Versicherte sich absetzen – trotz Obligatorium. Seit 1995 sind 129 Milliarden Franken abgeflossen. von Andreas Valda

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ie Politik kann beliebig hohe Renten versprechen. Und sie kann später, wenn es der Rentenversicherung schlecht geht, das Versprechen mit einer Gesetzesänderung umbiegen und Leistungen kürzen. Sie kann das gesparte Geld darüber hinaus unter dem Titel «Solidarität» anderen Töpfen zuweisen und so ursprüngliche Berechtigte de facto zum Teil enteignen. Die sorglose Gewissheit All das ahnte der 26jährige Architekt Karl Müller* nicht, als er 1994 ins Berufsleben trat. Landauf, landab hiess es, dass die berufliche Vorsorge (BVG) in der Schweiz grosse Vorzüge aufweise. Man spare jeden Monat mittels eines kleinen Lohnabzugs für die eigene Rente. Nach vierzig Berufsjahren habe man genug auf der Seite. Zwei Drittel des Lohns seien bei Erreichen des Pensionsalters garantiert. Schliesslich erzählte man sich die Geschichte vom Reis auf dem Schachbrett. Legt man ein einziges Korn auf das erste Feld, zwei Körner auf das zweite, vier auf das Dritte, immer schön verdoppeln, und so weiter, findet man auf dem dreissigsten eine halbe Milliarde Reiskörner. So entstehe Alterswohlstand. Sein Vater aber, ebenfalls Architekt, sagte ihm: «Mein Sohn, traue dem Staat nicht, auch nicht der beruflichen Vorsorge. Es ist besser, wenn du selber baust und fürs Alter vorsorgst.» 1994, das war acht Jahre nach der Gründung der obligatorischen zweiten Säule. Die Immobilienkrise vernichtete viel Vermögen, aber Ak­ tienwerte erlebten einen anhaltenden Boom. Die Vermögen in den jährlichen Vorsorgeausweisen der Versicherten wuchsen fast so schnell wie die Häufchen Reis auf dem Schachbrett. Vertrauensbruch Im Jahr 2001 änderte sich alles. Das Platzen der Dotcomblase führte zu einem Einbruch der Aktienwerte. Die Vorsorgeleistungen anbietenden Lebensversicherer begannen erstmals für eine Senkung des Mindestzinses zu lobbyieren. Damals lag dieser vom Bundesrat festgesetzte Wert bei vier Prozent. Er definiert den jährlichen Mindestanspruch der Versicherten auf den Anlageertrag. Architekt Müller wusste vom Lobbying nichts, aber erinnerte sich an den väterlichen Rat. Er kaufte ein Haus, renovierte und finanzierte es mit einem Vorbezug aus der zweiten Säule seiner Frau. Die steuerlichen Folgen waren bescheiden, und die Pensi-

Andreas Valda ist Bundeshausredaktor des «Tages-Anzeigers» und der Zeitung «Der Bund». Er studierte an der ETH Zürich Architektur, gründete die Media assist research Gmbh und beschäftigt sich seit 2003 mit der beruflichen Vorsorge.

onskasse vergass, im Grundbuch eine Veräusserungsbeschränkung einzutragen. Auf das Jahr 2003 senkte der Bundesrat den Mindestzins von 4 auf 3,25 Prozent. Damit wurde der jährliche Anspruch auf das obligatorische Guthaben um einen Fünftel geschmälert. Der Vorwurf des Rentenklaus hallte durchs Land. Selbst die OECD bezeichnete es als «direkt gekürzte Altersrentenleistung». Hinzu wurden Missbräuche von Vorsorgegeldern und Front Running ruchbar: Vertreter institutioneller Anleger nutzten ihre Anlagemacht, um privat Gewinne zu erzielen. 2003 wurden bei Lebensversicherern, die am BVG-Geschäft teilhatten, unerklärlich hohe Verwaltungskosten publik. Sie waren die Folge fehlender Anreize zur effizienten Verwaltung. Darüber hinaus beschlossen einige Pensionskassen Sanierungsbeiträge wegen massiver Unterdeckung. Müller fühlte sich bestätigt und beschloss ein weiteres Mal, Geld aus seiner Pensionskasse zu beziehen. Ein Wohneigentumsvorbezug schien ihm aufwendig. So machte er sich auf Papier selbständig und bezog das Altersguthaben. Die zuständige AHV-Stelle, die Selbständigkeit attestiert, machte ihm keine Probleme. Die erste BVG-Revision ging durchs Parlament. Die Transparenz wurde leicht verbessert, die Unabhängigkeit der Arbeitnehmervertreter in Sammelstiftungen der Versicherer etwas gestärkt. Einschneidend war aber nur die Senkung des Rentenanspruchs. Der sogenannte Umwandlungssatz (Verhältniszahl von Kapital zur jährlichen Rente) wurde von 7,2 auf 6,8 Prozent gesenkt. Er führt bis 2014 zu sechs Prozent tieferen Renten im Obligatorium. Der Gesetzgeber hatte erstmals seit BVG-Beginn zugeschlagen. Parallel zur Misere reduzierte der Bundesrat den Mindestzins weiter auf 2,5 Prozent. Die Sozialpartner stöhnten, dabei sollte das Schlimmste erst kommen. Der vom Lehman-Brothers-Konkurs ausgehende Schock auf den Märkten vernichtete einen Viertel der Vermögen der zweiten Säule. Der Wert des von Karl Müller angelegten Geldes in Wohn­ 21


«Eine Auswertung zeigt, dass seit 1995 rund 30 000 Personen jährlich rund 2,2 Milliarden Franken für den Kauf von Wohneigentum vorbeziehen.» Andreas Valda

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immobilien hingegen wuchs um fünf bis zehn Prozent jährlich. So reifte in ihm der Entschluss für einen dritten Vorbezug. Er übersiedelte mit seiner Frau ins Ausland und bezog das neu ersparte BVG-Guthaben. Weiterer Vertrauensbruch 2010 scheiterte eine zweite Senkung des Rentenumwandlungssatzes, im gleichen Umfang wie die erste, an der Urne. Drei Viertel der Stimmbürger, auch bürgerliche, wollten keine tieferen Renten. Dabei ist die Notwendigkeit eines solchen Schritts inzwischen von links bis rechts unbestritten. Ein überhöhter Umwandlungssatz führt dazu, dass die Beitragszahler jährlich geschätzt 2,5 Milliarden Franken an laufende Renten querfinanzieren. Sie sparen für die Rente von anderen. Eine Reform in Politbern ist deshalb am Reifen. Vertrauen nur bei absoluter Garantie Dessen ungeachtet bleibt ein wesentliches Dilemma: Jedes Mal, wenn der Gesetzgeber eingreift, wird die Zuversicht der Versicherten beschädigt. So hat Swiss Life in einer Umfrage vom September dieses Jahres erfahren, dass «fast jeder zweite zwischen 18 und 29 Jahren kein Vertrauen in die heutigen Vorsorgesysteme hat». Die Höhe der jährlichen Austritte ist beachtlich. Eine Auswertung von Zahlen des Bundesamtes für Statistik durch den «Monat» zeigt, dass seit 1995 rund 30 000 Personen jährlich rund 2,2 Milliarden Franken für den Kauf von Wohneigentum vorbeziehen. Weitere rund 30 000 Personen nehmen unter dem Titel Selbständigerwerbende oder die Schweiz verlassend jährlich rund 0,9 Milliarden Franken heraus. Und weitere rund 30 000 frisch Pensionierte (Neurentner) verlangen ihr Alterskapital von 5 Milliarden Franken jährlich in bar, um es selber anzulegen. Seit Einführung des Freizügigkeitsgesetzes 1995 wurden auf diese Arten 129 Milliarden Franken bezogen. Zum Vergleich: das Vermögen aller Vorsorgeeinrichtungen beträgt 620 Mrd. Franken (2011). Mit anderen Worten, ein Fünftel aller Vermögen der zweiten Säule ist innert 17 Jahren ausserhalb angelegt worden. Einen solchen Entscheid fällten eine Million Versicherte und 500 000 Neurentner. Drei Viertel legten privat an Was sind ihre Beweggründe? Untersucht und aufschlussreich sind insbesondere die Motive der Selbständigerwerbenden. Gesetzlich wäre es ihnen erlaubt, das Geld in der zweiten Säule zu belassen. Laut einer Studie des Bundesamtes für Sozialversicherungen (BSV) von 2005 investiert aber nur ein Viertel der Bezüger das Geld in eine Firma. Drei Viertel zogen es ab, um es in der dritten Säule anzulegen. Das scheint unter der Perspektive des Vertrauens auch zielführend, denn ein Lebensversicherer darf eine vereinbarte Leibrente nicht verändern. «Die Höhe ist vertraglich lebenslänglich garantiert – und absolut unantastbar», sagt Michael Wiesner, Sprecher des Schweizerischen Versicherungsverbandes. Das ge-

bundene Vermögen bleibe selbst im Falle eines Konkurses des Versicherers vollständig reserviert. Kunden hätten vor allen anderen Gläubigern ein Vorrecht auf das gesamte Deckungskapital ihrer Versicherung mitsamt den zugeteilten Überschussguthaben. Für die zweite Säule gibt es realistischerweise bloss zwei Optionen: entweder eine Rente, die auf einem risikoarmen Marktzins beruht, oder eine Garantie in der zweiten Säule, die sich an private Rentenversicherungen anlehnt. Klagen über sinkendes Vertrauen gibt es da nämlich nicht. Kritiker wenden ein, dass die Parameter einer privaten Versicherung, insbesondere der technische Zins, wesentlich tiefer seien als in der zweiten Säule. Dieser Wert beeinflusst die garantierte Rente und beträgt maximal sechzig Prozent des rollenden Zehnjahresmittels der Bundesobligation, derzeit 1,25 Prozent. Er liegt ein Viertelprozent unter dem aktuellen Mindestzins der zweiten Säule und rund zwei Prozent unter dem Niveau der technischen Zinssätze, die die Pensionskassen festlegen. Als Ventil gibt es aber die Überschussregelung. «Bei einem positiven Verlauf in bezug auf effektive Kosten, Anlageerträge oder Langlebigkeit entstehen Überschüsse, welche in Form einer Überschussrente erstattet werden», sagt Wiesner. Die Details regelt die Aufsicht. Wohl im Dezember wird der Bundesrat einen Gesetzesentwurf zur Reform 2020 präsentieren. Ob dem Vertrauen der Stellenwert beigemessen wird, den eine Rentenversicherung voraussetzt, ist offen. In der Auslegeordnung des Bundesrates steht als eines von vier Zielen «Vertrauen der Versicherten in das System» durch Transparenz. Dazu gehörte auch zu sagen, dass die Höhe der Renten nicht garantiert ist, wie es die Politik vorgaukelt. Bis vor kurzem war nur die Rede von «wohlerworbenen Rechten an der Rente». Im 2011er Bericht steht jetzt aber, dass Rentenversprechen nicht absolut seien. Pensionsansprüche stellen nur wohlerworbene Rechte dar, wenn das Gesetz sie «ein für alle Mal festgelegt hat». Bei öffentlich-rechtlichen Unternehmen gilt dies nur bis «vor Inkrafttreten des BVG» 1986. Die Sozialpartner und politischen Parteien tun gut daran, eine ehrlich tiefe, aber garantierte Rente vorzuschlagen, wie es Lebensversicherer tun. Ob es klug ist, den Referenzzins an Staatsobligationen festzubinden, ist diskutabel, denn er fördert die Investition in die Staatsverschuldung statt Realwirtschaft. Architekt Karl Müller ist zurückgekehrt und plant sein nächstes Investment. Er geht davon aus, dass er das jetzt angesparte 2.-Säule-Kapital noch einmal vorbezieht, bevor es wohl verboten wird. � *Deckname, richtiger Name der Redaktion bekannt

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Schweden studieren statt schwarzsehen Die Mehrheit aller Empfänger glaubt, ihre Rente komme vom Staat und nicht von ihrer eigenen Leistung. Das ist ein grosses Missverständnis. Die Fehler des heutigen unflexiblen Systems bedürfen einer raschen Korrektur. Der Blick nach Norden zeigt, wie es geht. von Karl Reichmuth

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ur wer weiss, woher er kommt, kann wirklich bestimmen, wohin er gehen will. Diese Erkenntnis ist allen bergerprobten Wanderern vertraut, und sie kann uns auch bei der Wegfindung in der anstehenden BVG-Reform nützlich sein. Diese Art der Rückbesinnung, um den richtigen Weg wieder zu finden, ist im Bereich der Altersvorsorge notwendig, denn wir haben uns in der Schweiz seit geraumer Zeit böse verlaufen. An die Stelle echten Eigentums, das heisst eigenverantwortlicher Selbstvorsorge wie ursprünglich im Jahre 1984 angedacht, ist die Bevormundung und Verwaltung durch wohlmeinende staatliche Instanzen getreten. Kurz und gut, die zweite Säule wurde zum Spielball der Politik, und die Beitragszahler scheinen dies einfach hinzunehmen. Doch der Schein trügt – während die Zahler von früher als Empfänger von heute erhalten, was ihnen damals versprochen wurde, hegen die Zahler von heute zunehmend Zweifel daran, dass ihnen ihr Eigentum auch wirklich gehört. Ihre Zweifel sind begründet. Die Vertreter der erwähnten staatlichen Instanzen lassen sich nur allzu gerne durch von Eigeninteressen getriebene Spezialisten beirren, ganz abgesehen davon, dass sie sich sozusagen als Herren über das fremde Eigentum sehen. Das Resultat ist ein Gesetzeswirrwarr, in dem sich weder verantwortungsbewusste Patrons noch Personal- oder Finanzchefs zurechtfinden – und der eigentliche Eigentümer, der Beitragszahler, die Übersicht verloren hat. An die Stelle der direkten Gutschriften auf das Konto der Beitragszahler trat der Umverteilungsmechanismus. Die Gründe liegen in der Natur der Sache, d.h. des Menschen: Die Begünstigten bleiben länger fit – die Lebenserwartung hat im Vergleich zu damals um einige Jahre zugenommen. Der sogenannte Umwandlungssatz aber, der die jährliche Rente aufgrund des angesparten Kapitals bestimmt, wurde nicht angepasst. Drittens, und das ist wohl der entscheidende Faktor bei der notwendigen Korrektur, hat die in der Gründungszeit herrschende Schönwetterlage hoher Zinsen wegen grosser Inflation geändert. Die Politik hätte schon längst den technischen Zinssatz verändern müssen, der dazu dient, das durchschnittliche zur Verfügung stehende Kapital der Empfänger aufgrund des wahrscheinlichen Zinsumfeldes zu berechnen. Vor allem öffentlich-rechtliche Pensionskassen, beispielsweise Genf mit 4,5 Prozent, rechnen unbeirrt mit unrealistischen Diskontierungssätzen – was nichts

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Karl Reichmuth ist Verwaltungsratspräsident von Reichmuth & Co Privatbankiers und beschäftigt sich seit Jahren theoretisch und praktisch mit dem Vorsorgesystem der Schweiz.

anderes bedeutet, als dass die heutigen Empfänger sich ungewollt auf Kosten nachkommender Generationen bereichern. Die zweite Säule ist also in Schieflage. Das ist die schlechte Nachricht. Die gute Nachricht ist, dass dies nicht so sein müsste. Was ist geschehen? Das Denken in Modulen mit künstlichem Mindestzins und starrem Umwandlungssatz hat ein vom Staat abhängiges Sicherheitsdenken gefördert, das schädliche Wirkung entfaltet. Der Staat soll dafür sorgen, dass ich bekomme, was mir angeblich zusteht – auf wessen Kosten, braucht mich nicht zu interessieren. Damit wird das Grundprinzip der zweiten Säule ausgehebelt, dass ich nämlich erhalte, was mir auch wirklich gehört. Statt zu korrigieren – wie Schweden es getan hat – und dem Eigenvorsorger auch die Eigenverantwortung durch freie Wahl der Pensionskasse für einen dem Lebenszyklus angepassten Anlagestil zu geben, wird an einer jährlichen Anpassung des Mindestzinses im Zehntelbereich herumlaboriert. Die verdeckte interne Quersubventionierung ist auch verantwortlich dafür, dass die Stimmbürger in der Volksabstimmung vom 7. März 2010 die Notwendigkeit einer Anpassung des Umwandlungssatzes nicht nur Kenntnis nahmen. Eine Gesamtrevision, wie vom Bund angekündigt, aber nicht ausgeführt, ist also mehr als reif. Die Dringlichkeit der Probleme macht jedoch eine Aufteilung der Massnahmen nötig, in ein Sofort- und ein Langzeitpaket, wobei beide dasselbe Ziel verfolgen: das Eigentum in die Hände der Eigentümer zu geben. Agenda 2015 Eine echte – d.h. realistische – Anpassung des Umwandlungssatzes ist unumgänglich. Die heutigen 6,8 Prozent sind gegen jede Vernunft, ausser derjenigen, dass man lieber im Heute lebt und die nächsten Generationen für die Kosten aufbietet. So weit sind wir trotz zunehmendem Egoismus in unserem Lande glücklicherweise noch nicht. Die Vernunft wird siegen. Sollte ich mich jedoch täuschen, wäre ein Splitting ratsam, so dass die Lohnbe-


Karl Reichmuth, photographiert von Oliver Rust.

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«Schweden wurde vom kranken zum gesunden Staat, weil es plötzlich 70 Prozent Eigentümer statt der früheren 5 bis 10 Prozent gab.» Karl Reichmuth

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standteile über einer bestimmten Summe (aktuell bei 126 360 Franken) in einer separaten Pensionskasse liegen. Die dadurch erzwungene Transparenz würde die Quersubventionierung erschweren – und den Widerstand der Betrogenen heraufbeschwören. Ähnliche Auswüchse einer gesetzlich festgeschriebenen Unehrlichkeit im BVG findet man auch bei den Versicherungsprämien. Auch da wird ungeachtet der tatsächlichen branchenabhängigen Risiken Quersubventionierung betrieben. Und letztlich verdecken viele öffentlich-rechtliche Pensionskassen die enormen Deckungslücken, die vom Staat bzw. von den Steuern zahlenden Bürgern beglichen werden müssen. Gerade deshalb scheuen viele Experten und Politiker die Transparenz, die eigentlich jedem Inhaber eines persönlichen Guthabens zuzubilligen wäre. Meines Erachtens müssen deshalb in der ersten Phase der Umwandlungssatz verändert, der Mindestzins und der technische Zinssatz in die Verantwortung der PK-Stiftungsräte gegeben und die Transparenzvorschrift endlich durchgesetzt werden. Eigentlich ziemlich einfach – und für alle nachvollziehbar. Phase 2: Wohin wir gehen sollten Das seltsame Ineinandergreifen der Eigeninteressen von politischen Würdenträgern, die stets ungern ihre Macht abgeben, sowie von den Interessenvertretern in BVG-Beratungsgremien kann langfristig nur durch eine Öffnung des Wettbewerbs – und nicht, wie Politiker denken, durch noch mehr Engmaschigkeit des BVG – gelöst werden. Schweden hat diesen Weg beschritten, ebenso Chile. Beide Länder sind den Weg vorausgegangen zum eigentlichen Ziel der Eigenvorsorge: Vermögensaufbau während der aktiven Zeit. Schweden hat im Jahre 1994 das Gesetz der freien PK-Wahl eingeführt. Von einer übersozialisierten und seinerzeit kranken Wirtschaft sowie einem ebenfalls mit einer Bankenkrise belasteten Land wurde Schweden zum Vorzeigestaat in Europa. Anfänglich haben nur 30 Prozent von der Möglichkeit, die Pensionskasse selber zu bestimmen, Gebrauch gemacht; 70 Prozent blieben noch in einer staatlichen Sammelkasse. Inzwischen haben sich diese Zahlen umgekehrt. Offensichtlich schätzen es die Beitragszahler als Eigentümer ihres Vorsorgevermögens, unter rund 400 Anbietern diejenige Anlagestrategie wählen zu können, die dem eigenen Gusto und dem Lebenszyklus entspricht. Die Konkurrenz hat überdies dafür gesorgt, dass die Versicherungsprämien billiger wurden. Man muss sich auch einmal fragen, warum die schweizerischen Pensionskassen so wenig Ertrag auf ihrem Sparvolumen bringen. Selbstverständlich gilt auch in Schweden ein konservativer Anlagerahmen, damit zu spekulativ eingestellte Vorsorger nicht plötzlich zum Sozialfall werden. Es braucht gut überlegte Diversifikationsvorschriften, denn in der heutigen Zeit sind ja nicht einmal mehr Staatsguthaben sicher. Aber mehr ist eigentlich nicht nötig. Unser über 180 Seiten umfassendes Berufsvorsorgegesetz liesse sich problemlos auf einen Fünftel reduzieren, wenn endlich erkannt würde, dass Konkurrenz der beste Überwacher ist. Dies umso mehr, als die Bürger, die frei wählen können, die sich kon-

kurrierenden Anbieterkassen kosten- und ertragsmässig bestimmt besser überwachen können als ein ganzes Heer von staatlichen Kontrolleuren. Wie heilsam wäre eine solche Rückkehr zum seinerzeitigen BVG-Ziel! Wie es geht, die Schaffung von Eigentum für die Vorsorge zur Pflicht jeden Bürgers zu machen, zeigt auch Chile. Es wurde in Südamerika zum Vorzeigeland, wie in Europa das noch vor 30 Jahren völlig überschuldete Schweden. In Chile ist sogar die als obligatorisch erklärte Krankenkasse wie die Pensionskasse so gestaltet, dass die Beitragszahler nach einem gewissen Solidaritätsbeitrag für jene, die beruflich oder gesundheitlich weniger Glück hatten, ihr persönliches Guthaben behalten und steuerfrei vererben können. Gut Leistende und sich fit Haltende werden also belohnt – genau das ist der Kerngehalt von Eigenverantwortung. Fazit Das Langzeitziel der BVG-Reform in der Schweiz muss die Wiederherstellung des Eigentumsgedankens sein. Schweden wurde vom kranken zum gesunden Staat, weil es plötzlich 70 Prozent Eigentümer statt der früheren 5 bis 10 Prozent gab. Ursprünglich war unser BVG zumindest indirekt diesem Eigentumsgedanken verpflichtet. Man blieb üblicherweise ein Leben lang beim gleichen Arbeitgeber und traute ihm zu, dass er und sein Finanzchef sich ebenso verantwortungsbewusst mit dem persönlichen PKGuthaben der Mitarbeiter befassten wie mit dem Wohl des Unternehmens. Doch Mobilität, gestiegene Lebenserwartung sowie das Anlageumfeld haben sich verändert. Die Verantwortung rutschte unbemerkt von den Patrons zu anonymen Verwaltern, die ihrerseits von der staatlichen Kontrollinstanz jährlich engere Korsette bekamen. So glaubt bereits die Mehrheit aller Empfänger, ihre Rente komme vom Staat und nicht von ihrer eigenen Leistung. Rasch müssen deshalb die Fehler des heutigen unflexiblen Systems korrigiert werden. Für den echten Revisionsschritt jedoch ist das Beispiel Schwedens zu studieren. So wie man in den Bergen bei Wetterumschlag oder anderer Unbill oft den Weg zurück einschlagen muss, werden wir nur über die Rückkehr zum wahren Eigentumsanreiz durch freie Wahl der Pensionskasse unser BVG-System wieder ins Lot bringen können. �

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Das chilenische Modell Chile hat weltweit als erstes Land seine Altersvorsorge ganz auf individuelle Ersparnisbildung abgestützt. Befürworter wie Kritiker sehen in der von oben durchgesetzten Rentenreform ein wertvolles Experiment unter Realbedingungen. Welches sind genau die tragenden Ideen des chilenischen Systems? von José Piñera

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in Gespenst geht um die Welt – der Bankrott der staatlichen, auf dem Umlageverfahren aufgebauten Rentensysteme. So unterschiedlich die Situation von Erdteil zu Erdteil und von Land zu Land auch ist, so deutlich lassen sich die gemeinsamen Ursachen der Misere erkennen. Im Umlageverfahren zahlt die arbeitende Bevölkerung ihre vom Staat oder Kollektiv festgelegten Abgaben in die Rentenkasse ein und die nicht mehr arbeitende Bevölkerung bekommt eben dieses Geld fast zeitgleich als Rente wieder ausgehändigt. Dieses System weist, trotz aller beschönigenden Rhetorik vom Generationenvertrag, einen grundlegenden Webfehler auf, der letztlich auf ein unzutreffendes Menschenbild zurückgeht. Kurz, das Umlageverfahren versucht, die für das menschliche Verhalten und seine Antriebskräfte ganz entscheidende nachvollziehbare Verbindung zwischen Leistung und Vergütung, zwischen persönlicher Verantwortung und daraus abgeleitetem individuellem Anspruch aufzuheben. An dessen Stelle treten anonyme Zahler und anonyme Empfänger in stets wechselnder Relation und mit gar nicht voraussehbaren, von der Politik immer wieder neu festgelegten Belastungen und Berechnungen. Wird eine solche Situation zum Dauerzustand, kann sie trotz ununterbrochener Reparaturen letztlich nur im Zusammenbruch des darauf gebauten Systems enden. Mehr Menschen, längere Lebensdauer Zwei äussere Faktoren verschärfen das Problem: der weltweite demographische Trend zu sinkenden Geburtenziffern und der medizinische Fortschritt, der das Leben erfreulicherweise immer mehr verlängert. Beides läuft darauf hinaus, dass ein immer kleiner werdender Anteil von beschäftigten Beitragszahlern eine immer grösser werdende Schar von Rentenempfängern zu ernähren und zu versorgen hat. Da aber der weiteren Anhebung des Rentenalters sowie einer Erhöhung der Sozialabgaben natürliche Grenzen gesetzt sind, ist es unausweichlich, dass die versprochenen Leistungen gekürzt werden müssen. Ob diese Kürzungen nun, wie etwa in vielen Entwicklungsländern, schleichend über die Inflation daherkommen oder ob sie als offenes Bankrottindiz vom Gesetzgeber, sprich von der Politik, angeordnet werden, das Ergebnis ist für den Pensionär von heute und von morgen das gleiche: Er muss seinen Ruhe28

José Piñera ist Direktor des von ihm gegründeten Instituts International Center for Pension Reform und Senior Fellow des Cato Institute in Washington. Nach dem Studium an der Harvard University unterrichtete er als Professor für Ökonomie an der Universidad Católica de Chile. Zwischen 1978 und 1980 war er chilenischer Arbeitsminister im Militärregime von Augusto Pinochet und setzte die chilenische Rentenreform um, die in den Grundzügen bis heute besteht.

stand in materieller Unsicherheit verleben, weil die ihm vom System und den Politikern versprochene «soziale Sicherheit» sich als trügerisch erweist. Als diese Entwicklung sich immer deutlicher abzeichnete, beschloss die chilenische Regierung im Jahr 1980, den Stier bei den Hörnern zu packen. Sie setzte an die Stelle der staatlichen Rentenversicherung eine revolutionäre Neuerung: ein nationales, im wesentlichen privatwirtschaftlich organisiertes System von Rentensparkonten. Die Ergebnisse sprechen für sich. Die Leistungen des neuen, privaten Systems liegen heute bereits zwischen 50 und 100 Prozent höher als die nach dem früheren Umlagesystem gezahlten Renten, je nachdem, ob es sich um Alters-, Erwerbsunfähigkeitsoder Hinterbliebenenrenten handelt. Das von der privaten Rentenversicherung verwaltete Vermögen beläuft sich auf 120 Milliarden Dollar, das entspricht etwa 80 Prozent des chilenischen Bruttosozialprodukts von 2007 1. Noch wichtiger aber ist die Tatsache, dass die Renten nun nicht mehr Angelegenheit und Spielball der Politik sind. Mit dieser Entpolitisierung hat der einzelne die Möglichkeit erhalten, sein eigenes Leben auch im Hinblick auf seine Altersvorsorge mündiger zu gestalten. Die Zukunft der Renten hängt nunmehr vom Verhalten des einzelnen und von der von ihm mitbeeinflussten Entwicklung der Märkte ab. Das Beispiel des chilenischen Rentensystems hat mittlerweile 30 Länder dazu angestiftet, ähnliche Reformen in Angriff zu nehmen. In diesen Ländern haben nun etwa 125 Millionen Arbeiter ein privates Konto. An den Erfahrungen Chiles sind auch andere 2008 hat die Regierung Bachelet das 1980er Rentensystem in einigen Punkten angepasst. Unter anderem wurden die Mindestrente und die Pensiones Asistenciales (PASIS) durch eine steuerfinanzierte Grundsicherung ersetzt. Zudem werden bis 2015 auch die Selbständigen in das Rentenversicherungssystem einbezogen. (Anmerkung der Redaktion)

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José Piñera (Bild: zVg)

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Staaten in den verschiedensten Teilen der Welt interessiert. Selbst in den Vereinigten Staaten hat eine ernsthafte Debatte über das dortige, 60 Jahre alte Rentensystem eingesetzt. Die Privatisierung der Systeme meint, dass der Staat dem einzelnen Bürger in beträchtlichem Umfang echte Gestaltungsmacht zurücküberträgt. Dies wiederum bedeutet mehr persönliche Freiheit, schnelleres Wirtschaftswachstum und, besonders im Alter, weniger Armut. Das chilenische System der Rentensparkonten Im Rahmen des chilenischen Systems der Rentensparkonten hängt die tatsächliche Höhe des Pensionsanspruchs eines Arbeitnehmers davon ab, wie viel Geld er im Laufe seines Lebens angespart hat. Das funktioniert wie folgt: Weder der Arbeitnehmer noch sein Arbeitgeber zahlen, wie im alten System, Sozialabgaben an den Staat. Stattdessen zahlt der jeweilige Arbeitgeber monatlich zehn Prozent vom Lohn des Arbeitnehmers auf dessen eigenes Rentensparkonto ein, und das während der gesamten Lebensarbeitszeit. Diese Zehn-Prozent-Regelung gilt jedoch nur für die ersten 22 000 Dollar Jahreseinkommen. Somit sinkt die «Pflichtsparquote» im Rahmen des Rentensystems in dem Umfang, in dem die Löhne mit der Wachstumsrate der Wirtschaft steigen. Als freiwilligen Beitrag kann der Arbeitnehmer darüber hinaus monatlich weitere zehn Prozent seines Lohnes auf sein Rentensparkonto einzahlen, wobei auch diese Zahlungen steuerlich absetzbar sind. Normalerweise zahlt ein Arbeitnehmer nur dann mehr als die ursprünglichen, vom Arbeitgeber überwiesenen zehn Prozent seines Gehalts ein, wenn er entweder früher in den Ruhestand gehen oder einen höheren Pensionsanspruch erreichen möchte. Der Arbeitnehmer kann wählen, welcher der auf dem Markt tätigen Rentenfondsverwaltungsgesellschaften (AFP = Adminis­ tradoras de Fondos de Pensiones) er die Verwaltung seines Rentensparkontos anvertrauen möchte. Diese Finanzdienstleister unterliegen strenger staatlicher Aufsicht. Ihnen ist jede andere wirtschaftliche Tätigkeit untersagt, und sie sind darüber hinaus gesetzlich verpflichtet, ausschliesslich diversifizierte Wertpapiere mit geringem Risiko zu erwerben und Diebstahl oder Betrug auszuschliessen. Die Aufsicht liegt bei einer eigens dafür geschaffenen staatlichen Instanz, der hochqualifizierten AFP-Aufsichtsbehörde. Der Zugang zum Rentenfondsmarkt unterliegt keinerlei Beschränkungen. Arbeitnehmer können jederzeit wechseln Jede dieser Rentenfondsverwaltungsgesellschaften verwaltet praktisch einen Investmentfonds in Aktien und Obligationen. Die Investitionsentscheidungen fällt das Unternehmen selbst. In den amtlichen Vorschriften werden lediglich Grenzwerte für den maximal möglichen Anteil an bestimmten Wertpapieren sowie für die Zusammensetzung der Portefeuilles insgesamt festgelegt. Die Reform ist von ihrem Konzept her so angelegt, dass diese gesetzlichen Regelungen im Lauf der Zeit in dem Masse abgebaut werden, in dem die Erfahrung der Rentenfondsverwaltungsgesellschaften wächst. Es besteht keinerlei Verpflichtung dazu, Gelder 30

in Schatzbriefe oder Regierungspapiere anderer Art zu investieren. Die Rentenfondsverwaltungsgesellschaft und der von ihr verwaltete Investmentfonds sind rechtlich gesehen streng getrennt. Sollte also eine Verwaltungsgesellschaft einmal scheitern, so bleibt das Vermögen der Investmentfonds, d.h. das von den Arbeitnehmern investierte Geld, davon unberührt. Dem Arbeitnehmer steht es frei, seine Verwaltungsgesellschaft zu wechseln. Schon aus diesem Grund konkurrieren die einzelnen auf diesem Markt tätigen Unternehmen untereinander darum, wer die höchste Rendite, den besten Kundendienst oder die niedrigsten Provisionsforderungen hat. Jeder Arbeitnehmer erhält für sein Rentenkonto ein Sparbuch – sein persönliches Rentensparbuch, und alle drei Monate informiert ihn der Kontoauszug darüber, wie viel Geld er auf seinem Konto angespart und was sein Investmentfonds damit erwirtschaftet hat. Das Konto wird unter dem Namen des Arbeitnehmers geführt; es ist sein persönliches Eigentum und wird zur Zahlung seiner Altersrente verwendet, wobei auch für seine Hinterbliebenen Vorsorge getroffen ist. Jeder nach seiner Façon Natürlich gehen die Vorstellungen der Menschen darüber auseinander, wie sie ihr Leben im Alter gestalten wollen. Die einen möchten möglichst immerfort arbeiten, andere wiederum können es gar nicht erwarten, in den Ruhestand zu treten, um sich ganz ihrer wahren Berufung oder ihrem Hobby widmen zu können. Im alten Umlagesystem war es nicht möglich, solchen persönlichen Präferenzen nachzugeben. Alle wurden über einen Leisten geschlagen. Höchstens über einflussreiche politische Interessengruppen und durch kollektiven Druck hätte beispielsweise das Rentenalter pauschal gesenkt werden können. Der einzelne mit seinen ganz persönlichen Vorstellungen zählte dabei nicht. Demgegenüber bietet das System der Rentensparkonten dem einzelnen die Möglichkeit, seine Vorstellungen vom Leben im Alter und der dazu notwendigen materiellen Basis ganz individuell und konkret zu verfolgen. In den Filialen vieler Rentenfondsverwaltungsgesellschaften stehen heute benutzerfreundliche Computerterminals, mit denen der Arbeitnehmer aus dem derzeitigen Kontostand und dem gewünschten Rentenalter seinen zukünftigen Rentenanspruch berechnen kann. Er kann aber auch angeben, wie hoch die Rente sein soll, die er erwartet, und dann dem Computer die Frage stellen, wie viel er jeden Monat einzahlen muss, wenn er mit einem bestimmten Alter in den Ruhestand gehen möchte. Sobald er eine Antwort erhalten hat, bittet er einfach seinen Arbeitgeber, von seinem Gehalt den entsprechenden Prozentsatz abzuziehen und einzuzahlen. Selbstverständlich kann er auch im Lauf der Zeit die Höhe seiner Zahlung neu bestimmen, je nachdem, welchen Ertrag sein Investmentfonds erwirtschaftet. Jedenfalls kann ein Arbeitnehmer selbst bestimmen, wie viel Rente er erhalten und wann er in den Ruhestand treten möchte. Das kommt einem massgeschneiderten Anzug gleich. Wie schon ausgeführt, sind die Beitragszahlungen der Arbeitnehmer steuerlich absetzbar, die Erträge der Rentensparkonten


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steuerfrei. Tritt der Arbeitnehmer in den Ruhestand, muss er freilich die Beträge, die er abhebt, nach den jeweiligen Regeln ordnungsgemäss versteuern. Das chilenische System der Rentensparkonten gilt gleichermassen für private Arbeitnehmer wie für öffentliche Bedienstete. Ausgeschlossen sind lediglich Angehörige der Polizei und der Streitkräfte, deren Altersversorgung, wie in anderen Ländern auch, in das staatliche System von Lohnzahlungen und Arbeitsbedingungen integriert ist. (Meiner Meinung nach – die sich aber noch nicht durchgesetzt hat – wäre auch hier das System der Rentensparkonten vorteilhafter.) Für alle anderen lohnabhängigen Arbeitnehmer ist die Einrichtung und Führung eines Rentensparkontos also Pflicht. Auch Selbständige können, wenn sie es wollen, dem System beitreten. Auf diese Weise dürfte für manchen Arbeitnehmer aus dem informellen Sektor ein Anreiz zum Wechsel in den formellen Sektor der Wirtschaft geschaffen werden. Ein Arbeitnehmer, der vor seiner Pensionierung mindestens 20 Jahre lang regelmässig Beiträge gezahlt hat und dessen Ansprüche dennoch unter der staatlich festgelegten Mindestrente liegen, erhält diese Mindestrente vom Staat dann, wenn sein Rentensparkonto erschöpft ist. Daraus wird erkennbar: Niemand im Land wird von vornherein als «arm» eingestuft und damit bereits dauerhaft stigmatisiert und dementsprechend für das Arbeitsleben entmutigt. Erst nach Ende seines Arbeitslebens, und erst nachdem das Rentensparkonto ausgeschöpft ist, erhält ein «armer» Rentner staatliche Unterstützung. (Pensionäre, die weniger als 20 Jahre lang Beiträge entrichtet haben, können eine Art Sozialrente beantragen, deren Niveau allerdings deutlich niedriger liegt.) Mit eingeschlossen in das System der Rentensparkonten sind eine Erwerbsunfähigkeits- und eine Lebensversicherung. Um diese Dienstleistung anbieten zu können, schliesst jede Rentenfondsverwaltungsgesellschaft mit einer privaten Lebensversicherungsfirma eine entsprechende Gruppenversicherung für ihre Klienten ab. Zur Deckung der Versicherungsbeiträge zahlt der Arbeitnehmer zusätzlich etwa 2,9 Prozent seines Lohnes, wodurch gleichzeitig auch die Provision der Verwaltungsgesellschaft mit abgedeckt wird. Die gesetzliche Mindestansparquote von 10 Prozent gründet auf der Annahme, dass im Laufe eines Arbeitslebens durchschnittlich ein Nettoertrag von 4 Prozent erwirtschaftet wird. Damit verfügt der durchschnittliche Arbeitnehmer auf seinem Rentensparkonto über ausreichend Geld, um die Zahlung einer Rente von 70 Prozent seines letzten Monatslohns sicherzustellen. Neue Bedeutung des «Ruhestands» Das sogenannte gesetzliche Rentenalter beträgt 65 Jahre für Männer und 60 für Frauen. Bei der Privatisierung brauchte es über diese – im Rahmen des Umlagesystems traditionellen – Altersgrenzen keine Diskussion zu geben, da sie nicht zu den strukturellen Eigenheiten des neuen Systems gehören. Denn im Rahmen des neuen Systems bedeutet «Ruhestand» etwas ganz anderes als im staatlich dominierten Umlageverfahren. Zunächst einmal kann ein

Arbeitnehmer auch nach dem Erreichen des Rentenalters weiterarbeiten. Tut er das, so erhält er eine Rente in der Höhe, die dem eingezahlten Kapital entspricht. Zu weiteren Beitragszahlungen ist er jedoch nicht mehr verpflichtet. Will ein Arbeitnehmer andererseits eher in den Ruhestand gehen und hat er genügend Geld für eine «angemessene» Rente angespart – das heisst für eine Rente, die 50 Prozent des Durchschnittsgehalts der letzten 10 Jahre entsprechen und auf jeden Fall über der «Mindestrente» liegen muss –, so kann er das nach seinem Belieben jederzeit tun. Die Altersgrenze von 65 bzw. 60 Jahren ist somit keineswegs starr im System oder von politischer Seite festgelegt. Stattdessen ist es einfach so, dass ein Arbeitnehmer so lange 10 Prozent seines Lohns auf sein Rentensparkonto einzahlen muss, bis er diese Altersgrenze erreicht hat, es sei denn, er entscheide sich für die Frührente. Hat er die Altersgrenze aber erreicht, dann kann er fortan seine monatliche Rente abheben, muss sich aber keineswegs aus dem Arbeitsleben zurückziehen. Andererseits ist die genannte Altersgrenze Voraussetzung, um Anspruch auf die staatliche Unterstützung erheben zu können, die einem eine Mindestrente sichert. Niemand ist jedoch verpflichtet, von einem bestimmten Alter an seine Erwerbstätigkeit einzustellen, wie es umgekehrt – sobald eine «vernünftige» Rente entsprechend der obigen Beschreibung gesichert ist – keinerlei Verpflichtung gibt, weiter tätig zu bleiben und für die Rente zu sparen. Ausweg aus der demographischen Falle Wenn ein Arbeitnehmer in Rente geht, kann er für gewöhnlich unter zwei Auszahlungsvarianten wählen. Zum einen kann er mit seinem Sparkapital bei einer beliebigen Lebensversicherungsgesellschaft eine Rentenversicherung abschliessen. Damit ist ihm ein an die Inflationsrate gebundenes regelmässiges Einkommen auf Lebenszeit garantiert. Der chilenische Kapitalmarkt bietet Indexanleihen an, die den Gesellschaften entsprechende Investitionen ermöglichen. Auch eine Hinterbliebenenrente für die Angehörigen ist vorgesehen. Zum anderen kann der Rentenempfänger sein Kapital auf dem Sparkonto belassen und regelmässig Abhebungen vornehmen, für die aufgrund der Lebenserwartung des Rentenempfängers und der Zahl seiner Angehörigen bestimmte Grenzen gelten. Falls der Kontoinhaber stirbt, wird das auf dem Konto verbleibende Kapital der Erbmasse zugeschlagen. In beiden Fällen besteht die Möglichkeit, das gesamte Kapital, das nicht für den Erwerb einer Rentenversicherung bzw. zur Zahlung von Renten in Höhe von 70 Prozent des letzten Monatseinkommens erforderlich ist, in einem Betrag abzuheben. Damit bietet das System der Rentensparkonten eine praktikable Lösung für eines der schwierigsten Probleme umlagefinanzierter Systeme – die demographische Falle. In den Umlagesystemen kommen auf den einzelnen im Berufsleben stehenden Beitragszahler immer höhere Belastungen zu, wenn die Bevölkerung überaltert und der Anteil der Beitragszahler entsprechend abnimmt. Im System der Renten31


«Zur Flexibilität gehört auch, dass immer mehr Menschen sich dafür entscheiden, jeden Tag nur ein paar Stunden zu arbeiten oder aber zeitweise ganz aus dem Arbeitsleben auszuscheiden.» José Piñera

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sparkonten stellt sich dieses Problem immer schwerer zu deckender Pensionsverpflichtungen samt dem darin angelegten potentiellen Generationenkonflikt überhaupt nicht. Unabhängig vom Zustand der Unternehmen Auch die mit manchen Rentensystemen auf betrieblicher Basis verbundenen Probleme stellen sich nicht. Bei diesen Systemen werden im allgemeinen jenen Arbeitnehmern zusätzliche Kosten auferlegt, die vor Ablauf einer bestimmten Frist den Betrieb verlassen. Doch gehen solche Rentenfonds gelegentlich bankrott, wodurch die Arbeiter sowohl ihre Stelle als auch ihren Rentenanspruch verlieren. Demgegenüber ist das System der Rentensparkonten völlig unabhängig von dem Unternehmen, bei dem ein Arbeitnehmer beschäftigt ist. Weil das System ganz auf den Arbeitnehmer und nicht auf das Unternehmen bezogen ist, kann der Arbeitnehmer sein Konto sozusagen mitnehmen. Auch kann – da das Fondskapital in börsengängigen Wertpapieren investiert werden muss – ein Rentensparkonto von Tag zu Tag neu bewertet und deswegen auch leicht von einer Rentenfondsverwaltungsgesellschaft zur anderen transferiert werden. Somit wird auch das Problem der starren Bindung an den Arbeitsplatz vermieden. Da das neue System die Mobilität der Arbeitskräfte innerhalb wie ausserhalb des Landes nicht beeinträchtigt, wird einerseits mehr Flexibilität am Arbeitsmarkt geschaffen, andererseits werden Einwanderer weder besonders gefördert noch besonders benachteiligt. Zur Flexibilität gehört auch, dass immer mehr Menschen sich dafür entscheiden, jeden Tag nur ein paar Stunden zu arbeiten oder aber zeitweise ganz aus dem Arbeitsleben auszuscheiden: letzteres gilt vor allem für Frauen und junge Menschen. Beim Umlageverfahren können dadurch das System in Bedrängnis bringende weitere Beitragslücken entstehen, die zu stopfen immer wieder zum Politikum werden kann. Beim System des Rentenkontosparens hingegen stellen unregelmässige Beiträge überhaupt kein Problem dar. Die Bewältigung des Übergangs Soll in einem Land, das bislang dem Umlageverfahren anhängt, das ganz anders konzipierte System der Rentensparkonten eingeführt werden, stellen sich natürlich Übergangsprobleme, deren Lösung die komplexen Gegebenheiten im jeweiligen Land zu berücksichtigen hat. In Chile haben wir für die Übergangszeit drei Grundregeln festgelegt: 1. Die Regierung garantiert all jenen, die bereits eine Rente nach dem bisherigen System beziehen, dass die Höhe ihrer Pensionen durch die Reform nicht beeinflusst wird. Dies ist besonders deswegen wichtig, weil die staatliche Sozialversicherung, wie oben beschrieben, natürlich von jenen Arbeitnehmern, die in das neue System überwechseln, keine Beiträge mehr erhält. Damit ist sie aber auch nicht mehr in der Lage, aus eigenen Mitteln weiterhin Renten auszuzahlen. Andererseits kann den Senioren in diesem Lebensabschnitt eine Änderung ihrer Bezüge oder Anwartschaften nicht zugemutet werden.

2. Jedem Arbeitnehmer, der nach dem Umlageverfahren bereits Beträge entrichtet, steht die Wahl offen, entweder im alten System zu verbleiben oder aber in das neue System überzuwechseln. Wer das alte System verlässt, erhält als «Anerkennung» eine Obligation, die seinem neuen Rentensparkonto gutgeschrieben wird. Es handelt sich hier um eine Indexanleihe mit einem Realzinssatz von vier Prozent. Diese Obligationen werden von der Regierung erst nach Erreichen des gesetzlichen Rentenalters ausbezahlt. Sie können an Sekundärmärkten gehandelt werden, um einen vorgezogenen Ruhestand zu ermöglichen. Der Wert der Anleihe entspricht der Höhe der Anwartschaften, die der Arbeitnehmer durch seine Beitragszahlungen im Umlageverfahren bereits erworben hat. Ein Arbeitnehmer, der bereits jahrelang Beiträge in die Rentenversicherung gezahlt hat, steht also bei seinem Eintritt in das neue System nicht mit leeren Händen da. 3. Wer neu auf den Arbeitsmarkt kommt, ist grundsätzlich zum Eintritt in das neue System verpflichtet. Der Zugang zum Umlageverfahren ist ihm oder ihr aufgrund der Unhaltbarkeit dieses Systems versperrt. Damit ist sichergestellt, dass das alte System zu dem Zeitpunkt vollständig erlischt, zu dem der letzte noch darin verbleibende Arbeitnehmer das Rentenalter erreicht. Von diesem Zeitpunkt an ist die Regierung lediglich noch für eine begrenzte Zeit verpflichtet, an die Pensionäre des alten Systems Rente zu zahlen. Ende in Sicht stellen Gerade die Festlegung auf dieses vorausberechenbare Ende des alten Umlagesystems ist von entscheidender gesamtgesellschaftlicher Bedeutung, denn nur dadurch werden die politischen Zugriffsmöglichkeiten auf diesen Teil des persönlichen Lebens der Bürger verlässlich eingeschränkt. Würde das Umlageverfahren lediglich reduziert und nicht ein für alle Mal abgeschlossen, bliebe es bei der latenten staatlichen Bevormundung und den Möglichkeiten politischen Zugriffs. Nach einer mehrmonatigen Debatte über die geplanten Reformen wurde das Rentenreformgesetz am 4. November 1980 gebilligt. Zuvor war es der Bevölkerung im Rahmen eines Kommunikations- und Bildungsprogramms im einzelnen erläutert worden. Um allen interessierten Finanzdienstleistern gleiche Chancen bei der Gründung einer Rentenfondsverwaltungsgesellschaft zu sichern, sah das Gesetz eine sechsmonatige Sperrfrist vor, während der den Unternehmen jede Tätigkeit und auch jede Werbung untersagt war. Dieser Sektor steht also insofern einzigartig da, als sowohl seine Konzeption am 4. November 1980 als auch seine Einrichtung am 1. Mai 1981 jeweils einem ganz bestimmten Datum zuzuordnen sind. Wie in vielen anderen Ländern ist der 1. Mai auch in Chile der Tag der Arbeit. Das Datum war also keineswegs zufällig gewählt. Symbole sind wichtig, und so gibt auch dieser Feiertag den Arbeitnehmern die Gelegenheit, den 1. Mai nicht nur als Tag des Klassenkampfes, sondern auch als den Tag zu feiern, an dem ihnen die Freiheit gegeben wurde, über ihr Rentensystem selbst zu bestim33


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men und sich so von «den Ketten» der vom Staat betriebenen und bestimmten Sozialversicherung zu befreien. Der Arbeitnehmer sieht, was er bekommt Aber zusätzlich zu den Arbeitnehmern profitieren auch die Arbeitgeber und damit letztlich der Arbeitsmarkt von der Einrichtung des neuen Systems. Denn im Rahmen einer Neufestlegung wurde der Arbeitgeberbeitrag zur Rentenversicherung alter Art grösstenteils den Bruttolöhnen zugeschlagen. Zwar wurde der verbleibende Rest des früheren Arbeitgeberbeitrags in Form einer befristeten Arbeitsmarktabgabe zur Finanzierung der Übergangsphase verwendet. Doch nach der im Rentenreformgesetz vorgesehenen vollständigen Abschaffung dieser Abgabe verringern sich für den Arbeitgeber die Kosten für die Einstellung eines Arbeitnehmers. Die Beiträge der Arbeitnehmer werden von dem dergestalt erhöhten Bruttolohn einbehalten. Da nach dem neuen System ein insgesamt niedrigerer Beitrag erhoben wurde, stiegen die Nettolöhne derjenigen, die sich dem neuen System angeschlossen hatten, um etwa 5 Prozent an. Damit konnten wir auch die täuschende Vorstellung aus der Welt schaffen, die Sozialversicherung werde von Arbeitgebern und Arbeitnehmern gemeinsam getragen – ein Trick, der es immer wieder ermöglichte, die Beitragssätze aus politischen Motiven zu manipulieren. Denn wirtschaftlich betrachtet trägt der Arbeitnehmer fast die gesamte Last der Sozialabgaben, weil das Arbeitsangebot insgesamt äusserst unelastisch ist. Auch werden sämtliche Beiträge letztendlich aus der Grenzproduktivität der Arbeitnehmer bezahlt. Denn dem Arbeitgeber bleibt gar nichts anderes übrig, als seinen Beschäftigungsentscheidungen sowohl die Lohnkosten wie auch die Lohnnebenkosten in Form von Sozialversicherungsbeiträgen zugrunde zu legen. Durch die Umbenennung der einstigen «Arbeitgeberbeiträge» stellt das System ganz klar heraus, dass sämtliche Beiträge von den Arbeitnehmern stammen. In einem solchen Szenario wird das Lohnniveau letztlich vom unbestechlichen Zusammenspiel der Marktkräfte und nicht von politischen Motiven bestimmt. Natürlich wirft die Finanzierung des Übergangs eine Reihe komplexer Probleme auf, die von Land zu Land auf unterschiedliche Weise gelöst werden müssen. Die aus dem Umlageverfahren resultierende Verschuldung des chilenischen Systems ist von der Weltbank auf etwa 80 Prozent des Bruttosozialprodukts von 1980 geschätzt worden. Dabei hat sich das Niveau dieser Verschuldung noch aufgrund einer Reform des alten Systems im Jahre 1978 verringert, in deren Rahmen das Indexierungsverfahren rationalisiert, das System der Sonderregelungen abgeschafft und das Rentenalter angehoben wurde. In der gleichen Studie bezeichnete die Weltbank Chile als «Beweis dafür, dass ein Land mit einem einigermassen konkurrenzfähigen Bankwesen, einem gut funktionierenden Kapitalmarkt und einem gewissen Grad an makroökonomischer Stabilität auch beträchtliche übergangsbedingte Defizite ohne grosse Auswirkungen auf die Zinsen finanzieren kann».1 34

In Chile wurden zur kurzfristigen Finanzierung des Übergangs zum System der Rentensparkonten folgende fünf Verfahren angewendet: 1. In der Bilanz des Staates, in der eigentlich jede Regierung ihre Aktiva und Passiva nachweisen sollte, wurden die aus dem staatlichen Rentensystem erwachsenden Verpflichtungen zum Teil durch den Wert der Staatsbetriebe und anderer Vermögenswerte ausgeglichen. Aus diesem Grund stellt die Privatisierung nicht nur ein Verfahren zur Finanzierung des Übergangs dar, sie ist auch in anderer Hinsicht vorteilhaft: die Effizienz wird gesteigert, die Vermögensbildung angeregt und die Wirtschaft entpolitisiert. 2. Da in einem Kapitaldeckungssystem die zur Finanzierung angemessener Renten erforderlichen Beitragssätze niedriger sind als in einem System der Sozialabgaben, konnte ein Bruchteil der Differenz als zeitlich begrenzte Übergangsabgabe verwendet werden, ohne die Nettolöhne zu schmälern oder die Lohnkosten für den Arbeitgeber zu steigern. 3. Durch Neuverschuldung können die Kosten des Übergangs auf zukünftige Generationen verteilt werden. In Chile wurden etwa 40 Prozent der Kosten über Regierungsschuldverschreibungen zu marktgerechten Zinssätzen finanziert. Zum grossen Teil wurden diese Obligationen von den Rentenfondsverwaltungsgesellschaften für ihre Investitionsportefeuilles aufgekauft. Diese «Überbrückungsverschuldung» wird wahrscheinlich zu dem Zeitpunkt vollständig getilgt sein, zu dem uns der letzte Pensionär des alten Systems verlässt. 4. Der Zwang, den Übergang finanzieren zu müssen, bietet einen kräftigen Anreiz zur Beschneidung verschwenderischer Staatsausgaben – ein Argument, das bereits seit Jahren mit Erfolg verwendet wird, um ungerechtfertigte neue Ausgabenwünsche zu unterbinden. 5. Die durch das neue System geförderte Steigerung des Wirtschaftswachstums hat das Steueraufkommen allgemein und die Mehrwertsteuereinnahmen im besonderen wesentlich erhöht. Nur 15 Jahre nach der Rentenreform erwirtschaftete Chile bereits Etatüberschüsse. Die Ergebnisse Die Rentenfondsverwaltungsgesellschaften haben bereits einen Investmentfonds im Wert von 120 Milliarden Dollar akkumuliert. Für ein Entwicklungsland mit einer Bevölkerung von 15 Millionen und einem Bruttosozialprodukt von 150 Milliarden Dollar ist das eine ungewöhnlich hohe Agglomeration von intern erwirtschaftetem Kapital. Mit diesem langfristig verfügbaren Investmentkapital wurde nicht nur das Wachstum der Wirtschaft mitfinanziert. Angeregt wurde auch die Entwicklung effizienter Finanzmärkte und Finanzinstitutionen. Die Entscheidung, zunächst das Rentenkontosparen einzurichten und erst danach die grossen staatlichen World Bank: Averting the Old Age Crisis. Oxford: Oxford University Press, 1994. S. 268.

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«Wir konnten auch die täuschende Vorstellung aus der Welt schaffen, die Sozialversicherung werde von Arbeitgebern und Arbeitnehmern gemeinsam getragen – ein Trick, der es immer wieder ermöglichte, die Beitragssätze aus politischen Motiven zu manipulieren.» José Piñera

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Unternehmen zu privatisieren, hat zu einer Abfolge glücklicher Umstände geführt. Auch die Arbeitnehmer konnten aus dem hohen Produktivitätszuwachs der privatisierten Unternehmen einen hübschen Gewinn ziehen, denn durch die höheren Aktienkurse wuchs auch der Ertrag ihrer Rentensparkonten. Damit sicherten sie sich einen grossen Anteil an dem Wohlstand, der durch den Privatisierungsprozess geschaffen worden war. Es gibt etwa sieben Rentenfondsverwaltungsgesellschaften, die eine recht heterogene Gruppe darstellen. Einige gehören Versicherungs- oder Bankkonzernen, während andere sich im Eigentum der Arbeitnehmer befinden oder aber an Gewerkschaften beziehungsweise Industrie- und Gewerbeverbände gebunden sind. An einigen sind auch internationale Finanzfirmen wie ING, BBVA oder Banco de Santander beteiligt. Einige der grösseren Pensionsfondsverwalter werden ihrerseits an der chilenischen Börse gehandelt, und eine dieser Firmen hat sogar an der Wall Street Zertifikate über die Hinterlegung ausländischer Aktien ausgegeben, unterstützt von der kurz zuvor erfolgten Einstufung der chilenischen Regierungsanleihen in die Kategorie A+.

gehen, ihre «Sparüberschüsse», die den Grenzwert von 70 Prozent ihres Gehalts überschreiten, auf einmal abheben. Würde man diese Summen in die Berechnung der Rentenwerte miteinbeziehen, so beliefe sich der Gesamtwert auf fast 84 Prozent des Arbeitseinkommens. Auch die Invalidenrenten erreichen im Durchschnitt rund 70 Prozent des Arbeitseinkommens. Das neue System hat damit einen bedeutenden Beitrag zur Eindämmung der Armut geleistet. Denn einerseits haben sich Wert und Sicherheit der Alters-, Hinterbliebenen- und Erwerbsunfähigkeitsrenten erhöht, andererseits wurden Wirtschaftswachstum und Beschäftigung auf indirekte Weise kräftig gefördert. Schliesslich hat das neue System auch den Ungerechtigkeiten des alten Verfahrens ein Ende gesetzt. Zwar wird nach allgemeiner Ansicht im Umlageverfahren bei der Rentenversicherung das Einkommen von den Reichen auf die Armen verteilt. Untersuchungen lassen jedoch erkennen, dass dies keineswegs so ist. Häufig genug verteilen Umlageverfahren in einer Weise um, dass die Wohlhabenden und besonders die einflussreichsten Gruppen unter den Arbeitnehmern den grössten Vorteil daraus ziehen.

Sichtbare Risiken Das neue System hat insgesamt ganz wesentlich zur Steigerung der Kapitalproduktivität und damit auch zur Steigerung der Wachstumsrate der chilenischen Wirtschaft beigetragen. Durch das System der Rentensparkonten wurde der Kapitalmarkt effizienter gestaltet und in seinem Wachstum während der letzten 15 Jahre beeinflusst. Die riesigen Summen, die von den Pensionsfondsverwaltern betreut werden, haben zur Schaffung neuer Finanzinstrumente wie auch zur Weiterentwicklung bereits existierender, aber noch unterentwickelter Instrumente geführt. Weitere Beiträge der chilenischen Rentenreform zur Stabilität und Transparenz des Kapitalmarkts bestehen in der Schaffung eines eigenen Risikobewertungswesens und in der Verbesserung des Führungsstils in einzelnen Unternehmen. Die Pensionsfondsverwaltungsgesellschaften haben Aufsichtsmandate in den Unternehmen, an denen sie Anteile besitzen, was der häufig anzutreffenden Selbstzufriedenheit mancher Vorstände deutliche Schranken setzt. Seit dem Beginn des Systems am 1. Mai 1981 beläuft sich die durchschnittliche reale Kapitalrendite auf etwa 10,3 Prozent jährlich (statt des ursprünglich angenommenen Ertrags von 4 Prozent). Natürlich weisen die jährlichen Erträge Schwankungen zwischen minus 3 Prozent und plus 30 Prozent real auf, wie sie für den freien Markt typisch sind; die wichtigste Ertragszahl bleibt jedoch der langfristige Durchschnittswert. Im Vergleich mit den Leistungen des alten staatlichen Systems, das auf der Beitragsseite insgesamt etwa 25 Prozent an Sozialbeiträgen erforderte, sind die Rentenzahlungen nach dem neuen System beträchtlich gestiegen. Nach einer Studie von Sergio V. Baeza erhält der durchschnittliche Rentner des neuen Systems eine Pension im Wert von 78 Prozent seines Durchschnittseinkommens aus den letzten 10 Jahren seines Arbeitslebens.2 Wie schon ausgeführt, können Arbeitnehmer, die in Rente

Entscheid liegt bei Arbeitnehmern Es ist nach alledem nicht überraschend, dass sich das System der Rentensparkonten in Chile als höchst populär erwiesen und die soziale und wirtschaftliche Stabilität des Landes gestärkt hat. Die Arbeitnehmer schätzen die Durchschaubarkeit des Systems und haben dank ihrer Rentensparkonten inzwischen ein direktes Interesse an der Wirtschaft entwickelt. Da die privaten Rentenfonds ganz beträchtliche Anteile an den grossen Unternehmen in Chile halten, investieren die Arbeitnehmer auf diese Weise ihr Kapital zugleich in die Zukunft des Landes. Als das neue System 1981 in Chile eingeführt wurde, stellte man es den Arbeitnehmern frei, im alten System zu bleiben oder dem neuen beizutreten. Eine halbe Million chilenischer Arbeitnehmer, ein Viertel aller Antragsberechtigten, entschied sich daraufhin für das neue System und trat ihm bereits im ersten Monat bei – weit mehr als die ursprünglich erwarteten 50 000 Arbeitnehmer. Bis heute haben sich mehr als 95 Prozent der chilenischen Arbeitnehmer, die früher dem alten System angehörten, für das neue entschieden. Im Jahr 2007 verfügten 7 Millionen Chilenen über Rentensparkonten, wobei allerdings nicht alle diese Konten aktiven Vollzeitbeschäftigten gehörten, so dass folglich auch nicht auf alle Konten Monat für Monat Beiträge eingezahlt wurden. Letztlich entscheidend und in die Zukunft weisend ist die Erkenntnis: Wenn man den Arbeitnehmern in der Frage der Geldanlage für ihre Alterssicherung die Wahl lässt, dann entscheidet sich die grosse Mehrheit von ihnen für den Markt – selbst dann, wenn es sich um so einen zentralen Gegenstand wie die soziale Sicherheit handelt.

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Sergio V. Baeza und Francisco Margozzini Cahis (Hrsg.). Quince años despues: Una mirada al sistema privado de pensiones. Santiago: Centro de Estudios Publicos, 1995.

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«Wenn man den Arbeitnehmern in der Frage der Geldanlage für ihre Alterssicherung die Wahl lässt, dann entscheidet sich die grosse Mehrheit von ihnen für den Markt.» José Piñera

In dem Masse, in dem das staatliche Rentensystem damit abgebaut wird, verlieren Politiker und Verbandsvertreter ihre Entscheidungsbefugnisse darüber, ob, inwieweit und für welche Zielgruppen die Renten angehoben werden sollen oder nicht. Damit sind die Renten auch nicht mehr, wie früher, Gegenstand politischer Konflikte und demagogischer Wahlreden. Die Höhe der Rente eines jeden einzelnen hängt stattdessen einfach von seiner eigenen Leistung und von der Leistungsfähigkeit der Wirtschaft insgesamt ab, nicht aber von der Regierung oder dem Druck von Interessengruppen. Sicherheit im Ruhestand Für die Chilenen verkörpert ihr Rentensparkonto ganz reale und greifbare Eigentumsrechte – es bildet die Grundlage für ihre Sicherheit im Ruhestand. Nach 22 Jahren Erfahrung mit dem neuen System ist der wichtigste Besitz des durchschnittlichen chilenischen Arbeitnehmers nicht mehr sein Gebrauchtwagen oder sein kleines Haus, auf dem vermutlich eine Hypothek lastet, sondern das auf seinem Rentenkonto angesparte Kapital. Nicht zuletzt hat das private Rentenwesen auch tiefgreifende politische und kulturelle Auswirkungen. Die überwiegende Mehrheit der chilenischen Arbeitnehmer, die sich für das neue System entschieden haben, hat diese Entscheidung schneller vollzogen als die Deutschen nach dem Fall der Mauer ihre ge-

dankliche Umstellung von einem System aufs andere. Die chilenischen Arbeitnehmer fassten den freien Entschluss, aus dem alten System auszutreten, obwohl einige nationale Gewerkschaftsführer und Mitglieder der alten politischen Klasse ihnen ausdrücklich davon abgeraten haben. Doch Angelegenheiten, die für ihr eigenes Leben von unmittelbarer Wichtigkeit sind, wie Gesundheit, Bildung und Altersvorsorge, liegen den Arbeitnehmern entsprechend am Herzen. Deshalb fällen sie ihre Entscheidungen mit gesundem Menschenverstand und mit Rücksicht auf ihre Familien, nicht aber nach politischen Einflüsterungen oder gar Einschüchterungen. Mit dem neuen Rentensystem hat jeder Chilene ganz persönlich teil an der Wirtschaft. Deshalb steht ein normaler chilenischer Arbeiter heute dem Auf und Ab der Börsenkurse und der Zinsen nicht mehr desinteressiert gegenüber. Er weiss, dass er Anteilseigner seines Landes ist, und zeigt deshalb eine viel stärkere Hinwendung zum Marktgeschehen und zu den Vorzügen einer freien Gesellschaft. Dies war die kurze Geschichte eines Traums, der Wirklichkeit geworden ist. Wir können daraus lernen, dass auch in der heutigen Gesellschaft grosse, in die Zukunft weisende Veränderungen möglich sind, wenn dem einzelnen Menschen wieder genügend Vertrauen entgegengebracht und entsprechende Verantwortung eingeräumt wird. � 37


Schweizer Monat Sonderthema 13 Dezember 2013

Impressum «Schweizer Monat», Sonderthema 13 ISSN 0036 7400 Die Zeitschrift wurde 1921 als «Schweizerische Monatshefte» gegründet und erschien ab 1931 als «Schweizer Monatshefte». Seit 2011 heisst sie «Schweizer Monat». VERLAG SMH Verlag AG HERAUSGEBER & CHEFREDAKTOR René Scheu rene.scheu@schweizermonat.ch Ressort Politik & Wirtschaft Florian Rittmeyer florian.rittmeyer@schweizermonat KORREKTORAT Roger Gaston Sutter Der «Schweizer Monat» folgt den Vorschlägen zur Rechtschreibung der Schweizer Orthographischen Konferenz (SOK), www.sok.ch. GESTALTUNG & PRODUKTION Pascal Zgraggen pascal.zgraggen@aformat.ch MARKETING & VERKAUF Urs Arnold urs.arnold@schweizermonat.ch ADMINISTRATION/LESERSERVICE Anneliese Klingler (Leitung) anneliese.klingler@schweizermonat.ch Rita Winiger rita.winiger@schweizermonat.ch ADRESSE «Schweizer Monat» SMH Verlag AG Vogelsangstrasse 52 8006 Zürich +41 (0)44 361 26 06 www.schweizermonat.ch ANZEIGEN anzeigen@schweizermonat.ch PREISE Jahresabo Fr. 185.– / Euro 135.– 2-Jahres-Abo Fr. 330.– / Euro 245.– Abo auf Lebenszeit / auf Anfrage Einzelheft Fr. 20.– / Euro 17.– Studenten und Auszubildende erhalten 50% Ermässigung auf das Jahresabonnement. DRUCK pmc Print Media Corporation, Oetwil am See www.pmcoetwil.ch BESTELLUNGEN www.schweizermonat.ch

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