964 (September/Oktober 2008)

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SCHWEIZER MONATSHEFTE

Guter Wein und gutes Essen gehören zusammen. Deshalb bilden jetzt auch zwei Magazine, die sich beide bedingungslos dem Genuss verschrieben haben, ein Paar: VINUM, Europas Weinmagazin und marmite, die Zeitschrift für Esskultur. Aufgetischt wird kein verlegerisches Einerlei. Jede Zeitschrift hat eine eigene Aufmachung, einen eigenen Stil, eigene Ideen und eigene Macher. Die einzigen Gemeinsamkeiten sind das hohe journalistische Anspruchsniveau und die Versessenheit der Text- und Bildautoren, die die Geschichten recherchieren und präsentieren. www.intervinum.ch Für 20 Franken können Sie VINUM und marmite dreimal entdecken. Telefon +41 44 268 52 40, Fax +41 44 268 52 05, E-Mail info@intervinum.ch Auch für eine Anzeigendokumentation.

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E U R O PA S W E I N M A G A Z I N

Dossier:

Spitzen, Frauen, Freiheit

September/Oktober 2008 Fr. 17.50 / € 11.00

Zeitschrift für Politik Wirtschaft Kultur / seit 1921

SCHWEIZER MONATSHEFTE 964

Jahresabo


SCHWEIZER MONATSHEFTE Vogelsangstrasse 52 8006 Zürich SCHWEIZ

Die multimediale Vorlesungsreihe

Bitte ausreichend frankieren

EuroKultur von und mit Dr. phil. Monique R. Siegel

Abonnement

Was macht Sie und mich zu Europäern? Wo sind unsere gemeinsamen Wurzeln? Woher stammt unser Konzept einer direkten Demokratie? Dr. phil. Monique R. Siegel Wirtschaftsberaterin, Bestseller-Autorin, Dozentin und Zukunftsforscherin. An Veranstaltungen und in den Medien äussert sie sich zu Themen aus Politik, Wirtschaft, Bildung und Kultur. Mit ihrer multimedialen Vorlesungsreihe EuroKultur hat sie 2004 Bildungsneuland betreten.

Ein Jahresabo kostet Fr. 130.- / € 87.- (mit Lieferadresse im Ausland: Fr. 156.- / € 104.-). Pro Jahr erscheinen 8 Ausgaben. Auszubildende und Studierende erhalten eine Ermässigung von 50%. (www.schweizermonatshefte.ch) Ich möchte die Schweizer Monatshefte abonnieren. Ich möchte ein Probeabo bestellen: 3 Hefte für Fr. 30.- bzw. € 23.Ich bitte um Zusendung eines kostenlosen Probeheftes. Mich interessieren v.a. Themen aus ( ) Politik, ( ) Wirtschaft, ( Lieferadresse (für Geschenkabos)

) Kultur.

Rechnungsadresse

In einer mehrsemestrigen Vorlesungsreihe lernen Sie die Wurzeln der europäischen Kultur kennen. Kein anderer Kontinent bietet eine solche Vielfalt an Geschichte, Architektur, Musik, Kunst und Literatur. Datum / Unterschrift 08_09/10

Die Vorlesungen finden statt im Hotel Central in Zürich Reiseprogramm und Anmeldung: www.eurokultur.ch

www.nestle.com

SCHWEIZER MONATSHEFTE

Zeitschrift für Politik Wirtschaft Kultur

Einladung

Life is sharing

Angelika Schett, Redaktorin «Gesellschaft» (Radio DRS2), im Gespräch mit Dr. Monique R. Siegel zum Thema

Die Kunst der enthüllenden Verhüllung Erotik von der Antike bis heute

10. November 2008, 18 bis ca. 21 Uhr, im Theater Stok Zürich. Teilnahme kostenlos.

Info: www.eurokultur.ch

Annelies Štrba, aus «Nyima» 2008


Inhalt September/Oktober 2008

editorial/impressum

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carte blanche Die unsterbliche Quizfrage

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Isolde Schaad

Galerie Die Foto- und Videokünstlerin Annelies Štrba

Suzann-Viola Renninger

BLOGs, REDE & WIDERREDE

Annelies Štrba, aus «Aya», 2003

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positionen Die EU-Zyniker Slavoj Žižek Wir sind pleite James Quinn Wir müssen uns entscheiden Michael S. Rozeff Vom Privileg, das Wachstum zu kritisieren Benno Luthiger Wenn die Verantwortung schwindet Karin Keller-Sutter L’Etat, c’est moi – et toi Matthias Jenny Vivisektion des Gutmenschentums, Teil II Roland Baader

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Dossier Spitzen, Frauen, Freiheit (0) Auftakt Suzann-Viola Renninger (1) Im eigenen Zimmer mit sich allein Beate Rössler (2) Eine Tür mit Schloss Sarah Quigley (3) Das Persönliche ist auch das Politische Annette Hug (4) Ein Spitzenhemd für ein Dadareich Alma-Elisa Kittner (5) In Spitzencorsage auf die Bühne Elke Buhr (6) Auch in Spitzen zu Haus keine Lust Svenja Flaßpöhler

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UNTERNEHMERGESPRÄCHE «Ich habe mit Tellerwaschen angefangen»

Rosmarie Michel

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fokus Von der Kunst, den «Grünen Heinrich» zu lesen Folge V: Frauenbilder Sabine Schneider

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literatur Schweizer Literatur in Kurzkritik XI

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PREISVERGABE Das Mehrheitsprinzip und die Freiheit anstoss Was heisst denn hier Freiheit? vorschau

Nr. 08, 2008 Schweizer Monatshefte

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Robert Nef

Vesselina Kasarova

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Editorial

Frauen bleiben zu Hause, Männer erobern die Welt. Auch wenn das heutzutage nicht mehr in dem Masse gilt wie noch vor 50 Jahren, so ist doch die Assoziation geblieben, die das Adjektiv «weiblich» gern mit «passiv» und «privat» gruppiert, das Adjektiv «männlich» hingegen eher im semantischen Zusammenhang mit «aktiv» und «öffentlich» sieht. Dass der Rückzug ins Private Fundament und Inspiration für eine internationale Karriere sein kann, beweist die Künsterlin Annelies Štrba (ab. S. 3). Und in unserem Dossier «Spitzen, Frauen, Freiheit» erfahren Sie, warum das «eigene Zimmer» für einen autonomen Lebenslauf und ein Leben in Freiheit unerlässlich ist (ab. S. 19). Der Ex-CEO und Ex-Chairman der US-Bank Citigroup, Charles Prince, äusserte im Juli 2007 einige Sätze, die im Rückblick ebenso zynisch wie luzide anmuten: «Wenn die Musik – im Sinne von Liquidität – aufhört, werden die Dinge kompliziert. Aber solange die Musik spielt, musst du aufstehen und tanzen. Wir tanzen immer noch.» Das hat sich inzwischen geändert. Hat der Markt versagt oder war das Problem vielleicht doch eher eine unheilige Allianz von Big Business und Big Government? Wir bringen in den «Positionen» zwei Texte von US-amerikanischen Autoren, die sich erst einmal die Augen reiben (S. 9 & 10). In der Novemberausgabe werden wir die Finanzkrise, wenn sich der Nebel gelichtet hat, mit klarerem Blick analysieren. Einen klaren Blick in ihrem langen und erfolgreichen Leben hat Rosmarie Michel bewiesen. Lesen Sie ab S. 38, wie sie zu einer erfolgreichen Unternehmerin wurde und wie sie die Jahrzehnte erlebt hat, in denen in der Schweiz um das Frauenstimmrecht gerungen wurde. Erfolgreich im Leben sind auch zwei weitere Frauen: die Schriftstellerin Isolde Schaad schreibt über die letzten Fragen (S. 3), und die Mezzosopranistin Vesselina Kasarova erklärt, warum Carmen und Don Juan viele Gemeinsamkeiten haben (S. 63). Auch wenn diese Ausgabe den Frauen gewidmet ist – den Erfolg unseres Kollegen Robert Nef wollen wir nicht unterschlagen. Für sein Lebenswerk hat er kürzlich in Freiburg i.Br. die Friedrich-August-von-Hayek-Medaille erhalten und sich mit einer Rede über das «Mehrheitsprinzip und die Freiheit» bedankt (ab S. 58).

Impressum schweizer monatshefte, 964 88. Jahr, Ausgabe September/Oktober 2008 ISSN 0036-7400 Herausgeber Robert Nef, Suzann-Viola Renninger, René Scheu Ressort politik & Wirtschaft René Scheu Ressort Kultur Suzann-Viola Renninger Redaktionsassistenz Brigitte Kohler Korrektorat Reinhart R. Fischer Gestaltung und Produktion Atelier Varga, Suzann-Viola Renninger Vorstand Konrad Hummler (Präsident), Thomas Sprecher (Vizepräsident), Max Albers, Georges Bindschedler, Andreas Burckhardt, Margrit Hahnloser, Ulrich Pfister, Urs B. Rinderknecht, Gerhard Schwarz, Michael Wirth Adresse Schweizer Monatshefte CH-8006 Zürich, Vogelsangstrasse 52 Telefon 0041 (0)44 361 26 06 www.schweizermonatshefte.ch Anzeigen Schweizer Monatshefte, Anzeigenverkauf inserate@schweizermonatshefte.ch Preise Schweiz jährlich Fr. 130.– / € 87.– Ausland jährlich Fr. 156.– / € 104.– Einzelheft Fr. 17.50 / € 11.– Studierende und Auszubildende erhalten 50% Ermässigung auf das Jahresabonnement. Druck Sihldruck AG

Um unsere nun schon 87jährige Zeitschrift weiterhin vital in die Zukunft zu führen, brauchen wir nicht nur Enthusiasmus, Zuversicht und zahlreiche Leser, sondern auch gesunde Finanzen. Wir haben deshalb einen «Freundeskreis der Schweizer Monatshefte» gegründet. Konzept und eine aktuelle Liste der Gönner werden wir in unserer nächsten Ausgabe vorstellen. Informationen erhalten Sie schon jetzt unter freundeskreis@schweizermonatshefte.ch. Die Herausgeber

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Nr. 09/10, 2008 Schweizer Monatshefte


carte blanche Isolde Schaad

Carte Blanche für Isolde Schaad Die unsterbliche Quizfrage

Isolde Schaad, geboren1944, lebt als Schriftstellerin in Zürich. Foto: Ayse Javas

Als ich jung war, und studierte, war in den Wandelhallen des Geistes folgendes Raunen zu vernehmen: «Ich bin. Aber ich habe mich nicht. Darum werden wir erst.» Das war der Bloch-Ton, der den Goethe-Ton ablöste, der bisher von einem berühmten Namen verwaltet worden war, vom Ordinarius für Germanistik, Emil Staiger. Mit Ernst Bloch und diesem ersten Satz aus «Spuren» hob nun die linke Philosophie ab, und waltete für ein gutes Jahrzehnt an den meisten Lehrstühlen deutscher Sprache und Dichtung. Es ging nach wie vor darum, Fragen zu klären, die als die letzten Fragen bekannt sind. Alle unsere intellektuellen Referenzen kreisten um sie. Vom erwähnten Ernst Bloch, über Herbert Marcuse, Theodor W. Adorno und die Frankfurter Schule, hinüber zu Claude Lévy-Strauss, Roland Barthes, Michel Foucault und den Franzosen überhaupt. Und besonders kreisten sie mit unserem ersten Beichtvater des abtrünnigen Denkens, mit Walter Benjamin. Doch niemand unter diesen Geistesgrössen wusste das Zauberwort brauchbar zu entschlüsseln, um welches das Raunen kreist: die Identität. Abhilfe kam dann plötzlich von ungeahnter Seite, nämlich vom Fernsehen und seinen Propheten. Jetzt waren die Quizmaster an der Reihe, die letzten Fragen zu stellen. Sie stellten sie volksnah und direkt, und waren im Unterschied zu den Philosophen effizient und erfolgreich. Ich war zu jener Zeit noch ziemlich jung, also gefragt, und wurde etwa mit folgender Frage konfrontiert: «Frau Schaad, wer sind Sie? Sind Sie vielleicht ein Landei?» Der gewiefte, damals gefürchtete Interviewer setzte auf Widerspruch, und ich habe pariert.

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Mit den Quizsendungen bin ich älter geworden, und mit den Quizsendungen gehe ich auf jenen Lebensabschnitt zu, der einem höflich aber bestimmt um die Ohren geschlagen wird: «Nett, dass Sie da waren, aber nun wird es Zeit für Sie». Auf den Ämtern und im Stellenanzeiger wird Menschen meines Jahrgangs, insbesondere den weiblichen Menschen, dann weniger höflich beigebracht, ans Abtreten zu denken. Die Quizsendungen, mit mir in die Jahre gekommen, denken hingegen überhaupt nicht daran. Sie tanzen, fern davon, sich wie ich als Auslaufmodell zu outen, auf allen Kanälen und sind zäher denn je. Wer bin ich, Was bist du, Wetten, dass du, und so weiter. Die unsterbliche, oder sagen wir genauer, die nicht sterbewillige Quizsendung weiss je länger desto taktischer mit sich umzugehen. Sie lädt jetzt, da sie jedes Jahr älter wird – wie ich; und jedes Jahr ein Jahr älter geworden sein wird, wie ich; eine Feststellung, die man erst in unserm Alter versteht –, nun schon die Hundertjährigen ein, und fragt: «Johannes Heesters, wer sind Sie und was haben sie in den nächsten zwanzig Jahren vor?» Sie ist so klug, auch greise weibliche Intellektuelle zu sich zu rufen: «Was für eine Frau ist man Anfang Neunzig, wenn man Margarethe Mitscherlich heisst?» So betreibt die Quizsendung taktisch schlau ihre Altersvorsorge. Das wäre nicht nötig; denn im Unterschied zu mir braucht sie an keine Zukunft zu denken, denn das Fernsehen hat, wohl aus wirtschaftlichen Gründen, die absolute Gegenwart erklärt. Das behutsame, etwas brüchige philosophische Raunen wie jenes Blochsche «darum werden wir erst», erübrigt sich, wenn die Quizsendung der Goetheschen Aufforderung: «Werde, der du bist» telegen so gründlich nachkommt, dass man sowohl den Bloch- als den Goethe-Ton endgültig entsorgen kann. Für die «Carte Blanche» laden wir jeweils einen Autor zu freien Assoziationen zum Thema des Dossiers ein.

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Galerie Annelies Štrba

Innenaugenbilder Die Fotokünstlerin Annelies Štrba Suzann-Viola Renninger

Wenn man bei Tageslicht die Augen schliesst und in die Sonne blickt, dann entstehen Farben, für die es keine gewohnten Adjektive gibt. Es ist, als ob sie aus einer Quelle im Bauch, oder von irgendwoanders tief ein einem drin, in öligen Blasen aufstiegen, gegen die Augendeckel drängten und dort in kleinen Explosionen zerstöben, lavastrom-bluterguss-paprikarot. Wenn man nun ein wenig mit den flachen Fingern beider Hände gegen die geschlossenen Augenlider drückt, entstehen spiralförmig sich ausbreitende Farbkreise, auberginen-gewitterhimmel-schwertlilienblau. Und wenn man dann die weiterhin geschlossenen Augen ein wenig auseinanderzieht, spannt sich ein Segel, katzenaugen-wasabi-buchenknospengrün. Lässt man ihnen nur ein wenig Zeit, dann greifen sich die Farben Bilder aus der Schatztruhe der Erinnerung und lassen sie für Momente im Licht unseres Bewusstseins treiben: Innenaugenbilder. Doch nimmt man dann die Finger wieder von den Augen und öffnet diese, ist der Spuk vorbei. Die Augen schmerzen, die Sonne blendet. Allein Annelies Štrba scheint den Zauberspruch zu kennen, um solche Bilder einzufangen und aufzunadeln wie schillernde Libellen oder grossflügelige Schmetterlinge. Ihre Innenaugenbilder finden sich inzwischen rund um die Welt. In Harworth Bilder der Brontë-Schwestern, im Deutschen Bundestag ein Bild von Franz Beckenbauer, in Manhattan Bilder der Wolkenkratzer, in ihren privaten Räumen Bilder ihrer Töchter und Enkelinnen. Wenn man sie fragt, wie es ihr gelingt, diese Bilder zu bannen, dann schweigt sie milde. Welch echte Zauberin würde auch schon ihre Kunst verraten? Nur zwei Sätze sind aus ihr herauszulocken, die sie leichthin sagt, sie ist ja dieses neugierige Fragen gewohnt: erstens, sie schliesse beim Abdrücken des Auslösers die Augen. Das klingt plausibel. Und zweitens, sie greife sich, wolle sie fotografieren, irgendeine Kamera, die erstbeste, die sie gerade in der Nähe finde – und sei es ein mobiles Telefon mit Kamerafunktion – und drücke ab. Blitz, Blende, Körnigkeit und Autofokus? Nein, um Einstellungen kümmere sie sich nicht, habe da keine Ahnung. Lassen wir also das Fragen. Durch halbgeschlossene Lider blickt sie auf einen grossen Bildschirm und fährt elegisch mit einem elektronischen Stift über die Schreibtischauflage, um vor uns Bild um Bild aufzublättern, hunderte, tausende, mir will scheinen: abertausende. Die Erinnerungsschatztruhe ihres Lebens ist reich. Sie erzählt von Sonya und Linda, Shereen und Samuel, von 4

Foto: Shereen

Töchtern, Enkelinnen, Männern und Geliebten. Annelies Štrbas Kleid ist rot, ihre Haare sind blond, die Füsse stecken in hochhackigen elfenbeinfarbenen Sandalen. Wir reisen durch Japan, durchqueren Polen, streifen New York, rasten in einem schottischen Park, werfen einen Blick in eine einsame toskanische Villa, verweilen in Küchen, Schlafzimmern und Stuben der wechselnden Familienhäuser, blättern weiter, weiter, so lange, bis die Zeit die Farben abstreift. Wir sind beim Chaos, der Ursuppe, dem Urknall, dem Anfang von Annelies Štrbas Kosmogonie angelangt. Die Bilder sind verschwommen, schemenhaft und grau, mit einer grossporigen Oberfläche, bereit, die Farben der sich ankündigenden Zukunft aufzunehmen. Alle schlafen. Katzen, Kinder, Teddybären, auch die achtlos verstreuten Kleider und all die Truhen, Schemel, Koffer. Wäschezipfel hängen aus Schubladen, Kinderbeine schauen unter Bettdecken hervor, der Nachtwind bläht die Vorhänge. Noch weiter reicht auch die Zauberkraft einer Annelies Štrba nicht zurück. Es ist wie ein Märchen, wenn sie von ihrem Leben erzählt. Sie heiratet jung, wenige Tage nachdem ihr ein fremder Mann einen selbstgeschmiedeten Veilchenring an den Finger gesteckt hat. Bald wird sie zwei Töchter und einen Sohn bekommen, mit denen sie, so will es mir scheinen,

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galerie Annelies Štrba

immer auf Wanderschaft ist, zwei an der Hand, eines auf dem Rücken. Nachts, wenn die Kinder in ihrer Kammer schlafen, entwickelt sie die Bilder des Tages im Waschzuber der Küche nebenan. Intime Bilder des Alltags, nicht für dritte Augen bestimmt. Bilder, so nebenbei und anstrengungslos entstanden, wie unsereiner zerstreut «Milch, Tomaten, Batterien» auf den Einkaufszettel notiert. Die Bilder landen in Mappen, Schachteln, Umschlägen, ungeordnet, unsortiert. Ein Hort sich stapelnder Erinnerung, von niemandem weiter beachtet. Im einen Augenblick geschaffen, im nächsten wieder vergessen. Die Gegenwart drängt in die Zukunft, lässt keine Zeit, Vergangenes zu wecken. Die Kinder wachsen heran, Freunde kommen und gehen, bunte Kleider drängen auf Kleiderhaken, werden getragen, dann in Truhen verschlossen, Häuser werden gebaut und wieder abgerissen, der erste Enkel wird geboren. Und Annelies Štrba schliesst die Augen und drückt auf den Auslöser. Mehr als zwei Jahrzehnte träumen die Bilder im Kosmos der Familie, in deren Zentrum Annelies Štrba heiter sitzt und ihr weites Sommerkleid wie ein Zelt schützend über alle bauscht. Sie sorgt für Kinder, Enkel, Ehepartner, an eine Berufung zur Künstlerin denkt sie nicht. Doch dann reitet 1990 ein Prinz vorbei (verkleidet als Anstreicher, der vorgibt, bei dem Umbau ihrer Wohnung mitzuarbeiten). Er erhascht zufällig einen Blick in die Familienschatztruhe und nimmt daraufhin kurzerhand die Herrscherin mit in sein Königreich (das er als internationale Karriere ausmalt). Kurz darauf hängen die Fotografien in der Kunsthalle Zürich, es folgen Ausstellungen in Tokio, Düsseldorf, London, Halle, Liverpool, Paris, Madrid, Venedig, Prag, New York. Der private Kosmos wird öffentlich. Doch Annelies Štrba verlässt ihr Zentrum nicht. Weitere Enkel werden geboren und wollen umsorgt sein, bunte Kleider werden erstanden und vergessen, Häuser abgerissen und wieder erbaut, die Wände karmesinrot gestrichen. Und Annelies Štrba schliesst die Augen und drückt auf den Auslöser. *** Annelies Štrba wurde 1947 in Zug geboren und lebt in Richterswil am Zürichsee. Sie hat drei Kinder grossgezogen und ist Grossmutter von fünf Enkeln. Aktuell sind ihre Bilder unter anderem zu sehen in der Galleria Carla Sozzani (Mailand), in der Jason McCoy Gallery (New York) und im Brontë Parsonage Museum (Harworth), und ab November im Kunstmuseum Bern. Zu ihren jüngste Publikationen zählen «Frances und die Elfen» (Arnoldsche Art Publishers) und «My Life Dreams» (Douglas Hyde Gallery). Den meisten Bildern von Annelies Štrba liegen digitale Vorlagen zugrunde. Sie werden mit Tintenstrahl auf Leinwand ausgedruckt, in Grössen von 35 x 50 cm bis zu 125 x 185 cm. Die Auflage von jeder Vorlage beträgt maximal 6 Exemplare. © Annelies Štrba

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Blogs, Rede & widerrede

Blogs, Rede & Widerrede von fünf Autoren, mehr unter www.schweizermonatshefte.ch/blog

Stefan Blankertz, Freiheitsfabrik, http://blog.freiheitsfabrik.de/ Mythos RAF «Ich kenne etablierte Leute …, die als Beamte, leitende Gesellschaft daran gehindert sind, wesentlichen Einfluss Angestellte und sogar als Unternehmer ihren Tätigkeiten auf ihr Leben zu haben, träumen davon, die Zwangsjacke nachgehen, aber beim Thema RAF leuchtende Augen beabzustreifen – und das können sie sich nur als Gewaltkommen. Für mich ist nach wie vor die gestalttherapeutiphantasie vorstellen. Manchmal wird die Phantasie sche These von Goodman am einleuchtendsten: Menschen, blutige Realität. Man schaudert. Aber es ist ein schönes die durch eine völlig durchstruktuierte, verherrschafte Schaudern.» 16. 09. 2008

euckenserbe, Freunde der offenen Gesellschaft, http://blog.fdog.org/ Die verschleppte Krankheit «Den wahren Grund für die Finanzmarktkrise haben wir ken versuchen, die Krise mit mehr Geld zu lösen, desto hier schon öfters erwähnt: es gibt einfach zuviel Geld… länger wird sie dauern. Und desto mehr negative NebenMehr Geld hilft also nicht. Genau damit hat die amerikawirkungen werden sich auf die reale Welt auswirken. Je nische Regierung aber versucht, die Krise zu lösen. Und schneller die Geldmenge reduziert wird, desto schneller damit Öl ins Feuer gegossen… Je länger die Zentralbankehrt auch das Wachstum zurück.» 16. 09. 2008

Robert Nef, SMH Blog, www.schweizermonatshefte.ch/blog/ Haben wir die Regierung, die wir verdienen? «Der Glaube, man gelange zu einer ‹besseren Regierung› durch weise den Stellenwert der Politik so stark reduzieren, dass die ‹bessere Regierende›, bei gleichzeitigem institutionellen StaFührungsqualität der Regierenden keine zentrale Rolle mehr tus quo, ist aus meiner Sicht naiv. Rücktritte bringen wenig, spielt und man sich die Namen der sieben Exekutivmanager wenn diejenigen, die neu gewählt werden, auch nicht besgar nicht mehr zu merken braucht. Politisch geführt werden ser sind. Hauptziel sollte nicht ‹eine bessere Regierung› sein, muss ein Staat nur in Krisenlagen, im Normalfall genügt eine sondern ‹weniger Regierung›. Ich meine, man sollte schrittzuverlässige und sparsame Verwaltungsspitze.» 23. 08. 2008

Boche, B.L.O.G. – Bissige Liberale ohne Gnade, http://www.bissige-liberale.com/ Irrtum? Irrtum! «Die Mauer sei Symbol ‹politischer Verirrung›, sie sei ein keiner hatte sich verirrt. Die Mauer war eine logische Fol‹monströser Irrtum› [meint der Präsident des Deutschen ge sozialistischer Zwangsbeglückung, ein gewollter Akt Bundestages Norbert Lammert]. der herrschenden Clique. Unsinn. Niemand der Verantwortlichen hat sich geirrt, Kein Irrtum. Keine Entschuldigung.» 14. 08. 2008

Martin Müller, Liberalissimus, http://liberalissimus.blogsome.com/ Bussen für Elternabendschwänzer? «Weil es einige Eltern hat, die ihren Nachwuchs nicht zu der der Landstrasse› lässt grüssen –, büssen, einsperren, aus erziehen wissen, sollen alle Kinder möglichst früh in staatden Augen aus dem Sinn. Der Populismus der CVP kommt liche Obhut (Spielgruppen, Krippen, etc.) genommen werlangsam in Form; die totalitäre Fratze, dem dunkelsten alden. Weil es einige Eltern hat, die es nicht nötig finden, am ler Katholizismen eigen, wird immer deutlicher. Fehlt nur Elternabend der Schule teilzunehmen, sollen alle, die nicht noch der Ablasshandel.» teilnehmen können, eine Busse bezahlen (auch wenn der Termin einfach schlicht blöd liegt oder das Thema vom älteren Kind her sattsam bekannt ist). Wegnehmen – ‹Kin04. 08. 2008

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positionen Slavoj Žižek

Positionen Wohin geht Europa? Das fragen sich immer mehr EU-Bürger. Und werden zu konsequent inkonsequenten Nein-Sagern.

Die EU-Zyniker Slavoj Žižek

Es gibt Momente, in denen man sich schämt, Bürger zu sein – dann nämlich, wenn die politischen Leader des eigenen Landes ihre Wähler in öffentlichen Statements verhöhnen. Solche Schamgefühle empfand ich, als ich las, wie der slowenische Aussenminister auf das irische Nein zum Vertrag von Lissabon reagierte. Er verkündete in aller Öffentlichkeit, dass die europäische Einigung zu wichtig sei, um gewöhnlichen Leuten und ihren Referenden überlassen zu werden. Wenn man stets der Mehrheit folge, liessen sich weder grosse Veränderungen noch Visionen verwirklichen. Die politischen «Eliten» seien imstande, weiter in die Zukunft zu blicken. Die Demonstration politischer Arroganz gipfelte in der Aussage: «Wenn wir auf irgendeine Volksinitiative gewartet hätten, so würden sich die Franzosen und die Deutschen heute wohl noch immer über die Visiere ihrer Waffen hinweg betrachten.» Es ist kein Zufall, dass es der Politiker eines kleines Landes war, der sich so äusserte. Führer grosser Mächte können es sich nicht leisten, den Zynismus des Denkens offen auszusprechen, der ihrem Handeln zugrunde liegt – dieses Privileg ist kleinen Ländern vorbehalten. Welches also waren in diesem Fall die Überlegungen? Das irische Nein am 13. Juni 2008 ist eine Wiederholung der französischen und holländischen Ablehnung des Projekts einer EU-Verfassung (2005). Viele Interpretationen des irischen Neins wurden seither herumgereicht, wobei sich einige von ihnen obendrein widersprechen: das Nein sei die Explosion eines beschränkten, in Europa ver-

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breiteten Nationalismus, der sich von der durch die USA verkörperten Globalisierung fürchte; die USA selbst stünden hinter dem Nein, weil sie die Konkurrenz des vereinten Europa fürchteten und deshalb lieber auf bilaterale Abkommen mit schwachen Partnern setzten… Wie dem auch sei, solche Ad-hoc-Deutungen verfehlen den entscheidenden Punkt: dass wir es nämlich mit einer Wiederholung zu tun haben. Dahinter steckt kein Zufall und ebensowenig die Verschwörung irgendeiner Grossmacht, sondern die wachsende Unzufriedenheit von Menschen, von Bürgern wie dir und mir. Nachdem nun einige Monate vergangen sind, können wir klarer sehen, wo das wahre Problem liegt: unheilverkündender als das Nein selbst ist die Reaktion der europäischen Politklasse auf dieses Nein. Die Politiker scheinen nichts aus den ablehnenden Voten von 2005 gelernt zu haben und wollen die Botschaft der Europäer einfach nicht zur Kenntnis nehmen. Am EU-Treffen in Brüssel vom 19. Juni zeigten sie ihr wahres Gesicht – nach den obligaten Lippenbekentnissen, den Entscheid der irischen Bevölkerung respektieren zu wollen. Die irische Regierung sei ein schlechter Lehrer, der es versäumt habe, die zurückgebliebenen Schüler zu disziplinieren und zu erziehen. Deshalb sollen die irische Regierung (und die irischen Schüler) ei-

Das Projekt der europäischen Einigung hat in der heute bestehenden Form Schiffbruch erlitten. ne zweite Chance erhalten, einige zusätzliche Monate, um den Fehler zu korrigieren. Die angebliche zweite Chance ist freilich nichts anderes als eine erzwungene Wahl: die Wähler sind aufgerufen, das Unvermeidliche zu ratifizieren, das Resultat erleuchteter Sachkenntnis. Das war schon beim ersten Referendum so. Die EUfreundlichen Medien und die politische Klasse in Irland präsentierten das Referendum als eine Wahl zwischen Wissen und Unwissenheit, zwischen Sachkenntnis und Ideologie, zwischen postideologischer Regierung und alten politischen Leidenschaften. Eine solche Wahl erlaubt eigentlich 7


positionen Slavoj Žižek

kein Nein – das tatsächliche Nein muss deshalb ein Monument der Unfähigkeit der medialen und politischen Klasse sein, die Sehnsüchte und Sorgen vieler Menschen für eine neue politische Vision fruchtbar zu machen. Das Referendum hatte deshalb durchaus etwas Unheimliches. Das negative Resultat wurde erwartet und stellte dennoch eine Überraschung dar – als hätte man gewusst, was kommen würde, hätte aber nicht wirklich daran geglaubt, dass es käme. Diese unter Politikern verbreitete Realitätsverweigerung widerspiegelt eine sehr unheilvolle Spaltung zwischen Wählern und Politikern: die Mehrheit (der Minderheit, die überhaupt abstimmte) war dagegen, obwohl alle im Parlament vertretenen Parteien (mit Ausnahme der Sinn Fein) sich emphatisch dafür aussprachen. Dasselbe Phänomen lässt sich auch in anderen Ländern beobachten, zum Beispiel im benachbarten Grossbritannien, wo Tony Blair vor dem Sieg in den letzten Wahlen 2005 von einer grossen Mehrheit der Briten zur meistgehassten Person im eigenen Land gewählt wurde. Der mündige Wähler weiss zwar (oder glaubt zu wissen), dass Blairs Politik die einzig vernünftige Option ist, aber dennoch… Er ist buchstäblich gespalten: er wählt, und distanziert sich zugleich von seiner Wahl. Dies bedeutet nichts anderes, als dass die auf dem Mehrparteiensystem beruhende repräsentative Demokratie die Leute nicht mehr abzuholen versteht. So wächst ein diffuses Ressentiment heran, das in Ermangelung einer demokratischen Repräsentanz zu obskuren, irrationalen Ausbrüchen führt. Viele Politiker pflegen diesen Widerstand als blossen Ausdruck der Engstirnigkeit des simplen Wählers abzutun, als Problem mithin, das sich mit besserer Kommunikation und Erklärungen überwinden lasse – wobei eine solche Haltung natürlich ihrerseits Ausdruck politischer Engstirnigkeit ist. Damit wären wir wieder beim ungeschickt agierenden slowenischen Aussenminister angelangt. Seine Äusserungen sind nicht nur faktisch falsch – der grosse französisch-deutsche Konflikt explodierte nicht wegen der Leidenschaften gewöhnlicher Leute, sondern die Entscheidung dafür wurde vielmehr von den politischen «Eliten» hinter dem Rüc-

ken der gewöhnlichen Leute getroffen. Die Äusserungen enthalten darüber hinaus auch eine falsche Auffassung über die Funktion der Eliten. In einer Demokratie besteht ihre Rolle nämlich nicht nur darin, Entscheidungen zu treffen, sondern auch darin, die Mehrheit von der Richtigkeit der Entscheidungen zu überzeugen, sie mithin instand zu setzen, in der staatlichen Politik die eigenen Bemühungen um Wohlstand und Gerechtigkeit zu erkennen. Die Wette der Demokratie besteht darin, dass man zwar alle Leute einige Zeit und einige Leute alle Zeit, aber nicht alle Leute alle Zeit zum Narren halten kann (wie Abraham Lincoln es einst formulierte). Ja, gewiss, Hitler kam demokratisch an die Macht. Doch längerfristig, trotz aller Irrungen und Wirrungen, bleibt uns nichts übrig, als der Mehrheit zu vertrauen (unter der Bedingung freilich, dass die elementaren Grundrechte gewahrt bleiben). Es ist diese Wette, die die Demokratie am Leben erhält, weil sie eine lebendige Auseinandersetzung garantiert – wenn wir diese aufgeben, haben wir auch die Demokratie aufgegeben. Und genau an diesem Punkt sind die europäischen Eliten kläglich gescheitert. Wenn sie wirklich bereitgewesen wären, den Willen der Wähler zu respektieren, wie sie beteuern, so hätten sie die Botschaft des anhaltenden Misstrauens akzeptieren müssen. Sie hätten sich eingestehen müssen, dass das Projekt der europäischen Einigung in der heute bestehenden Form Schiffbruch erlitten hat. Die Wähler haben sich vom politischen und medialen Klimbim nicht betören lassen und den Finger auf den wunden Punkt gelegt: den Mangel einer wahren politischen Vision (und vielleicht wäre der Mangel einer politischen Vision die höchste politische Vision, aber das ist eine andere Geschichte). Das irische Nein ist jedenfalls keine Ablehnung, sondern eine Einladung – eine Einladung an alle europäischen Politiker, endlich eine Debatte darüber zu lancieren, welches Europa wir wirklich wollen. aus dem Englischen von René Scheu Slavoj Žižek, geboren 1949 in Ljubljana, ist Philosoph und Psychoanalytiker. Sein Werk erscheint im Suhrkamp-Verlag..

Die Zukunft des bilateralen Wegs der Schweiz und die EU

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JETZT ONLINE ANMELDEN! www.europa-forum-luzern.ch

Montag 10. November 2008 KKL Luzern

Eine notwendige Standortbestimmung über das bilaterale Verhältnis zwischen der Schweiz und der EU im Vorfeld von wichtigen Gesprächen, Verhandlungen und Entscheidungen.

Nicht verpassen – bereits haben sich mehr als 300 Personen zum Symposium angemeldet!

Weitere Referenten sind u.a. Integrationsbüro-Chef Urs Bucher, EU-Botschafter Michael Reiterer, economiesuisse-Chef Pascal Gentinetta, Unternehmer Hans Hess, Nationalräte Christa Markwalder (FDP) und Pirmin Schwander, NZZ-Redaktor Matthias Saxer

Micheline Calmy-Rey

Danuta Hübner

Bundesrätin

Mitglied der Europäischen Kommission

Tagungspartner:

Europafachstelle Kanton Zürich

Nr. 09/10, 2008 Schweizer Monatshefte


positionen James Quinn

US-Finanzkrise: die Manager haben uns an den Abgrund geführt. Aber meint wirklich irgendwer, die Regierung sei fähig, die angeschlagenen Konzerne besser zu führen als die Manager?

Wir sind pleite James Quinn

Harry Reid, der Führer der demokratischen Mehrheit im amerikanischen Senat, sprach die ersten wahren Worte eines Politikers in der gesamten Krise: «Keiner weiss, was tun. Alles ist Neuland. Dies ist ein völlig andersartiges Spiel.» Er hat meinen Respekt für diesen Kommentar. Während über einem Jahr hörten wir von unserem Finanzminister Hank Paulson, unser Bankensystem sei gesund. Vorher war er CEO von Goldman Sachs gewesen. Er kannte die eingegangenen extremen Risiken. Er belog das amerikanische Publikum. Heute wird er als Held gefeiert, der daran sei, unser Land zu retten. Wir sollten sehr vorsichtig sein, Menschen wie Paulson zu Helden zu erklären. Helden sind Menschen wie der Unionistenoberst Joshua Chamberlin, der in der Schlacht von Gettysburg seine Leute vom Little Round Top herab zum Angriff führte und die Unionsarmee rettete. Hank Paulson hat künftigen Generationen wegen der Sünden seiner Spezis von Wall Street Billionen von Schulden aufgeladen. Ich kenne viele Helden, aber Hank Paulson ist keiner. Dies ist meine Zwischenbilanz nach neun bewegten Monaten: – Jene Leute, denen wir all die Fehlkalkulationen verdanken; die unser Land in den Schlamassel geführt haben; die nichts haben kommen sehen; die, als es kam, bestritten, dass es ein ernstes Problem sei – jenes sind dieselben Leute, von denen nun die Lösung genau dieses Problems kommen soll. Soll sich auf dieser Basis bei den Amerikanern Vertrauen in ihre Regierung einstellen? – Die Regierung hat mit Hank Paulsons Bazooka alle ihre Raketen verschossen. Was passiert, wenn es nicht funktioniert? Mich schaudert bei dem Gedanken. – Die gegenwärtige Krise zeigt, dass als CEO irgendeiner unserer Finanzinstitutionen ein Dorftrottel weniger Schaden angerichtet hätte als die gegenwärtig im Einsatz stehenden Harvard-MBAs. Deren totales Manko an Voraussicht, Vision, Strategie und Risikomanagement schreit nach der Streichung all der unsittlichen Bezüge dieser Leute. Ihre Gier sowie ihr und der anderen Topmanager kurzsichtiges Streben nach kurzfristigen Gewinnen ist die Quelle all der miserablen Entscheidungen mit tragischen Folgen.

Nr. 09/10, 2008 Schweizer Monatshefte

– Es widerstrebt mir, Richard Nixon zu zitieren. Doch als man ihm sagte, irgendein Mammutunternehmen sei «zu gross um pleitezugehen», antwortete er: «Dann zwingt es, kleiner zu werden.» Es hängt mir zum Hals heraus, von jeder Unternehmung mit einem Problem zu hören, sie sei zu gross zum Verschwinden. Die Regierung darf keine Unternehmung so gross werden lassen. Doch soeben ermunterte sie – wie könnte es denn anders sein – unverdrossen die Bank of America, Merrill Lynch zu übernehmen und so zur pleitensicheren Grösse zu gelangen. – Das amerikanische Volk sollte sich darüber im klaren sein, dass die 1,255 Billionen Dollar bei den Chinesen, Russen, Japanern und im Nahen Osten gepumpt werden müssen. Die Vereinigten Staaten von Amerika sind pleite. Wir haben kein Geld. Auf das amerikanische Volk kommen Zinszahlungen von jährlich über 60 Milliarden Dollar zu, 164 Millionen pro Tag, 6,8 Millionen pro Stunde. – Alle Amerikaner wissen: wenn du von jemandem borgst, hat er das Sagen. Wir bitten nun China um Kapitalspritzen. China und die Staaten des Nahen Ostens werden damit immer mächtiger, Tag für Tag. Das amerikanische Imperium hat seinen langen, schleichenden Niedergang angetreten. – Es ist ein uraltes Dilemma, ob Kanonen oder Butter zu finanzieren seien. Als die USA in den späten Sechziger- und frühen Siebzigerjahren beides gleichzeitig versuchten, endete das in massiver Inflation und Stagflation. Mit unseren Kriegen, immensen nichtfinanzierten Verpflichtungen, den von beiden Präsidentschaftskandidaten versprochenen Steuererleichterungen und nun mit der gigantischsten Bankenrettungsaktion der Geschichte offerieren wir uns gleichzeitig Kanonen, Butter und Banken. – Als Folge der jüngsten Massnahmen wird das Konsumentenvertrauen und das Vertrauen in die Regierung fallen, nicht zunehmen. Unsere Chefs haben uns belogen und hinters Licht geführt. Die massiven Abzüge aus dem Geldmarkt waren keine Zeichen von Panik. Sie waren die vernunftgemässe Antwort auf die irreführenden Beteuerungen der Banker, Geldmärkte seien verlustsicher. – Angesichts der Anstrengungen, den Banken ihre faulen Anlagen abzunehmen, können amerikanische Bürger zum Schluss kommen, auch sie brauchten zu ihren eigenen Schulden nicht mehr zu stehen. Denn von unseren Oberen erreicht uns die moralisch verheerende Botschaft: Schlimme Entscheidungen haben keine schlimmen Folgen. – Jede Gesetzgebung, inmitten einer Krise in einem extrem engen Zeitrahmen zusammengeflickt, wird unausgegoren und mangelhaft sein. Sie wird Fehler, Auslassungen und Löcher enthalten. Lasst uns hoffen, dass daraus nicht ein neuer Schwarzer Schwan ausschlüpft. aus dem Englischen von Reinhart R. Fischer James Quinn ist Ökonom und Generaldirektor für Strategische Planung an der University of Pennsylvania.

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Positionen Michael S. Rozeff

US-Finanzkrise: die Rede vom Marktversagen geht um. Der Blick zurück auf die Grosse Depression belehrt uns eines besseren.

Wir müssen uns entscheiden Michael S. Rozeff

Gehen wir einen Schritt zurück und wenden uns einen Moment lang der Bedeutung der Finanzkrisen der vergangenen Wochen zu. Die Regierung hat Banken gerettet, dazu eine grosse Versicherungsgesellschaft, Investmentbanken, ausländische Zentralbanken, Geldmarktfonds. Die eingesetzten Geldbeträge sind riesenhaft. Die Rettungsaktion der Regierung ist unsere Rettungsaktion. Der hinterste und letzte Cent ihres Preises wird von den steuerzahlenden Amerikanern aufgebracht werden. Die Massnahmen der Regierung sind eine Anklage gegen die Regierung. Das Versagen in unserem Regierungssystem tritt als Versagen im Banken- und Finanzsystem zutage. Es ist kein Versagen der freien Märkte oder des freien Unternehmertums oder des freien Bankwesens. Wir haben keine freien Märkte, kein freies Unternehmertum oder freies Bankwesen. Davon ist schon sehr lange nichts mehr übrig. Der Augenblick ist da, die Situation sorgfältig zu prüfen und zu entscheiden: sind wir für freie Märkte oder sind wir für den Staat? Halten wir dafür, es handle sich hier um Marktversagen oder um Staatsversagen? Dieselbe Frage stellte sich zur Zeit der Grossen Depression. Die Regierung gab die Schuld den Spekulanten, dem Börsenkrach, der Gier, zuviel Konsum, zuwenig Konsum, unflexiblen Preisen und Löhnen und vielem anderen mehr. Doch für die wahren Ursachen der Grossen Depression und das tatsächliche Versagen trug die Regierung die Verantwortung. Die Regierung hatte das Federal-Reserve-System errichtet, und es war das Fed, das deflationiert hatte. Die Regierung reglementierte die Banken und förderte Einzelbanken, und es waren diese Einzelbanken, die zu Tausenden bankrott gingen. Es war die Regierung, die Steuern und Abgaben erhöhte und die Wirtschaftstätigkeit abwürgte. Und als die Depression einmal unterwegs war, kam der New Deal, der sie fortsetzte. Es war der New Deal, der die Wirtschaft überregulierte und kartellisierte. Es war der New Deal, der eine erneute Dollarabwertung in die Wege leitete. Nochmals – es geht um die Frage: Freie Märkte oder Staat? 10

Ein freier Markt ist kein gesetzfreier Markt. Gesetze regeln ihn, und Richter und Geschworene wenden diese Gesetze an. Er ist geregelt durch Verträge, von Marktteilnehmern untereinander abgeschlossen, und durch Richter und Geschworene, die bei Auseinandersetzungen entscheiden. Er ist geregelt durch den Konsumenten, der bestimmt, ob er ein Produkt oder eine Dienstleistung kaufen will. Wer verantwortlich ist, haftet. Wenn Verluste entstehen, werden sie von denen getragen, die sie zu verantworten haben. Sie werden nicht durch Erlasse oder Gewaltmethoden auf die Steuerzahler überwälzt. Der freie Markt ist kein Chaos. Es gibt Aufsicht, doch hängt diese nicht von der wechselhaften und unberechenbaren Macht von Gesetzgebern ab, die bestochen werden können und von Lobbyisten Geld nehmen. Sie geht auf Rechtspersonen zurück, die sich auf eine Sammlung von Rechtsgrundsätzen stützen. Dagegen ist ein freier Markt endgültig kein staatlich regulierter und vom Staat kontrollierter Markt. Sobald der Staat anfängt, Märkte zu regulieren, verschwindet die Bestimmungsfreiheit des Konsumenten. Handelsverträge werden zu Antitrustzielen. Produktinnovation lässt nach. Wenn der Staat erst beginnt, Märkte zu regeln, kommt er unfehlbar von Seiten lahmer, aber einflussreicher Unternehmen unter Druck, erfolgreiche Unternehmen zu bremsen. Sobald der Staat beteiligt ist, lässt er Begünstigungen spielen. Gewisse Unternehmen mit Verlusten werden am Leben erhalten; sie brauchen für ihre Fehler nicht geradezustehen. Die Verluste trägt der Steuerzahler. Das ist es, was sich heute abspielt. Wenn wir eine Zentralbank haben, die die Geldmenge in der Wirtschaft kontrolliert, und wenn eine solche Bank nach eigenem Gutdünken jedwede Finanzinstitution am Leben erhalten kann, die sie will, haben wir es eindeutig nicht mit einem freien Geld- oder Bankenmarkt zu tun. Wenn Bankeinlagen versichert sind, haben wir es nicht mit einem freien Bankenmarkt zu tun. Wenn wir staatsgesponserte Unternehmen haben, die Hypotheken kaufen und über direkte Kreditmöglichkeiten beim amerikanischen Schatzamt verfügen, haben wir entschieden keinen freien Banken-, Hypotheken- oder Immobilienmarkt. Das Fed lebte schon immer im Konkubinat mit jenen Investmentbanken, die auch als Obligationenhändler für das Schatzamt fungieren und für die Plazierung der Schatzscheine zuständig sind. Diese Eliterunde hat stets mit hohem Leverage gearbeitet, da das Fed während der Obligationenemissionen den Markt stützt. Nachdem 1998 ein Hedgefund wie Long Term Capital Management vor dem Untergang bewahrt wurde, ist es da ein Wunder, dass diese Investmentbanker in vielen ihrer Spekulationen zu weit überrissenem Leverage griffen? aus dem Englischen von Reinhart R. Fischer Michael S. Rozeff ist Professor emeritus für Finanzwissenschaft und lebt in East Amherst NY.

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galerie Annelies Štrba

Videostills aus «Tokyo», 2003

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positionen Benno Luthiger

Wenn die Wirtschaft darbt, reden alle vom Wachstum. Wächst die Wirtschaft hingegen, wächst auch die Kritik am Wachstum. Ist Wachstumskritik ein Ausdruck fortgeschrittener Wohlstandsverwahrlosung im Denken?

Vom Privileg, das Wachstum zu kritisieren Benno Luthiger

Viele Ideen verdanken sich der Fügung des Zufalls. Kürzlich sind mir zwei Bücher in die Hände gefallen, die ich vor einiger Zeit auf die Seite gelegt hatte. Das eine trägt den Titel «Das Geschwätz vom Wachstum»* und erklärt unfreiwillig, auf welchem ideologischen Boden die Kritik am wirtschaftlichen Wachstum gedeiht. Das zweite heisst «Fleisch und Blut»** und ist die Biographie eines Metzgermeisters, die vom Leistungswillen eines einfachen Mannes zeugt, der es in einer schwierigen Zeit zu beträchtlichem Wohlstand gebracht hat. Dass ich genau diese beiden Bücher las, war reiner Zufall, aber eben vielleicht doch ein Zufall mit System. Nach der Lektüre gingen mir jedenfalls zwei Gedanken durch den Kopf: Wachstumskritik muss man sich leisten können, ist mithin ein Phänomen von Wohlstandgesellschaften. Und vor allem: wer das Wachstum künstlich hemmt, verkleinert

Wer das Wachstum künstlich hemmt, verkleinert den erwirtschafteten Kuchen – auf Kosten derer, die auch in der Wohlstandsgesellschaft darben. den erwirtschafteten Kuchen – auf Kosten derer, die auch in der Wohlstandsgesellschaft darben. Doch der Reihe nach. «Das Geschwätz vom Wachstum» von Gasche und Guggenbühl will darlegen, dass Wirtschaftswachstum Armutsprobleme und Arbeitslosigkeit nicht löst, sondern zu Verhältnissen führt, die solche Probleme erst verursachen. Entsprechend machen die Autoren die klassischen Rezepte zur Überwindung von Wachstumskrisen – mehr Wettbe12

werb, mehr Liberalisierung, mehr Globalisierung – verantwortlich für sinkende Lebensqualität in entwickelten Staaten und für die Armutsprobleme in unterentwickelten Ländern. Der Trick, den die Autoren stets für ihre Beweisführung anwenden, ist sattsam bekannt. In einem ersten Schritt eignen sie sich Argumente an, die von Wirtschaftswissenschaftern erhoben wurden, um durch Wettbewerbsverzerrungen oder staatliche Eingriffe verursachte Probleme in der aktuellen Wirtschaft zu identifizieren. In einem zweiten Schritt werden mit Unterstellungen und Suggestionen diese Argumente solange verwurstet, bis Wirtschaftswachstum, und die Marktwirtschaft allgemein, auf der Anklagebank sitzen. Das funktioniert beispielsweise so. Schritt eins: im Kapitel «Die Armutsfalle», über den Zusammenhang von Globalisierung und Armut in den unterentwickelten Ländern, fordern die Autoren, die Industriestaaten müssten ihre Exportsubventionen für die Agrarprodukte rigoros abbauen und den einheimischen Markt für Agrarprodukte aus den ärmsten Ländern öffnen. Dabei geben die Autoren explizit zu, dass diese Forderungen auch von liberalen (also den im Buch gemeinten «neoliberalen») Vertretern erhoben werden. Wie können die Autoren unter diesen Umständen Liberalismus und Globalisierung trotzdem auf die Anklagebank bringen und für die Armut in den Entwicklungsländern verantwortlich machen? Ganz einfach durch Schritt zwei: indem sie darauf hinweisen, dass die multinationalen Firmen davon profitieren, dass die Transportkosten für die Güter oft nicht den verursachten externen Kosten entsprechen. Wenn die Preise auf dem globalisierten Markt nicht sämtliche Kosten der Güter enthalten, so sind die Spielregeln falsch und werden von den multinationalen Unternehmen auf Kosten der schwächeren Marktteilnehmer ausgenützt. Deshalb ist die Globalisierung schlecht, und die Autoren fordern einen sofortigen Globalisierungs- und Wachstumsstop. Dabei übersehen die Autoren freilich mindestens zwei gewichtige Gegenargumente: erstens würde ein solcher Stop an den Armuts- und Umweltproblemen in den Entwicklungsländern nichts ändern. In Gebieten mit Überbevölkerung können es sich die Menschen nicht leisten, sich Gedanken über eine nachhaltige Nutzung der Umwelt zu machen. Zweitens würden die multinationalen Firmen (und solche, die es werden wollen) in einem globalisierten Markt, ohne Verzerrungen durch Handelsbarrieren und offene oder verdeckte Subventionen, viel besser funktionieren. Solche Marktverzerrungen begünstigen immer einen kleinen Teil der Akteure gegenüber allen anderen Konkurrenten. Erst das Wegfallen von Handelsbarrieren und Subventionen ebnet das Spielfeld so ein, dass es aufstrebenden Firmen möglich wird, multinational zu agieren. Wenn multinationale Firmen von Marktverzerrungen profitieren, müssen diese Verzerrungen – und nicht die Globalisierung – abgeschafft werden.

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positionen Benno Luthiger

Kommen wir zum zweiten Buch. Darin wird die Lebensgeschichte des Metzgers Hans Meister von seiner Enkelin Susanna Schwager aufgezeichnet. Es basiert auf Tonbandprotokollen, die sie aufgenommen und montiert hat. Diese Lebensgeschichte ist das beeindruckende Zeugnis einer Person, die sich mit ihrer ganzen Kraft für Wachstum einsetzt. Die Erinnerungen strafen das «Geschwätz von der Wachstumskritik» Lügen. Hans Meister wurde kurz vor dem ersten Weltkrieg geboren und erlebte nach dem frühen Tod seiner Mutter eine harte Kindheit in einer 10köpfigen Bauernfamilie im Emmental. Mit Leistungswillen erkämpfte er sich eine Lehre und Stelle als Metzgergeselle. Den zweiten Weltkrieg erlebte Meister mit vielen anderen einfachen Soldaten als Manövriermasse der Armeehierarchie, war meistens zur Untätigkeit verdammt und musste aus der Ferne mitverfolgen, wie seine Frau mit vier kleinen Kindern um das Überleben kämpfte. Nach dem Krieg baute er den Metzgergesellen-Verband auf, wurde Verbandssekretär und konnte dann Mitte der 1950er Jahre in Zürich eine eigene Metzgerei übernehmen. Zu Beginn der 1970er Jahre erkannte er, dass der von den Grossmetzgereien ausgehende Wettbewerbsdruck und die industrielle Lebensmittelverarbeitung den Quartierläden das Leben zunehmend schwerer machte. Als 59jähriger krempelt er sein Berufsleben erneut um und verkauft seinen Metzgerladen. Die Wirtschaft ist weiterhin dynamisch und bietet viele Möglichkeiten für leistungswillige Personen. Meister meldet sich auf ein Inserat bei der SBG und wird für die restlichen sechs Jahre seines Arbeitslebens Notenzähler. Wie konnte sich Meister aus der Armut befreien und zu einem Leben in Wohlstand und einem Lebensende ohne Entbehrung kommen? Zum einen basiert sein Aufstieg auf seinem Leistungswillen, gepaart mit einer hohen Dosis an praktischer Intelligenz. Anderseits wäre ein solcher Aufstieg wohl nicht möglich gewesen, wenn die Schweiz in dieser Zeit nicht eine Phase aussergewöhnlichen Wirtschaftswachstums erlebt hätte. Eine Episode aus dem Zweiten Weltkrieg mag dies erklären, die Meister mit spürbarem Zorn erzählt. Am Ende des Kriegs, als der Kriegsausgang schon feststand, wurde die Schweizer Armee grossflächig demobilisiert. Die Kompanie, zu der Meister gehörte, wurde allerdings in den Kanton Zug abkommandiert, wo die Soldaten noch für einige Wochen Dienst leisten mussten. Der Grund für das seltsame Manöver war, dass der Sohn General Guisans (sowie ein weiterer hoher Offizier) während der Aktivzeit nicht genug Diensttage für eine Beförderung in der Militärhierarchie hatte sammeln können. Zugunsten zweier bessergestellter Personen wurde der Zweite Weltkrieg demnach für einige Soldaten künstlich verlängert. Völlig unnötigerweise wurde so auch das Leid etlicher Familien verlängert, weil die Familienväter für die Karriereförderung der zwei Offiziere missbraucht wurden und die Familien damit auf ihre wichtigste Arbeitskraft verzichten mussten.

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Diese Episode belegt aufs schönste, dass es den herrschenden Kreisen in der Gesellschaft stets gelingt, ihren Anteil am gesellschaftlichen Wohlstand zu sichern – wenn es sein muss, auch auf Kosten der unprivilegierten Mehrheit. Nur wenn der Wohlstandskuchen wächst, können nachrückende oder aufstrebende Kreise auch von diesem Kuchen profitieren.

Es braucht ein starkes Mass elitären Dünkels, wenn man den neu in den gesellschaftlichen Raum eindringenden Kreisen ihre Chance auf Wohlstand verweigern will. Besitzstandswahrung ist vorrangiges Ordnungsprinzip in jeder Gesellschaft. Dies bedeutet folgerichtig, dass neu in die Gesellschaft oder in das gesellschaftliche Zentrum eindringende Kreise nur aus dem zusätzlich erzeugten Wohlstand befriedigt werden können (wenn wir von gewalttätig organisierter Umverteilung, das heisst Krieg oder Revolution, absehen). Anders gesagt: mehr Wohlstand für grössere Teile der Bevölkerung ist nur mit Wirtschaftswachstum möglich. Gewiss – Wachstum verwandelt sich nicht automatisch in Wohlstand. Aber das hat auch niemand behauptet. Wirtschaftswachstum ist eine notwendige, aber nicht unbedingt hinreichende Voraussetzung, und daher noch keine Garantie für Wohlstand. Diesen Umstand nehmen nun Wachstumskritiker wie Gasche und Guggenbühl zum Anlass, Wirtschaftswachstum als solches zu verdammen. Es braucht ein starkes Mass elitären Dünkels dazu, den neu in den gesellschaftlichen Raum eindringenden Kreisen ihre Chance auf Wohlstand zu verweigern, indem man einen Wachstumsstop propagiert. Und es ist wohl ein Zeichen fortgeschrittener Wohlstandsverwahrlosung, wenn man dies in der Pose eines Anwalts ebendieser Benachteiligten tut. Jeder soll nach seiner Fasson glücklich werden können. Wirtschaftswachstum bildet die Voraussetzung dafür, dass dazu auch die weniger privilegierten Menschen fähig werden. * Urs P. Gasche, Hanspeter Guggenbühl: «Das Geschwätz vom Wachstum». Zürich: Orell Füssli, 2004. ** Susanna Schwager: «Fleisch und Blut. Das Leben des Metzgers Hans Meister». Zürich: Chronos, 2004. Benno Luthiger, geboren 1961, studierte Physik und Ethnologie und wurde mit einer betriebswirtschaftlichen Arbeit promoviert. Er ist Mitglied der Grünliberalen Partei.

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positionen Karin Keller-Sutter

Es stimmt schon: der Ruf nach Verboten ertönt öfter als noch vor einigen Jahren. Aber sind daran bloss die Politiker schuld? Eine Entgegnung auf Balthasar Glättli.*

Wenn die Verantwortung schwindet… Karin Keller-Sutter

Staatliche Zwangsmassnahmen erleben in der Schweiz eine neue Blüte, schreibt Balthasar Glättli, Gemeinderat der Grünen in Zürich. Er kritisiert den willkürlichen Zwang, der sowohl im Ausländerrecht als auch bei der «Einzonung des öffentlichen Raums gegen unerwünschtes Verhalten» um sich greife. Das ist gut formuliert; doch scheint mir, dass Glättli hier einer rechtlichen Beliebigkeit das Wort redet, die letztlich zur Anarchie führt. Ich beginne beim Prinzipiellen. Die Gewährleistung von Ruhe und Ordnung ist eine grundlegende Aufgabe des Staates. Der Schutz der Bürger voreinander durch ihn, und der Bürger vor ihm, ist ein zentrales Thema des modernen Rechtsstaates. Es ist nun zweifellos so, dass das Sicherheitsbedürfnis der Menschen in jüngerer Zeit gewachsen ist. Der Ruf nach dem Staat und dem Gesetzgeber ist lauter geworden, staatliche Regeln und Normen haben an Bedeutung gewonnen. Warum ist das so? Es gelingt uns im Zuge einer zunehmenden Individualisierung immer weniger, uns als Gemeinschaft über gemeinsame, verbindliche Werte zu verständigen. Einzelne Personen und Gruppen erlauben sich Dinge, die ausserhalb der gesteckten Grenzen liegen. Dies führt zu Gegenreaktionen – die Akzeptanz ausserrechtlicher Gepflogenheiten bei der jeweiligen Mehrheit schwindet. So wächst paradoxerweise als Folge der Individualisierung die Bereitschaft vieler Menschen, ihre Freiheit zu Gunsten des Kollektivs einzuschränken. Dabei herrscht der Irrglaube, der Staat sei besser geeignet als das Individuum, gesellschaftlichen Fehlentwicklungen entgegenzutreten. Glättli argumentiert zu Recht, dass es sich hierbei um eine ungute Entwicklung handle. Doch übersieht er, dass dahinter nicht ein politischer Wille zum Zwang steht, sondern vielmehr das Versagen oder Fehlen des gesellschaftspolitischen Grund- und Wertekonsenses. Was bedeutet dies konkret für die Aufgabe des Staates? Die Freiheit des einzelnen stösst dort an ihre Grenzen, wo die Freiheit des Nächsten tangiert wird. Wenn einzelne 14

Gruppen oder Personen den öffentlichen Raum für sich einnehmen und andere Menschen an der Mitbenützung hindern, so muss ein Ausgleich geschaffen werden. Wer leistet dies? Die Betroffenen selbst sowie Dritte immer weniger. Um das Feld nicht einfach dem «Stärkeren» zu überlassen, muss der moderne Rechtsstaat eine hoheitliche Klärung herbeiführen. Damit gewinnen fast alle, auf jeden Fall aber jene, die sich respektvoll und anständig verhalten. Hooligans oder gewalttätige Politaktivisten, die meinen, das Anpöbeln anderer Menschen oder die Beschädigung fremden Eigentums seien ein Menschenrecht, werden durch den Staat in die Schranken gewiesen. Derselbe Staat hat auch zu regeln, wer das Recht hat, sich auf seinem Gebiet aufzuhalten. In rechtsstaatlichen Verfahren mit gerichtlicher Überprüfungsmöglichkeit wird festgestellt, wer sich in der Schweiz aufhalten darf und wer unser Land mangels Asylgründe wieder verlassen muss. Rechtssicherheit und Respekt vor den Regeln des gesamtgesellschaftlichen Zusammenlebens gebieten es, dass der Rechtsstaat diese Verpflichtung auch zwangsweise durchsetzen kann. Wer die Einschränkung der persönlichen Freiheit bei illegalen Aufenthaltern, die sich nicht nur weigern, die Schweiz zu verlassen, sondern staatliche Rückführungsbemühungen aktiv hintertreiben, als Aussetzung der Grundrechte bezeichnet, macht sich die Sache zu leicht. Er verkennt, dass eine Gesellschaft mit Rechten allein nicht lebbar ist, sondern auch die Einhaltung von Pflichten voraussetzt. Wenn Glättli schliesslich das Gewaltmonopol des Staates in den Kontext von Michel Foucaults Machtkritik stellt, wird die Argumentation vollends abstrus. Der französische Philosoph geht davon aus, dass Machtbeziehungen überall entstehen und allen anderen Beziehungen immanent seien. Es gibt seiner Meinung nach kein gesellschaftliches Leben ohne Macht. Die Machtbeziehungen, von denen wir im Rechtsstaat sprechen, haben nun den Vorteil, demokratisch legitimiert zu sein: von gewählten Behördenmitgliedern geregelt, von einer Mehrheit des Volkes akzeptiert. Gerade im schweizerischen Rechtsstaat wird die Macht nicht einfach von einem «anonymen» Staat verkörpert, sondern von demokratischen Institutionen und damit letztlich von der Gesellschaft selbst. Fazit: staatliche Regeln und Normen sowie deren Durchsetzung sind für das friedliche Zusammenleben in unserer Gesellschaft notwendig. Der Wertekonsens kann hingegen nicht durch noch mehr staatliche Massnahmen und Kontrollen ersetzt werden. Es bedarf vielmehr einer neuen Zusammenarbeit des Staates – einer neuen Art contrat social – mit den Bürgerinnen und Bürgern. Dieser Zusammenarbeit muss die Einsicht zugrunde liegen, dass die Verantwortung des einzelnen für die Gesellschaft wächst, je grösser seine Freiheit ist. * «Politische Zwangsneurosen», «Schweizer Monatshefte» Nr. 963, S. 11. Karin Keller-Sutter, geboren 1963, ist seit 2000 Vorsteherin des Sicherheits- und Justizdepartements des Kantons St. Gallen.

Nr. 09/10, 2008 Schweizer Monatshefte


positionen Matthias Jenny

Ich bin hier, der Staat ist dort. Ich bin gut, der Staat ist schlecht. So einfach ist es nicht. Selbst hartgesottene Staatsskeptiker hegen eine spezielle Liebe zum Staat.

L’Etat, c’est moi – et toi Matthias Jenny

«Vielen Dank, und auch Ihnen noch einen schönen Tag.» Dies wünschte ich jüngst einem Juristen des Zürcher Statthalteramts, nachdem dieser mir kurz zuvor erklärt hatte, dass die Bussverfügung über 321 Schweizer Franken gegen mich nicht fallengelassen würde. Mir wurde zur Last gelegt, zwei gebührenfreie Kehrichtsäcke verwendet zu haben. Obwohl ich eben um einen beträchtlichen Teil meines Studentenbudgets erleichtert worden war, verliess ich das Statthalteramt an diesem Tag mit durchaus positiven Gefühlen. Knapp fünfunddreissig Jahre zuvor hielten Jan Erik Olsson und Clark Olofsson beim Geiseldrama am Norrmalmstorg während fünf Tagen vier Geiseln in einer Stockholmer Bank gefangen. Während deren Gefangenschaft, bei der die Opfer immer wieder um ihr Leben fürchteten, entwickelten diese ein positives emotionales Verhältnis zu ihren Geiselnehmern – eine Reaktion, die seither als «Stockholm-Syndrom» bekannt ist, auch wenn die meisten Psychologen es nicht als eigenständiges Syndrom anerkennen. Anhand der Reaktion der Opfer der Geiselnahme in Stockholm sowie meines Kniefalls vor dem Vertreter des Statthalteramts lässt sich illustrieren, dass viele Liberale oft-

mals ein falsches Bild von (politischer) Macht und dem Wesen moderner Staaten haben. Betrachten wir dafür zunächst, wie es überhaupt zu meinem Kniefall kam. Es war einer dieser sommerlich-heissen Tage, der den Aktivisten Al Gore glücklich machen würde, als ich meinen Termin bei dem Juristen wahrnahm. Er hatte mich vorgeladen, weil ich um eine juristische Untersuchung der Busse gebeten hatte. In den Räumen des Statthalteramts war es angenehm kühl. Der Jurist begrüsste mich freundlich und führte mich durch einen langen Gang in sein Büro, wo ich ihm gegenüber Platz nahm. Uns trennten zwei grosse Schreibtische, über die wir uns beide beugen mussten, als er mir Kopien der an mich adressierten Couverts zeigte, die offenbar in den zwei Kehrichtsäcken gefunden worden waren. Ich erklärte dem Juristen, dass ich nicht derjenige war, der die zwei Kehrichtsäcke entsorgt hatte, es müsse einer meiner WG-Mitbewohner gewesen sein. Mit viel Verständnis ging der Jurist auf meine Erklärungen ein und meinte, ihm sei viel daran gelegen, einige Missverständnisse zu klären. Dies würde er nicht bei jeder Person tun. Er machte mich auf die Bedeutung der sachgerechten Müllentsorgung für das Wohl der Umwelt aufmerksam, das mich als jungen Bürger besonders stark betreffen würde. In meinem konkreten Fall sei der Punkt ferner, dass ich fahrlässig gehandelt habe. Ich hätte natürlich das Recht, eine Strafuntersuchung zu verlangen, aber der Richter würde wohl kaum auf mein Anliegen eingehen, und bei einer Niederlage vor Gericht hätte ich für die gesamten Gerichtskosten aufzukommen. Diese wären viel höher als die Busse. Es war ein bisschen wie bei einem dieser Polizeiverhöre, die man aus Hollywood-Filmen kennt: der freundliche Jurist als good cop, der unbekannte, mächtige Richter als bad cop. Nach unserem kurzen Gespräch erklärte ich mich gerne bereit, auf die Strafuntersuchung zu verzichten und die Busse zu bezahlen. Ich war froh, dass mich der Ju rist über die Sachlage aufgeklärt hatte, bevor eine teure Strafuntersuchung gegen mich eingeleitet worden wäre. Er schien keinerlei böse Absichten zu hegen; es schien, als sei er von der Richtigkeit

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positionen Matthias Jenny

seiner Arbeit überzeugt und glaube, dass er mit seiner Arbeit seinen Anteil zum Schutz des Planeten leiste. Ein aufrichtiger, warmherziger Staatsangestellter? Davon wollen die meisten liberalen Denker nichts wissen. In einigen klassischen Schriften charakterisieren sie den Staat als verschworene Räuberbande, die ihre unschuldigen Opfer gängelt. Etwas weniger abstrakt, aber dennoch sehr simpel ist das Bild, das heute viele staatskritische Europäer von den modernen Mini-Maximalstaaten haben. Spätestens seit dem oft zitierten Gang der 68er durch die Institutionen seien diese Staaten geführt von einer eng vernetzten Gruppe von Gutmenschen, die durch Sittenzerfall und Massenumverteilung das Erbe des Abendlandes und der Aufklärung zerstörten. So attraktiv solche Ansichten auch sein mögen, sie gleichen eher einem Zerrbild und erklären nicht, warum der moderne Staat so beständig ist und sich weltweit noch immer auf dem Vormarsch befindet. Es scheint offensichtlich, dass jede Form von Herrschaft auf einer zumindest passiven Einwilligung durch die Beherrschten beruht. Aber wie kommt eine solche Einwilligung zustande? Die Frage lässt sich nicht beantworten, solange wir uns ein falsches Bild vom Staat machen. «Der» Staat ist keine riesige Verschwörungsveranstaltung, die die Zivilgesellschaft manipuliert und ausnützt. Genauso wie er auf den Regierungssesseln und in den Lobbykomplexen von Bern, Berlin und Brüssel sitzt, durchdringt «der» Staat allerorts die Zivilgesellschaft – in ökonomischer, kultureller und insbesondere auch in psychologischer Hinsicht. Womit wir wieder beim Stockholm-Syndrom angelangt wären. Joseph M. Carver, ein klinischer Psychologe aus dem US-amerikanischen Ohio, nennt vier Faktoren, die bei Opfern mitspielen, die dieses paradoxe Syndrom entwickeln: eine wahrgenommene Gefahr für das eigene physische oder psychische Überleben durch eine Person in einer Machtposition; die Wahrnehmung von kleinen Gefälligkeiten durch diese Machtperson; das Fehlen einer anderen Perspektive als derjenigen dieser Person; und die wahrgenommene Unmöglichkeit der Flucht. Die kleinen Gefälligkeiten, die die Machtperson seinen Opfern gönnt, sind der Schlüssel zum Verständnis der Entwicklung der für Aussenstehende verblüffenden Loyalität der Opfer zur Machtperson. In bedrohlichen Situationen suchen viele Menschen nach hoffnungsversprechenden Anzeichen dafür, dass die Situation sich verbessern könnte und alles vielleicht doch nicht so schlimm wäre. «Schon kleine Zugeständnisse werden von den Opfern als Sympathiebekenntnisse verstanden», sagt Ulrike Ehlert, Leiterin der Abteilung Klinische Psychologie und Psychotherapie an der Universität Zürich. Gerade weil also die Person, die ihre Machtposition ausnützt, ihre Opfer in eine scheinbar ausweglose Situation versetzt, konzentrieren sich die Opfer auf alles Positive, was der Person abzugewinnen ist. Lässt sich mit den Mechanismen des Stockholm-Syndroms auch erklären, warum der Widerstand gegen die mo16

dernen Staaten so gering ist? Eine umfassende Theorie des Etatismus lässt sich damit wohl nicht konstruieren, da bei der Einwilligung durch die Beherrschten noch viele andere Faktoren eine Rolle spielen. Aber ich glaube, dass das Stockholm-Syndrom ein wichtiger Mosaikstein für ein vollständiges Bild der Funktionsweise des modernen Staats ist. In milder Form waren bei meinem Gespräch mit dem Juristen des Statthalteramts alle vier Faktoren gegeben, die Joseph M. Carver aufzählt.

Die Steuerzahler füllen alljährlich fluchend ihre Steuererklärung aus und freuen sich dabei über jeden kleinen Abzug, den sie machen können. Ähnliches gilt für die Steuerzahler, die alljährlich fluchend ihre Steuererklärungen ausfüllen und sich dabei über jeden kleinen Abzug freuen, den sie machen können. Und es gilt auch für die Millionen, die während Jahren in staatliche Schulen gesperrt und teilweise zum Wehrdienst gezwungen werden, nur um dann als Erwachsene euphorisch am Gesellschaftsritual des Wahl- und Abstimmungszirkus mitzumachen, in dem die Administration den Bürgerinnen und Bürgern ein Quentchen Mitbestimmung zugesteht. Ein ähnlicher, besonders grotesker Fall ist der durch das Gesetz kriminalisierte Drogenkonsument, der sich gerne vom Staat sein Heroin aushändigen lässt. Die oben geschilderte einseitige Charakterisierung des Staates, wie viele staatskritische Menschen sie vornehmen, ist also aus mindestens zwei Gründen falsch: der Staat besteht nicht aus einer kleinen Gruppe böswilliger Verschwörer. Viele Politiker und Bürokraten fühlen sich durchaus dem allgemeinen Wohl verpflichtet. Das führt dazu, dass die Zivilgesellschaft von diesen immer wieder kleine Gefälligkeiten zu spüren bekommt und ein Grossteil der Bevölkerung trotz aller vom Staat verübten Ungerechtigkeiten ein positives emotionales Verhältnis zu diesem entwickelt. Somit erleben wir heute eine aktive Unterstützung des Staates und eine Identifikation mit ihm durch eine sehr breite Masse. Der Staat, das sind wir alle, du und ich. Simple Verschwörungstheorien sind zwar verlockend, gehen aber an der Realität vorbei. Staatsskeptiker würden gut daran tun, sich hin und wieder zu fragen, wann sie sich das letzte Mal darüber gefreut haben, dass ihnen das Gesetz oder seine Vertreter ein bisschen Freiheit oder eine kleine Gefälligkeit gönnten. Matthias Jenny, geboren 1987, studiert Philosophie, Volkswirtschaftslehre und Soziologie an der Universität Zürich.

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positionen Roland Baader

Vivisektion des Gutmenschentums Teil II: Warum es nicht gut ist, den Reichen zu nehmen und den Armen zu geben Roland Baader

Eigentlich ist die Sache ganz einfach. Wer den einen gegen ihren Willen nimmt und anderen gibt, bricht mit einem Rechtsprinzip – der Unverletzlichkeit des Eigentums. Wenn der Staat eine Legitimationsbasis hat, dann im Eigentumsschutz. Er schützt das Leben und die Unversehrtheit der Person sowie ihres rechtmässig erworbenen Eigentums vor Übergriffen anderer – auch vor Übergriffen des Gewaltmonopolisten namens Staat selbst. Was den Bürgern verboten ist, nämlich anderen unter Androhung oder Anwendung von Gewalt etwas wegzunehmen, kann nicht rechtmässig sein, wenn der Staat es tut. Somit kann der Umverteilungsstaat, konsequent gedacht, niemals ein Rechtsstaat sein; denn seine vorgebliche Existenzberechtigung beruht auf systematischem Rechtsbruch. Der Umverteilungsstaat verwandelt Recht in Gewalt. Viele Menschen haben das Unrechtsbewusstsein dafür verloren. Der Rechtsprofessor E.J. Mestmäcker mahnt: «Die ordnende Kraft des Rechts wird zerstört, wenn es zum Planprogramm der Intervention und Umverteilung wird.» Was heute kaum noch jemand zu behaupten wagt, war für Cicero so transparent wie kristallklares Wasser: «Wer den einen schadet, um sich gegen andere freigebig zu erweisen, macht sich desselben Unrechts schuldig, wie wenn er fremdes Eigentum für sich verwendet.» Nichts könne in schärferem Gegensatz zu pflichtgemässem Handeln stehen als die politische Aktion jener auf Ansehen und Reichtum erpichten Menschen, «die den einen wegnehmen, was sie anderen geben…, denn es ist nichts freigebig, was nicht zugleich gerecht ist». Gerecht aber kann nur eine Verteilung sein, die – wie in freien Märkten – friedlich und freiwillig nach allgemeinen und für alle gleichermassen gültigen Regeln abläuft. Eine willkürliche Verteilungspolitik kann niemals gerecht sein. Sie zerstört die freie Gesellschaft und führt letztlich zum lähmenden Klassenkampf aller gegen alle. Politisch erzwungene Umverteilung kann auch unter Effizienzaspekten nicht gut sein. Sie demotiviert auf beiden Seiten die Leistungsbereitschaft – bei dem, dem genommen wird, und bei dem, dem gegeben wird. Sie macht alle ärmer, indem sie multiple Mechanismen des Niedergangs auslöst: die Reichen wandern entweder selber aus oder lassen ihr

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Kapital auswandern; sie tätigen ihre Anlagen und Investitionen nicht mehr nach Kriterien der produktiven Effizienz, sondern nach Kriterien der Steuerminimierung. Den Armen wird der Anreiz genommen, reich zu werden – und den Reichen der Anreiz, noch reicher zu werden. Bei allen erlahmen generell die Leistungsanreize. All diese Mechanismen nehmen einer Ökonomie die Dynamik, entziehen ihr die Kapitalbasis, vermindern Effizienz und erzeugen Trägheit. Eine solche Volkswirtschaft macht auf längere Sicht aus den Wohlhabenden Arme und aus den Armen Bettelarme. «Echte Sozialpolitik» – nämlich Arbeitsproduktivität, Kapitalbildung, Investitionen und Wachstum – wird so zerstört. Ganz zu schweigen von den perversen Verteilungsergebnissen. Verschiedene Studien haben in den letzten Jahren gezeigt, dass nur rund 10 Prozent der Umverteilungsmasse bei den wirklich Bedürftigen ankommt. Der Löwenanteil landet beim wachsenden Millionenheer der Umverteilungsfunktionäre. Die Grundlage des Wohlstands, die Kapitalbasis, schrumpft, der Kuchen wird immer kleiner, aber die Zahl der daran fressenden Schmarotzer immer grösser. Nur in Volkswirtschaften, in denen jeder ungestraft wohlhabend und reich werden kann, steigen immer breitere Schichten nach oben und wird Armut zum seltenen Einzelschicksal. Das erzwungene Politspiel des Nehmens und Gebens kann auch unter Machtaspekten nicht gut sein. Je mehr Politiker zu geben versprechen, desto mehr ermächtigen sie sich im selben Atemzug, immer mehr zu nehmen und immer mehr zu befehlen. In der gesamten Menschheitsgeschichte haben politische Figuren und Kasten anderer Leute Eigentum benutzt, um sich Macht zu kaufen. In der Demokratie wird Macht durch Bestechung breiter Wählerschichten gekauft. Die angeblich legitime Gewalt der Umverteilung wird zunehmend zur Befehlsgewalt über das ganze Leben der Menschen. Aus dem friedlichen Marktprozess der leistungsgerechten (die Konsumentenwünsche spiegelnden) Verteilung wird ein politischer Machtkampf und ein Hauen und Stechen der Lobbies um eigene Privilegien und um Ausbeutung anderer. Wir haben nur die Wahl zwischen «Reichen», die im freien Markt reich werden, indem sie uns alle mit nützlichen Gütern und Diensten versorgen, oder politisch Mächtigen, die reich werden, weil sie uns allen unser erarbeitetes und erspartes Geld wegnehmen. Es ist die Wahl zwischen einer freien Gesellschaft, in der jedermann zum Nutzen aller reich werden kann, und einer unfreien Gesellschaft, in der nur die politische Kaste (und das mit ihr verkungelte Big Business) auf Kosten aller anderen reich wird. Roland Baader, geboren 1940, ist Nationalökonom und Autor. 2007 erschien von ihm «Markt oder Befehl».

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galerie Annelies Štrba

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aus «My Life Dreams», 2008


dossier Spitzen, Frauen, Freiheit

(1) Im eigenen Zimmer mit sich allein (2) Eine Tür mit Schloss (3) Das Persönliche ist auch das Politische (4) Mit Spitzenhemd ins Dadareich (5) In Spitzencorsage auf die Bühne (6) Auch in Spitzen zu Haus keine Lust

Spitzen, Frauen, Freiheit Ein ruhiges Zimmer, gar ein schalldichtes Zimmer, ersehnte sich Virginia Woolf. Keine Blicke von Dritten, die den Tod der Möglichkeiten bedeuten; keine Erwartungen, die uns in Rollen zwängen; kein Netzwerk, das uns als Knoten einbindet. In den eigenen vier Wänden sind wir befreit von den Zumutungen der Öffentlichkeit. Wenn wir mit uns allein sind, können wir die Gedanken schweifen lassen und müssen keine Haltung bewahren. Am Bahnhof, am Flughafen, bei der Arbeit können wir die Uhren nicht anhalten. Doch in unseren eigenen Räumen hindert uns niemand daran. Hier können wir uns die Zeit nehmen nachzudenken, ohne dabei den Abflug zu verpassen. Hier können wir zu uns finden, ohne uns darstellen zu müssen. Erst das eigene Zimmer, dann die geistige Freiheit, dann die Dichtkunst, das ist es, was Virginia Woolf den Studentinnen 1929 in Cambridge in ihrem Vortrag über «Frauen und Literatur» mitgeben wollte. Wir brauchen das eigene Zimmer als den Ort, der das Private umgrenzt und die Öffentlichkeit draussen lässt. Jedenfalls solange wir dies so wollen. Und daher braucht es eine Tür mit Schloss und den Schlüssel in unseren Händen. Es lässt sich auch so ausdrücken: die Schlüssel zu den privaten

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Räumen sind wie die Haken und Ösen der Dessous. Beide markieren die Grenze zwischen privat und öffentlich. Daher ist das halbnackte Model auf den Werbeplakaten immer auch eine ambivalente Demonstration weiblichen Selbstbewusstseins. Diktaturen unterlaufen die Grenzlinien zwischen privat und öffentlich, ihre Augen und Ohren sind überall. Sie kontrollieren den Zugang zu den Räumen und haben daher die Macht. Wenn das Bild von der Wand fällt und dahinter das Auge des «Telescreens» sichtbar wird, wissen Winston und Julia in George Orwells «1984», dass sie verloren sind und nie eine Privatsphäre besessen haben: «BIG BROHTER IS WATCHING YOU». Die Frau daheim, gebunden an Herd und Kind. Der Mann da draussen, ungebunden die Sprossen der Karriereleiter erklimmend. So will es die Geschlechterstereotypie. Doch warum sehen wir es nicht so: der Mann da draussen, gebunden an die Karriereleiter? Die Frau, daheim und dennoch ungebunden, trotz Herd und Kind? Dank der Möglichkeit, den Schlüssel umzudrehen, nachzudenken, autonom zu werden? Um auf diese Weise gerüstet, sich gelassen der Öffentlichkeit zu stellen und ihre Karriereleiter zu erklimmen. Suzann-Viola Renninger 19


dossier Spitzen, Frauen, Freiheit

Wir brauchen die privaten Räume, um allein und unbeobachtet zu sein. Hier können wir die Waffen fallen lassen, hier können wir frei sein, hier können wir uns selbst finden und erfinden. Fehlt die Privatheit, geht auch die Autonomie verloren.

(1) Im eigenen Zimmer mit sich allein Beate Rössler

[D]er gesunde Menschenverstand [macht] allerorten einen Unterschied … zwischen dem Öffentlichen – das der Gemeinschaft zugänglich und der Obrigkeit untertan ist – und dem Privaten; von der Tatsache, dass diesem Teil des Daseins, den alle Sprachen den «privaten» nennen, ein besonderer, klar abgegrenzter Bereich vorbehalten ist, eine unantastbare Rückzugszone, in der wir die Waffen fallen lassen können, mit denen wir uns gegen Zugriffe und Zumutungen der Öffentlichkeit wappnen, in der wir uns entspannen und gehenlassen, zwanglos und unbeschwert vom Panzer der Ostentation, der uns draussen beschützt. George Duby, 1989

Warum sind wir eigentlich der Meinung, dass das Private schützenswert sei? Was ist es, das wir an Privatheit schätzen? Warum halten wir eine Gesellschaft ohne strukturelle Trennlinien zwischen privaten und öffentlichen Bereichen oder Dimensionen des Lebens für so unattraktiv? In liberaldemokratischen Gesellschaften schätzen wir Privatheit letztlich deswegen, weil wir Autonomie schätzen und weil diese Autonomie nicht lebbar ist ohne den Schutz von Privatheit, ohne die Unterscheidung zwischen privaten und öffentlichen Dimensionen oder Bereichen des Lebens. Der Wert der Privatheit liegt daher in der Autonomie. Von Privatheit oder dem Privaten sprechen wir in ganz unterschiedlichen Kontexten: Religion ist Privatsache, ebenso wie bestimmte Angaben über mich, etwa medizinische Daten, meine Privatsache sind; meine Privatsache ist es auch, welche Kleidung ich trage und welchen Beruf ich wähle; und privat ist natürlich meine eigene, meine private Wohnung. Auf den ersten Blick haben all diese Dinge nicht mehr gemeinsam als den Oberbegriff «Privatsache». Schaut man jedoch genauer hin, dann wird deutlich, dass es 20

bei all diesen Formen von Privatheit darum geht, dass eine Person, wenn sie Privatheit beansprucht, damit auch die Kontrolle über den Zugang beansprucht. Dieser «Zugang» kann metaphorisch gemeint sein, etwa dann, wenn es um Zugang im Sinne von Einspruchsmöglichkeiten gegen Entscheidungen geht. «Zugang» kann aber auch ganz wörtlich gemeint sein als Zugang zu Daten oder Zugang zu meiner Wohnung. Privatheit als Zugangskontrolle kann also diese verschiedenen Bedeutungen haben. Damit wird auch gleich noch etwas anderes deutlich. Es scheint sinnvoll, die Komplexität des Privaten so zu verstehen, dass man es hier mit drei verschiedenen Dimensionen zu tun hat. Geht es um Daten über meine Person, also generell darum, was andere über mich wissen, dann geht es um meine informationelle Privatheit. Geht es um meine privaten Entscheidungen und Handlungen (mit wem ich zusammenleben, welchen Beruf ich ergreifen und auch welche Kleidung ich tragen will), dann geht es um meine dezisionale Privatheit. Steht die Privatheit meiner Wohnung zur Debatte, dann rede ich von lokaler Privatheit. Diese drei Dimensionen des Privaten halte ich für erschöpfend, denn mittels dieser Dreiteilung lassen sich die Probleme und Phänomene des Privaten beschreiben und analysieren. Die feministische Kritik des Privatheitsbegriffs hat überzeugend auf seine Widersprüchlichkeit verwiesen, indem sie zeigte, dass der Begriff des Privaten traditionell auf die Sphäre von Heim und Herd als die Sphäre der Frauen bezogen ist; dies kann man einen quasi natürlichen Begriff des Privaten nennen, weil gewissermassen natürlicherweise die Frauen zum Bereich des Privaten, der Natur, der Biologie, des Persönlichen gerechnet werden, während es natürlicherweise das Privileg der Männer sei, sich in der Öffentlichkeit, der Kultur, der Politik zu engagieren. Ein solcher quasinatürlicher Begriff, das zeigt die feministische Kritik, steht im grundsätzlichen Widerspruch zu den normativen Grundlagen liberaler Demokratie und ist schon deshalb mit liberaldemokratischen Mitteln nicht zu halten und zu verteidigen. Dieser quasinatürliche Begriff des Privaten ist nun klar zu trennen von dem Begriff des Privaten, den man den rechtlich-konventionellen nennen kann. Dieser bezieht sich auf Dimensionen der Freiheit, das eigene Leben zu leben, also darauf, dass es in liberalen Demokratien Räume, Dimensionen gibt und geben muss, in denen Personen unbehelligt von Eingriffen des Staates und der Gesellschaft ihr Leben nach ih-

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ren eigenen Entscheidungen leben können. Diese möglich und findbar; ein nichtautonomes Leben rechtlich-konventionelle Idee des Privaten kann in diesem Sinne wäre kein gelungenes Leben. man und sollte man, auch wenn dies historisch Denn ohne diese Form der Selbstbestimmung natürlich nicht (immer) der Fall war, von der würden wir unser eigenes Wohl als unser eigenes quasinatürlichen Kodierung des Privaten trennen gerade verfehlen. Nun müssen jedoch für ein sol– eben darauf insistieren feministische Theorien ches autonomes Leben bestimmte Bedingungen gegeben sein, Bedingungen, die sowohl die subdes Privaten. Die liberale Konzeption von Privatheit ist jektiven Fähigkeiten von Personen betreffen wie nicht geschlechtsspezifisch notiert; Privatheit auch die intersubjektiven und gesellschaftlichen wird als eine Norm verstanden, die für alle Per- Umstände. Zu diesen Bedingungen gehört eine sonen in gleicher Weise zu gelten hat, und nicht demokratische Gesellschaft, für die der Respekt für Frauen und Männer in verschiedener Wei- vor der Autonomie von Subjekten und ihr Schutz se. Die Unterscheidung zwischen einer privaten konstitutiv ist; dazu gehört die Möglichkeit, auund einer öffentlichen Sphäre oder zwischen tonome Entscheidungen und Lebenspläne auch privaten und öffentlichen Dimensionen des Le- leben zu können; dazu gehört, dass gesellschaftbens sollte also nicht verwechselt werden mit der liche Möglichkeiten und Optionen vorhanden geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung und sollte sind, die auch von allen genutzt werden können; von ebensolchen geschlechtsspezifischen Kodie- dazu gehört der Schutz intimer Beziehungen, rungen und Konnotationen gänzlich befreit sein. in denen Autonomie erlernt und gelebt werden Kommen wir zurück zu den drei Dimensio- kann. nen des Privaten. Man kann nun nämlich, und Erläutern möchte ich den Zusammenhang das ist meine generelle These, trotz der Hete- zwischen Autonomie und Privatheit anhand der rogenität der Verwendungsweisen des Begriffs Problematik der lokalen Privatheit. Die nüchterdes Privaten und trotz der Unterschiedlichkeit der drei Dimensionen des Privaten, auch einen Wenn der Anspruch auf Privatheit aufgegeben wird, gemeinsamen Nenner ausmachen, wenn man dann wird immer auch zugleich der Anspruch fragt, was diese Privatheit jeweils schützen soll. Denn Privatheit schützt die individuelle Freiheit aufgegeben, frei und selbstbestimmt zu sein. und Autonomie von Personen. Wir wollen den Schutz des Privaten, weil wir unser Leben sonst nicht so frei und selbstbestimmt wie möglich le- ne Vokabel der «lokalen Privatheit» verkürzt dabei ben können. Und gerade auch deshalb sollten wir den Reichtum dessen, was damit bezeichnet wird. Privatheit schätzen; denn das Aufgeben von An- Denn mit der Privatheit des häuslichen Lebens ist sprüchen auf Privatheit ist immer auch zugleich mehr erfasst als nur ein schlichter räumlicher Bedas Aufgeben gewisser Ansprüche, frei und selbst- reich; gemeint ist in modernen Gesellschaften ein Lebensbereich, eine Lebensform, die sich damit bestimmt zu sein. Frei und autonom zu sein bedeutet zu wäh- verbindet und die sich der Existenz privater Räulen, wie wir leben, wie wir sein wollen. Autono- me konstitutiv verdankt. Denn in geschützten mie in diesem Sinne bedeutet dann auch, sich Räumen lebt man anders und anderes als unter selbst für das eigene Leben gute Gründe geben den Augen beliebiger anderer. Das private Leben zu können und sich selbst für Entscheidungen in privaten Räumen folgt anderen Regeln als das und Lebensweisen soweit wie möglich und nötig Leben ausserhalb der Räume, und eben diese anfür verantwortlich zu halten. Modern ist dieser deren Regeln ermöglichen und fordern ein anBegriff von Freiheit als Autonomie deshalb, weil deres Verhältnis zu sich selbst und ein anderes es erst mit dem modernen, individualistischen Verhältnis und Verhalten anderen gegenüber. Es Freiheitsbegriff darum geht, so zu leben, wie man sind existentielle Erfahrungen, die wir mit dem selbst will; die Tradition ist hier die klassisch-li- privaten, dem häuslichen Leben verbinden; und berale von Kant und Mill: «Die einzige Freiheit, auch wenn kaum noch (jedenfalls hierzulande) die diesen Namen verdient, ist die, nach unserem Anfang und Ende des Lebens zu Hause erlebt wereigenen Wohle auf unsere eigene Weise zu streben», den, so ist es doch nach wie vor das Zuhause, dem so heisst es bei Mill. Autonomie bedeutet also, wir die Funktion zuschreiben, in fundamentaler «auf unsere eigene Weise» das jeweils eigene Wohl Weise unser Leben, unsere Identität zu schützen. zu finden – oder doch zu suchen; ohne Autono- Doch die Privatheit der Räume schätzen wir mie, so Mill, ist folglich individuelles Glück nicht nicht nur als Ort von (familiären) Beziehungen,

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sondern auch als Ort von Einsamkeit, denn Pri- «Selbstdarstellung» erfasst werden. Der Begriff vatheit kann man auch geltend machen gegenüber verweist darauf, dass Personen in den verschiePersonen, mit denen man zusammenlebt. Ohne denen Fällen unterschiedlicher Beziehungen und die Möglichkeit des Rückzugs können zentrale As- Kommunikationen immer auch unterschiedliche pekte dessen verlorengehen, was unter Autonomie Rollen spielen wollen, auf unterschiedliche Weise und einem autonomen Leben zu verstehen ist: die ein Selbst darstellen, so dass man umgekehrt daMöglichkeit der Selbstfindung und der Selbstdar- von ausgehen muss, dass es Rückzugsmöglichkeistellung. Private Räume sind notwendig, um vor ten braucht, in denen solcherlei Selbstdarstellung den Eingriffen administrativer Regelungen ebenso nicht nötig ist, und mehr noch: in denen gleichsam zu schützen wie vor den Blicken der anderen. Rollen für die Formen von Selbstinszenierung er Wenn wir sagen können: «dies ist mein Zim- probt werden können, ohne dass damit übrigens mer», dann meinen wir damit nicht nur, darüber schon behauptet werden müsste, dass Personen bestimmen zu können, wer wann hineinkommen allein dann authentisch seien, wenn sie keinerlei darf und wer nicht; wir meinen damit auch, das Rollen anderen gegenüber präsentierten. wir hier tun können, was wir wollen, unbeobach- Im Roman «The End of the Road» (1988) von tet, ungestört. Und wir meinen damit, dass dieses John Barth wird beschrieben, wie der VoyeurisZimmer, so wie es ist, für mich gemacht ist, für mus diesen Aspekt der Privatheit zerstören kann. meine Bedürfnisse, meine Ansprüche, meine Ge- Joe Morgan, einer der Protagonisten, der viel auf wohnheiten, meine Geschichte, meine Vorlieben seine Intellektualität und Beherrschtheit hält, und meine Interessen. Deshalb ist mit dem «Pri- wähnt sich allein und unbeobachtet zu Hause. vaten» und dem «privaten Zimmer» auch mehr Statt jedoch still in seinem Zimmer zu sitzen und gemeint, als der blosse Raum: privat werden hier zu studieren, wie seine Freunde dies von ihm ernämlich auch die Gegenstände im Raum – und warten, imaginiert er sich in der Rolle eines Komdas müssen nicht nur Tagebücher sein – deshalb, mandanten und übt, seiner Truppe Befehle zu geben. Er marschiert durchs Zimmer und brüllt: Habt acht! Rechts um! Und dergleichen mehr. Ohne die Möglichkeit des Rückzugs geht die Seine Partnerin, angestachelt von einem leicht dubiosen Freund, steht draussen am Fenster und Möglichkeit der Selbstfindung und Selbstdarstellung beobachtet ihn fassungslos und entsetzt. Diese verloren. kleine Szene macht nun eines deutlich, dass nämlich das Verhalten von Joe Morgan wesentlich beweil sie durch die Existenz in privaten Räumen stimmt ist von seiner Erwartung, seiner Annahselbst eine private Bedeutung erlangen, die re- me, dass niemand ihn sieht, niemand davon weiss, spektiert werden muss und die auf ganz spezifi- wie er sich verhält, welches Schauspiel er aufführt. sche Weise von Fremden verletzt werden kann. Nur weil dies seine Erwartung ist, verhält er sich Symbolische Aufladung erfahren die Gegenstän- genau so – wüsste er von seinen Beobachtern, wäde meiner Wohnung also als Teil meiner eigenen re seine Reaktion Scham, Wut und Ärger. Und – privaten – Identität; und sie erfahren sie auch in ihm würde das Gefühl brennen, dass, hätte durch die Unaustauschbarkeit der Bedeutung, er davon gewusst, er sich anders verhalten hätdie sie für mich haben. te. Ab diesem Moment ist seine Interaktion mit Ein privater Raum garantiert die notwendigen seiner Partnerin und seinem Freund (und damit Bedingungen dafür, Weisen des Sich-zu-sich-Ver- den Beobachtern) in dem Sinn gestört, dass seine haltens auszuprobieren, die verstanden werden Erwartungen an deren «Wissen über ihn» falsch können als Versuche der Selbstdefinition – als sind; und eben dies heisst, dass damit auch seine Versuche also, gewissermassen Ruhe für das Ver- Selbstbestimmung, ein Aspekt seines selbstbehältnis zu sich selbst zu haben, sich auf sich allein stimmten Verhaltens, entscheidend verletzt ist. gestellt die praktische Frage nach dem eigenen Denn seine Selbstdarstellung anderen, Fremden Leben stellen zu können, Rückzugsmöglichkeiten gegenüber, die Art und Weise, wie er sich andezu haben, wenn dies nötig sein sollte, um unab- ren gegenüber präsentieren will, und damit ein hängig vom Urteil anderer – einem positiven wie entscheidender Aspekt seiner Selbstbestimmung, einem negativen – überlegen zu können, wer man beruht hier auf falschen Annahmen. ist und wer man sein möchte. Den Voyeur ausgeschlossen, können wir uns Ein wichtiger Aspekt der «Ruhe für das Ver- in den privaten Räumen von unseren Rollen hältnis zu sich selbst» kann mit dem Begriff der ausruhen und haben die Möglichkeit, uns selbst 22

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zum Narren zu machen. Weil sich der soziale Raum gerade darüber definiert, dass in ihm in unterschiedlicher Weise Rollen gespielt und Erwartungen erfüllt werden müssen, erweist sich umgekehrt der private Raum als der Ort, wo wir die «Waffen fallen lassen können», mit denen wir uns in den verschiedenen sozialen Beziehungen auf unterschiedliche Weise verteidigen müssen; als der Ort, wo wir uns «entspannen und gehen lassen», um auf der anderen, öffentlichen Seite beherrscht sein zu können. Schon die Art, wie Personen sich kleiden, zeigt, dass sie sich immer in bestimmter Weise präsentieren wollen und ja nach Kontext auch präsentieren müssen. Das Bewusstsein, dass man auf andere wirkt, und die Furcht, wie man auf andere wirkt, gehören zu den ständigen und fundamentalen Aspekten menschlicher Selbstwahrnehmung. Umgekehrt verlangt dieses Bewusstsein über die Anforderung der Sozialität, dass es Bereiche gibt, in denen auf diese Anstrengung verzichtet werden kann und Aspekte des persönlichen, intimen Lebens zur Sprache gebracht und zum Thema gemacht werden können, die Personen wegen der öffentlichen Selbstdarstellung nur mit sich selbst abmachen wollen. Nun hat die Idee der Selbstdarstellung nicht nur eine mentale, sondern auch eine ganz körperliche Seite: es ist immer auch die Intimität des Körpers, für die wir den eigenen Raum, den kontrollierten Bereich, die Rückzugsmöglichkeit brauchen, nicht nur für das Für-sich-allein-Sein mit den eigenen Gedanken. Dass der intime, unbekleidete Körper jedoch geradezu in den Bereich der konventionell vorgeschriebenen Privatheit gehört und dies auf den ersten Blick nichts mit der Idee der Autonomie und Kontrolle zu tun hat – der Körper wird konventionell verbannt, nicht selbstgewählt verborgen – widerspricht dem nicht; denn die vorgeschriebene Privatheit kann durchaus mit jenen beschriebenen Wünschen nach kontrollierter Selbstdarstellung korrelieren. Hier wird deutlich, dass die Verbannung der intimen Körperlichkeit in den Bereich des Privaten nicht nur negativ, sondern auch positiv bewertet werden kann, insofern als man solche Trennung zwischen privatem und öffentlichem Erscheinungsbild auch als Ermöglichung individueller Selbstbestimmung verstehen kann. Bisher war die Perspektive auf die Privatheit des Ortes ausschliesslich diejenige der individuellen Person für sich selbst. Personen brauchen und schätzen die Möglichkeit des Privaten deshalb, weil sie für das Gelingen individueller Autonomie

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unersetzlich scheint. Als eine zweite Perspektive auf die Privatheit des Ortes möchte ich diejenige von Personen in Beziehungen vorstellen. Denn nur im Rahmen privater Beziehungen können schutzlos Gefühle artikuliert werden, kann Intimität, Sexualität, körperliche und emotionale Hingabe gelebt werden, nur in diesem Schutz können Personen sich als ganze verletzlich machen. Wo sie sich selbst am schutzlosesten empfinden und artikulieren, sind sie am meisten auf den Schutz des Privaten angewiesen. Nur im Schutz des Privaten können wir Beziehungen haben, wie wir sie wollen, Nähe, Intimität und die Sorge füreinander. Nur so können wir unsere Kinder erziehen, so wie wir es für richtig halten, ohne den kontrollierenden Blick einer gesellschaftlichen oder staatlichen Öffentlichkeit – auch wenn man sich von herrschenden Konventionen, wie ein solches selbstbestimmtes Leben auszusehen habe, nur begrenzt lösen kann (und muss). Das private Zuhause, das private Zimmer, die Familie können, sollten eine Zuflucht sein, eine Zuflucht, die wir um ihrer selbst willen schät-

Es ist immer auch die Intimität des Körpers, für die wir den eigenen Raum, den kontrollierten Bereich, die Rückzugsmöglichkeit brauchen. zen und aufsuchen; die wir jedoch nicht nur um ihrer selbst willen schätzen und aufsuchen, sondern auch und vor allem deshalb, weil sie die Möglichkeit bietet, ungestört und ungesehen mit sich allein zu sein; eine Möglichkeit, die für das gelungene Erproben, Erlernen, Suchen von (Aspekten von) Autonomie unerlässlich scheint. Mit sich allein zu sein, um dergestalt autonom und authentisch zu suchen, was man will und «wer man sein möchte», ist offenbar ein zentraler Aspekt dessen, warum wir die einsame Privatheit suchen und schätzen. Doch das private Zuhause hat noch die andere Seite, die Seite der intimen Beziehungen, und hier ist der Ort, an dem nicht nur die intersubjektive Auseinandersetzung über und Reflexion auf Ziele und Projekte, Lebensweisen und Lebensentscheidungen gesucht wird, sondern auch Autonomie gelehrt und gelernt, ausgebildet wird.

Beate Rössler, geboren 1958, ist Professorin für Philosophie an der Universität Amsterdam. In ihrer Publikation «Der Wert des Privaten» (2001) wird die These des vorliegenden Beitrags in aller Ausführlichkeit entwickelt. Im November erscheint bei Suhrkamp «Von Person zu Person. Zur Moralität persönlicher Beziehungen», herausgegeben gemeinsam mit Axel Honneth.

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dossier Spitzen, Frauen, Freiheit

Die Welt muss draussen bleiben. Wer kreativ sein will, muss den Schlüssel umdrehen und sich in die Einsamkeit seiner privaten Räume zurückziehen können. «A Room of One’s Own» – er ist noch immer nicht leicht durchzusetzen. Vor allem für Frauen.

(2) Eine Tür mit Schloss Sarah Quigley

Der Beitrag wurde von Suzann-Viola Renninger aus dem Englischen übersetzt.

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1929 äusserte Virginia Woolf den vielzitierten Satz: «Eine Frau muss Geld und ein eigenes Zimmer haben, um schreiben zu können.» Sie hielt damals in Cambridge einen Vortrag zum Thema «Frauen und Literatur», für sie ein «ungelöstes Problem». Wie gering sie auch immer ihre Schlussfolgerungen aus ihrer Beobachtung eingeschätzt haben mag, sie hatte auf etwas hingewiesen, das nicht nur damals, sondern noch immer von grosser Bedeutung ist. «A Room of One’s Own» wurde noch im selben Jahr gedruckt. Wie Woolf erwartet hatte, wurde der Essay als «elitär» und «feministisch» kritisiert. «Elitär», weil er sich mit begabten und nicht mit durchschnittlichen Frauen beschäftigte, «feministisch» – und das war abwertend gemeint –, weil er die Schwierigkeiten betonte, denen sich Frauen in beinahe allen kreativen Bereichen ausgesetzt sahen. Inzwischen sind solche Bewertungen nicht mehr relevant, die Argumente von «A Room of One’s Own» sind jedoch noch immer in jeder Diskussion über weibliche Kreativität und das sie begleitende Bedürfnis nach Privatheit zentral. Finanzielle Unabhängigkeit führt, wie Woolf feststellte, zu einer seelischen Ausgeglichenheit, die für die Kreativität entscheidend sei. «Fünfhundert im Jahr [stehen] für die Macht, sich Gedanken zu machen, … ein Schloss an der Tür [bedeutet], sich eigene Gedanken zu machen…» Auch wenn sich Woolf in einer vergleichsweise privilegierten Situation befand, so war ihr Vortrag dennoch von echter Empörung durchdrungen. Oxbridge liess damals weibliche Gelehrte

zu, schränkte aber die wissenschaftlichen Grade stark ein, die diese einnehmen konnten; Besucherinnen – auch die hohe Reputation einer Woolf änderte daran nichts – durften Kapellen, Gärten und sogar Bibliotheken nur betreten, wenn sie von einem männlichen Mitglied des College begleitet wurden. «Ausserdem … werden in hundert Jahren Frauen nicht mehr das beschützte Geschlecht sein.» Woolf hatte dies richtig vorausgesehen. Frauen sind im grossen und ganzen sowohl ökonomisch wie auch sozial und künstlerisch den Männern gleichgestellt. Die Bibliothekstüren sind ihnen nicht länger verschlossen, die Hürden sind weggeräumt. Doch wie in den Märchen, hat auch in der Wirklichkeit jeder erfüllte Wunsch seinen Preis. Unser Schicksal, das sich zum Guten gewendet hat, ist gleichzeitig unser Fluch. Wir Frauen sind nicht länger die gelassenen Beobachterinnen am Rand, sondern wir sind mittendrin in einer zunehmend lauten, chaotischen und hektischen Welt. Wir befinden uns im Zentrum eines immer schneller rasenden Strudels von Eindrücken, der den Rohstoff für unsere Kreativität bereithält. Doch um dies alles als Kunst zu kanalisieren, brauchen wir den Rückzug. Die privaten Räume sind so notwendig wie eh und je – und in mancher Hinsicht auch so schwer zu finden wie eh und je. Durch das Fenster des Zimmers, in dem ich gerade schreibe, habe ich einen unverstellten Blick auf eine Umgebung, wie sie für moderne Grossstädte typisch ist: die Fassade eines Gebäudes, in dem eine Zeitung hergestellt wird; Studenten, die auf Treppenstufen und Bordkanten faulenzen; Männer, die ihre Hunde spazieren führen; Eltern die ihre Kinderwagen schieben; Fahrradfahrer, die Autos ausweichen. Fast jeder hat sein mobiles Telefon ans Ohr geklemmt, einen Computerbildschirm vor seinen Augen oder irgendwelchen elektrischen Schnickschnack in der Hand: alle Aktivitäten sind begleitet von einer zwanghaften und rastlosen Kommunikation. Im Verlauf der letzten zwanzig Jahre sind die privaten Zonen mehr und mehr erodiert. Eine Band aus dem Norden Englands hat kürzlich ein Musikvideo ausschliesslich mit Überwachungskameras aufgenommen, wie sie in Bahnhöfen, Einkaufszentren, an Strassenkreuzungen oder in öffentlichen Verkehrsmitteln überall zu unserer «Sicherheit» zu finden sind. Wir werden ständig beobachtet – und wollen ständig beobachtet sein. Leben allein genügt nicht; wir wollen dabei gesehen werden. Für andere unsichtbar und allein im eigenen Zimmer zu sitzen, wie es für einen

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dossier Spitzen, Frauen, Freiheit

Schriftsteller oder Künstler immer wieder über lange Zeiträume nötig ist, ist für die Reality-TVGeneration undenkbar geworden. Für sie entwertet Einsamkeit die eigene Existenz. Die neuen Technologien werden aggressiv als etwas vermarktet, das uns kreativer machen soll. Doch ironischerweise führen sie zum Gegenteil. Denn E-Mail, SMS, Facebook und die Chat-Dienste machen uns 24 Stunden am Tag verfügbar und anfällig für Unterbrechungen und Ablenkungen. Doch wenn Kreativität gefragt ist, können Unmittelbarkeit und Verfügbarkeit kontraproduktiv werden. Eines der Lieblingsrezepte meiner Mutter war Boston Baked Beans. Dafür mussten die Bohnen einweichen, köcheln und schliesslich kochen – insgesamt acht Stunden lang. Dieses Rezept ist für mich das kulinarische Äquivalent zum Schreiben eines Romans. Man stellt die Ingredienzen zusammen und bereitet sie dann mit Sorgfalt und Aufmerksamkeit zu. Wenn man beginnt, sich zu beeilen, dann setzt man das ganze aufs Spiel. Doch es gibt einen entscheidenden Unterscheid: kochen kann man zusammen, schreiben muss man allein. Für eine Frau des 21. Jahrhunderts ist es nicht länger nahezu unmöglich, sich einen privaten Raum zu beschaffen. Doch es verlangt weiterhin eine bewusste Entscheidung. Und ab und zu grosse Anstrengungen, sich dann auch wirklich dorthin zurückzuziehen. Unsere Welt fordert lautstark unsere ständige Aufmerksamkeit. Sie streckt via EMail und Telefon die Finger nach uns aus, auch in unsere privaten Räume. Doch Romane werden nur selten in Augenblicken geschrieben, Symphonien nicht in den kurzen Pausen zwischen zwei Telefonanrufen komponiert. Grosse kreative Arbeit braucht hohe Konzentration, die Welt um uns herum muss ausgesperrt werden. Am meisten eingeschränkt werden Frauen wohl weiterhin durch die Ansprüche, die ihre Familien stellen. Wenn die kreativen und familiären Bereiche aufeinanderstossen, haben Männer meist noch immer die besseren Karten. Als John Steinbeck damit beschäftigt war, «Grapes of Wrath» zu schreiben, ärgerte er sich über die Geräusche der Waschmaschine; als Schostakowitsch dabei war, seine siebte Symphonie zu beenden, beklagte er sich über die ständigen Diskussionen, die seine Frau und seine Schwiegermutter über Essensrationen führten. Man fragt sich, was passiert wäre, wenn die beiden sich selbst um Abwasch und Essen hätten kümmern müssen. «Wir haben … geboren,… erzogen und gewaschen und belehrt», schrieb Woolf. Und wegen der bio-

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logischen Unterschiede zwischen den Geschlechtern hat sich hier nicht viel verändert. Wenn eine Frau ihre eigenen Bedürfnisse vor die ihrer Familie stellt, ist das auch heutzutage meist genauso inakzeptabel wie 1810, als Jane Austen sich gezwungen sah, ihre Manuskripte unter Löschpapier zu verstecken, wenn sie pflichtbewusst ihre Verwandten unterhielt, die zu Besuch kamen. Heutzutage müssen wir unsere Romane nicht länger unter nichtweiblichen Namen publizieren, wie noch die Brontë-Schwestern, oder uns ein männliches Pseudonym zulegen, wie George Eliot. Doch in unseren Rollen als Ehefrau, Mutter, Tante oder Grossmutter wird weiterhin von uns erwartet, dass wir raten, trösten und helfen. Wodurch uns Zeit für Kreativität verlorengeht. Um solche zu erhalten, müssen wir lernen, dass künstlerische Bedürfnisse von den persönlichen getrennt, dass sie supra- oder extrapersönlich sind. Wir müssen unser Selbst verleugnen, um wirklich kreativ zu sein. Woolf nannte das den androgynen Geisteszustand, von dem sie glaubte, dass ihn nur echte Künstler erreichen. In logischer Schlussfol-

Die Bohnen müssen einweichen, köcheln und schliesslich kochen – insgesamt acht Stunden lang. Dieses Rezept ist das kulinarische Äquivalent zum Schreiben eines Romans gerung hiesse das: der Anspruch des Künstlers nach Privatheit ist nicht egoistisch. Virginia Woolf schrieb in einer kleinen hölzernen Hütte in ihrem Garten in Sussex. Vita Sackville-West zog sich in einen hohen Turm zurück. Katherine Mansfield nahm in einem Pariser Hotel ein anderes Zimmer als ihr Mann, um ungestört schreiben zu können. Keine von ihnen hatte deswegen ein schlechtes Gewissen. Für uns Frauen heutzutage ist in der Enge des urbanen Lebens solch ein physischer Rückzug nicht immer möglich. Ein privater Arbeitsraum ist ein Luxus; eher haben wir eine abgeteilte Ecke, arbeiten wir am Küchentisch. Doch um kreativ zu sein und die bestmöglichen, reichsten und komplexesten Werke zu schaffen, müssen wir uns versenken können, ohne die ständige Furcht, gestört zu werden. Ein eigenes Zimmer. Es bleibt ein Traum, ein Ziel, eine Notwendigkeit für Kreativität. Wir müssen lernen, uns nicht zu verurteilen, wenn wir der Welt den Rücken zudrehen. Denn nur dann können wir ihr auch etwas geben.

Sarah Quigley, geboren 1967 in Neuseeland, ist Schriftstellerin, Kolumnistin und Kritikerin. Sie hat in Englischer Literatur an der Universität Oxford promoviert. Sarah Quigley lebt seit 2000 in Berlin.

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dossier Spitzen, Frauen, Freiheit

«Das Private ist politisch», forderte die Frauenbewegung. Hannah Arendt dagegen wollte das Private vor dem Politischen und das Politische vor dem Privaten schützen. Haben Diskussionen über Empfängnisverhütung und Abtreibung in der Politik etwas zu suchen?

(3) Das Persönliche ist auch das Politische Annette Hug

zitierte Literatur: Hannah Arendt & Heinrich Blücher: «Briefe 1936–1968». München: Piper, 1999. Hannah Arendt: «Macht und Gewalt». München: Piper, 1970. Seyla Benhabib: «Hannah Arendt. Die melancholische Denkerin der Moderne». Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 2006. Danièle Lenzin: «Die Sache der Frauen». Zürich: Rotpunktverlag, 2000. Amartya Sen: «Ökonomie für den Menschen». München: Hanser, 2002.

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Im Frühjahr 1955 unterrichtet Hannah Arendt politische Philosophie an der Universität von Kalifornien in Berkeley; ihr Mann Heinrich Blücher ist Dozent in New York. Erste Zeichen einer neuen Jugendkultur machen sich bemerkbar. So bedauert Blücher am 20. März in einem Brief an Arendt, dass einer seiner besten und liebsten Studenten das Bard College verlassen muss, weil er sich im dormitory der Mädchen eingenistet hat. Den Entscheid des Colleges verteidigt Blücher; bedauerlich erscheint ihm die Atmosphäre, in der die Studenten «vor dem permanenten Gequatsche der anderen über Sex und ihre psychologischen Probleme» nicht mehr zum Arbeiten kommen. Kurz zuvor hatte Hannah Arendt geschrieben: «Die Liederlichkeit der Studenten sollte man nicht dulden. Hier gibt es eine einfache Regel: Alles hat anständig angezogen zu sein, einfach, aber nicht in Jeans und nicht ungekämmt etc. Das hilft sehr. Sie sitzen auch ordentlich auf den Stühlen und räkeln sich nicht so herum.» Dreizehn Jahre später ist aus den alltäglichen und musikalischen Ausbruchsversuchen eine Jugendbewegung geworden. Im November 1968 stürmt in Zürich eine kleine Gruppe von Studentinnen das Fest zum 75jährigen Jubiläum des Frauenstimmrechtsvereins. Die Studentinnen protestieren gegen das Feierliche und Gemässigte der älteren Damen, in ihrer Protestnote wird eine Bedeutung des heute bekannten Slogans «Das Private ist politisch» deutlich: für die formale Gleichstellung, für die politischen Rechte in einer bürgerlichen Demokratie interessiere sich nie-

mand. Man müsse mit «neuen Kampfformen» bei den «Missständen im Leben der Frauen» ansetzen. Explizit nennt die Gruppe die «Diskussion» als Kampfform. 1969 sorgt eine ihrer Aktionen an der Zürcher «Riviera» für Furore: Vreni Voiret, Studentin an der Kunstgewerbeschule, hat bei einem Schönheitspreis Kleider gewonnen, die sie im Rahmen einer studentischen Demonstration versteigert. Mit dem Ertrag soll ein Automat für Anti-Baby-Pillen am Zürcher Bellevue eingerichtet werden. Schönheitspreise werden bei der Versteigerung mit Viehschauen verglichen und als frauenunwürdig angeprangert. Aus der studentischen Gruppe wird bald die Frauenbefreiungsbewegung FBB, soziale Projekte wie Frauenhäuser und Beratungsstellen gehen aus der Bewegung hervor. In der Schweiz bedienen sich die neuen Feministinnen, früher als andere westliche Frauenbewegungen, institutioneller «Kampfmittel»; die direkte Demokratie absorbiert die radikalen Bewegungen schnell. Als 1971 die Initiative für eine Fristenlösung lanciert wird, sammeln die neuen Aktivistinnen bereits Unterschriften. Hannah Arendt hat sich immer wieder abfällig über die bürgerliche Frauenbewegung geäussert, auch wenn für sie das Frauenstimmrecht eine Selbstverständlichkeit war. Wenn sie «als Frau» angesprochen wurde, reagierte sie ungehalten. Zum Beispiel, als sie 1958 eingeladen wurde, Karl Jaspers anlässlich der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels in einer Laudatio zu würdigen. Sie schrieb an Heinrich Blücher: «Als ich die Deutschen fragte, wie seid Ihr gerade auf mich verfallen, sagten sie: Es wäre so gut, dass eine Frau zum ersten Mal in der Paulskirche aufträte. (Überschrift: Sommersprossen sind auch Gesichtspunkte!!)». Der 68er Bewegung stand Arendt ambivalent gegenüber. Einerseits war sie begeistert, dass sich im Rahmen der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung bisher passive Gruppen von Bürgerinnen und Bürgern in neuen Formen politisch einmischten und Erfolge erzielten. In einem in «Macht und Gewalt» (1979) veröffentlichten Interview mit Adelbert Reif sagte sie: «Es stellte sich nämlich heraus, dass das Handeln Spass macht: diese Generation hat erfahren, was das 18. Jahrhundert ‹public happiness›, das Glück des Öffentlichen genannt hat. Das heisst, dass sich dem Menschen, wenn er öffentlich handelt, eine bestimmte Dimension menschlicher Existenz erschliesst, die ihm sonst verschlossen bleibt und die irgendwie zum vollgültigen ‹Glück› gehört.» Anderseits sah Hannah Arendt die politischen Aktivitäten an den Universitäten als Gefahr. Sie

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befürchtete, dass die Studenten mit ihren Mit- pretiert sie als Zerstörung des Politischen. Weil bestimmungsforderungen und mit ihren gesell- öffentliche Debatten verunmöglicht werden, schaftspolitischen Zugehörigkeiten die Freiheit stirbt die res publica. Die staatlichen Institutioder Universitäten zerstören könnten. Die femini- nen sind damit beschäftigt, das Private und das stische Forderung, bisher private Themen politisch Gesellschaftliche zu planen und nach ihren Dogzu verhandeln, scheint Arendts Denken diametral men umzugestalten. Arendt hat auch hier die entgegenzustehen. So kommt Seyla Benhabib, Geschlechterverhältnisse nicht thematisiert, aber Professorin für Politologie an der Yale University, die nationalsozialistische Frauenpolitik ist ein gegen Ende der 90er Jahre zum Schluss: «Das Per- gutes Beispiel für ihre Überlegungen. Das Biolosönliche ist nicht das Politische. Das ist die Botschaft gische, «die Sommersprossen» werden zu einem von Arendts Leben und Werk.» bestimmenden Merkmal für die gesellschaftliche Was führt also dazu, dass trotzdem seit mehr Verortung. Frauen werden von höheren und gutals dreissig Jahren feministische Denkerinnen qualifizierten Positionen in Verwaltung, Bildung Hannah Arendt lesen und ihre politischen Ana- und Politik ausgeschlossen. Ihre Hauptaufgabe lysen und Theorien für die eigene Theorie und ist das Produzieren neuer «Arier» – falls sie selber Praxis fruchtbar machen? als «arisch» gelten. Mit finanziellen Anreizen und Für Hannah Arendt ist das «Glück des Öffent- grossem ideologischen Aufwand wird das Gebälichen» bedroht, wenn das Private und das Ge- ren als Dienst am Volk gefördert. sellschaftliche in die politische Sphäre eindringen. Hannah Arendt verstand sich jedoch nicht In ihrem philosophischen Hauptwerk «Vita Acti- als Liberale, die in erster Linie private und wirtva» (1958) geht sie von der athenischen Polis als schaftliche Freiheiten vor dem Zugriff des Staates Idealbild aus und unterscheidet drei Sphären. In verteidigt. Als Republikanerin argumentierte sie der Sphäre des Privaten wird gearbeitet, um das für den Schutz des Politischen vor dem Eindrinnackte Leben zu erhalten: Essen wird produziert gen des Privaten und des Gesellschaftlichen. In und zubereitet, Schmutz wird weggeräumt, Kinder werden grossgezogen. Die Tätigkeiten, die Arendt Für Hannah Arendt ist das «Glück des Öffentlichen» dieser Sphäre zurechnet, decken sich weitgehend mit den Aufgaben einer Hausfrau. In der Sphäre bedroht, wenn das Private und das Gesellschaftliche des Gesellschaftlichen werden Gegenstände herin die politische Sphäre eindringen. gestellt. Kunstwerke, Möbel, Handelsgüter bilden eine Dingwelt. In dieser Sphäre kann berechnet, geplant und umgesetzt werden. Die Wirtschaft ist bürgerlichen Demokratien sah sie die Freiheit Teil dieser Sphäre, die in den englischen Ausga- gefährdet, weil wirtschaftliche Interessen die poben «das Soziale» genannt wird. Die dritte Sphäre, litische Sphäre durchdrangen. Dadurch werde jene der Politik, ist der öffentliche Bereich, in dem ein gemeinsames, vielstimmiges Denken für das Menschen handeln. Hier können keine genauen Gemeinwohl verhindert. In diesem Sinn musste Pläne gemacht werden, weil Politik darin besteht, ihr auch eingleisige Interessenpolitik für eine bedass verschiedene Menschen ihre jeweiligen Ideen stimmte soziale Gruppe suspekt sein. und Absichten einbringen und in der öffentlichen War die feministische Forderung, das PrivaDebatte etwas Neues entwickeln. Nicht nur das te zu politisieren, eine Attacke auf die politische bereits zitierte Glück ist hier angesiedelt, Hannah Freiheit, wie Arendt sie verstand? Die HistorikeArendt sieht in der Sphäre der Politik auch den rin Danièle Lenzin schreibt, es sei der Fraueneinzig möglichen Raum der Freiheit. bewegung gelungen, «die Frauenfrage öffentlich Im Gegensatz zur individuell möglichen Be- zu machen, sie den ‹Geheimnissen und Intimitäten freiung von Zwängen, sieht Arendt die Freiheit des je einzelnen Schlafzimmers, der einzelnen Küals eine kollektiv errungene Möglichkeit, über die che, der persönlich geglaubten Unzulänglichkeiten Einzelinteressen hinauszugehen und etwas wirk- zu entreissen›». Hat man Hannah Arendt in den lich Neues in die Welt zu setzen. Weil Arendt Ohren, muss eine solche Aussage erschrecken. Menschsein immer als Zwischen-Menschen-Sein Mein Schreck lässt jedoch wieder nach, wenn versteht, können in ihrem Denken Menschen ich die Geschichte verfolge, die unter anderem mit niemals allein frei sein, sondern nur im politi- Vreni Voirets Aktion an der Zürcher «Riviera» beschen Handeln mit andern. gonnen hat. Der Kampf für legalen Schwanger Den Totalitarismus, den die deutsche Jüdin schaftsabbruch prägte in den folgenden Jahren die Hannah Arendt erlebt und analysiert hat, inter- Bewegung. Dabei ging es nicht um ein stärkeres

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Engagement des Staates, im Gegenteil. Die Forde- grifflichkeit der Prozess der Meinungsbildung in rung lief darauf hinaus, dass der staatliche Zwang, einem internationalen Forum. Ein Moment der eine ungewollte Schwangerschaft auszutragen, be- Freiheit in ihrem Sinn war die gelungene Allianz seitigt oder reduziert werde. Im Arendtschen Ver- der westlichen und der südlichen Frauenorganiständnis wäre das eine individuelle Befreiung. sationen mit Hilfe einer Forderung, die erst in Dieser Aspekt wurde noch deutlicher, als sich der gemeinsamen Debatte ihre genaue Form ge1994 an der UNO-Konferenz über Bevölkerung wonnen hatte. Aber nach Hannah Arendt hätte und Entwicklung in Kairo Frauengruppen aus Empfängnisverhütung in der Politik nichts zu den westlichen Ländern mit Frauenbewegungen suchen. So wird die Frage verständlich, die die aus Entwicklungsländern konfrontiert sahen, die Schriftstellerin und Kunstkritikerin Mary Mcscheinbar gegensätzliche Forderungen stellten. Carthy, langjährige Freundin und Briefpartnerin Während die Feministinnen aus dem Westen eine Hannah Arendts, an einer gemeinsam besuchten Ausweitung der Möglichkeiten zu sicherer Verhü- Konferenz gestellt hat: «Nun, ich habe mich immer tung und Abtreibung verlangten, thematisierten gefragt: Was eigentlich soll jemand auf der öffentliFrauen aus Lateinamerika und Asien Program- chen Bühne, im öffentlichen Raum noch tun, wenn me der Zwangssterilisation von Frauen in armen er sich nicht mit dem Sozialen befasst? Soll heissen: Landstrichen, sowie die Anwendung inadäquater Was bleibt da noch? … Es bleiben nur noch Kriege Verhütungsmittel in Kampagnen gegen das Bevöl- und Reden übrig. Aber die Reden können nicht einkerungswachstum. Einige dieser Frauen standen fach Reden sein. Sie müssen Reden über etwas sein.» deshalb der Förderung von Empfängnisverhütung Für Seyla Benhabib zeigen sich in diesem grundsätzlich ablehnend gegenüber. Sie forderten Punkt die Schwächen von Arendts Konzeption. das Recht der Frauen, Kinder zu bekommen. Die Das Verhältnis von «Politik» und «Staat» bleibt anfängliche Nervosität dieser Begegnung wich unklar. Dass die Freiheit des Handelns auf eischliesslich einem gemeinsamen Standpunkt, der ne von allem Privaten und Gesellschaftlichen abgegrenzte Sphäre des Politischen beschränkt sein soll, überzeugt letztlich nicht. Aber Hannah Dass die Freiheit des Handelns auf eine von allem Arendt kommt über ihren radikal intersubjektiPrivaten abgegrenzte Sphäre des Politischen ven Begriff von Freiheit zu einer Begeisterung für demokratische Politik, die ihresgleichen sucht. beschränkt sein soll, überzeugt letztlich nicht. Vielleicht spricht diese Begeisterung diejenigen besonders an, die sich den Eintritt in die öffentunter dem Begriff «reproduktive Rechte» beide liche Sphäre relativ neu erkämpft haben – zum Forderungen vereinte. Es ging darum, das private Beispiel politisch aktive Frauen. Geschehen der Empfängnis und der Geburt vor Hannah Arendt wirft – bei einer Leserin wie staatlichem Zwang zu schützen, die Rechte der mir – die Frage auf, in welcher Form eine femi(potentiellen) Mütter zu stärken und die Verant- nistische Politik die «Geheimnisse und Intimitäten wortung der staatlichen Gesundheitsdienste für des je einzelnen Schlafzimmers, der einzelnen Küche» die Gesundheit – nicht für das Verhütungsverhal- auch schützen kann und muss. Nicht zuletzt beten – der Bürgerinnen festzuschreiben. sticht Hannah Arendt als eine Denkerin und poli Amartya Sen, Nobelpreisträger für Ökonomie, tische Kommentatorin, die sich nicht auf die Posierhebt dieselbe Forderung. Er führt empirische tion einer Expertin für Frauenfragen festschreiben Studien an, die belegen, dass die Freiheit der jun- oder als Galionsfigur einer biologisch, sozial oder gen Frauen der entscheidende Faktor sei, um ein ethnisch definierten Gruppe einspannen liess. Mit bedrohliches Bevölkerungswachstum zu stoppen. ihrem Begriff des Politischen beharrte sie darauf, Diese Freiheit bestehe in der Möglichkeit zur als Bürgerin das Ganze im Blick zu haben, die Wahl einer Ausbildung, einer Erwerbstätigkeit, grossen Fragen von Krieg und Frieden, Recht und Annette Hug, Unrecht. Als wäre es selbstverständlich, dass diese geboren 1970, studierte sowie des Zeitpunkts und Partners der eigenen an der University of Ehe. Auch Sen fordert sowohl die Befreiung von Fragen in einer offenen, gleichberechtigten Dethe Philippines Women Zwang als auch die Befreiung von Not durch Bil- batte von Bürgerinnen und Bürgern entschieden and Developmental dung und gute Gesundheitsdienste. würden. Eine Situation, bei der deutlich weniger Studies. Seit 2005 ist sie Dozentin an der Für Hannah Arendt würde diese Instru- Frauen als Männer an solchen Debatten beteiligt Hochschule Luzern. mentalisierung der Frauenpolitik für ein gesell- sind, erscheint plötzlich so absurd, als würde man 2008 erschien von ihr schaftliches Planungsziel bereits den Rahmen des Menschen mit Sommersprossen von der politi«Lady Berta» im Rotpunktverlag. Politischen sprengen. Politisch wäre in ihrer Be- schen Arena ausschliessen. 28

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Ob zum Geldverdienen oder zum Zeitvertreib, Generationen von Frauen klöppelten in ihren privaten Räumen Spitzen. Doch die Spitze bleibt nicht zu Haus: wie die Künstlerin Hannah Höch sie in den Kosmos des Dada einführte.

(4) Ein Spitzenhemd für ein Dadareich Alma-Elisa Kittner

zitierte Literatur: Walter Benjamin: «Das Passagen-Werk». Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1982.

«Tiefschwarz und glänzend muss die seidne Wäsche sein, an manchen Stellen kühn durchbrochen mit vielen Spitzen, und straff um deine Hüften muss das glatte Mieder sitzen…», so dichtet Oskar Maria Graf Mitte der fünfziger Jahre in «Der Lüstling spricht» für seine damalige Geliebte «Prinzessin Ilse». Das Spiel von Zeigen und Verbergen, von Transparenz und Opazität hat Tradition, was die Fetischisierung des weiblichen Körpers anlangt. Der Stoff, der den Körper bedeckt und sowohl «kühn durchbrochen» oder wahlweise transparent sein kann, erinnert dabei nicht zufällig an das Element des Wassers. Die Schaumgeborene, die in Zypern an Land gegangene Aphrodite, ist im abendländischen Raum die erste prominente Trägerin hauchfeiner, wie aus Gischtblasen gesponnener Textilien. So sind es in der bildenden Kunst oft Darstellungen der Liebesgöttin, in denen sich, wie etwa bei Lucas Cranachs Venus, ein feiner transparenter Stoff um den Körper der Frau schlingt. Doch erst das 20. Jahrhundert verknüpft nicht nur durchsichtige Stoffe, sondern auch die verführerische Spitze mit einer nun vervielfachten Venus, wie sie allerorten auf Werbeplakaten, Magazinen und im Internet lockt – als Vorbild für die Konsumentin, die sich im Kaufhaus nun mit industriell produzierter Ware einkleiden kann. Das Muster bleibt jedoch das gleiche: der durch die Verhüllung enthüllte weibliche Körper wird Gegenstand der Schaulust und damit gleichsam veröffentlicht. Die Spitze dient der Inszenierung des vermeintlich Intimen, wenn sie einem Publikum zu sehen gegeben wird. Historisch war diese

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erotische Darstellung des weiblichen Körpers an den privaten Raum gekoppelt, weil die zweideutigen Bilder, sogenannte Boudoirstücke, oftmals nur in besonderen Räumen für ausgewählte Betrachter zugänglich und oft mit Stoff verhängt waren. Heute scheint die Bühne der alltäglichen Aphrodite der private Raum des Schlafzimmers zu sein, obwohl sie auf der Strasse in Szene gesetzt wird. Slips schauen gekonnt aus der Hüfthose, BH-Träger, die einst als anstössig galten und versteckt werden mussten, sind Teil des Outfits geworden. Es gibt jedoch eine komplementäre Seite des Spitzengebrauchs, die noch stärker mit dem privaten Raum in Verbindung steht. Es ist die Spitze für den Hausgebrauch, die insbesondere das bürgerliche Interieur des 19. Jahrhunderts «einkleidete». Denn laut Walter Benjamin war das vorletzte Jahrhundert «wohnsüchtig», und zu der «Wohnung als Futteral» gehörten «Schoner, Läufer, Decken und Überzüge» – die erotisch konnotierte Venusmuschel wendet sich zum introvertiert gepolsterten Gehäuse. Angesiedelt zwischen Erotik und Biedermeier, war die Spitze einstmals Zeichen repräsentativen Luxus. Mit ihr liess sich Staat machen, sei es im Ornat kirchlicher Gewänder, sei es in Gestalt bürgerlicher Spitzenkrägen. Notwendigkeit dagegen war sie für die Frauen, die stets die Herstellerinnen von Spitze waren. Die Arbeit selbst fand bis zur Industrialisierung im privaten Haushalt statt, und auch ihre Darstellung ist mit dem Innenraum verbunden. Insbesondere die holländischen Interieurs des 18. Jahrhunderts zeigen die traditionell weibliche Arbeit der Spitzenklöpplerinnen. Im 19. Jahrhundert diente die Spitzenherstellung jedoch einer neuen Form dekorativen Müssiggangs. Bei den Damen des Bürgertums wurde es Mode, sich die Zeit mit «Frivolitäten» zu vertreiben, wie eine bestimmte Spitzensorte genannt wurde. Wie Frivolitäten im letzten Jahrhundert vom privaten Raum der zumeist weiblichen Arbeiterin, respektive Müssiggängerin, in die künstlerische Avantgarde wandern, wird am Werk der Berliner Dadaistin Hannah Höch (1889–1978) deutlich. Im Kriegs- und Nachkriegseuropa der 10er und 20er Jahre war es für viele Frauen erneut zu einem wirtschaftlichen Erfordernis geworden, sich handarbeitend zu betätigen und die feinen Kurzwaren selbst herzustellen. Die Vorlagen für die Heimarbeit wurden in Deutschland von Modezeitschriften veröffentlicht. Dabei arbeiteten etwa in Magazinen wie «Die Dame», «Elegante Welt» oder «Moden-Spiegel» häufig Künstler wie 29


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Jeanne Mammen oder Hannah Höch. Zehn Jahre lang verdiente Höch, die ihre Ausbildung an der Kunstgewerbeschule Charlottenburg begonnen und am königlichen Kunstgewerbemuseum fortgesetzt hatte, ihren Lebensunterhalt bei dem grossen Ullstein-Verlag als Textildesignerin und Modezeichnerin. Das Geld diente dazu, sich «Ein Zimmer für sich allein» (Virginia Woolf) leisten und eigenständig als Künstlerin arbeiten zu können; doch zugleich verschränkte Höch beide Bereiche miteinander. Theoretisch galten Kunstgewerbearbeiten wie Spitzenherstellung und Stickerei eindeutig als Handarbeit niederen Ranges; praktisch wurden die Grenzen zwischen Kunst und Nadelarbeit jedoch zunehmend verwischt. Jugendstilelemente und expressionistische Formen finden schon früh Eingang in Höchs Spitzenund Tapetenmusterentwürfe. In dem Magazin «Stickerei- und Spitzen-Rundschau» veröffentlichte sie zudem Artikel, in denen sie dafür eintrat, die Spitzenherstellung als Kunst zu begreifen und dementsprechend ihre abstrakte Form- und

Der Konstruktivismus aus Schnittmusterbögen wird zur politischen Aussage, wenn daraus ein ironisches Anti-Denkmal weiblicher Nichtigkeit entsteht.

Alma-Elisa Kittner, geboren 1971, promovierte 2005, nach einem Studium der Kunstgeschichte, an der RuhrUniversität Bochum. Der Titel ihre Arbeit lautet: «Visuelle Autobiografien. Sammeln als Selbstentwurf bei Hannah Höch, Sophie Calle und Annette Messager».

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Farbsprache weiterzuentwickeln (Makela). Höch, die genau in dieser Zeit zum dadaistischen Zirkel Berlins gehörte, verwendete schliesslich das Material, das bei ihren Textilgestaltungen entstand, für etliche Collagen und Montagen. In «Weisse Form» (1919) legt sie über das Muster eines Spitzendeckchens weisse Nähvorlagen, so dass ein Wechselspiel zwischen organischen und konstruktivistischen Formen entsteht. Meist schneidet Höch dabei Reproduktionen aus den Ullstein-Zeitschriften aus, doch in «Das Sternfilet» (1924) wird sogar ein dreidimensionales Spitzenstück in die Assemblage eingebaut, das wie eine Sonne über den anderen Elementen thront. Ähnlich abstrakte, geometrische Formen entstehen in der Collage «Auf Tüllgrund» (1921); in «Schneiderblume» (1920) ziert eine papierne rosa Blume die Mitte, und in der Collage «Entwurf für das Denkmal eines bedeutenden Spitzenhemdes» (1922) entkleidet Höch die Spitze ihrer Funktion, um sie sogleich ironisch zu überhöhen. Das Dadaprinzip, die Grenzen zwischen Hoch und Niedrig zu überschreiten und respektlos jegliches Material aus den Massenmedien zu nutzen, zu verfremden und durch Neukontextualisierung

absurde Sinnschichten aufeinanderprallen zu lassen, überträgt sie auf das Gebiet der als weiblich begriffenen Spitzenherstellung. Die Abwertung, die traditionell mit dieser Kopplung von Privatheit und Weiblichkeit einhergeht – nämlich, wie erwähnt, solcherlei häusliche Handarbeit als nebensächlich anzusehen – überspringt und transformiert Höch auf diese Weise. Wenn sie das vermeintlich banale Material der Spitze und Stickerei in den Kunstkontext überträgt, unterläuft sie die herrschenden Hierarchien, die auch die künstlerische Avantgarde prägten. Denn was als darstellungswürdig galt, war selbst bei den Dadaisten höchst umkämpft. Kurt Schwitters’ Collagen etwa waren den Berlinern zu formalistisch und poetisch; und als einzige Frau im Herrenzirkel drohte Höch ständig der Ausschluss, weil sie als «reizende Amateurin» und ihre Arbeiten als zu wenig bissig und politisch galten. Übersehen wurde, dass Höchs Reinszenierung der «unwichtigen», vermeintlich auf den Haushalt beschränkten Materialien nicht nur Produkte von Frauenarbeit ins Bild setzt, sondern auch den gesamten Weiblichkeitskosmos von Aussteuer und bürgerlichen Mädchenträumen in Tüll und Spitze auf hintersinnige Weise kommentiert und ins Zentrum aktueller künstlerischer Tätigkeiten rückt. Der Konstruktivismus aus Schnittmusterbögen wird zur politischen Aussage, wenn daraus ein ironisches Anti-Denkmal weiblicher Nichtigkeit entsteht. Im Rückblick wird dies noch klarer. Höchs letzte grosse Collage «Lebensbild» (1972/73) reflektiert wichtige Lebensstationen und ist zugleich eine Retrospektive ihres Werks. Unter den etlichen Zitaten aus ihren Collagen und Montagen befindet sich auch ein Ausschnitt aus der Arbeit «Weisse Form». Sie steht im «Lebensbild» neben einer Collage aus dem Jahr 1967: «Das ewig Weibliche» zeigt eine nasenlose, neuzeitliche Venus mit Schmollmund, Betonfrisur, Eulenaugen und einer Art Spitze, die über das Gesicht gelegt ist. Bekrönt wird die Schöne von einem strahlenförmigen Ornament, das eigentlich eine fotografierte Beeteinfassung aus Höchs Garten ist. Der Mythos des ewig Weiblichen ist hier buchstäblich verflacht; denn er wirkt fast wie ein Schnittmusterbogen. Dagegen scheint das «Porträt» des Spitzendeckchens in der «Weissen Form» spritzlebendig. Einmal mehr zeigt Höch in ihrer Umkehrung der Dinge, wie die Attribuierungen des Weiblichen das Haus verlassen und eigensinnig werden – im denkwürdigen Spitzenhemd.

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Wer Spitzen zeigt, kann Massen verführen: wie Madonna in Spitzen zur Jungfrau wurde und damit die Mode einer Generation bestimmte.

(5) In Spitzencorsage auf die Bühne Elke Buhr

Was für ein Hochzeitskleid! Jungfräulich weiss, mit bodenlanger, weiter Schleppe, die schwingt, verhüllt oder freigibt je nach Wunsch. Mit einer Corsage aus Spitzen, die das üppige Decolleté der Trägerin bis zur Waghalsigkeit auskostet. Mit einem mehrfach gestuften Rock, der, blickt man nur geschickt an den vielen transparenten Stofflagen vorbei, die nackten Schenkel freilegt wie ein Mini. In diesem Kleid stolziert 1984 die junge Sängerin Madonna Louise Ciccone durch venezianische Palazzi, räkelt sich auf Samtpolstern und erobert damit das frisch etablierte Musikfernsehen. Die Rede ist vom Video zu «Like a Virgin». Es ist der Song, der nach dem ersten Hit «Holiday» Madonnas endgültigen Durchbruch bedeutete. Damals etabliert Madonna einen Look, der von unzähligen jungen Frauen in aller Welt kopiert werden wird: eine Art frühen Girlie-Stils, mit wilden Locken und expressivem Make-up, kurzen Röcken zu Leggings oder Netzstrümpfen, schwarzen, manchmal bauchfreien Tops. Es ist ein Look, der damit kokettiert, das Unterste zuoberst zu kehren, und der mit Hilfe mehrerer Schichten legere Durchblicke ermöglicht. Es ist ein Look, der offensiv mit Dessouselementen arbeitet. Essentiell dafür ist das erotische Wechselspiel von Verdecken und Zeigen – das Prinzip der Spitze. Allerdings hat Madonna dieses Outfit nicht aus dem Nichts erfunden. Die Madonna der achtziger Jahre, die sich anschickt, nach musikalischen Anfängen in New Yorker Schwulenclubs den Mainstream für sich zu erobern, erbt diesen Stil von verschiedenen popkulturellen Quellen. Mit seiner Coolness und punkigen Rotzigkeit ist er ein Echo des New Wave, der Ende der Siebziger, Anfang der Achtziger London und New York beherrscht hatte. Man war bleich und trug schwarz,

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manchmal mit düsterem Minimalismus, manchmal allerdings auch von der Opulenz eines Vampirromans beeinflusst. Manche New-Wave-Bands wurden von der Tradition der Gothic Novels, der Schauerromane vor Ruinenkulissen, inspiriert; die Ästhetik der angelsächsischen schwarzen Romantik kam wieder an die Oberfläche, und mit ihr der Schwarze-Spitzen-Look. Wo New Wave die Gothicdüsternis mit der Kälte des Punks kombinierte, war auch Erotik nichts Zartes, sondern wurde eingesetzt wie eine Waffe, mit provokantem Exhibitionismus. Siouxsie Sioux von der britischen Band Siouxsie and the Banshees, eine modische Ikone der Zeit, trug Anfang der Achtziger Spitzenbodies, die ihre Brüste komplett freilegten, zu schwarzem Leder. Siouxsies modische Inspirationen stammten aus der Sado-Maso-Szene, und als Accessoire zu diesen Dessous passten Stachelhalsbänder und Sicherheitsnadeln deutlich besser als ein verführerischweiblicher Augenaufschlag. Aus New Wave entstand New Romantic, eine britische Post-Punk-Mode, die Anfang der achtziger Jahre dandyhaft im Neobarock schwelgte. In der Szene, die sich um die Bands Adam & the Ants, Spandau Ballet oder Duran Duran scharte, waren Spitzen nicht dem Terrain der Unterwäsche vorbehalten, sondern wurden zur Schau getragen wie zu Zeiten Mozarts, und zwar auch von Männern. Diese modische Praxis zitierte eine Zeit, in der Spitzen kein Zeichen privater Erotik waren, sondern ein von Adligen öffentlich getragenes Statussymbol. In der Populärkultur ist das Bild des Adligen mit den flatternden, spitzenbesetzten Ärmeln das Sinnbild barockhafter Prachtentfaltung – einer Pracht, die die Popkultur immer wieder in Glamour übersetzt hat. Da die bürgerliche Kultur aber den glamourösen Mann abgeschafft und das Schillernde – wie auch die Sphäre der Privatheit – an die Frau delegiert hat, bedeutet der glamouröse Mann seit dem 19. Jahrhundert immer auch eine Infragestellung der Männlichkeitsnormen. Die ersten Dandys haben das vorgemacht, und eine Figur wie David Bowie inszenierte sich in den siebziger Jahren als ihren schrillen Nachkommen: mit wild toupiertem Haar und geschminkten Augen, den mageren Körper in glitzernden Phantasie-Kostümen – oder eben auch offensiv androgyn im neobarocken Rüschenhemd. Man kann aus feministischer Sicht die Selbstfeminisierung der Dandys als patriarchalischen Schachzug interpretieren, mit dem die Männer den realen Frauen weiteres Terrain abjagen. An31


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GALERIE Annelies Štrba

aus «Nyima», 2005

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derseits, und dies wiegt wohl schwerer, trägt eine nach hinten, legt den Kopf zur Seite, schlängelt solche Verschiebung der Zeichen der Geschlecht- sich im «Like a Virgin»-Video unter den Brücken sidentität entscheidend zu einem Klima der De- Venedigs hindurch wie eine Limbotänzerin. Aber naturalisation des Geschlechts bei – «Doing Gen- sie tut dies mit herausforderndem Blick. Wenn der» wird ein Spiel, bei dem dann auch die Frauen Madonna ihr Decolleté über der weissen Spitzenmit grösserer Freiheit mitspielen können. Und corsage freilegt, dann scheint sie direkt auf den von dieser Freiheit hat sicherlich Madonna, die animalischen Kern dieser Pose zu zielen, und im grosse Performerin ihrer Sexualität, entscheidend «Like a Virgin»-Video ist es dann wirklich ein Löprofitiert. we, den sie verführt. Die Genderüberschreitung funktionierte im «You make me feel I’ve nothing to hide», so Pop der siebziger und frühen achtziger Jahre also heisst es noch in «Like a Virgin». Nein, Madonin beide Richtungen: Männer kokettierten – mit na hat nichts zu verstecken – das hat sich im Lauf Rüschen, Spitzen und langen Haaren – mit den ihrer einmaligen Karriere nach «Like a Virgin» Zeichen des Weiblichen, Frauen kombinierten erwiesen. Wie keine andere, hat Madonna ihre absolute Härte zu transparenten Dessous. So Dessous hergezeigt. Der Modemacher Jean-Paul nutzten beide Geschlechter die Erotik der Norm- Gaultier hat ihr das phallischste Bustier der Welt verletzung gegen die bürgerliche Langeweile. geschaffen, eine Rüstung aus zwei phallischen Es blieb Madonna vorbehalten, diese Ästhe- Spitzkegeln, die Weiblichkeit als Waffe inszenietik aus dem Untergrund für die breite Masse zu ren. Madonna ist dabei zu einer feministischen popularisieren. Sie kombinierte Spitze mit Punk Ikone geworden und zum Inbegriff der erfolgund Trash. Ihr weisses Hochzeitskleid in «Like a reichen self-made woman. Anderseits aber ist Madonna, der bestverdienende weibliche Popstar der Welt, auch Symbol einer Popkultur geMänner kokettierten – mit Rüschen, Spitzen und worden, die Sexualität zur Ware macht; die den Körper als Produktionsmittel behandelt, in das langen Haaren – mit den Zeichen des Weiblichen, erst Fitnessstunden investiert werden, um dann Frauen kombinierten absolute Härte zu transparenten maximale Rendite zu ermöglichen; die sich ausDessous. So nutzten beide Geschlechter die Erotik der zieht bis auf die Knochen und dabei ihre Haut zentimeterweise verkauft. Bei aller Euphorie über Normverletzung gegen die bürgerliche Langeweile. die Entdeckung der selbstbestimmten Erotik darf man die alte Weisheit nicht vergessen: sich vor Virgin» wirkt auch deshalb so sexy, weil es immer der Kamera auszuziehen, ist nicht automatisch wieder mit Bildern ihres schwarzen Club-Outfits ein Akt der Befreiung des weiblichen Geschlechts. gegengeschnitten wird, einem Outfit, das Non- Wie prekär der Gebrauch von Dessous im Pop konformismus und kratzbürstige Selbstbehaup- ist, musste kürzlich erst Britney Spears erfahren, tung anzeigt. Madonnas gefallene kleine Schwester. Bei einem Madonna ist das Gegenteil des ätherischen Comebackversuch nach längerer BühnenabstiWeibchens, ihre Erotik ist handfest und selbst- nenz im September 2007 stöckelte sie im Glitzerbewusst. Sie wirkt einerseits burschikos, an- BH unbeholfen über die Bühne und lieferte sich derseits ungeheuer weiblich. Ihr Tanzstil, ihre und ihren halbnackten Körper den hämischen Körpersprache, auch ihre Praxis des Freilegens Kommentaren der Öffentlichkeit schutzlos aus. von Decolleté und Armen folgen den Normen Spitzendessous sind symbolische Inszenierunklassischer Weiblichkeit, wie sie beispielsweise gen von Ambivalenz. Sie zeigen und verstecken, Pierre Bourdieu herausgearbeitet hat. Während geben Grenzen frei und markieren sie gleichzeider Mann in unserer Kultur aufrecht geht, stabil tig. Der öffentliche Gebrauch von Dessous im und breitbeinig steht und seinen Rumpf bedeckt, Pop lebt von dieser Ambivalenz – und riskiert erscheint ideale Weiblichkeit instabil, auf hohen doch gleichzeitig immer, in der massenmedialen Absätzen trippelnd, im Tanz möglichst oft aus Vervielfältigung das Zeichen in die Eindeutigkeit der Vertikalen in die Horizontale gekippt. Klas- des Kommerzes zurückzuzwingen. Madonnas Elke Buhr, sische Positionen der Frau zeigen den Kopf weit Dessous jedenfalls haben jede Anmutung von geboren 1971, war Pop- und Kunstrezurückgelehnt und den Halsbereich freigelegt, Privatheit verloren. Manche lesen sie auch heute dakteurin der Frankwie bei einem Tier, das sich unterwirft. noch als Manifest weiblicher Selbstbestimmung. furter Rundschau Auch Madonnas Tanz betont, vor allem in Andere nur noch als Kennzeichen neoliberalen und arbeitet zur Zeit als freie Autorin. den frühen Videos, die Diagonalen, sie biegt sich Ausverkaufs. 34

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dossier Spitzen, Frauen, Freiheit

Und was, wenn die Frau und die Dessous zu Hause bleiben? Dann gehen Freiheit und Lust verloren!

(7) Auch in Spitzen zu Haus keine Lust Svenja Flaßpöhler

zitierte Literatur: Albrecht Koschorke: «Die Heilige Familie und ihre Folgen». Frankfurt a.M: Fischer, 2000. Roland Barthes: «Fragmente einer Sprache der Liebe». Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1984

Privatheit und Erotik, scheint es, gehören zusammen wie Yin und Yang, und da Frauen seit je die Repräsentantinnen des Privaten sind, ist ihnen, so könnte man annehmen, die Erotik auf den Leib geschneidert wie ein perfekt sitzendes Spitzenhöschen. Doch die kulturgeschichtlich uralte Verknüpfung von Weiblichkeit und Privatheit hat bei genauerem Hinsehen einen gänzlich anderen Effekt: die Frau wird nicht erotisiert, sondern zur Mutter Maria gemacht. Trotz allgegenwärtigem Gleichberechtigungspostulat ist es nach wie vor eher der Mann, der sein Begehren lustvoll nach aussen richtet, während die Frau ihre Energie (mit mehr oder weniger grosser Hingabe) in die Gestaltung des Beziehungsraumes investiert. So ist auch in vermeintlich modernen Beziehungen meistens sie es, die sich für die Hausarbeit zuständig fühlt, ihre Arbeit reduziert oder ganz aufgibt und ihre eigenen Vorhaben so einrichtet, dass sie mit dem

Terminkalender des Mannes (den sie stets im Kopf hat) kompatibel sind. Auf diese Weise finden sich selbst jene Frauen, die sich immer sicher waren, dass ihnen das nie passieren würde, kaum dass sie den Hausstand mit einem Mann teilen, plötzlich in der Rolle der Daheimgebliebenen, Wartenden, Passiven wieder – einer Rolle, die ihnen nicht zuletzt qua biologisches Geschlecht im Zuge unserer abendländischen Kulturgeschichte immer wieder angedichtet wurde. Während der Mann sein Geschlecht offensiv vor sich herträgt und entsprechend auch sein Begehren mit Leichtigkeit nach aussen richten kann, ist die Frau aufgrund ihrer geschlechtlichen Anatomie angeblich passiv, empfangend, hingebend und schwach. Ihr eigenes Begehren richtet sich nicht auf die Welt, sondern auf das Verlangen des Mannes – und so fühlt sich mitunter auch die emanzipierteste Frau auf eine für sie unerklärliche Weise gedrängt, nach der Arbeit, anstatt direkt, wozu sie eigentlich Lust hätte, ins Kino zu gehen, lieber noch schnell zum Supermarkt zu rennen, um fürs Abendessen zu sorgen. Sollte die Frau dennoch dann und wann sich trauen, ihre Libido unabhängig vom Mann zum Zuge kommen zu lassen, überkommt sie nicht selten ein schlechtes Gewissen – so als würde sie, sobald sie ein eigenständiges Begehren entwickelt, die Liebe und in gewisser Weise auch sich selbst aufs Spiel setzen. Es ist, als sei die begehrende Frau in wesentlich stärkerem Masse als der Mann gefährdet, sich zu verlieren. Der Literaturwissenschafter Albrecht Koschorke erklärt diese kulturhistorisch althergebrachte Annahme folgendermassen: «[S]ein Dasein [das Dasein des Mannes] umfasst mehr als bloss seine sexuelle Begierde. Die Frau aber darf nicht begehrlich sein, denn sie würde sich von ihrer Triebhaftigkeit verschlingen lassen. Der Mann kann sich spalten, er existiert in zwei

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dossier Spitzen, Frauen, Freiheit

Dimensionen. Die Frau ist mit sich eins und gerade deshalb in Gefahr, sich jederzeit ohne Rest zu verlieren.» Der Mann ist immer mehr als nur sein Geschlecht, weshalb er zur Triebsublimierung und entsprechend zu kulturell wertvoller Arbeit fähig ist. Die Frau aber ist nichts anderes als ihr Geschlecht: sie ist Körper, nicht Geist, und infolgedessen ist sie – man denke nur an Eva und die Schlange – durch und durch verführbar. Aufgrund dieser Schwäche ist die Frau seit je dazu angehalten, ihr Begehren im Zaum zu halten. Als launenhaftes sogenanntes «Frauenzimmer» muss sie es im wahrsten Sinne des Wortes domestizieren, das heisst ins Häusliche, ins ungefährliche Innen bannen, während der Mann es «draussen», im wilden Leben, ohne Risiko ausagieren kann. «Historisch gesehen», schreibt der französische Philosoph Roland Barthes, «wird der Diskurs der Abwesenheit von der Frau gehalten: die Frau ist sesshaft, der Mann ist Jäger, Reisender; die Frau ist treu (sie wartet), der Mann ist Herumtrei-

Mütter sorgen sich, kümmern sich, opfern sich auf, aber sie begehren nicht – und deshalb haben sie hochhackige Schuhe, Röcke und tief ausgeschnittene Decolletés längst in die hinterste Ecke ihres Schranks verbannt.

Svenja FlaSSpöhler, geboren 1975, promovierte in Philosophie über Pornographie und das moderne Subjekt («Der Wille zur Lust», 2007). Sie lebt als Autorin in Berlin. Gerade ist von ihr «Gutes Gift. Über Eifersucht und Liebe» erschienen.

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ber (er fährt zur See, er ‹reisst auf›). Es ist die Frau, die der Abwesenheit Gestalt gibt, ihre Fiktion ausarbeitet, denn sie hat die Zeit dazu…» Ein solches «Herumtreiben» und die damit einhergehende, bisweilen schizophren anmutende Grenzziehung zwischen Lust und Liebe gelingt Männern, der landläufigen Meinung zufolge, weitaus besser als Frauen. Es ist, als würde das nach aussen gerichtete, angehängte Geschlecht es dem Mann ermöglichen, gänzlich unbeschadet von einer Sphäre in die andere zu wechseln. Seine geschlechtliche Anatomie, so scheint es, bewahrt ihn davor, den Schmutz mit nach Hause zu bringen – lässt er doch seinen Samen, beziehungsweise die Sünde, im Körper der beschlafenen Frau zurück und kann sich auf diese Weise, im wahrsten Sinne des Wortes, schadlos aus der Affäre ziehen. Im männlichen Körper finden sich (abgesehen von etwaigen Geschlechtskrankheiten) keine Rückstände des verbotenen Aktes – ein anatomischer Vorteil, der im Falle eines von der Frau begangenen Seitensprungs oder Ehebruchs so nicht besteht. Als Penetrierte trägt sie das Eja-

kulat als Zeichen der Sünde tief in ihrem Leibe, und selbst wenn ein Kondom verwendet wird, ist der verbotene Penis immerhin in sie eingedrungen. Diese Grenzüberschreitung wiegt um so schwerer, als die Frau gemäss dem bürgerlichen Familienideal die Repräsentantin des familiären Heims ist, so dass der Nebenbuhler seine Spuren strenggenommen nicht nur in ihrem Körper, sondern gleichzeitig im Innersten der heilen Welt hinterlässt. Die Frau kann also die Schande nicht am Fussabtreter abstreifen wie der Mann, sondern sie trägt sie unweigerlich über die Schwelle. Erschwerend für die Frau kommt hinzu, dass eine solche eher metaphorische Nestbeschmutzung sich durchaus zu einer gänzlich realen wandeln kann – dass also der Nebenbuhler dem rechtmässigen Stammherrn, wie man sagt, «ein Kuckucksei ins Nest legt». Die Natur bringt es nun einmal mit sich, dass Frauen immer ihr eigenes Kind gebären. Der Mann hingegen ist, wenn er sich seiner Vaterschaft sicher sein will, auf die Monogamie seiner Partnerin angewiesen. Und was läge da näher, als sie, wenn auch unter dem Deckmantel charmanter, männlicher Fürsorglichkeit, zu domestizieren? Natürlich geht eine solche Domestizierung nicht spurlos an der Frau vorbei – ja, man gewinnt sogar den Eindruck, als würden sich Frauen, sobald sie gebunden sind, selbst domestizieren, indem sie in einem mehr oder minder schleichenden Prozess ihre sinnliche Seite abwerten. Zu beobachten ist eine solche Abwertung vor allem an Müttern. Es scheint, als vertrüge sich sexuelle Attraktivität schlichtweg nicht mit ihrer Rolle, und tatsächlich behauptet das bürgerliche Mutterideal, die Heilige Maria, auch im 21. Jahrhundert noch seine Macht. Mütter sorgen sich, kümmern sich, opfern sich auf, aber sie begehren nicht – und deshalb haben sie hochhackige Schuhe, Röcke und tief ausgeschnittene Decolletés längst in die hinterste Ecke ihres Schranks verbannt. Auch ein knappes Spitzenhöschen ist vermutlich das letzte, was eine Mutter-Maria-Frau anziehen würde – und wenn sie es doch tut, wirkt es eher verzweifelt: nur unzureichend verdeckt das Dessous die Tatsache, dass der Versuch, Emanzipiertheit zu verkörpern, ohne sich aus der Sphäre des Privaten zu befreien, gehörig in die Hose gegangen ist.

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GALERIE Annelies Štrba

aus «Nyma», 2003

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unternehmergespräche Rosmarie Michel

Begonnen habe ihre Karriere mit Tellerwaschen, sagt Rosmarie Michel. Doch schon als junge Frau habe sie gewusst: ich werde Unternehmerin. Den Boden unter den Füssen verlor sie dabei nie. Suzann-Viola Renninger hat Rosmarie Michel in Zürich getroffen.

Rosmarie Michel im Gespräch

Frau Michel, als junges Mädchen standen Sie hinter dem Verkaufstresen der Confiserie Ihrer Vorfahren und brachten den Kunden Kaffee und Gebäck. 19jährig verliessen Sie Ihr Elternhaus und hatten dann als Unternehmerin und Netzwerkerin im In- und Ausland Erfolg. Eine Tellerwäscherkarriere? Ich bin eine geborene Dienstleisterin. Die Confiserie Schurter wurde 1869 von meinem Urgrossvater im Erdgeschoss seines Hauses gegründet, eine Backstube mit Ladenlokal und Café. Noch immer ist sie unter demselben Namen am Central in Zürich in Betrieb. Meine Urgrossmutter, meine Grossmutter und meine Mutter, sie alle haben selbstverständlich in der Confiserie gearbeitet. Ohne diese Frauen wäre im Betrieb nichts gelaufen. Auch ich habe schon früh

Ich habe nie eine Sekunde daran gezweifelt, dass ich auf Dauer in einem Hotel nur als Besitzerin oder Direktorin arbeiten würde. mitangefasst. Da es damals keine Spülmaschinen gab, habe ich als Neunjährige vor allem beim Abwasch geholfen. In diesem Sinne habe ich also tatsächlich eine Tellerwäscherkarriere durchlaufen. Dass Sie nicht beim Spülbecken bleiben würden, wussten Sie früh? Während meiner Schulzeit habe ich nur ein einzigesmal für einen Aufsatz die Bestnote erhalten. In der vierten Klasse der Primarschule wurden wir gefragt, was wir uns für die Zukunft wünschten. Ich schrieb: «Entweder möchte ich Unternehmerin werden oder Mutter von mindestens 12 Kindern.» Ich wollte etwas bewirken und dabei viel mit Menschen zu tun haben. Meine liberalen Eltern hatten mir angeboten zu studieren. Ein Mathematikstudium hätte mich zwar interessiert. Doch ich wollte keine Wissen38

schafterin werden, sondern mein mathematisches Denken im Alltag gebrauchen. Und so entschied ich mich für das Hotel- und Gastgewerbe. Ich war der Meinung, diesen Weg im Blut zu haben, da ja alle meine Vorfahren väterlicherseits in diesem Bereich gearbeitet hatten. 1950 begann ich daher meine Ausbildung an der Hotelfachschule in Lausanne. Was dann aber wieder hiess: Tellerwaschen. Doch nur für kurze Zeit. Ich habe nie eine Sekunde daran gezweifelt, dass ich auf Dauer in einem Hotel nur als Besitzerin oder Direktorin arbeiten würde. Und bald war ich auch in den oberen Etagen. Den Weg, den ich bis dahin zurücklegen musste, bin ich gern gegangen, die Arbeit im Service gehörte dazu. Es war ein wichtiger Lernprozess. Ich weiss daher, wie so ein Hotel, das ja ein ganz eigener Kosmos ist, in allen Bereichen und auf allen Ebenen funktioniert. Nach Lausanne habe ich einige Zeit in der Confiserie meiner Familie gearbeitet; dann bin ich 1956 für einen Stage nach London ins Hotel Dorchester gegangen. Mein Vater erkrankte bald darauf schwer, und meine Mutter brauchte meine Unterstützung im Betrieb. Also bin ich zurück nach Zürich gekommen und Mitglied der Geschäftsleitung geworden, zuständig unter anderem für die Mitarbeiter, den Einkauf und die Werbung. Ein erster Karriereschritt zu einer Zeit, als das bürgerliche Ideal die Frau vor allem als Mutter und Ehefrau sah. Wie haben Sie die fünfziger Jahre erlebt? Ich habe mir damals öfter überlegt, ob ich nicht auch auf der Strasse für das Stimm- und Wahlrecht der Frauen kämpfen sollte. Doch ich habe mich dagegen entschieden. Das hatte auch einen politischen Grund. Ich komme nicht aus dem Milieu der Kämpferinnen. Mit meiner konservativen, bürgerlichen Herkunft gehöre ich da auch nicht hin. Mit den Frauenrechtlerinnen habe ich mich nie besonders gut verstanden. Selbstverständlich habe ich sie respektiert, und ich bin dankbar für das, was sie für uns Frauen getan haben. Aber es war nicht mein Umfeld.

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unternehmergespräche Rosmarie Michel

Sondern? Ich habe meine sozialpolitischen Anliegen dort vertreten, wo die Entscheidungen gemacht werden. Wäre ich auf die Strasse gegangen, wäre ich in den Entscheidungsgremien nicht mehr akzeptiert worden. Wir Frauen, das ist meine Überzeugung, werden den Kampf für gleiche Rechte nur gewinnen, wenn wir an Terrain gewinnen. Wenn wir nur über Veränderungen sprechen und das System bekämpfen, dann ist das ein unnötiger Kraftverlust. Wenn Frauen meiner Generation vorwärtswollten, dann mussten sie pragmatisch sein und innerhalb des Systems eingreifen. Ich habe mich in den verschiedenen Gremien und Kommissionen, in denen ich sass, immer für die Anliegen der Frauen einzusetzen gewusst. Also für bessere Ausbildungschancen, für einen Arbeitsplatzlohn, der nicht nach Geschlecht unterscheidet, für den Zugang zum höheren Kader und nicht zuletzt für das Wahl- und Stimmrecht der Frauen. Aus Ihnen spricht die Reformerin, nicht die Utopistin. Das hat sicher etwas damit zu tun, dass ich in einer Umgebung aufgewachsen bin, in der ich nicht allzusehr vom gewöhnlichen Alltag abgeschottet war. Ich lebe ja seit meiner

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Geburt mitten in einem Quartier, das viele soziale Bedürfnisse aufweist. Auf der Strasse vor meiner Haustür etwa sind die Prostituierten ihrem Geschäft nachgegangen. Und da ich einen Teil meines Lebens auch in gastgewerblichen Betrieben zugebracht habe, habe ich immer wieder mit Menschen zu tun gehabt, die aus sehr einfachen Verhältnissen kamen. Ich habe auch deshalb einen anderen Zugang als die Theoretikerinnen: ich war immer unmittelbar mit der Wirklichkeit konfrontiert und habe gesehen, dass Frauen weniger Rechte haben. Das hat meinen Gerechtigkeitssinn provoziert, in einer Art und Weise, dass ich wütend wurde. Aus dieser Wut heraus habe ich versucht, wo immer ich war, Missstände zu mildern, nicht jedoch das ganze System auszuhebeln. Das will ich Ihnen gerne glauben. Wie sah Ihre Art des Einsatzes für mehr Rechte der Frauen aus? Seit 1964 war ich etwa im Vorstand des Zürcher Clubs der «Business and Professional Women», eines weltweit aktiven Verbands der Geschäftsfrauen. In Zürich waren wir rund 300 Mitglieder. Wir haben den für das Frauenstimmrecht politisierenden Frauen ein Podium gegeben, damit sie sich in der 39


unternehmergespräche Rosmarie Michel

Öffentlichkeit mehr Gehör verschaffen konnten. Auch ich war auf vielen Anlässen – wie etwa dem Nationalen Schweizer Frauenkongress – eine starke Stimme pro Frauenstimmrecht und damit eine Ausnahme in meinem bürgerlichen Bekanntenkreis. Dort gab es namhafte Frauen, die dagegen waren. Sie können sich vorstellen, wie viel Freude ich daran hatte. Was waren denn die Argumente gegen das Frauenstimmrecht? Sie meinten, die Familienstruktur würde Schaden nehmen und man könne den Kindern nicht mehr genügen. Ihr Hauptargument war, dass man doch genügend Einfluss durch den Mann habe. Doch welcher Mann will schon dauernd so abstimmen, wie seine Frau es ihm sagt? Noch heutzutage wird im Ausland häufig auf das späte Stimmrecht der Schweizer Frauen angespielt, über das ja erst 1971 auf eidgenössischer Ebene positiv entschieden wurde. Ich könnte mir vorstellen, dass Sie oft darauf angesprochen wurden, als Sie in den sechziger und siebziger Jahren international einflussreiche Funktionen wahrnahmen. In der Tat. Ich musste mich oft wehren. 1970 sass ich bei einem offiziellen Abendessen der Uno in Genf neben einer Nigerianerin. Sie sagte zu mir: «Poor woman, you have no vote.» Da wusste ich im ersten Moment nicht, ob ich

Ich habe zum Entsetzen vieler Teilnehmer vorgeschlagen, den Frauen ihre Kinderpause im gleichen Mass für die Rente anzurechnen wie den Männern ihren Einsatz in der Milizarmee. ärgerlich werden sollte. Doch sie war unser Gast, und ich versuchte es mit Argumenten. Ich fragte sie, was sie für einen Einfluss in ihrem Umfeld oder in ihrer Gemeinde habe. In nur zwei Sätzen hatte sie gesagt, was sie machen durfte und was nicht. Dann habe ich ihr erzählt, was für Strukturen wir in der Schweiz haben, wie stark etwa der Einfluss der Frauen bei Bildungsfragen wie auch im Sozial- und Gesundheitswesen ist. «Poor woman» hat sie nicht noch einmal zu mir gesagt. Ihr war klar geworden, wieviel man in der Schweiz als Individuum verändern und dank dem demokratischen System beeinflussen kann, wenn man nur den Mut dazu hat. Geben Sie ein Beispiel. Mitte der siebziger Jahre war ich zu einem Workshop mit Verantwortlichen aus der Wirtschaft eingeladen, in dem wir über die Tarifstruktur diskutierten. Meiner Meinung nach 40

Die Tendenz, sich wieder vermehrt nur der Familie zu widmen, gefällt mir nicht. Das hat auch mit dem Wunsch nach privater Sicherheit zu tun. wurden die Frauen hier benachteiligt, und ich habe zum Entsetzen vieler Teilnehmer vorgeschlagen, den Frauen ihre Kinderpause im gleichen Mass für die Rente anzurechnen wie den Männern ihren Einsatz in der Milizarmee. Dafür braucht es allerdings die Bereitschaft der Frauen, sich auch nicht früher als die Männer in Rente setzen zu lassen. Es muss gelten: gleiche Rechte, gleiche Pflichten. Inzwischen sind viele Ihrer damaligen Forderungen verwirklicht. Nutzen die Frauen die Chancen, die sich ihnen heutzutage bieten? Zu wenig. Der Kampf zwischen den Anhängerinnen von Familientradition und den Berufstätigen hat sich wieder verschärft. Die Tendenz, sich wieder vermehrt nur der Familie zu widmen, gefällt mir nicht. Das hat auch mit dem Wunsch nach privater Sicherheit zu tun. Das ist meiner Meinung nach eine kurzfristige Lebensplanung. Die Kritik ist deutlich. Haben Sie keine Angst, dass sie als Bumerang zurückkommt und Ihnen vorgeworfen wird, Sie selbst hätten es gar nicht erst versucht, beides zu verknüpfen? Schliesslich haben Sie ja keine eigene Familie gegründet. Ich hätte sehr gerne geheiratet und eine Familie gehabt. Es bereitet mir noch immer grosse Mühe, dass ich keine eigenen Kinder habe. Aber mein Partner starb, als ich 25 war. Vielleicht hat das auch mit meinem Pragmatismus zu tun: ich wollte nach diesem Unglück nicht sitzen bleiben und in meiner Trauer erstarren. Daher bin ich ins Ausland gegangen. Natürlich hatte ich immer wieder schöne Partnerschaften und wurde auch immer wieder umworben, doch eine Ehe hat sich nicht mehr ergeben. «Man wird nicht als Frau geboren, man wird es», so Simone der Beauvoir Ende der vierziger Jahre. Welchen Rat geben Sie Frauen, die Kinder und Karriere vereinbaren wollen? Tüchtige Frauen müssen nicht auf Kinder verzichten, sie sind auch tüchtige Mütter. Ich weiss, das sage ich als Kinderlose jetzt leicht. Doch ich habe als Vorbild meine Mutter, die immer voll gearbeitet hat. Wir hatten eine Kinderschwester, das war selbstverständlich. Den ganzen Erziehungskram mussten wir daher nicht mit unseren Eltern abhandeln. Ich bin nach wie vor der Ansicht, dass die Beziehung zwischen Mutter und Kind etwas mit Qualität und Intensität zu tun hat, und nicht mit dem zeitlichen Engagement. Meine Mutter hatte wenig Zeit für uns, aber wenn, dann war sie voll für uns da.

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unternehmergespräche Rosmarie Michel

Die bürgerliche Kinderschwester ist heutzutage kaum mehr anzutreffen. Das stimmt. Aber in Bezug auf Fremdbetreuung gibt es andere Möglichkeiten. Wir müssen da beweglicher sein. Neben der staatlichen Kinderbetreuung haben wir zum Beispiel eine Legion junger Grossmütter. Und dann gibt es auch noch die ausländischen jungen Frauen, die bei uns putzen. Warum nicht sie für die Kinderbetreuung einsetzen? Es braucht doch keine ausgebildeten Kinderschwestern! Auch da muss man pragmatisch bleiben. Deswegen sind auch die politischen Argumente fehl am Platz, dass wir nur gutausgebildete Ausländer ins Land lassen dürfen. Das tägliche Leben besteht aus so vielen Hilfeleistungen, für die man keine Vorkenntnisse braucht. Und was ich auch immer wieder versuche, den jungen Frauen zu sagen: wir Frauen haben eine Lebenserwartung von mehr als 80 Jahren, wobei die Zeit, in der wir intensiv von unseren Kindern gebraucht werden, grade mal 10 bis 15 Jahre dauert. Und die restlichen 50 Jahre? Die Frauen sollten sich für Bedingungen einsetzen, damit sie diese Jahre ihres Erwachsenenlebens ohne Karriereeinbussen arbeiten können.

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«Unleashing the power of women» ist der Wahlspruch von «Women’s World Banking». Sie waren über viele Jahre Vizepräsidentin dieser New Yorker Organisation. Was war Ihr Anliegen? Armen Frauen in den Entwicklungsländern einen Zugang zu mehr Unabhängigkeit und Sicherheit zu öffnen. Schon 1975, zwei Jahre bevor der Friedens-Nobelpreisträger Muhammad Yunus seine Kreditbank für Mikrofinanzierung gründete, haben fünf Frauen in New York «Women’s World Banking» gegründet und damit ein Instrument geschaffen, das den Zugang zu Kleinstkrediten und Knowhow verschafft. Zu ziemlich strengen Bedingungen und mit einem spürbaren Zinssatz. Wenn Sie Almosen geben, entsteht keine Partnerschaft auf Augenhöhe, sondern Abhängigkeit. Die Frauen müssen die Bedingungen der freien Marktwirtschaft kennen lernen und autonom werden, wenn Entwicklungshilfe auf Dauer erfolgreich sein soll. Hinzu kommt die Frage, wie wir die notwendigen Mittel beschaffen, wenn wir zu tiefe Zinssätze 41


unternehmergespräche Rosmarie Michel

ansetzen. Die Armen haben übrigens eine sehr hohe Zahlungsmoral; die Rückzahlungsquoten liegen bei 98 Prozent. Verhältnisse, von denen die Schweizer Grossbanken bei ihrer Kundschaft nur träumen können. Warum erhalten fast nur Frauen diese Kleinstkredite? 80 Prozent der Ärmsten sind Frauen. Zudem sind sie verantwortungsvolle Unternehmerinnen, die mehr als die Hälfte ihres Einkommens für Erziehung und Gesundheit aufwenden. Oft sind sie alleinerziehende Mütter und Ernährer einer Grossfamilie. Sie verbessern damit auch die Infrastruktur ihres Dorfes, eine Basis, auf der dann noch viel gedeihen kann. Man darf das nicht überbewerten. Doch ich bin der festen Überzeugung, dass wir mit der Stärkung der materiellen Basis auch die Unabhängigkeit armer Menschen stärken können. Jetzt werden Sie ja doch noch zur Visionärin. Doch kommen wir zurück zu Ihrem Lebensweg. Nachdem Sie die Geschäftsführung Ihres Familienbetriebs übernommen hatten, erhielten Sie ein Mandat nach dem anderen und wurden in eine Reihe

«Lieber Herr Präsident. Es kommt auf die Interpretation an. Sie täuschen sich. Natürlich bin ich eine Feministin.» von Entscheidungsgremien gerufen und schliesslich sogar Weltpräsidentin der «Business and Professional Women». Ich habe mich nie beworben, sondern mir fiel eine Aufgabe nach der anderen zu. Das hat bestimmt auch mit meiner Entscheidungsfreude zu tun. Meinen Namen in der Öffentlichkeit bekanntgemacht hat wohl auch das Präsidium des Verwaltungsrats der ZFV-Unternehmungen, einer Zürcher Gastronomiegruppe mit einer stattlichen Anzahl von Hotels, Gaststätten, Cafés und Personalrestaurants. Der Verwaltungsratspräsident meines ersten Bankmandats, bei der Schweizerischen Volksbank, die später von der Credit Suisse übernommen wurde, hat mich angerufen, nachdem er mich 1983 im Radio gehört hatte. Er sagte mir, sie würden eine fähige Frau für den Verwaltungsrat suchen,; denn dieser bestehe momentan nur aus Männern. Ausserdem hätte ich einen Leistungsausweis im Detailhandel und im Dienstleistungssektor, einem Bereich, der gerade nicht besetzt sei. Daher wäre ich die Person ihrer Wahl. Und dann sagte er noch folgendes: «Ausserdem scheinen Sie keine Feministin zu sein.» Worauf ich antwortete: «Lieber Herr Präsident. Es kommt auf die Interpretation an. Sie täuschen sich. Natürlich bin ich eine Feministin.» 42

Offensichtlich eine, die sich nicht durch rot gefärbte Haare, schräge Klamotten und eine kämpferisch gestreckte Faust verrät, sondern sich unter einem harmlosen konservativen Outfit versteckt. Das sehen Sie richtig. Das ist mein Erfolgsgeheimnis. Ich bin mit meinen 1,58 klein und nicht bedrohlich, ich wirke bürgerlich und ungefährlich. Bis zu dem Zeitpunkt, wo ich das erstemal meinen Mund aufmache. Und danach? Wirke ich zwar nicht mehr harmlos, besitze aber dafür den Respekt der Runde. Das hat wohl auch damit zu tun, dass ich versuche, sachlich zu sein. Doch vor allem habe ich nie gefordert, dass die Männer dies oder jenes für uns Frauen verändern müssen. Sondern ich habe immer versucht zu zeigen, dass wir Frauen aktiv werden wollen und fähig sind, Verantwortung für die gesamte Gesellschaft zu übernehmen. Ich habe immer konkrete Vorschläge gebracht und die liessen sich sehr oft, wenn auch nicht immer sofort, in die Tat umsetzten. Damit wurden meine männlichen Geschäftspartner zu Mitstreitern. Zumindest die entwicklungsfähigen. «Man wird nicht als Geschäftsfrau geboren, aber man kann es werden», lässt sich mit Blick auf Ihr Lebenswerk Simone de Beauvoir variieren. Was half Ihnen bei Ihrer Karriere? Karriere ist nicht das richtige Wort. Ich habe mein Leben nicht geplant, sondern die gebotenen Chancen wahrgenommen. Stark beeinflusst hat mich sicher das Vorbild meiner Mutter, die Lebensgeschichten meiner Gross- und Urgrossmütter und etlicher Mentorinnen. Pragmatismus, Arbeitsund Lebensfreude wurden mir in die Wiege gelegt. Und ausserdem wurde ich ohne jegliche Minderwertigkeitskomplexe geboren. Und jetzt lassen Sie uns noch ein Glas Wein trinken gehen. Das Gespräch führte Suzann-Viola Renninger. Fotografiert hat Giorgio von Arb.

Rosmarie Michel wurde in Zürich geboren. Bis 2006 war sie Inhaberin der von ihrem Urgrossvater 1869 gegründeten Confiserie Schurter. Rosmarie Michel sass im Verwaltungsrat der Credit Suisse und war 20 Jahre lang Vorsitzende der Gastronomiegruppe ZFV. Neben ihrer Berufsarbeit war sie Weltpräsidentin der «Business and Professional Women» und Vizepräsidentin bei «Women’s World Banking» in New York. Die inzwischen 77jährige ist weiterhin als Beirätin tätig, etwa bei der Social Investment AG «ResponsAbility».

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GALERIE Annelies Štrba

aus «Aya», 2001

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fokus Von der Kunst, den «Grünen Heinrich» zu lesen

1853 schrieb Gottfried Keller an einen Freund: «Ich habe gesehen und gestaunt, wie schlecht und unfähig die Produkte anderer Leute gelesen werden.» Trotz dieser pessimistischen Einschätzung Kellers wurden beide Fassungen des «Grünen Heinrichs» offenbar gut und fähig genug gelesen, um inzwischen zur Weltliteratur zu zählen. Von der Kunst, Gottfried Keller zu lesen, handelt auch eine diesjährige Vorlesung am Deutschen Seminar der Universität Zürich. Die Zürcher Germanistin Sabine Schneider erläutert im folgenden, wie Heinrich dem Bilderkult erliegt und seine beiden Geliebten – Judith und Anna – auf eine modern zu nennende Weise medialisiert: als überlebensgrosse Mamorstatute die eine, als flaches Tafelbild die andere. Erreichen kann er beide nicht. Am Ende erliegt er der Magie seiner imaginierten Frauenbilder. Fokus 2008, Folge V

Von der Kunst, den «Grünen Heinrich» zu lesen Frauenbilder

Sabine Schneider

Bilder, zumal Porträts, haben eine beunruhigende Ambivalenz. Die bildliche Repräsentation tritt an die Stelle des lebendigen Menschen und verschafft ihm eine magische Gegenwart, ersetzt ihn jedoch auch und hält dem geweckten Begehren nach Verlebendigung die dämonische Schein-

Fokus 2008: Von der Kunst, den «Grünen Heinrich» zu lesen bisher: April, Folge I, Ein Roman, fast wie ein Brief Mai, Folge II, Die Verabschiedung der Gottesidee Juni/Juli, Folge III, Vom Kritzeln, Malen, Schreiben und Fechten August, Folge IV, Das Glück des Wissens aktuell: Folge V, Frauenbilder kommend: November, Folge VI, Die beiden «Fassungen» 44

haftigkeit des nur ästhetisch vorgespiegelten Lebens entgegen. Bilder sind also riskant. Wer den ikonischen Schein des Lebens mit diesem selbst verwechselt und der Verführung der Bilder erliegt, verfehlt das Leben und erstarrt im Begehren des Unmöglichen, da Abwesenden. Von dieser selbstzerstörerischen Begehrensstruktur im Bann der Bilder erzählt der Mythos von Narziss im dritten Buch von Ovids «Metamorphosen». Von ihr erzählt auch die Literatur des Realismus mit einer Obsession, die unterlegt ist von einer tiefen Melancholie und deren allgegenwärtiger Subtext eben jener Mythos ist. Heinrich Lee, der junge Held in Kellers Roman, der vor allem in der «Jugendgeschichte» der ersten Fassung von 1854/55 der Bilderlust seiner Phantasie nachhängen darf, ist ein solcher Narziss. Seine schöpferische Kraft als angehender Künstler übt sich im Entwerfen «süße[r] Frauenbilder», wie Kellers spätes Gedicht «Tod und Dichter» es als «lieblichste der Dichtersünden» benennt. Deren traumhaft-irrealer Status – «wie die bittre Erde sie nicht hegt» – ist dem Leser ebenso offensichtlich, wie er für den Romanhelden selbst undurchschaubar ist. Schein und Sein, die Welt der imaginären Bilder und die der lebendigen Begegnung, fallen für Heinrich Lee zusammen. Wie Narziss zahlt er dafür am Ende mit dem Leben, aussichtslos verstrickt in seine eigene

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fokus Von der Kunst, den «Grünen Heinrich» zu lesen

Titelblatt der ersten und einzigen Auflage der ersten Fassung des «Grünen Heinrich» von 1854*

Bildproduktion, die ihn in der Rolle des ewigen Zuschauers festbannt. Was Max Frisch in seinem ersten Tagebuch als Versündigung am Lebendigen bezeichnet hat – sich vom anderen ein Bildnis zu machen –, ist auch Heinrich Lees Jugendsünde, von der er bis zu seinem Tod nicht erlöst wird. Er zeichnet seine bittersüssen Frauenbilder als luftige Träume in den Himmel, stellt sie als malerische Kompositionen selbstverliebt zusammen, komponiert sie synkretistisch aus dem Arsenal der Kunstgeschichte und der kollektiven Phantasmen. Als Narziss ist er der ewig Unreife, der die Frauen gar nicht anders wahrnehmen kann als in der Erscheinungsform des Bildes, als schöne optische Konfigurationen, in strikter Aussensicht gesehen. Dass sich über das Seelenleben etwa der Judith nichts «Bestimmtes» sagen lässt, hat weniger mit ihrer Verschlossenheit zu tun als mit einem Erzählverfahren, das an die Stelle psychologischer Plausibilitäten eine Choreographie der Blickführung aus der Sicht des männlichen Protagonisten setzt, in der die Frau nur als optische Erscheinung zur Darstellung kommt. Sie wird zur Leinwand für die männliche Wunschproduktion und ihre Stereotype. Alle Weiber stecken, so erfahren wir es aus dem Munde Heinrichs, in der einen archetypischen Frauengestalt beisammen, «ausgenommen die häßlichen und

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die schlechten». Nicht zuletzt deshalb ist es die Farbe Weiss – das lichte Antlitz Annas, die weisse Haut und die weisse Wäsche Judiths, und das glänzendste Heiligtum im «weißen Raum ihrer Brust», die eine fetischartige Bedeutung erlangt, weil sie der Einzeichnung oder Einschreibung den noch unbezeichneten Raum eröffnet. Ein solches epochenspezifisches Phantasma wird im Roman in seinem Scheitern vorgeführt. Heinrich zitiert es, als er durch die Glasscheibe auf dem Sarg der toten Anna das bleiche Gesicht der schönen Leiche erblickt: «Ich glaube, die Glasscheibe that es mir an, daß ich das Gut, was sie verschloß, gleich einem in Glas und Rahmen gefassten Theil meiner Erfahrung, meines Lebens, in gehobener und feierlicher Stimmung, aber in vollkommener Ruhe begraben sah» (12, 96 f .)**. Vom ästhetischen Genuss ist, anstössig genug, im folgenden die Rede und von der Freude am «nun ernst werdenden Wechsel des Lebens». In Glas und Rahmen gefasst, ist die tote Anna hier zur «poetisch schöne[n] todte[n] Jugendgeliebten» erstarrt und wird als schöne Ikone zum abgelegten Bild eines abgeschlossenen Lebensabschnitts im Bildungsgang des männlichen Helden. Diese endgültige Stillstellung ist nur der logisch konsequente Endpunkt eines ästhetischen Verfahrens, in dessen Fortgang die lebendige Frau erst idealisierend entrückt wird, um dann durch das imaginierte Bild ihrer selbst ersetzt zu werden. Es ist im Kontext dieser narzisstischen Erotik und ihrer Bildmaschinerie durchaus nicht harmlos, wenn Gottfried Keller in einem autobiographischen Bericht, der im Jahr 1876 in der Zeitschrift «Die Gegenwart» erschien, über die beiden Frauengestalten in der Jugendgeschichte des Helden schreibt, sie seien «gedichtete Bilder der Gegensätze, wie sie im erwachenden Leben des Menschen sich bestreiten». Projektive Wunschbilder sind Anna und Judith in der Tat: Anna, die ätherische Geliebte, Kindfrau und nazarenische Heilige, in der Heinrich den geistigeren Teil seines Selbst verehren möchte, und Judith, die mütterliche Geliebte, an deren weisser Brust er selige Augenblicke verbringt und deren sinnlich Berückendes er als sündhaften Teil gegen die Reinheit Annas ausspielt. Den Einteilungen Heinrichs ist freilich nicht zu trauen. Was er in den Bildern Annas und Judiths zu sortieren bestrebt ist, zeigt auf der Darstellungsebene vielfache Verschränkungen. Am Mythos der Wasserfrau etwa, dem Archetypus des männlichen Angstbilds verschlingender Weiblichkeit, partizipieren über die ikonographischen Attribute beide Frauenbilder. Nicht nur Judith wird als «eine Art Lorelei» bezeichnet und steigt, während das Wasser von den Lenden zurückrauscht, spektakulär als badende Venus aus der Flut, sondern auch Annas Bild schaut in der «Heidenstube» aus der «tiefen, dunkelgrünen Fluth» herauf wie das der Venus in Eichendorffs «Marmorbild». Die optische Inszenierung macht deutlich, dass beide zu ein und derselben Ökonomie des imaginierten Weiblichen gehören. Dass die beiden Bilder komplementär angelegt sind, erlaubt es der Wunschproduktion Heinrichs zum einen, das 45


fokus Von der Kunst, den «Grünen Heinrich» zu lesen

Verwirrende und Konfliktreiche seines Frauenbildes schematisierend in einzelne Bilder zu zerlegen. Die Komplementarität der Bilder installiert zum anderen, mindestens ebenso wichtig, einen wechselseitigen Hemmungsmechanismus von Nähe und Ferne. In der lockenden Nähe Judiths, die Arme um «ihren weißen Hals geschlungen», kodiert Heinrich die sinnliche Glut zur «durchsichtigen Rosengluth des Himmels» um, in deren Transparenz er «das feine, schlanke Bild Annas auftauchen» sieht. Die Erfüllung der Liebesbegegnung wird so verhindert und der Bildstatus der Frauen nicht durch lebendige Vereinigung gestört. Als Anna und Heinrich sich an der Heidenstube küssen, ist es mit dem Himmelreich, in das sie durch eine «Himmelspforte» eingetreten zu sein scheinen, schlagartig vorbei. In dieser körperlichen Konkretheit ist es Heinrich nicht möglich, sie als jene «reizende, fast mährchenhafte Gestalt» wahrzunehmen, als die die Szene sie lockend eingeführt hat. «Das fast feindliche Fühlen des Körpers riß uns vollends aus dem Himmel», heisst es, und so endet die Liebesszene auch abrupt mit der Wiederherstellung der narzisstischen Spiegelkonfiguration. Statt sich zu umarmen, «blickten wir mit düsterem Schweigen in das feuchte Element, von dessen Grund unser Spiegelbild, Haupt neben Haupt, zu uns herauf sah».

Die in Glas und Rahmen gefasste tote Anna ist der konsequente Endpunkt eines ästhetischen Verfahrens, in dessen Fortgang die lebendige Frau erst idealisierend entrückt wird, um dann durch das imaginierte Bild ihrer selbst ersetzt zu werden. Was aus der Perspektive der erzählten Geschichte des Protagonisten als Geschichte eines erotischen Scheiterns erzählt wird, findet in der Lust am Text (um ein von Roland Barthes geprägtes Schlagwort aufzugreifen) einen Raum der Entfaltung, der den Lustverzicht des Helden konterkariert. Wenn der Wiener Literaturkritiker Emil Kuh in der «Neuen Freien Presse» vom 7.1.1871 treffend von der «Poesie der Unreife» spricht, die sich in der «Jugendgeschichte» des Romans entfalte, dann bringt diese Lust an der Regression jedenfalls ambitionierte Literatur von Weltrang hervor. Der am Leben vorbeiführende Bilderkult Heinrich Lees, das narzisstische Spiegelkabinett der Liebe, wird in Kellers Roman auf raffinierte Weise zum literarischen Ereignis. Zu dieser Raffinesse gehört eine konsequente Medialisierung dieser Frauenbilder, die modern anmutet. Sie erhalten sozusagen jede ihr eigenes Bildmedium, das ihre Bildwerdung 46

mitprägt. Während Judith wiederholt als dreidimensionales, plastisches Bild vorgestellt wird, nach dem Muster der ins Leben übergetretenen Marmorstatue, ist dieses Medium im Fall Annas das flächige Tafelbild, das von einem Rahmen und einem Glasdeckel doppelt eingehegt und distanziert wird. «An einem klaren Spiegelwässerchen», also in der Topographie des mythischen Narziss, malt der junge Heinrich Lee Annas Bild aus dem Gedächtnis. Da seine malerischen Fertigkeiten beschränkt sind, gerät ihm das Bild etwas «byzantinisch», was in Kellers Zeit so viel wie «romanisch» bedeutet, hier aber auf die altertümelnde, künstlich naive Malweise der Nazarener verweist. Besonderen Wert legt der Maler auf den ornamentalen Rahmen, in den die Mädchengestalt eingepasst wird: «Es war in ganzer Figur und stand in einem reichen Blumenbeete, dessen hohe Blüthen und Kronen mit Anna’s Haupt in den tiefblauen Himmel ragten; der obere Theil der Zeichnung war bogenförmig abgerundet und mit Rankenwerk eingefaßt, in welchem glänzende Vögel und Schmetterlinge saßen, deren Farben ich noch mit Goldlichtern erhöhte» (11, 371). Der byzantinische Bogen aus arabeskem Rankenwerk, der das nazarenische Bild mit seiner ästhetisierten kunstfrommen Naivität abrundet und jeglicher Wirklichkeit enthebt, ist in wörtlichem Sinn der Rahmen für die Idealisierung der geliebten Frau zum «Bild einer märchenhaften Kirchenheiligen». Ein zweiter Rahmen macht das Bild portabel. «Fein eingerahmt», mit einer Rahmenleiste, deren ziselierte und lackierte Feinheit mit «Müschelchen» und «Perlenschnur» der Ich-Erzähler ausführlich beschreibt, wird das Aquarell wie ein eingefasstes Schmuckstück ins Haus der Geliebten getragen. Dort wird es in ihrem Kämmerchen aufgehängt, das Heinrich selbst als «Juwelenkästchen» erscheint, das ein «Kleinod» verschliesst. Denselben Weg nimmt wenig später, nur in umgekehrter Richtung, ein anderer Kasten mit Glasdeckel, nämlich der Sarg der toten Anna, in dem sie als eingerahmtes Bild ihrer selbst liegt. Beide Bilder sind durch eine Glasscheibe noch einmal in sich abgeschlossen und auf Distanz gerückt. Schon vor der Verfertigung des Aquarells, als Heinrich das Bild Annas am Spiegelwasser der Heidenstube aus der Flut entgegenlächelt, ist es «wie durch ein dunkles Glas fabelhaft überschattet». Die Glasscheibe über dem Bild ist also schon an seinem Ursprung mitgedacht; gleich wie auch der Rahmen ist sie dem Bild vorgängig. Seine eigentliche Bestimmung erhält das Glas dann als Glasscheibe über dem toten Gesicht der Anna im Sarg. Bei deren Einsetzung erlebt Heinrich «das lieblichste Wunder». Im glänzenden Spiegel der Glasscheibe zeichnen sich nämlich, luftig und zart wie die Bilder der Phantasie, drei Engelsgestalten, die sich von einem Kupferstich auf das Glas übertragen haben. «Aber die Erscheinung war so luftig und zart durchsichtig, daß ich nicht wusste, ob sie auf den Sonnenstrahlen, im Glase, oder nur in meiner Phantasie schwebte» (12, 94) erinnert sich Heinrich. Die Glasscheibe als

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fokus Von der Kunst, den «Grünen Heinrich» zu lesen

Durch die zweifach betonte Fixierung des männlichen Blicks, der immer denselben Abstand hält, indem er sich zuerst magnetisch dem Bilde nachdreht und dann bei dessen Annäherung im Krebsgang zurückweicht, ist eine Berührung ausgeschlossen. Medium des Imaginären wird über das gerahmte Gesicht der schönen Leiche gelegt. Sie überblendet mit den luftig spiegelnden van Eyckschen Engelsfiguren in der «fromme[n] Schraffierung altdeutscher Kupferstecherei» das tote Mädchen vollends zum Palimpsest. Das geschilderte Tableau der toten Anna findet sich im dritten Kapitel des dritten Bandes, also dem letzten Kapitel der Jugendgeschichte. Komplementär dazu steht im selben Kapitel die weitere Bildwerdung einer Geliebten, die berühmte nächtliche Badeszene der Judith. Die Jugendgeschichte endet also mit zwei ikonischen Verdichtungsstellen, in denen sich all die visuellen Inszenierungen der an Frauenbildern so reichen Geschichte noch einmal konzentrieren. Als Heinrich mit Judith einen nächtlichen Spaziergang unternimmt, ist diese plötzlich verschwunden, um als vom Mondlicht erhellte Erscheinung umso spektakulärer vor seinem gebannten Blick wieder aufzutauchen: «Auf den Steinen lagen Kleider, zu oberst ein weißes Hemd, welches, als ich es aufhob, noch ganz warm war, wie eine soeben entseelte irdische Hülle. Ich vernahm aber keinen Laut … und als ich einen Augenblick mich vergessen hatte, sah ich unversehens die nackte Judith schon auf der Mitte dieses Weges angelangt und auf mich zukommen. Sie war bis unter die Brust im Wasser; sie näherte sich im Bogen und ich drehete mich magnetisch nach ihren Bewegungen. Jetzt trat sie aus dem schief über das Flüßchen fallenden Schlagschatten und erschien plötzlich im Mondlichte; zugleich erreichte sie bald das Ufer und stieg immer höher aus dem Wasser und dieses rauschte jetzt glänzend von ihren Hüften und Knieen zurück. Jetzt setzte sie den triefenden weißen Fuß auf die trockenen Steine, sah mich an und ich sie; sie war nur noch drei Schritte von mir und stand einen Augenblick still; ich sah jedes Glied in dem hellen Lichte deutlich, aber wie fabelhaft vergrößert und verschönt, gleich einem über lebensgroßen alten Marmorbilde. Auf den Schultern, auf den Brüsten und auf den Hüften schimmerte das Wasser, aber noch mehr leuchteten ihre Augen, die sie schweigend auf mich gerichtet hielt. Jetzt hob sie die Arme und bewegte sie gegen mich; aber ich, von einem heißkalten Schauer und Respekt durchrieselt, ging mit jedem Schritt, den sie vorwärts tat, wie ein Krebs einen Schritt rückwärts, aber sie nicht aus den Au-

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gen verlierend. So trat ich unter die Bäume zurück, bis ich mich in den Brombeerstauden fing und wieder stillstand. Ich war nun verborgen und im Dunkeln, während sie im Lichte mir vorschwebte und schimmerte; ich drückte meinen Kopf an einen kühlen Stamm und besah unverwandt die Erscheinung» (12, 81f.) Die «entseelte irdische Hülle» des weissen Kleides ruft die Vorstellung einer geisterhaften Erscheinung auf. Die natürliche Judith ist verschwunden; an ihre Stelle tritt die ästhetisch überhöhte Erscheinung ihrer ins Grossartige gesteigerten Gestalt. Epiphanisch tritt sie «plötzlich» als aufleuchtendes Bild aus dem Dunkel hervor. Wenn sich im mehrfach wiederholten «jetzt» die sinnliche Präsenz als erfüllter Augenblick einstellt, scheint die Zeit gebannt zu sein wie der hypnotisierte Held. Dessen Begehren zeigen sich, wie in Zeitlupe verlangsamt, im einzelnen Durchgang die glänzenden Körperteile der Frau von den Schultern bis zum triefenden weissen Fuss. Spätestens an dieser Stelle ist die imaginäre Verwandlung der Frau ins überlebensgrosse Marmorbild und damit die Entrückung zum fabelhaften Objekt der Begierde vollzogen. Durch die zweifach betonte Fixierung des männlichen Blicks, der immer denselben Abstand hält, indem er sich zuerst magnetisch dem Bilde nachdreht und dann bei dessen Annäherung im Krebsgang zurückweicht, ist eine Berührung ausgeschlossen. Dieses Marmorbild wird nicht befühlt, sondern als «glänzende Gestalt» nur, als optisches Phänomen auf Abstand gehalten. Dass der männliche Betrachter dabei im Dunkeln verborgen ist, während die Erscheinung im Licht «vorschwebte und schimmerte», lässt schon vor der Erfindung des Filmmediums an einen dunklen Kinosaal und eine flimmernde Leinwand denken. Keller muss die ungeheure Wirkung dieser Szene selbst unheimlich geworden sein. In der zweiten Fassung des Romans ist sie gestrichen, was in einem Brief an Emil Kuh vom 10.9.1871 als Tilgung roher «Nuditäten» im Sinne eines höheren Kunstverständnisses begründet wird. Es ist ein Akt der Selbstzensur als Zugeständnis an die Prüderie seiner Zeitgenossen. Das ändert nichts daran, dass das schimmernde Frauenbild der badenden Judith eine der sinnlichsten und prächtigsten erotischen Szenen der deutschsprachigen Literatur ist. * Zentralbibliothek Zürich, Ms. GK 120 e1 ** zitiert mit Band- und Seitenangabe nach der Historisch-Kritischen Gottfried-Keller-Ausgabe (HKKA), hrsg. von W. Morgenthaler et al., Zürich/Frankfurt am Main, 1996ff. Die detaillierten Nachweise aller Zitate können gerne bei redaktion@schweizermonatshefte.ch eingeholt werden. Sabine Schneider, geboren 1966, ist Professorin für Neuere deutsche Literatur an der Universität Zürich.

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Literatur Schweizer Literatur in Kurzkritik XI

Bücher, von Frauen geschrieben, und Bücher, in denen Frauen oder auch ein Mädchen im Mittelpunkt stehen. 12 Kritiken, nicht nur für Frauen, in der elften Folge der «Schweizer Literatur in Kurzkritik». Fortsetzung folgt.

Schweizer Literatur in Kurzkritik XI

In die Schelmerei mit vollem Mieder Margrit Schriber: «Die falsche Herrin». Zürich: Nagel & Kimche, 2008.

Haut wie Milch hat sie und ein volles Mieder. Beim Reden singt sie. Ihre Erscheinung lässt die Männer nicht kalt. Aber sie ist auch widerborstig, unbelehrbar, ohne Scham noch Reue. Diese Frau fällt aus der Norm. Die Muotatalerin Anna Maria Inderbitzin, die durch den Irrwitz der Zeiten und Menschen als Sechsjährige ihren Vater im Villmergerkrieg verliert, wird einem Vormund ausgeliefert. Zwischen steilen Flühen aufwachsend, hat die ungebildete Frühwaise Sehnsucht nach Weite und Schönheit und Glück, einen unstillbaren Hunger nach Teilhabe. Doch die Welt ist starr. Ein für allemal sind die Lebenschancen verteilt. Der Putz der Oberschicht, der Anna Marias Augen in der Kirche kitzelt, ist nicht für sie bestimmt. Nur bei den Waschfrauen, denen sie zugeteilt wird, findet sie Verständnis für ihr Streben nach einem andern Leben. Seit sie die biblischen Geschichten vom Garten Eden gehört hat, sucht die «Bitzenin», wie man sie nennt, nach dem Paradies mit all seiner Pracht. Auf einem Schlachtfeld, inmitten von Toten, setzt ihr ein Chinafahrer ins Ohr, dass es einen Garten gebe, dem kein andrer gleicht: Versailles. Versailles wird für sie zum gelobten Land. Es ist gegen alle Regeln. Eine niedrig Geborene will sich mit ihrem Geschick nicht abfinden. Sie löst sich von dem Waschzuber, der ihr für immer zugedacht war, und schwindelt sich in einen besseren Stand. Erst schleicht sie sich als Waschfrau ins Haus des mächtigsten Mannes in Schwyz, des Landammanns Joseph Anton Reding. Dort beobachtet 48

sie die höheren Sitten und Rituale. Dann macht sie sich auf nach Frankreich. Der Sprache nicht mächtig, nistet sie sich in der Seigneurie Montlau in der Dordogne unter falscher Flagge ein und gibt sich als Tochter Redings aus − eine vornehme Dame, dem vorbestimmten Leben als Nonne entflohen, verwirrt, in Lumpen, doch aus angesehenem Haus. Was sie bei Reding gelernt hat, gibt sie nun graziös zum besten. Von hier aus will sie nach Versailles. Kurz aber bevor sie das Ziel erreicht, wird ihr meisterliches Verkleidungsspiel entlarvt. Schwyz verurteilt die kaum zwanzigjährige Bitzenin, nachdem sie schon früher zweimal wegen Diebstahls der Peitsche zugeführt worden war, zum Tod. Und da begibt sich Unerhörtes: eben jener Chinafahrer vom Schlachtfeld heiratet sie vom Galgen weg, wie ein altes Gesetz es erlaubt. Auch der Chinafahrer ist ein Niemand und Hochstapler, nämlich der junge deutsche Gerberssohn und vagierende Studiosus Magnus Weber. Lange hat der vornehm auftretende Fremde scheinbar der wirklichen Tochter Redings den Hof gemacht, und hat diese ihn zum Mann haben wollen, bis er sich als sozialer Niemand und unehelichbar erwies. Sie holt sich von ihm doch einmal noch, was ihr verzweifeltes Leben will, während einer langen Chaisefahrt im Kreis herum, bevor das gesellschaftliche Schicksal sie ins Kloster zwingt. Die Geschichte ist eine Hymne auf die Eigenwilligkeit. Die Bitzenin hat Launen, sie lügt, stiehlt und betrügt. Sie ist schlau und zäh und stark, widerstands- und leidensfähig, gierig nach Neuem, hungrig nach Leben und verwehrter Welt. Ihr nicht zu brechender Selbstbestimmungswillen nimmt eine neue Zeit vorweg. Margrit Schriber hat diese berührende Liebesgeschichte der Wäscherin und des fremden Chinafahrers aufgrund von Ratsprotokollen und anderen Archivalien der historischen Anna Maria Inderbitzin gestaltet, die Anfang des 18. Jahrhunderts dreimal wegen Schelmerei, Hochstapelei und

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Literatur Schweizer Literatur in Kurzkritik XI

Vagantentum im welschen Land verurteilt wurde. Der Grad geschichtlicher Genauigkeit, ja dass es diese Frau überhaupt gegeben hat, ist indes ohne Belang. Diese in sich stimmige Geschichte braucht keine aussernarrative Authentizität, keine Verbürgung durch Quellen. Anschaulich leuchtet die Zeit aus den zahlreichen, minutiös genauen, bildersatten, koloritversprühenden Beschreibungen heraus. Erzähltechnisch gleicht das reich facettierte Arrangement, gleichen diese vielstimmigen Mitteilungen aus einer Welt des Jammers, einem Theaterstück. Die Schauplätze wechseln, historische Erzählzeit und Rückblenden fliessen ineinander. Augenzeugen geben belastende Auskunft vor einem Tribunal, das es zum letzten Gericht denn doch nicht bringt. Die Waschfrauen, die mit Anna gearbeitet haben, mischen sich ein mit ihren Meinungen, als kommentierender Chor; worauf ihre poetisch überhöhte Sprache hindeutet. Ein Einwand zuletzt: das Buch erinnert in Machart, Thema und Tonalität aufs deutlichste an den − vielleicht noch stärkeren − Vorgänger «Das Lachen der Hexe», zu seinem Schaden, weil sich ein »Déja-lu»-Effekt einstellt. Künstler sollten sich nicht wiederholen. vorgestellt von Thomas Sprecher, Zürich

Ins Début mit 11 Geschichten

sich gleich wieder fasst, verfolgt sein Blick die Erzählerin in ihre Träume. Geduldig und behutsam forscht Anja Jardine ihren Figuren nach, die unglücklich, unstet, unbeholfen auf der Suche nach dem Glück sind. In der Liebe könnte sich dieses erfüllen, doch häufig weht es bloss wie ein flüchtiger Duft an ihnen vorüber. Ihre Protagonisten sind freundliche Menschen in Lebenslagen, die manchmal zum Verzweifeln sind. Beispielsweise in «Kreidehände», einer hinreissenden Reminiszenz an die Leiden der Gymnasialzeit. Die Dispute zwischen dem wunderlichen Physiklehrer Opitz und seinem gefährdeten Schüler Kalle drehen sich um die Freiheit: «Um die Frage, ob die Gesetzmässigkeiten, nach denen unsere kleinsten Bausteine agierten, überhaupt Raum für den freien Willen liessen.» In einem Anflug verzweifelten Aufbegehrens will Kalle seinem Lehrer beweisen, dass es einen Moment der Freiheit tatsächlich gibt: wenn zwei Menschen unabhängig voneinander aus unterschiedlichen Stockwerken von einem 75 Meter hohen Haus stürzen, können sie sich im Flug begegnen: dann sind sie «3,7 Sekunden lang nicht allein». Doch Opitz weist ihm kühl einen Rechenfehler nach. Der Mensch ist zur Freiheit geboren, vielleicht, aber es ist schwer, diese Freiheit zu erkennen und zu bewahren. Anja Jardines Erzählband überzeugt durch seine Hingabe an die zwischen Beharrlichkeit und Selbstaufgabe schwankenden Figuren und durch ein beeindruckendes Feingefühl für deren Nichtverstehen, das den Geschichten jederzeit etwas unauflösbar Hintergründiges lässt. vorgestellt von Beat Mazenauer, Luzern

Anja Jardine: «Als der Mond vom Himmel fiel». Zürich: Kein & Aber, 2008.

Unter den Débuts des Frühjahrs 2008 sticht der Erzählband «Als der Mond vom Himmel fiel» von Anja Jardine hervor. Präzise, atmosphärisch dicht erzählt die Autorin in 11 Geschichten von Menschen, die auf ihr Glück warten. «Possibly maybe probably love» ist im Vorspann die Sängerin Björk zitiert: Es könnte sein, vielleicht wahrscheinlich. Als Beobachterin besitzt Anja Jardine, Redaktorin beim NZZ-Folio in Zürich, ein scharfes Auge für abschüssige Details und sublime Signale. So in der Erzählung «Badnjars Augen». Unmittelbar nach Ende des Bosnienkrieges begleitet eine Reporterin den vertriebenen Bosnier Mevsud nach Sarajevo zurück. Die Behörden haben ihn ausgeschafft, kaum ist ein brüchiger Friede geschlossen worden. Seine alte Wohnung im Stadtteil Ilidja ist noch von den Serben besetzt, doch Mevsud möchte sie wiedersehen – und vor allem seinen serbischen Nachbarn und Freund besuchen, bevor er laut Friedensvertrag wegzugehen hat. Vor dem Haus begegnen sie Badnjar. Brutal und dumpf gefällt er sich in der Pose des bewaffneten Kriegers – wenn seine Augen nicht wären. «Es liegt etwas Bittendes darin, ein Flehen.» Während Badnjar

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Im Garten mit Niki Niki de Saint Phalle, «Der Tarotgarten». Wabern/Bern: Benteli, 2008.

Das Tarot mit seinen Karten – insbesondere die 22 grossen Arkana – geht vermutlich auf die Bildsymbole altägyptischer Priester zurück. Im 15. Jahrhundert sind in Italien die ersten Kartenspiele dieser Art nachweisbar; sie waren auch von Kirche und Päpsten geachtet. Die grossen Arkana, die vermutlich archetypische Vorstellungen abbilden, die auch kabbalistische Ursprünge haben und den 22 Buchstaben des hebräischen Alphabets entsprechen, findet man zum Beispiel im Dom von Siena dargestellt. Antonia Mantegna war nur einer der bekannteren unter zahllosen Künstlern, die Tarotkarten gestalteten. Das Tarot bedeutete auch für Niki de Saint Phalle eine Möglichkeit, tiefere Einsichten in das Leben zu erlangen. Sie hat mit unvorstellbarem Ar49


Literatur Schweizer Literatur in Kurzkritik XI

beitseinsatz ihre eigene plastische Variante monumentaler grosser Arkana im Süden der Toscana in einem Garten gestaltet, wobei sie ihrer Vision einer grossen Gartenanlage im Stil von Antonio Gaudís Parc Güell und dem Vorbild des verwunschenen Sacro Bosco in Bomarzo aus der Renaissancezeit folgte. Vor allem aus Keramik und Spiegelscherben gestaltete Oberflächen ermöglichen durch die Reflexion von Natur, Licht, Farben und Betrachter eine von ihrem Lebensgefährten und Mitgestalter Jean Tinguely vis-a-visification genannte gleichzeitige Brechung und Sammlung des visuellen Mikro- und Makrokosmos. «Der Tarotgarten» wird bereits in 5., unveränderter Auflage vom Benteli-Verlag herausgegeben. Auf vielen Fotos wird der in der Nähe von Capalbio in der Maremma gelegene Park in der Entstehungsphase und in seinem ursprünglichen, heute leider nicht mehr so schön erhaltenen Zustand gezeigt. Dazu kommen Niki de Saint Phalles Kommentare zu den begehbaren und sogar von ihr bewohnten monumentalen Skulpturen, übersetzt und typographisch in ihre Handschrift übertragen. Knapp und informativ wird am Ende der Lebenslauf der 2002 verstorbenen Künstlerin angefügt. Mehr ist nicht nötig, um Lesern einen Eindruck zu vermitteln von der Buntheit, der Lebensfreude, der Monumentalität der Figuren und Gebäude. Kein Kunstkommentar, keine der hundertfach erschienenen biographisch-psychologisierenden Interpretationen könnte den Genius Loci so vermitteln, wie es dieses Büchlein tut, das somit auch keines Kommentars bedarf und allen ehemaligen und zukünftigen Gartenbesuchern, Niki-Fans oder Geniessern des Aussergewöhnlichen und Schönen empfohlen werden kann. «Wenn das Leben ein Kartenspiel ist, dann sind wir geboren worden, ohne die Regeln zu kennen. Und doch müssen wir mitspielen…» Diese Aussage Niki de Saint Phalles in ihrem Kommentar zum Tarotgarten mag man als Lebensweisheit begreifen oder nur als hübsche Formulierung wertschätzen – deutlich wird durch ihre Texte in diesem Buch, wie auch in der im gleichen Verlag erschienenen bebilderten Autobiographie «Harry and Me. Die Familienjahre 1950–1960», dass sie nicht nur eine bildende Künstlerin war, sondern auch auf dem Gebiet der Schriftstellerei ihr trotz allen Lebensleiden ungebrochenes Multitalent auszuleben vermochte. vorgestellt von Sabine Kulenkampff, Erlangen

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Im Bilderbuch als Arbeitsloser Lydia Zeller (Text) und Monika Maslowska (Illustration): «Suche Arbeit für Papa». Zürich: Bajazzo, 2008.

Kinderbuchwelten sind magische Welten. Kreativität, Phantasie und Liebe zu Sprache und Bild sind dort zu Hause. Und so macht Kinderliteratur auch neugierig: auf die Welt der Bücher, auf die Welt in einem selbst und, nicht zuletzt, auf die Welt draussen. Doch während das Träumen, das Erfinden und Verzaubern im Bilderbuch seit je gang und gäbe ist, kommt der Darstellung sozialer Realitäten, jener «Welt da draussen», kaum Bedeutung zu. Dabei sind es gerade die Fragen des Alltags, die Kinder beschäftigen. Avancierte Publikationen, wie Armin Greders «Die Insel» zum Thema Fremdenfeindlichkeit, Wolf Erlbruchs «Ente, Tod und Tulpe» oder Jens Thieles «Jo im roten Kleid», die mit Scherenschnitten kongenial illustrierte Geschichte eines Comingout, sind dennoch eher an den Rändern als im Zentrum des kandierten Kinderbuchkosmos zu finden. Immerhin: es gibt sie, die kleinen Schritte, die die Vermählung der Welten vorantreiben. Mit dem im Zürcher Bajazzo-Verlag erschienenen «Suche Arbeit für Papa» von Lydia Zeller (Text) und Monika Maslowska (Illustration) ist nun auch das Prekariat im Bilderbuch angekommen. Und siehe da, diese vermeintlich seltsame Hochzeit funktioniert vorzüglich. Der Papa, um den es hier geht, ist arbeitslos. Früher hat er Autos lackiert, jetzt sitzt er bloss herum und meckert, wird leicht wütend und geht allen auf die Nerven. Grund genug für den kleinen Oskar, etwas gegen diesen Zustand zu tun. Sein an einen Baum gepinnter Zettel «Suche Arbeit für Papa. Er kann es super mit Autos!» zeitigt zwar zunächst nur einen Wutanfall des Vaters, aber eben auch den Anruf eines Nachbarn, an dessen Auto «irgendwas kaputt» ist. Papa repariert den Motor, entschliesst sich zu aktiver Arbeitssuche und nimmt Oskar in die Arme. Der Text schildert Oskar als subtilen, scheinbar naiven Widerständler. Dabei nennt er die Dinge auch beim Namen, ohne sie ins Schauerliche zu ziehen: der Vater «schimpft fürchterlich» und «brüllt», ist «ungeduldig»; wenn er mal bei Oskars Schulaufgaben helfen soll, sagt, er sei «doch kein Pantoffelheld» und man traut ihm schon zu, jemandem eine «runterzuhauen». Dennoch ist der Text nicht bleischwer und erdrückend. Dafür sorgt der unaufdringliche Humor ebenso wie der Verzicht auf eine schulmeisterliche Moral – und am Ende versöhnt der hoffnungsvolle Ausblick, der eben kein kitschiges Happyend ist, auch für die bisweilen gespürte Kalkuliertheit des Textes. Besonders delikat gestaltet sich bei realitätsnahen Kinderbüchern die Aufgabe der Illustratoren. Einerseits sollte

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Literatur Schweizer Literatur in Kurzkritik XI

ja der Stimmung des Texts entsprochen, andererseits die kindliche Schaulust nicht enttäuscht werden. Dieser Spagat gelingt Monika Maslowska glänzend, mit einem Stil, den man so im Kinderbuch noch kaum gesehen hat. Ihre ausdrucksstarken Bilder, für die sie kein glattes, sondern strukturiertes Papier wählt und die so rauh wirken wie der Stoppelbart des antriebslosen Papas, sind grossflächig und reduziert, vernachlässigen aber trotzdem nicht jene Details, die Bilderbücher zu Seherlebnissen machen. Schön, wie nach Papas Wutanfall zwar ein zerbrochener Teller am Boden liegt, aber der Kaktus bereits eine Knospe trägt (die im letzten Bild auch aufblüht). Beeindruckend, wie mit hellen und dunklen Tönen, mit Licht und Schatten Atmosphäre erzeugt wird, wie die Innen- und Aussenräume zueinander in Beziehung gesetzt werden und wie variierende Perspektiven und Raumkompositionen zum genauen Hinsehen einladen. Erfrischend die Figuren, die ohne gefühlige Niedlichkeiten auskommen und dennoch einzunehmen vermögen (Oskar verpasst seinem Vater ein «Ausser Betrieb»-Schild, bald darauf ist Papa glatt rasiert, pfeift beim Staubsaugen). So wie in «Suche Arbeit für Papa» könnten aus peripheren Bereichen eines Genres, nämlich der Darstellung sozialrelevanter Realität, durchaus Traditionen werden. Ein Kinderbuch als Schau- und Gesprächsanlass für alle Generationen – ein Glücksfall. vorgestellt von Jens Nicklas, Innsbruck

Im Hexenkessel der Glarner Patrizier Michael Hauser: «Der Justizmord an Anna Göldi». Zürich: Limmat, 2007.

Unsere Zeit liebt Rekorde. Auch traurige. Deshalb ist Anna Göldi, die letzte Hexe Europas, das namentlich wohl bekannteste Opfer der grimmen Verfolgung, die zwischen dem 15. und 17. Jahrhundert im Alten Reich und in der Schweiz allgemeinen Schrecken auslöste. Es gehört zu den Vorzügen des weithin beachteten und inzwischen schon in 3. Auflage erschienenen Buches von Walter Hauser, unaufdringlich und nachdrücklich nachzuzeichnen, wie in der engen Gemeinschaft eines Schweizer Kantons ein Hexenprozess benutzt wurde, um anders anscheinend nicht lösbare soziale und politische Konflikte auszutragen. Die überzeugend vorgetragene Grundthese des Buches lautet: Die Magd Anna Göldi wurde 1782 in Glarus das Opfer von Machtkämpfen zwischen Patrizierfamilien, die sich ihrer jahrhundertealten Vormachtstellung nicht mehr sicher

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sein konnten. Insofern war dieser Prozess ein Vorbote der Französischen Revolution. Gestützt auf unerschütterlichen Standesdünkel und christlich-fundamentalistischen Rigorismus – im Zentrum eine lebensfremde und körperfeindliche Sexualmoral –, wollte eine gefährdete Oberschicht unbeirrt ihren absoluten Führungsanspruch durchsetzen. Demgegenüber ist der angebliche magisch-dämonologische Prozessanlass – der einzige Aspekt, der überhaupt berechtigt, von einem Hexenprozess zu sprechen (die Ankläger mieden dieses Wort peinlich) – eine dürftige Fassade. Wegen einer lächerlichen Ungezogenheit soll die Magd dem Patriziertöchterchen Annamiggeli Tschudy Mittel verabreicht haben, die dieses unter heftigen Anfällen zum wochenlangen Auswürgen von über hundert «Gufen» (Stecknadeln) und anderen metallenen Gebilden gezwungen habe. Die plausible und manchmal auch packende Darstellung des zerbrechlichen sozialen Gefüges und der Ängste der (noch) Herrschenden vor dem Machtverlust, die diese rücksichtslos auch zu äussersten Mitteln greifen lassen, gehört zu den Stärken des Buches. Letztlich kann aber auch Hauser bei aller umsichtigen kulturhistorischen Einbettung dieses Falles keine letztgültige Erklärung finden, warum man sich in Glarus noch zur Zeit der Aufklärung denn ausgerechnet eines Hexenprozesses bediente, um die soziale Hierarchie zu verteidigen. Trotz seinem Engagement – gerade auch für die Rehabilitierung von Anna Göldi – verzichtet Hauser wohltuend auf naheliegende Emotionalisierungen des Themas. Die fachliche Nutzung des Buches, das teilweise auf eigener Quellenrecherche beruht, wird allerdings durch das Fehlen jeglicher Stellennachweise erschwert. Unkritische Etikettierungen wie «Hexenwahn», «mittelalterlicher Aberglaube» oder «mittelalterlich anmutender Strafprozess» unterschreiten das sonstige Niveau des Buches deutlich. Ebenso die abwegige Behauptung, Martin Luther habe Hexenprozesse zur Durchsetzung der Reformation eingesetzt, obwohl Luthers Ansichten zu diesem Thema nur aus den von anderen zusammengetragenen und postum veröffentlichten Tischreden bekannt sind. Aber das sind Ausrutscher in einem sonst mit Gewinn zu lesenden Buch. vorgestellt von Michael Mühlenhort, Gütersloh

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In die Moderne mit Denkern Ursula Amrein: «Phantasma Moderne. Die literarische Schweiz 1880 bis 1950». Zürich: Chronos , 2007.

Die Geschichte der Intellektuellen und ihrer Einflussnahme auf Politik, Gesellschaft und Kultur im 20. Jahrhundert muss noch geschrieben werden. Dass in ihr eine verheerende, eine deprimierende Bilanz zu ziehen wäre: wer wollte dies ernsthaft bezweifeln? Ursula Amrein schlägt in ihrer Sammlung andernorts bereits publizierter Essays das schweizerische Kapitel dieser Geschichte auf. Anhand von Beispielen aus dem Zeitraum zwischen 1880 und 1950 macht sie augenfällig, wie sich das Selbstbild des Landes durch Zutun von Geistesgrössen verschiedenster weltanschaulicher Couleur verändert hat. Dabei gelingt es ihr auf überzeugende Weise, relevante Akteure (wie Robert Faesi, Caesar von Arx oder Oskar Wälterlin), prägende Denkfiguren und das mitunter politisch heikle Ineinandergreifen des institutionellen Räderwerks der Kultur zu charakterisieren. Das Spektrum der behandelten Themen umfasst dementsprechend neben der Genese einer emphatisch so verstandenen Schweizer Literatur unter anderem auch den langfristigen Einfluss der antimodernen, seit 1890 etwa virulenten Heimatkunst-Bewegung auf die 1938 dann vom Bundesrat zum kulturpolitischen Ziel erklärte «geistige Landesverteidigung». Was dagegen deutsche Literatur sei und welchen Einfluss auf deren Wahrnehmung schweizerische Medien nahmen, erhellt der Beitrag über die Exiljahre Else Lasker-Schülers und Thomas Manns. Sinnvoll abgerundet wird der Band durch den Ausblick auf die Nachkriegszeit. Das vermeintliche «Dioskurenpaar der Schweizer Literatur», Max Frisch und Friedrich Dürrenmatt, dient dabei dazu, exemplarisch die problematischen Prämissen erkennbar zu machen, die in deren Stigmatisierung als Schweizer Autoren manifest werden. Schlaglichtartig, aber dennoch mit systematischem Anspruch, erhält der Leser so wichtige Einblicke in die Theater-, die Wissenschafts- und die Literaturgeschichte der Schweiz im Zeitalter der Moderne. Häufig genug handelt es sich dabei auch um Lehrstücke im Umgang mit importierten Problemen, mit den Fremden und dem Fremden und dem, was man jeweils dazu erklärt. Hinsichtlich der gewählten Methode liesse sich hier kritisch fragen, warum eigentlich die Wiener Moderne, warum die österreichische Literatur bei diesen Überlegungen gänzlich ausgespart bleibt – «Los von Berlin!» war schliesslich keinesfalls die einzig denkbare Option. Ob am Ende tatsächlich genug Raum im deutschsprachigen Kulturraum ist für gleich drei bedeutende, mehr oder minder feinsinnig differenzierte Nationalliteraturen 52

deutscher Sprache, muss an dieser Stelle glücklicherweise nicht entschieden werden. Welch enormen Einfluss aber Projektionen des Zeitgeistes auf die Beantwortung solcher Fragen haben, wird im vorliegenden Band mehr als deutlich . Weil in ihm einige der eher unerquicklichen Seiten der Moderne ins helle Licht gerückt werden, sollte er als ein wichtiger Beitrag auch zur Mentalitätsgeschichte schweizerischer Eliten verstanden werden. Für diesen Zweck freilich hätte dem Band ein wenig mehr an Synthese gut getan: ein «Vorwort» von zwei Seiten kann bei einem solchen Thema nicht hinreichend sein; ein Register hätte die zugrundeliegenden akribischen Quellenstudien überdies noch besser zur Geltung kommen lassen. Doch insgesamt legt es diese wohltuend nüchterne Arbeit nahe, das öffentlichkeitszugewandte Verhalten von Intellektuellen in allen seinen Facetten wie im allzu evidenten Willen zur Macht einmal mehr kritisch zu bedenken. Und das kann ja bestimmt nicht schaden. vorgestellt von Anett Lütteken, Bern

Vielfarbig in fremde Welten Katharina Geiser: «Rosa ist rosa». Zürich: Ammann Verlag, 2008.

Trügerisch einfach wirkt der Titel von Katharina Geisers Erzählband: «Rosa ist Rosa». Dabei offenbart er auf gut 200 Seiten ein gewaltiges Farb- und Tonspektrum. Siebzehn Erzählungen führen uns aus der Schweizer Bergwelt nach Spanien und Sibirien, nach Dresden und Paris. Wir reisen von einer zeitlos anmutenden Gegenwart – zeitlos vor allem, weil das Überzeitliche der Natur stets präsent ist – in das nicht wirklich vergangene 20. Jahrhundert, dessen Kriege und Umwälzungen bis heute Lebensläufe prägen. Vom Krieg erfahren wir hier aus der Perspektive von Kindern, die den Vater verlieren, ihn, wie in der Erzählung «Biester und Bister», auch wieder bekommen, unübersehbar versehrt, aber nicht zerstört, weil die Seele widerständiger scheint als der Körper. Das Visuelle stiftet einen Zusammenhang zwischen dem, was zeitlich und räumlich so weit auseinanderliegt, das Sehen ist Voraussetzung für das Erinnern, Kommunizieren und Schreiben. Und so klingt im Titel der Erzählung «Sehnot» nicht zufällig dessen existentielle Bedeutung an. Die Malerei ist Gegenstand mehrerer Erzählungen, untrennbar verknüpft mit dem Leben der Protagonisten. Im Porträt der deutschen Malerin Paula Modersohn-Becker, «Die Zitrone in der Rechten», die sich 1906 im Pariser Louvre in die Betrachtung eines ägyptischen Mumienporträts versenkt,

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Literatur Schweizer Literatur in Kurzkritik XI

könnte auch die Poetik der Autorin enthalten sein: «Die Vergangenheit ist greifbar und gleichzeitig verborgen … Wenn man in Bann gezogen wird, hilft nur die stumme Zwiesprache.» Aus ihrer Zwiesprache mit der Natur, mit der Kunst, der Geschichte und mit den Menschen, die sie verkörpern, gestalten, in sich tragen, gewinnt Katharina Geiser den Stoff, die Farben und Klänge für ihre ungemein sinnlichen Erzählungen. Sie erzeugt damit einen Rausch und einen Sog, denen man im Lauf der Lektüre verfällt, selbst wenn man am Anfang vielleicht noch mit manchen manierierten Spielereien hadert. Im Kontext dieses in unzähligen Farben funkelnden Bandes treten sie selten genug auf, um überlesen zu werden. Wer sich voll und ganz auf die Texte einlässt, wird reich beschenkt, taucht ein in kleine und grosse Seen, die Schönheit und Schrecken zugleich symbolisieren, in vergangene und fremde Welten, vor allem aber in die Seelen von Geisers Figuren. Das ist beglückend – die Liebe, den Schmerz, die Trauer, die Angst, den Übermut nachempfinden zu können, die mit Sprache so plastisch gestaltet werden wie jener heitere Sommertag am Zürichsee, dem die Nacht ein in jeder Hinsicht finsteres Ende setzt, wie in der Erzählung «Liberta». Wenn Erzählungen eine solche Strahlkraft entwickeln, dann lassen sie in unserer Vorstellung die Figuren, ob real oder erfunden, tatsächlich lebendig werden. vorgestellt von Patricia Klobusiczky, Berlin

Ins Glück trotz dickem Hintern Katharina Wille-Gut: «Der Name der Hose». Oberhofen: Zytglogge, 2008.

Niemand, der Brian De Palmas Filmadaption von Stephen Kings Horrorklassiker «Carrie» gesehen hat, wird je vergessen, was ein geschmackloser Scherz auf einer Schulfeier in der Seele eines weiblichen Teenagers anrichten kann. Über die 14jährige Eveline ergiesst sich zwar kein Eimer mit roter Flüssigkeit, doch die lautstarke, wenig schmeichelhafte Bemerkung, den Umfang ihres Hinterteils betreffend, die sich ein gewisser Patrick während des Oberstufenfestes nicht verkneifen kann, ist in ihrer Wirkung kaum weniger traumatisierend. Zumal es sich bei dem frechen Buben um den heimlichen Schwarm des pubertierenden Mädchens handelt. Was nun folgt, ist allerdings nicht die Geschichte einer krankhaften Essstörung. Schliesslich befinden wir uns nicht in einem Psychodrama, sondern in einem eher heiteren Erzählwerk mit dem kalauerverdächtigen Titel «Der Name der Hose». Denn Jahre später, die Wunden der frühen Jugend sind längst vernarbt, pflegt Eveline noch immer ihre, wie sie

So sehen wir aus. Und so sind wir auch: klassisch, liberal und unabhängig. Wir sind uns treu seit 1921.

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Literatur Schweizer Literatur in Kurzkritik XI

es selbst formuliert, «beträchtliche Macke in Sachen Figur». Sie sucht nach den perfekten Jeans, einer Hose, die so gut sitzt, dass die «viel zu dicken Oberschenkel zu Normalform schrumpfen» und «den Po genau richtig» formen. Und weil Eveline gerade klamm ist, nimmt sie ein solch gutes Stück auch schon einmal mit, ohne zu bezahlen. Dies wird ihr zu Beginn der Erzählung zum Verhängnis. Von einer Ladendetektivin ertappt, kann sie in einer slapstickreifen Szene nur unter Zurücklassung ihrer Handtasche entkommen. Ohne Wohnungsschlüssel und Geld schmeckt die soeben gewonnene Freiheit nur halb so gut, vor allem, wenn man, wie Eveline, davon überzeugt ist, dass sich die Polizei bereits an ihre Fersen geheftet hat. Eine hübsch verfahrene Ausgangssituation also, die einiges an komischem Potential in sich birgt. Doch leider haben wir es bei Eveline mit einer Erzählerin zu tun, deren Mitteilungsbedürfnis unerschöpflich zu sein scheint. Dabei besitzt die Handlung, die sich die unter dem offensichtlichen Pseudonym Katharina Wille-Gut schreibende Autorin zusammenfabuliert hat, durchaus das Zeug zu einer ansehnlichen Fernsehkomödie, vorausgesetzt ein begabtes Filmteam bemächtigt sich ihrer. Evelines Hosentick erweist sich nämlich nicht nur im negativen Sinne als schicksalhaft; denn am Ende darf unsere Heldin nicht nur als Modeschöpferin reüssieren, sondern findet auch noch ihr ganz privates Glück als Ehefrau und Mutter, übrigens nachdem sie ihre kurze Karriere als Unternehmerin beendet hat. Dass sie nebenbei ihren Traummann mit detektivischem Geschick aus den Fängen einer gerissenen Betrügerin befreit, verleiht dem Hosenmärchen eine ganz besondere Note. Was dessen Verfilmung betrifft, möchte ich mich allerdings korrigieren. Wer einen Eindruck davon gewinnen will, wie eine kongeniale Umsetzung dieses Buches aussehen könnte, sollte unbedingt den Fernseher anstellen, wenn wiedereinmal eine der noch immer beliebten Hollywood-Komödien aus den frühen Sechzigern mit Doris Day und Rock Hudson gezeigt wird. vorgestellt von Joachim Feldmann, Recklinghausen

In Schwamendingen mit einer Schweizerin Susann Sitzler: «Vorstadt Avantgarde. Details aus Zürich-Schwamendingen». Zürich: Limmat, 2007.

ein Buch werden, das dem in Verruf geratenen Quartier gerecht wird. Schwamendingen – Ausländerghetto? Bünzlitown? Bauerndorf? Sitzler fragte nach, und Stefan Altenburger steuerte auf besondere Art und Weise glänzende Fotografien bei. Schwamendingen also. Offenbar ein beredtes Wort, für mich bloss ein wohlklingendes. Ich wohne in Wien, nach Zürich sind es zehn Zugstunden. Ausserdem trennt mich die Medienlandschaft und eine Landesgrenze vor internschweizerischem Basiswissen. Bin ich also unwürdig, diese «Details aus Zürich-Schwamendingen» zu besprechen? Nein. Was mich als Rezensent für dieses Buch qualifiziert, steht schon im Vorwort, nämlich, dass die meisten Leute in der Schweiz noch nie in Schwamendingen gewesen seien. Sitzler geht behutsam vor, doch verleugnet sie sich nie. In den Fliesstext montiert sie mitunter scharf formulierte Tagebucheinträge. Der Wille, dem Quartier etwas Gutes zu tun, ist an manchen Stellen herauszulesen, doch im ganzen verschweigt Sitzler nichts, sondern ist sichtlich um Objektivität bemüht. Sie hat fleissig recherchiert, fährt mit Daten auf und analysiert sachlich. Dennoch ist den Schilderungen von Begegnungen mitunter anzumerken, wie sehr sich die Interviewerin zusammenreissen musste, um nicht aus der Rolle zu fallen. Vieles in Schwamendingen sei auf kleine, bescheidene Bedürfnisse ausgerichtet, aber: «Nichts ist so unsexy wie kleine, bescheidene Bedürfnisse.» Doch Sitzler überlässt es den Lesern, sich ein Bild über den längst vorverurteilten Stadtteil und die von ihr befragten Einwohner zu machen. Sie zeichnet einerseits ein schillerndes, andererseits ein von unübersehbaren Grautönen geprägtes Gemälde. Eines, das nicht in das Wohnzimmer vergangenheitsorientierter Schweizer passt, sehr wohl aber in eine immer schneller sich verändernde und weiterentwickelnde Gesellschaft. «Schwamendingen» steht daher nicht nur für den Kreis 12, sondern gewissermassen für die Schweiz an sich: «Reinhards Schwager kommt von den Philippinen. Als er zum ersten Mal in Schwamendingen war, sagt er: ‹Die Schweiz muss ein totes Land sein. Überall sind Wiesen, und nirgends sieht man darauf einen Menschen. Warum ist das wohl so? Warum nutzt niemand diese weitläufigen, allgemein zugänglichen Rasenflächen zwischen den Genossenschaftshäusern?› ‹Vielleicht ist das eine schweizerische Eigenart›, meint Reinhard.» Sitzler ist der Ansicht, dass das ganze Land von Schwamendingen profitiere, da man hier erkennen könne, was einen störe am Leben in der Schweiz. Es sei gut, dass die Schweiz Schwamendingen habe. Und es ist gut, dass nicht nur Schwamendingen dieses Buch hat. vorgestellt von Markus Köhle, Wien

Alltag ist höchst subjektiv, heisst es an einer Stelle von «Vorstadt Avantgarde». Höchst subjektiv wird auch diese Besprechung. Die Schweizer Journalistin Susann Sitzler, die eigentlich in Berlin lebt, verbrachte im Frühjahr 2006 drei Monate in Schwamendingen. Aus diesem Aufenthalt sollte 54

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In Unterwäsche aus Winterthur Peter Niederhäuser: «Unterwäsche aus Winterthur. Die Industrie- und Familiengeschichte Sawaco Achtnich.» Zürich: Chronos, 2008.

Während der Gründerzeit wurde aus dem ländlichen Städtchen Winterthur, das wenige Kilometer nördlich von Zürich an den Flüssen Töss und Eulach liegt, eine Industriestadt. Firmen wurden gegründet und Fabriken gebaut, und auch Handwerksbetriebe siedelten sich an. Nach seiner Heirat im Sommer 1883 in Herrnhut bei Dresden, gründete Walter Achtnich eine Firma zur Herstellung von «patentierten Strümpfen und Socken rationeller Form» und brachte Familie und Firma nach Winterthur. Die Familie gehörte zur Herrnhuter Brüdergemeine, einer pietistischen Erweckungsbewegung, die für ihre handwerkliche Präzision und ihr strenges Arbeitsethos berühmt war. Die Ideale der Brüdergemeine – Fleiss, Bescheidenheit, Genauigkeit, Nächstenliebe – prägten auch die Unternehmenskultur. Anfangs wurden nur Strümpfe gestrickt, aber schon bald wurde die Produktpalette erweitert, so dass 1914 aufgeführt wurden: «Jacken, Hemdhosen, Beinkleider, Untertaillen, Leibbinden für Damen; Jacken, Hemdhosen, Höschen für Kinder; Jacken, Hosen, Kragenschoner für Herren in Baumwolle, Wolle, Schappe, Chinaseide, auch gemischte und plattierte Qualitäten mit und ohne Fanstasie». In Europa und Nordamerika wurden neue Märkte erschlossen, und die Mechanisierung vereinfachte die Produktion – das Unternehmen florierte bis zur Weltwirtschaftskrise, als Zoll- und Exporthindernisse einerseits und Arbeitskämpfe anderseits den Abschwung einleiteten. Mit der Marke «Sawaco» – Akronym des ursprünglichen Firmennamens (Société Anonyme W. Achtnich & Co) – versuchte 1922 Martin Achtnich, der Sohn des schon 1907 gestorbenen Gründers, einen Neuanfang. Mit solider Unterwäsche und Sportkleidung überlebte die Firma bis in die siebziger Jahre, als sich das Kaufverhalten und die Ansprüche der Kunden drastisch änderten. Nachdem 1970 das Warenhaus Globus als Grossabnehmer die Sawaco-Modelle als bieder und grob ablehnte, versuchte die Firma mit «Champagnerwäsche» und Designerkollektionen noch einmal eine neue Positionierung. Aber den Strukturveränderungen der Märkte und dem immer rascheren Wechsel der Mode war das Familienunternehmen nicht gewachsen, und 1984 ging es in den Mäser-Konzern ein. Von da an wurde die «Schweizer Qualität», für die die Firma gestanden hatte, unter österreichischer Kontrolle hergestellt. Die wirtschaftliche Entwicklung der Firma spiegelt sich auch in der Architektur wider. Von dem ersten, bescheide-

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nen Fabrikgebäude von 1884 an der Neuwiesenstrasse, über den Industriebau in Sichtbackstein und mit hydraulischem Aufzug von 1894, der mehrmals erweitert werden musste, bis zu der «modernsten Wäschefabrik der Schweiz» von 1969 an der Industriestrasse, lässt sich die Erfolgsgeschichte verfolgen. Als die alten Hallen, die das Neuwiesenquartier geprägt hatten, 1978 abgerissen wurden, signalisierte ihr Verschwinden die wirtschaftliche Strukturkrise. Die Geschichte der Achtnich-Fabrik ist nun in einer Publikation des Historischen Vereins Winterthur dokumentiert worden. Darin wird leider nur eine eher historische Darstellung wirtschaftlicher Verhältnisse geboten, statt Firmen- und Familiengeschichte zu einem sozial- oder gar sittenhistorisch relevanten Überblick zu verweben. vorgestellt von Stefana Sabin, Frankfurt a.M.

In den Kissen des deutscharabischen Diwans Ilma Rakusa & Mohammed Bennis (Hrsg.): «Die Minze erblüht in der Minze. Arabische Dichtung der Gegenwart». München: Hanser, 2007.

Wer aus Leichtsinn historische Augenblicke verpasst, den bestraft das Leben. Als an einem Vorfrühlingstag des Jahres 2000 das Telefon klingelte und mich eine Frauenstimme in gebrochenem Englisch dazu einlud, als Lyrikkritiker an einer deutsch-arabischen Dichterbegegnung im Jemen teilzunehmen, sagte ich aus fadenscheinigen Gründen ab. Jemen – das schien in einer so exotischen Ferne zu liegen, dass eine Dichterbegegnung zwischen arabischen Poeten und ahnungslosen deutschen Autoren und Journalisten wenig produktive Ergebnisse versprach. Die Stimme am Telefon gehörte der irakischen Lyrikerin Amal al-Jubouri, und das von ihr mit viel Geduld und noch mehr Überredungskunst organisierte Dichtertreffen fand dann tatsächlich im September 2000 statt. Es wurde zum Ausgangspunkt eines arabisch-deutschen Literaturdialogs, der eine jahrzehntewährende Phase der interkulturellen Indifferenz beendete. Erst seit dieser Begegnung hat Goethes Utopie aus dem «WestÖstlichen Diwan» wieder eine Chance: «Wer sich selbst und andere kennt,/ Wird auch hier erkennen: / Orient und Okzident / Sind nicht mehr zu trennen.» Die substantiellsten Beiträge zu dieser Wiedererweckung des europäisch-arabischen Dialogs verdanken wir neben Amal al-Jubouri dem Übersetzer und Essayisten Stefan Weidner und der in Zürich lebenden Dichterin Ilma Rakusa, die seit vielen Jahren die Schnittpunkte nicht nur zwischen den west- und osteuropäischen Literaturen, sondern eben 55


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auch diejenigen zwischen Orient und Okzident auslotet. Die von Ilma Rakusa und dem marokkanischen Lyriker Mohammed Bennis unter dem Titel «Die Minze erblüht in der Minze» herausgegebene Anthologie zur «Arabischen Dichtung der Gegenwart» legt nun beeindruckende Ergebnisse dieser Dichterbegegnungen vor. Neben ausgewählte Gedichte der wichtigsten arabischen Poeten, wie Fuad Rifka, Mahmud Darwish oderAdonis, treten sehr konzise Essays von Stefan Weidner, Klaus Reichert oder Abbas Beydoun, die in knapper Form die literaturhistorischen Wurzeln und aktuellen Metamorphosen der arabischen Poesie freilegen. Der aufregendste Beitrag stammt von Stefan Weidner, der die Schwierigkeit und Notwendigkeit einer neuen KoranÜbersetzung als einer Urquelle arabischer Dichtkunst erörtert. Die meditativen Intensitäten des Marokkaners Hassan Najmi und die metaphorisch disziplinierten Gedichte von Fuad Rifka zeigen, dass die arabische Poesie alles andere ist als «ein hochpathetisches und abstraktes Raunen», wie so mancher ignorante Literaturmensch hierzulande glaubt. Der libanesische Poet Fuad Rifka hat den Grundimpuls aller modernen Lyriker so benannt: «Er träumt / eine Frage zu sein / hinter allen Fragen.» vorgestellt von Michael Braun, Heidelberg

Und immer wieder: Heidi Hannes Binder / Peter Stamm: «Heidi. Nach einer Geschichte von Johanna Spyri.». München: Nagel & Kimche im Carl Hanser Verlag, 2008.

Heidi ist eine vielbeschäftigte Powerfrau. Tagsüber steht sie sich in Schweizer Vorgärten die Beine in den Bauch, abends werden die verkrampften Waden wahlweise auf der Musicalbühne oder in japanischen Mangaclubs gelockert. Daneben nimmt sie PR-Termine für Milch-, Käse-, Schokoladen-, T-Shirt- und Nippesproduzenten wahr. Und nun hat Heidi also auch noch für ein Bilderbuch Modell gestanden. Eine weitere Stufe auf ihrer kommerziellen Karriereleiter? Ein Blick auf den Umschlag des Bilderbuchs genügt, um festzustellen, dass Heidi hier nicht als Kindfrau und PopMädchen vermarktet wird. Dieser Schwarzschopf im roten Kleid inmitten einer Ziegenherde ist weniger Klischee als Zitat, sein medienwirksames Dauergrinsen scheint einem stillen, in sich gekehrten Glück gewichen. Nun, wenn sich zwei in der Literaturwelt erfolgreich etablierte Schweizer, der Autor Peter Stamm und der Illustrator Hannes Binder, aufmachen, den Kinderliteraturklassiker ihrer Heimat neu zu erzählen, darf man auch ruhig ein gutes Buch erwarten. 56

Dem enggesteckten Rahmen eines Bilderbuchs geschuldet, schreitet die dichte Handlung rasch voran und schnell ist ein Jahr in Heidis Leben auf einer Seite abgehandelt. Als Gegenpol verweilt Stamm länger bei solchen Episoden, die jeweils eine neue Erfahrung für sie bedeuten. Sei es der erste Anblick der belebten Natur auf der Alp mit ihren vielen Tieren und Pflanzen oder die Enttäuschung über die vielen Dächer, Strassen und Mauern der fremden Stadt Frankfurt – hier tritt der markante Stil des Autors deutlich zutage. In plastischen Momentaufnahmen erzählt er in eindringlicher und dennoch konzentrierter, knapper Form von Heidis kindlicher Liebe und ihrem Vertrauen zu ihrer Umwelt, aber auch von ihrer Einsamkeit und Not. Dass Peter Stamm dabei einen klaren, modernen Ton anschlägt, ist klug; auf diese Weise erreicht er nicht nur mühelos die Kinder von heute, sondern kann auch reichlich altmodischen Charme über seine Heidi-Geschichte streuen, ohne in Kitsch, Nationalpathos oder Volkstümelei zu versinken. Kongenial dazu sind die Illustrationen von Hannes Binder. Mit Federmesser und schwarzem Schabkarton ritzt er Heidis Welt jenseits des Gewohnten in herbe, surrealistisch anmutende Bilder. Hügel und Wiesen scheinen bei ihm wie grüne Wellen ständig in Bewegung zu sein; träumt Heidi in Frankfurt von ihrer Heimat, schwappt der Wald regelrecht ins Bild. Während Binders Landschaften gleichsam atmen, wirkt seine Frankfurter Welt bedrückend irreal. In kleine Bilderabfolgen gedrängt, sind die Protagonisten im Hause Sesemann wie lebende Tableaus zu Szenenausschnitten arrangiert, die in ihrer Starrheit viel von Heidis Seelenlasten widerspiegeln. Trotz dieser gelungenen künstlerischen Interpretation des Heidi-Stoffs ist beiden, Autor und Illustrator, anzumerken, dass sie sich angesichts dieses Nationalmythos in ihrem individuellen Ausdruck zurückgehalten haben. Ob dies löblich sei, bleibe dahingestellt. besprochen von Alice Werner, Zürich

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GALERIE Annelies Štrba

aus «My Life Dreams», 2008

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Unser Mitherausgeber Robert Nef hat die Friedrich August von Hayek-Medaille erhalten. Wir gratulieren! In seiner Preisrede wirft er die Frage auf, ob Mehrheiten in modernen Demokratien frei sein wollen. Aus strikt liberaler Sicht neigt er zu einem rationalen Nein, als Schweizer mit Wurzeln im direktdemokratischen Appenzellerland zu einem emotionalen Ja. Und kommt zum Schluss: Je beschränkter die Zuständigkeit der Politik ist, desto eher sind Demokratie und Freiheit kompatibel.

Das Mehrheitsprinzip und die Freiheit Robert Nef

Ich beginne mit der Verteidigung des Mehrheitsprinzips und stütze mich dabei auf einen meiner Lieblingstexte, eine kurzgefasste, inhaltlich und sprachlich geniale Quintessenz der Begründung einer politischen Philosophie der Gemeinschaft – den Rütlischwur in Schillers «Tell»: Wir wollen sein ein einzig Volk von Brüdern, in keiner Not uns trennen und Gefahr. Wir wollen frei sein wie die Väter waren, eher den Tod, als in der Knechtschaft leben. Wir wollen trauen auf den höchsten Gott und uns nicht fürchten vor der Macht der Menschen. (Friedrich Schiller, «Wilhelm Tell», Zweiter Akt, Szene 2) Meine Anklage erfolgt zunächst in Form einer aktualisierten Parodie: Wir wollen sein ein einzig Volk von Rentnern, uns zwangsversichern gegen alle Not. Wir wollen Wohlfahrt, selbst auf Kosten unserer Kinder, eher Taktieren, als eigenständig sich behaupten. Wir wollen trauen auf den zentralen Staat, und uns stets beugen vor der Macht der Mehrheit. (Robert Nef, «Willhelm Tell heute», Zweitletzter Akt, zweitletzte Szene) 58

Was liegt zwischen diesen beiden Texten – ausser natürlich dem eklatanten sprachlichen Qualitätsunterschied? Es sind 205 Jahre seit Schillers Tell und 717 Jahre seit der historischen Gründung der Eidgenossenschaft 1291. Mein verballhornter aktualisierter «Rütlischwur» ist das, was an Freiheit noch übrig bleibt, wenn das Mehrheitsprinzip lange genug, mit zu wenig Einschränkungen und in Kombination mit dem Repräsentationsprinzip praktiziert wird. Der aus demos (Volk) und kratein (herrschen) zusammengesetzte Begriff «Demokratie» bezeichnet eine grosse Vielfalt von Phänomenen. Wenn Aristoteles, Karl Marx, Alexis von Tocqueville, Joseph Schumpeter, Ludwig von Mises, Friedrich August von Hayek, Robert Dahl, Robert Putnam, Niklas Luhmann oder Hans Hoppe den Begriff Demokratie verwenden, so benützen sie ihn nicht nur für unterschiedliche Deutungen und Sichtweisen der Realität, sondern auch für unterschiedliche Phänomene. Für Aristoteles war die Demokratie eine Zerfallsform jener «Herrschaft der vielen», die er «Politie» nannte. Die ideengeschichtliche Karriere des heute weitgehend positiv aufgeladenen Begriffs der Demokratie begann also mit einer radikalen Kritik. Die im Lauf der Ideengeschichte sehr unterschiedlich beantwortete Grundfrage lautet: Ist das Mehrheitsprinzip als Verfahren kollektiver Entscheidfindung mit der Idee der Freiheit dauerhaft vereinbar? Mehrheiten tendieren dazu, auf Kosten produktiver Minderheiten zu leben und dies auf der Basis des Mehrheitsprinzips durchzusetzen. Das hat zur Folge, dass die Produktivität sinkt, weil Umverteilung weniger produktiv ist als die Investition in den technologischen und ökonomischen Fortschritt, die stets auch auf Risikokapital beruht. Bei sinkender Produktivität sinkt auch die Wettbewerbsfähigkeit, was sich seinerseits durch einen allgemeinen Rückgang des Wohltandes bemerkbar macht. Die Umverteilung frisst, wie die Revolution und wie Saturn, der Gott der Zeit, buchstäblich die eigenen Kinder, oder verhindert – in einer moderneren Variante – bereits deren Entstehung. Dies ist die pessimistische Sicht, die unter andern die Ökonomen Bastiat, von Mises und von Hayek vertreten haben. Aus der Sicht des Zürcher Staatsrechtslehrers Zaccaria Giacometti gibt es auch Grund zum Optimismus, sofern die Randbedingungen richtig gesetzt werden. In seinen beiden Zürcher Rektoratsreden (Zaccaria Giacometti: «Ausgewählte Schriften», hrsg. von Alfred Kölz. Zürich: 1994, S. 24) zeigt er auf, wie man die Freiheit institutionell auf Verfassungsebene durch einen offenen Katalog der Freiheitsrechte vor dem Zugriff des Gesetzgebers schützen könnte: «Da aber, wie gesehen, die Möglichkeit neuer staatlicher Einbrüche in die individuelle Freiheit faktisch unbegrenzt erscheint, muss dementsprechend auch der Katalog der Freiheitsrechte in der Gewährleistung von Freiheiten gegenüber dem Staat unbegrenzt sein.» Giacometti ist als Rechtspositivist gegenüber der Naturrechtslehre skeptisch. Seine Theorie vom offenen Kata-

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Aristoteles hat mit seiner Definition des Menschen als «Zoon politikon», einer Überbewertung des Politischen den Weg bereitet. log der Freiheitsrechte ist so etwas wie eine Schranke der Zuständigkeit der politischen Gemeinschaft, überhaupt in die individuelle Freiheit einzugreifen. Freiheit ist für ihn also nicht naturgegeben, sondern ein menschenrechtliches Postulat, das heisst ein universeller und allgemeingültiger Massstab. Ob von Gott geschenkt oder auferlegt, ob von der Natur angelegt, ob von den Menschen gegenseitig zugemutet oder ob einfach angemasst, wir gehen immer schon von der Freiheit aus. In Schillers Formulierung werden die Freiheitsrechte «von den Sternen heruntergeholt», im Mythos von Prometheus wird das Feuer der Freiheit den Göttern geraubt. Ich selbst habe eine Präferenz für die Freiheit als Gabe Gottes, denn diese Deutung lässt fast alle andern Deutungen offen. Nur mit der Formel «Vox populi, vox Dei», Volkes Stimme ist Gottes Stimme, kann ich mich nicht abfinden. Sie hat für mich etwas Arrogantes, Blasphemisches. Ich komme auf die Formel noch zurück. Die Frage nach dem tauglichen Hüter oder der Hüterin der Freiheit hat Giacometti in seiner ersten Zürcher Rektoratsrede 1954 beantwortet. Er sieht die Freiheit am besten im «Volkswillen», also bei der Mehrheit, aufgehoben und kommt zum Schluss, dass eine Freiheit, die nicht vom mehrheitlichen Volkswillen getragen ist, letztlich nicht zu halten sei: «Die Frage nach der Demokratie als Hüterin der Demokratie ist nicht dogmatischer, sondern empirischer Art. Sie geht lediglich dahin, ob Volk und Volksvertretung als Gesetzgeber die Menschenrechte in der Rechtswirklichkeit, also tatsächlich gefährden oder vernichten, und nicht, ob das demokratische Dogma in seinen letzten Folgerungen, in der Idee, zur Vernichtung der Freiheitsidee führe. Das letztere wird zutreffen, damit ist aber noch nichts darüber ausgesagt, ob Volk und Parlament als empirische Gesetzgeber es dazu kommen lassen werden» (a.a.O., S. 9). *** Aristoteles hat das Degenerationspotential des Mehrheitsprinzips treffend erkannt und beschrieben. Seine Staatsformenlehre ist ein Plädoyer für die Mischverfassung. Er unterscheidet die Herrschaft eines einzigen, einiger oder vieler. Alle drei Herrschaftsformen sieht er grundsätzlich positiv, wenn sie «im Hinblick auf das Gemeinwohl regieren», und sie sind verfehlt, wenn sie nur dem jeweiligen Nutzen des einen, einiger oder vieler dienen. Aristoteles hält

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eine tugendhafte Herrschaft der vielen zwar für möglich, aber für unwahrscheinlich. Die Begründung ist rein empirisch: «Dass sich einer oder einige durch Tugend auszeichnen, ist wohl möglich, dass dagegen viele in jeder Tugend hervorragen, schwierig; am ehesten noch in der kriegerischen; denn diese besitzt die Masse, und darum ist auch in einer solchen Verfassung das kriegerische Element das massgebende, und es haben diejenigen an ihr Teil, die Waffen tragen. Verfehlte Formen im genannten Sinne sind für das Königtum die Tyrannis, für die Aristokratie die Oligarchie und für die Politie die Demokratie. Denn die Tyrannis ist eine Alleinherrschaft zum Nutzen des Herrschers, die Oligarchie eine Herrschaft zum Nutzen der Reichen und die Demokratie eine solche zum Nutzen der Armen. Keine aber denkt an den gemeinsamen Nutzen aller» (Aristoteles: «Politik», 3. Buch. Zürich: 1971, S. 171 ff.). Trotz aller Bewunderung für die Hellsicht dieser Beobachtungen, sollte man nicht vor einer fundamentalen Kritik an der griechisch-römischen Staatsphilosophie zurückschrecken. Sie hat das politphilosophische Denken Europas nachhaltig beeinflusst und vergiftet. Aristoteles hat zwar mit seiner Definition des Menschen als eines politischen Tiers, als «Zoon politikon», die Zeitgenossen seines Milieus gut beobachtet, aber er hat damit einer verheerenden Überbewertung des Politischen und einer folgenschweren Unterbewertung des Privaten, Ökonomischen und Zivilgesellschaftlichen den Weg bereitet. Der homo œconomicus, der Bauer, der Handwerker, der Dienstleister und der Händler war für Aristokraten wie ihn, und vor ihm Plato und nach ihm viele nichterwerbsabhängige Schöngeister, nichts anderes als ein Banause. Diese bemühten sich – abgestützt auf ein Heer von Sklaven und Rechtlosen – um so banale Dinge wie die Bestreitung des eigenen Lebensunterhalts. *** In Athen wurden die Volksversammlungen drei- bis viermal im Monat einberufen, und die Teilnehmer wurden mit einem Taggeld bezahlt. Die Volksversammlung kontrollierte die Beamten, beaufsichtigte die staatlich regulierte Getreideversorgung, den Beschluss über Krieg und Frieden, die Urteilsfindung bei Anklagen wegen Landesverrats, die Durchführung von Scherbengerichten zwecks Verbannung unliebsamer Mitbürger, die Anhörung von Petitionen und die Wahl kriegswichtiger Funktionäre, für die dann der Krieg lebenswichtig wurde. Der Rat der Fünfhundert hingegen versammelte sich fast täglich! Der französische Konvent, der für viele parlamentarische Systeme der Gegenwart zum Modell wurde, hat zahlreiche Anregungen aus diesem System übernommen. Politik wird so selbst zu der Krankheit, für deren Heilung man sie hält. In markantem Kontrast dazu steht das politische System der beiden Appenzell, die mit politisch vergleichbaren, aber religiös und kulturell unterschiedlichen Staats- und Lebensformen seit Jahrhunderten in einem friedlichen Wettbe59


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werb stehen. Das in deren Verlauf nachhaltig praktizierte politische System war tatsächlich direktdemokratisch. Dies falsifiziert alle Behauptungen, auch jene des Aristoteles, die Herrschaft der vielen scheitere über kurz oder lang an ihren internen Systemmängeln. An der Landsgemeinde werden für ein Jahr in einer Art Vollversammlung unter freiem Himmel die Wahlen durchgeführt und die Gesetze verabschiedet – und häufig mangels Konsens abgelehnt. Der Landammann, der vom Volk beauftragte nebenberufliche Regierungschef, verfügt für ein Jahr über das Landessiegel, mit dem Verträge besiegelt wurden, und er hat über seine Tätigkeit «zum Wohl des Landes» öffentlich Rechenschaft abzulegen. Die Regierungs- und Richterämter waren – und sind es zum Teil bis heute – alle nebenberuflich und ehrenamtlich und auf ein Jahr befristet. Politik als Beruf gibt es nicht, sondern nur als Teilfunktion jedes Bürgers. Volksbeauftragte auf Zeit wurden direkt wiedergewählt oder abgewählt. Die Kompetenzen waren seit je eng umschrieben. Sie betrafen vor allem die Aussenpolitik, das Rechtswesen und den kantonalen Strassenbau. Zu verteilen gab es ausser Lasten fast nichts. Der Entscheid zur Beteiligung an einem Feldzug wurde von denselben Leuten gefällt, die nachher auch einrücken mussten – eine Identität von Beteiligten und Betroffenen, die gerade beim Kriegsdienst entscheidend ist, bei dem die Gemeinschaft den Einsatz des Lebens verlangt. Da

Das Mehrheitsprinzip ist fast grenzenlos populär – zu Unrecht. hat Aristoteles etwas Richtiges beobachtet. Beim Entscheid über Krieg oder Frieden sind jene vielen, die die Folgen tragen, tatsächlich kompetenter als die wenigen, die gegebenenfalls davon profitieren. Das ist der wesentliche Unterschied zwischen den Sklavenhaltern und politisierenden Müssiggängern in Athen und den auf dem eigenen Heimwesen hart arbeitenden Kleinbauern im Appenzellerland, die gleichzeitig in Personalunion auch die Milizarmee verkörperten: der Stellenwert der öffentlichen und der privaten Angelegenheiten, der res privata und der res publica war fundamental verschieden. Meist wurde an der Landsgemeinde im Verfahren der direkten Demokratie der Minimalkonsens gefunden und häufig sogar mit grossen Mehrheiten. Gelegentlich endete eine Versammlung im Streit, der aber, obwohl jeder eine Waffe trug, nicht blutig ausgefochten wurde. Für einen Tag im Jahr war man ein zoon politikon. Die übrigen 364 Tage gehörten dem Häämetli, seiner privaten Ökonomie und seiner familiären Gemeinschaft und der lokal verankerten Kultur. Fazit: demokratische Willensbildung, basierend auf dem 60

Mehrheitsprinzip, ist möglich, wenn sie sich inhaltlich, zeitlich und finanziell auf einen möglichst kleinen Ausschnitt aus dem zivilgesellschaftlichen Leben beschränkt und die Mitbestimmung die Ausnahme und die Selbstbestimmung die Regel bildet. *** Das Mehrheitsprinzip ist fast grenzenlos populär, weil es angeblich mindestens der Hälfte der Beteiligten und Betroffenen das vermittelt, was sie sich wünschen, und weil man davon ausgeht, dass Mehrheiten am ehesten in der Lage seien, zu bestimmen, was für alle gut sei. «Vox populi, vox Dei». Die Formulierung geht angeblich auf Alkuin zurück, der sie in einem Brief an Karl den Grossen – allerdings kritisch – benutzte. Lichtenberg hat in seinen Sudelbüchern die Formel gelobt und gesagt, es sei selten in vier Worte soviel Weisheit verpackt worden. Das klassische Mehrheitsprinzip zählt die Stimmen nach Kopf oder Person, auch wenn diese den Kopf nicht benützt, sondern nur «aus dem Bauch» entscheidet. Folgt man dem Mehrheitsprinzip, das eine erstaunlich hohe Akzeptanz hat, nimmt man in Kauf, dass schlimmstenfalls beinahe die Hälfte der Beteiligten sich mit Fremdbestimmung abfinden müssen, oft auch «die bessere Hälfte». Immerhin, nur eben nicht ganz Hälfte. Ist nun das Glas des Mehrheitsprinzips halb voll, oder ist es halb leer? In einer Diktatur werden schlimmstenfalls alle permanent wider ihren Willen gezwungen. Das kann aber auch beim Mehrheitsprinzip der Fall sein. Wenn dieses nämlich als Ausscheidungsverfahren gegenüber einer Vielfalt von Wahlmöglichkeiten benutzt wird, steigt der Anteil an Fremdbestimmung von Wahlgang zu Wahlgang an, und es ist sogar wahrscheinlich, dass in einer pluralistisch zusammengesetzten Gruppe in einem Ausscheidungsverfahren nach Mehrheitsprinzip letztlich überhaupt niemand mehr jene Lösung erhält, die er oder sie selbst spontan für die beste hält. Schützt nun also das Mehrheitsprinzip die Freiheit, oder bedroht es sie? Ich gelange zum gleichen Schluss wie Hayek. Das Mehrheitsprinzip (one person, one vote) ist bezüglich Freiheit zunächst einmal ambivalent und birgt ein beachtliches Gefährdungspotential. Unter folgenden Bedingen kann sich aber auch Hayek mit dem Mehrheitsprinzip abfinden: Erstens: das Mehrheitsprinzip darf ausdrücklich nicht für Verteilungs- und Umverteilungsprozesse verwendet werden. Zweitens: das Mehrheitsprinzip ist zunächst auf die Vereinbarung von Regeln über die Wahl und Abwahl der für gemeinsame Angelegenheiten Beauftragten zu beschränken. Dieser Auftrag ist seinem Wesen nach zeitlich und inhaltlich zu begrenzen. Drittens: das Mehrheitsprinzip eignet sich zusätzlich als Grundlage eines Vetos gegen neue Lasten und Regulie-

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GALERIE Annelies Štrba

aus «Frances und die Elfen», 2005

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rungen. Es ermöglicht eine oft paradoxe, aber gegen «mehr Staat» wirksame Koalitionen der Ablehner. Es gibt zwar keine psychologischen, aber doch entscheidungslogische Gründe, dass eine Ablehnung immer konsensfähiger und mehrheitsfähiger ist als eine Befürwortung, da die Gründe einer Ablehnung immer breiter abgestützt sind, als die einer Befürwortung. Viertens: das Mehrheitsprinzip ermöglicht eine Einigung über die gemeinsame Abwehr von Gefahren, die man als gemeinsame Bedrohung wahrnimmt. Das sind die inhaltlichen Voraussetzungen unter denen das Mehrheitsprinzip möglicherweise freiheitsverträglich ist. Dazu kommen die historisch-psychologischen Voraussetzungen, an die Giacometti erinnert: die traditionelle und institutionelle Vernetzung mit einer Art präexistenter Freiheitsliebe und einer instinktmässigen Beisshemmung der Mehrheit gegenüber Minderheiten. Ohne den Instinkt gegen jede Art von Macht läuft das Mehrheitsprinzip Gefahr, jene kreative Dissidenz zum Verschwinden zu bringen, auf die längerfristig auch Mehrheiten angewiesen sind. Der Minderheitenschutz schützt letztlich die Mehrheit vor dem kollektiven Verdummen, aber mit dem Minderheitenschutz wird auch viel Unfug getrieben. Er dient oft als Einfallstor für Gruppenprivilegien aller Art.

Die Demokratie kann Freiheit nur bewahren, wenn ihre Zuständigkeit bei der Lösung gemeinsamer Probleme eng beschränkt ist. Mitbestimmung gemäss Mehrheitsprinzip ist kein Selbstzweck. Sie hat gegenüber der individuellen Selbstbestimmung lediglich einen subsidiären Stellenwert. Ich erinnere an den Vorrang der «kleinen Heimat» vor der grossen Heimat im Verhältnis von 364 zu 1 im Appenzellerland. Die Beweislast für die langfristige Praktikabilität und den gemeinsamen Nutzen tragen jene, die Privatautonomie nach dem Selbstbestimmungsprinzip durch kollektive Autonomie nach dem Mehrheitsprinzip ersetzen wollen. Man sollte ihnen den Beweis vor dem intellektuellen Forum nicht zu leicht machen, das politische Macht zunächst theoretisch und dann auch praktisch beurteilt. Das Mehrheitsprinzip ist trotz Alkuins und Lichtenbergs Formel «Vox populi, vox Dei» und in Übereinstimmung mit Hans Hoppe «ein Gott, der keiner ist». Der Zwang, und vor allem der Zwang zum Guten oder zu dem, was eine Mehrheit für gut hält, macht Vielfalt zur Einfalt und hat insgesamt eine auch für die Gemeinschaft destruktive Wirkung. Jede kreative Gemeinschaft beruht auf dem friedlichen Wettbewerb, und wenn das Mehrheits62

prinzip dazu missbraucht wird, unliebsame Lösungsvarianten auszuschalten, degeneriert es zur Herrschaft der jeweils tonangebenden Populisten. Was ist nun aber nicht nur mehrheitsfähig, sondern sogar umfassend und dauerhaft konsensfähig? Das ist nichts anderes als die gemeinsame Abwehr einer gemeinsam nichtgewollten Entwicklung, und niemals die Herstellung eines gemeinsam gewollten künftigen Zustandes. Meine auf historische Beobachtung und persönliche Erfahrung gestützte politische Philosophie kritisiert die massive Überbewertung des Politischen und damit des Staatlichen, und ich frage mich ganz ernsthaft, ob es auf lange Sicht nicht ein Segen wäre, wenn der aristotelische homo politicus im globalen Rahmen durch den homo œconomicus cultivatus abgelöst würde, nicht sofort, aber im Sinn eines geordneten Rückzugs aus dem Mythos des Staates. (Vgl. Ernst Cassirer: «Vom Mythus des Staates». Erstmals 1946. 2. Aufl. Hamburg: 2002). Die Demokratie kann Freiheit nur bewahren, wenn ihre Zuständigkeit bei der Lösung gemeinsamer Probleme eng beschränkt ist. Sie erhält sich nicht dadurch, dass man in allen Bereichen mehr Demokratie wagt. Im Gegenteil, man muss es wagen, das Mehrheitsprinzip in jene engen Schranken zu weisen, die weder die ökonomische noch die kulturelle Entwicklung einer spontanen Ordnung hemmen. Es braucht dazu das, was Hayek in seinem Zürcher Vortrag vor 30 Jahren postuliert hat: «die Entthronung der Politik». Wer die Politik als solche in die Schranken weist, gelangt zu Giacomettis liberaler Vision vom Staat als Zweckbündnis zur Verteidigung der individuellen Freiheit. Nicht mehr und nicht weniger. Wäre es doch dabei geblieben! Die Menschheit hätte sich die meisten kriegerischen Menschen- und Wertvernichtungsorgien des 19. und vor allem des 20. Jahrhunderts ersparen können, wenn sie Gewaltanwendung nur zur kollektiven Selbstverteidigung im engern Sinn gegenseitig toleriert hätte. Die von entfesselten homines politici angezettelten vaterländischen Kriege unter Nationalstaaten und Bündnissen entsprangen einem andern Staatsverständnis: dem Mythos des Staates als Wirtschaftsund Lebensgemeinschaft im Geiste der Eroberung, der Gier nach Macht und der Sucht nach nationalem Ruhm. Taugt das Mehrheitsprinzip als Hort der Freiheit? Soll das Urteil über das Mehrheitsprinzip nach dem Mehrheitsprinzip gefällt werden, oder soll jeder für sich selbst entscheiden? Hier mein persönlicher Entscheid: was für mich, meine Familie, meine Nächsten, Nachbarn, Freunde und Arbeitskollegen gut ist, versuche ich täglich prüfend, kommunizierend und einfühlend herauszufinden. Was das Gute und für alle das Beste ist, weiss ich nicht. Aber ich zweifle ernsthaft, ob Mehrheiten das besser wissen. Dieser Beitrag ist die gekürzte Fassung des Vortrags, den Robert Nef anlässlich der Verleihung der Hayek-Medaille Ende Juni in Freiburg im Breisgau gehalten hat. Die ungekürzte Fassung ist unter www.libinst.ch publiziert.

Nr. 09/10, 2008 Schweizer Monatshefte


anstoss Vesselina Kasarova

Was heisst denn hier Freiheit? Ein Anstoss durch Prosper Mérimée: Zitiert aus dem Opernlibretto «Carmen» von H. Meilac und L. Halévy nach der gleichnamigen Novelle von P. Mérimée.*

«Die ganze Welt als Heimat, dein Wille dein Gesetz! Und vor allem die berauschende Sache: die Freiheit!»

Eine Antwort aus dem Stegreif von Vesselina Kasarova Die Mezzosopranistin Vesselina Kasarova, geboren 1965, singt zur Zeit die Carmen in einer Inszenierung am Opernhaus Zürich.

Foto: Wilfried Hösl

Freiheit bedeutet für mich, mich frei ausdrücken zu können. Gefühle zeigen zu können. Und ehrlich zu sein. Das ist Freiheit. Freiheit ist auch, dass ich das machen kann, was ich liebe. So viele Leute haben keine Chance, sich auszudrücken. Doch ich kann als Musikerin und Sängerin arbeiten. Meine Liebe ist zu meinem Beruf geworden. Was will ich mehr? Ich bin frei, weil ich experimentieren kann. Das klingt jetzt vielleicht posenhaft, doch ich meine, ich bin frei, weil ich bei der Interpretation meiner Rollen an die Grenzen meiner Emotionen gehen kann. Doch nach der Vorstellung, da möchte ich nicht länger in jener Welt leben. Wenn der Vorhang fällt, dann verlasse ich sie. Freiheit heisst daher auch, dass ich die Welten wechseln kann. Auf der Bühne lebe ich Carmen, ich lebe die Zeilen, die ich singe. So gut, dass die Leute mir meine Rolle glauben, egal ob ich dabei schön bin oder hässlich, ob ich erotisch bin oder arrogant. Die Leute müssen mitbekommen, was ich fühle. Nur dann bin ich gut. Als Frau unabhängig zu sein: das ist Freiheit. Aus Carmen hat man ein Klischee gemacht: Fächer, Blume, Hüfte… Das ist zu wenig, das ist falsch, das wird ihr nicht gerecht. Carmen ist eine emanzipierte Frau. Carmen ist frei. Und das ist das, was die Männer stört. Deswegen bringt José Carmen am Ende um. So viele interpretieren die Oper falsch. Sie denken, dieser Mann ist der Verlierer und das

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Opfer. Sie denken, ach, der Arme, der sagt, bitte, bitte, Carmen, komm, bleib bei mir, aber Carmen will nicht und verlässt ihn. Doch José ist nicht der Verlierer. Er tötet Carmen, weil er nicht akzeptiert, was sie möchte. Er tötet sie, weil er keinen Mut hat, mir ihr zu leben, mit in ihre Welt zu kommen und seine Welt zu verlassen. Er hat Angst vor der Freiheit. Zweimal geht er weg von ihr, einmal weil er zur Kaserne gerufen wird, das andere Mal, weil seine Mutter nach ihm schickt. Dann will Carmen nicht mehr. Carmen braucht Männer, die sich entscheiden können. Die frei sind. Die wissen, was sie wollen und die machen, was sie sagen. Carmen ist ein weiblicher Don Giovanni. Auch Don Giovanni hat auf eine edle Art immer bestimmt, was er machen will. Erst will er diese Frau und dann eine andere. Sein Wille ist sein Gesetz. Und gleiches gilt für Carmen; erst will sie José, und dann will sie einen anderen: ihr Wille, ihr Gesetz… die ganze Welt als Heimat… Carmen ist ein kosmopolitischer Mensch, der sich überall anpassen kann. Wenn sie will! Sie nimmt sich auch hier die Freiheit. Doch «dein Wille, dein Gesetz» bedeutet auch, dass du einsam bleibst. Menschen wie Carmen sind Persönlichkeiten, die anders sind als die meisten. Anders als Micaëla, die José nach dem Willen seiner Mutter heiraten soll. Micaëla ist eine guterzogene, ein bisschen kokette und naive Frau. Eine Naivität, die die Männer lieben Die Männer haben Carmen immer als Prostituierte gesehen. Und nicht als emanzipierte, erotische Frau, eine Frau, die voller Melancholie und Tiefsinn ist und ohne Angst. Die so frei ist, dass sie auch keine Angst vor dem Tod hat. Dass sie dann stirbt, beweist, wie die Welt der Männer ist. Wir Frauen sind nicht zu unterschätzen. Ich bin nicht Carmen. Ich verkörpere sie nur. Ich weiss, was ich will. Doch um das zu erreichen, habe ich meinen Willen in Watte gepackt. Ich habe gelernt, diplomatisch mit Menschen umzugehen. Ich bin vorsichtiger als Carmen. Sie ist genau so, wie sie spricht. Sie ist radikaler. Ich bewundere sie für das. Doch dafür werde ich von keinem Mann erstochen. aufgezeichnet von Suzann-Viola Renninger 63


vorschau

Andy Guhl, St. Gallen

Die nächste Ausgabe

Das Dossier der Ausgabe November 2008 gilt dem Thema «Europa, ja. EU, nein danke». Gast in der Galerie ist Andy Guhl.

Aus der Agenda 2008/09 «Familie & Politik» «Mediterrane Welt» «Kunst der Kritik» «Tessin» «Mikrokredite» «La Chaux-de-Fonds» «Endlichkeit»

Zuletzt erschienen

«Schweizer und Deutsche – kennt Ihr euch?» «Zurück in den Arbeitsmarkt!» «Appenzellerland – klein und erfolgreich» «Das Unbehagen im globalen Kapitalismus» «Regeneration der Universität» «Jenseits von Liberalismus light» «Knappes Wasser» «Staaten in der Schuldenfalle»

Dank

Das Dossier dieser Ausgabe wurde unterstützt von der Bank Wegelin & Co., Privatbankier, St. Gallen.

Bezugsquellen Blättern & kaufen bei exklusiven Partnern der «Schweizer Monatshefte»: Buchhandlung am Hottingerplatz Hottingerstrasse 35, 8032 Zürich Buchhandlung sec52 Josefstrasse 52, 8005 Zürich, www.sec52.ch KLIO Buchhandlung und Antiquariat Zähringerstrasse 41/45, 8001 Zürich, www.klio-buch.ch sirup.no.com, Willi Krafft Alfred Escher-Strasse 23, 8002 Zürich, www.sirup.no.com Direktbestellungen unter: www.schweizermonatshefte.ch

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SCHWEIZER MONATSHEFTE Vogelsangstrasse 52 8006 Zürich SCHWEIZ

Die multimediale Vorlesungsreihe

Bitte ausreichend frankieren

EuroKultur von und mit Dr. phil. Monique R. Siegel

Abonnement

Was macht Sie und mich zu Europäern? Wo sind unsere gemeinsamen Wurzeln? Woher stammt unser Konzept einer direkten Demokratie? Dr. phil. Monique R. Siegel Wirtschaftsberaterin, Bestseller-Autorin, Dozentin und Zukunftsforscherin. An Veranstaltungen und in den Medien äussert sie sich zu Themen aus Politik, Wirtschaft, Bildung und Kultur. Mit ihrer multimedialen Vorlesungsreihe EuroKultur hat sie 2004 Bildungsneuland betreten.

Ein Jahresabo kostet Fr. 130.- / € 87.- (mit Lieferadresse im Ausland: Fr. 156.- / € 104.-). Pro Jahr erscheinen 8 Ausgaben. Auszubildende und Studierende erhalten eine Ermässigung von 50%. (www.schweizermonatshefte.ch) Ich möchte die Schweizer Monatshefte abonnieren. Ich möchte ein Probeabo bestellen: 3 Hefte für Fr. 30.- bzw. € 23.Ich bitte um Zusendung eines kostenlosen Probeheftes. Mich interessieren v.a. Themen aus ( ) Politik, ( ) Wirtschaft, ( Lieferadresse (für Geschenkabos)

) Kultur.

Rechnungsadresse

In einer mehrsemestrigen Vorlesungsreihe lernen Sie die Wurzeln der europäischen Kultur kennen. Kein anderer Kontinent bietet eine solche Vielfalt an Geschichte, Architektur, Musik, Kunst und Literatur. Datum / Unterschrift 08_09/10

Die Vorlesungen finden statt im Hotel Central in Zürich Reiseprogramm und Anmeldung: www.eurokultur.ch

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SCHWEIZER MONATSHEFTE

Zeitschrift für Politik Wirtschaft Kultur

Einladung

Life is sharing

Angelika Schett, Redaktorin «Gesellschaft» (Radio DRS2), im Gespräch mit Dr. Monique R. Siegel zum Thema

Die Kunst der enthüllenden Verhüllung Erotik von der Antike bis heute

10. November 2008, 18 bis ca. 21 Uhr, im Theater Stok Zürich. Teilnahme kostenlos.

Info: www.eurokultur.ch

Annelies Štrba, aus «Nyima» 2008


SCHWEIZER MONATSHEFTE

Guter Wein und gutes Essen gehören zusammen. Deshalb bilden jetzt auch zwei Magazine, die sich beide bedingungslos dem Genuss verschrieben haben, ein Paar: VINUM, Europas Weinmagazin und marmite, die Zeitschrift für Esskultur. Aufgetischt wird kein verlegerisches Einerlei. Jede Zeitschrift hat eine eigene Aufmachung, einen eigenen Stil, eigene Ideen und eigene Macher. Die einzigen Gemeinsamkeiten sind das hohe journalistische Anspruchsniveau und die Versessenheit der Text- und Bildautoren, die die Geschichten recherchieren und präsentieren. www.intervinum.ch Für 20 Franken können Sie VINUM und marmite dreimal entdecken. Telefon +41 44 268 52 40, Fax +41 44 268 52 05, E-Mail info@intervinum.ch Auch für eine Anzeigendokumentation.

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E U R O PA S W E I N M A G A Z I N

Dossier:

Spitzen, Frauen, Freiheit

September/Oktober 2008 Fr. 17.50 / € 11.00

Zeitschrift für Politik Wirtschaft Kultur / seit 1921

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