982 (Dezember 2010)

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Jubiläum 2011

90 Jahre Schweizer Monatshefte

ZÜRICH

SCHWEIZER MONATSHEFTE 982

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Dossier:

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SCHWEIZER MONATSHEFTE 977

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980 Dossier Wie regieren? Neue Ideen für die Schweiz

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SCHWEIZER MONATSHEFTE 980

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975 Dossier Gutes & schlechtes Geld

SCHWEIZER MONATSHEFTE 974

974 Dossier Und der Ernstfall? Die Schweiz & die Sicherheit

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982

979 Dossier Vier Sprachen, ein Land – Über den Zusammenhalt der Schweiz Aus aktuellem Anlass Wirtschaft & Moral SMH-Gespräch Patri Friedman Galerie Vincent Kohler

981 Dossier Ungläubig – Die neue Religion

SCHWEIZER MONATSHEFTE

Zeitschrift für Politik Wirtschaft Kultur

Aus aktuellem Anlass 14 Jahre sogenannte neue Rechtschreibung SMH-Gespräch Barbla und Rudi Bindella Galerie Hans Josephsohn

www.schweizermonatshefte.ch Joseph Kosuth, «One and three chairs, Courtesy: Privatsammlung, Berlin (Foto: K. Rippstein)


Inhalt Dezember 2010

Editorial

3

Galerie Haus Konstruktiv

«ganz konkret» Dorothea Strauss

4

Positionen Gedankensplitter Zuwanderung Goldstandard Volksinitiative

Über gute und schlechte Demokraten René Scheu «Staaten werden implodieren» R. Scheu im Gespräch mit Gunnar Heinsohn Ist Gold das bessere Geld? Thorsten Polleit Die Mehrheit ist flüssig Wolfram Malte Fues

6 8 13 16

Dossier

CH & EU Strategisch denken!

1 2 3 4 5 6 7 8 9

Auftakt Souveränität heute Katja Gentinetta & Georg Kohler Widersprüchliches Gebilde Tito Tettamanti Innovative EU Daniel Brühlmeier Regulierung auf leisen Sohlen Roland Vaubel Der Irrtum des Euros Kurt Schildknecht Das kleine gallische Dorf Karen Horn Der Klassenbeste denkt nach Konrad Hummler EWR oder nicht, das ist hier die Frage Dieter Freiburghaus Warum konstruieren, was schon existiert? Carl Baudenbacher

19 20 23 25 27 31 33 37 40 43

SMH-Gespräch Demokratiekritik

«Reinster Kommunismus!» R. Scheu im Gespräch mit H.-H. Hoppe

46

Schriftsteller Thomas Hürlimann

1/3 Parks, Klöster, Kesselschlachten, Westberlin Thomas Hürlimann 2/3 Kloster in den Knochen H.-R. Schwab im Gespräch mit Th. Hürlimann 3/3 «Ein feiner, kluger Herr…» Roman Eiwadis

52 53 56

Bücher 8 Schweizer Autoren

Kurzkritik XXIX

58

Nachruf Anton Krättli

Zum Tod des ehemaligen SMH-Redaktors Robert Nef & Michael Wirth

66

Anstoss Yves Kugelmann

Was heisst denn hier Freiheit?

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Vorschau / Impressum

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Nr.982 Dezember 2010 Schweizer Monatshefte

1


schweizer monatshefte Zeitschrift für Politik Wirtschaft Kultur

Gunnar Heinsohn auf Seite 9

« Die schrumpfvergreisende Bevölkerung soll unsere Staatsschulden einmal bedienen – in diesem Befund liegt ungeheurer politischer Sprengstoff! »

Konrad Hummler auf Seite 39

« Ob eher globalisierte Plattform oder clever verzahnter europäischer Sonderfall: als City-State hätte die Schweiz die Chance, in einer Balance zwischen Selbstbehauptung und Kooperation zu einer Zukunftsvision zu gelangen. »

Thomas Hürlimann auf Seite 55

« Die Kinder von heute tun mir da oft ein bisschen leid – ihre Eltern sind eine Watte aus Vernunft und Verständnis. So nehmen sie ihren Nachkommen die Möglichkeit, sie von der Bühne zu kegeln. Gegen einen Wattebausch ist Ödipus machtlos. » 2

Nr.982 Dezember 2010 Schweizer Monatshefte


Editorial

Liebe Leser Von Winston Churchill ist das Bonmot überliefert, die Demokratie sei die schlechteste aller Regierungsformen – abgesehen von allen anderen. Wir nehmen ihn beim Wort. Die jüngsten Abstimmungen in der Schweiz sind uns Anlass, kritisch über unsere Demokratie nachzudenken: in den Gedankensplittern auf S. 6, im Gespräch mit dem Anarchokapitalisten Hans-Hermann Hoppe ab S. 46 und im Beitrag des Germanisten Wolfram Malte Fues ab S. 16.

Joanne Greenbaum, Sammlung Haus Konstruktiv (Foto: A. Burger)

Kein Land zahlt für seine Immigranten pro Kopf mehr als Deutschland. Doch warum, fragt sich Gunnar Heinsohn, getraut sich niemand, dieses Engagement als das zu loben, was es ist: Entwicklungshilfe? Wir haben den streitbaren deutschen Soziologen in Zug getroffen. Lesen Sie ab S. 8 das brisante Gespräch über westliche Gesellschaften, die an den ökonomischen, demographischen und sozialen Realitäten konsequent vorbeileben.

Sag mal, wie hältst du’s mit der EU? Es ist eine der helvetischen Schicksalsfragen, die das Land seit dem Nein des Stimmvolkes zum EWR-Beitritt im Jahre 1992 in Bann hält. Seit Jahr und Tag schreiben in den «Schweizer Monatsheften» Autoren mit spitzer Feder zu diesem Thema. Nun haben wir zusammen mit dem Thinktank Avenir Suisse die Debatte neu belebt. Mehr im Dossier ab S. 19.

Die Jugend hinter Klostermauern, das Studium im mauerumschlossenen Westberlin. Dem Schriftsteller Thomas Hürlimann hat diese Erfahrung geholfen, immer einen Ausgang zu finden – und zu schreiben, wie nur er es kann. Diesen Dezember feiert er seinen 60. Geburtstag. Lesen Sie mehr ab S. 52.

Suzann-Viola Renninger & René Scheu Nr.982 Dezember 2010 Schweizer Monatshefte

3


Galerie Haus Konstruktiv

«ganz konkret» Das Zürcher Museum Haus Konstruktiv Dorothea Strauss

Der Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert wird von grundlegenden Neuerungen in der Kunst begleitet. Die Künstler wenden sich zunehmend von einer wirklichkeitsgetreuen Wiedergabe des Sichtbaren ab und entwickeln einen freieren Umgang mit den bildnerischen Mitteln Farbe, Form und Fläche. Nicht mehr die Darstellung der bereits existierenden Gegenstandswelt, sondern die Sichtbarmachung unsichtbarer Welten rückt in den Fokus. Die ungebrochene Lebendigkeit der konkret-konstruktiven Kunst bis heute mag angesichts der zahllosen Kunstrichtungen, die parallel zu ihr aufkamen und wieder schwanden, verwundern. Unerklärlich aber ist sie nicht. Ihre Präsenz und stetige Weiterentwicklung lässt sich darauf zurückführen, dass sie die Grundlagen des künstlerischen Schaffens selbst zum Thema hat – und mithin auf einen schier unerschöpflichen Fundus an Gestaltungsmitteln und Formfragen zugreifen kann. Sei es in Hochschulen, Ausstellungen oder auf Kunstmessen, überall und weltweit begegnen wir erfrischend vielfältigen Formen eines neuen Minimalismus. Denn die Rückgriffe auf die Themen der klassischen Avantgarde, des Konstruktivismus, der konkreten Kunst und auf die Anfänge der Konzeptkunst, sind ebenso zeitlos wie frei. Fast möchte man von einer Neuen konkreten Bewegung sprechen, die sich die Erfahrungen, Einsichten und Kenntnisse des ganzen 20. Jahrhunderts einverleibt und heute, am Beginn des 21. Jahrhunderts, ein verändertes Selbstbewusstsein entwickelt hat. Eines, das sich nicht mehr durch Abgrenzung behauptet, sondern durch das Vertrauen in die künstlerische Behauptung an sich. Die Eigengesetzlichkeit der Farben und Formen auszuloten, der Proportionen und Strukturen, der künstlerischen und gesellschaftlichen Verhältnisse, und verschiedene Materialien gestalterisch zu untersuchen, ist die Aufgabe und zugleich das grosse Potential der konkret-konstruktiven

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4

S. 18

Foto: Gaechter + Clahsen

und konzeptuell geprägten Kunst. Ihre Kernfragen sind also heute noch die gleichen wir vor hundert oder fünfzig Jahren; nur der künstlerische Blick darauf hat sich seither vielfach verändert. Immer wieder werden neue Aspekte, neue Diskurse, neue Medien und technische Möglichkeiten in die künstlerische Arbeit integriert und wird das Spektrum der möglichen Ansätze kontinuierlich erweitert. Das Museum Haus Konstruktiv – aus der Zürcher Geschichte der konkreten Kunst hervorgegangen – beschäftigt sich seit einigen Jahren mit genau diesem generationenübergreifenden Dialog zwischen künstlerischen Positionen der Vergangenheit und ihrer Weiterführung in der Gegenwart.

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Nr.982 Dezember 2010 Schweizer Monatshefte


Galerie Haus Konstruktiv

Kunstgeschichte entwickelt sich einerseits auf einer fortlaufenden Zeitachse und bringt einen anderseits immer wieder zum Staunen, wenn genau diese Zeitachse auch ausser Kraft gesetzt wird. Arbeiten der frühen Konkreten oder der ersten Konzeptkünstler sehen heute frischer aus denn je, und die Künstler der Enkelgeneration zeigen einen bewundernden und gleichzeitig selbstwussten Umgang mit diesem Erbe. Woran liegt das? Dieser Frage möchten wir in unserem Ausstellungsprojekt «ganz konkret» nachgehen. Das Museum Haus Konstruktiv befindet sich auf einer Spurensuche nach den Anfängen, den Erscheinungsformen und den Entwicklungslinien reduktionistischer Ansätze und entwirft eine Auslegeordnung, in der auf vier Stockwerken über 100 Jahre Kunstgeschichte aufleben. Unser Credo lautet, dass die Klarheit und Sinnlichkeit der reduktionistischen Kunst einen reichen Fundus an zeitlosen Ideen bereithält, deren Durchleuchtung stets neue, faszinierende Erkenntnisse hervorbringt. Ausgehend von den Themen der hauseigenen Sammlung, deren Umfang sich in den letzten sechs Jahren fast verdoppelt hat, haben wir das umfassende Ausstellungsprojekt «ganz konkret» entwickelt. Mit zahlreichen wichtigen Werken aus unserer Sammlung, hochkarätigen Leihgaben und spannenden Einzelpräsentationen sowohl historisch relevanter wie auch junger Künstlerpositionen entsteht in zwei Folgen und verschiedenen Kapiteln ein wahres Feuerwerk ganz konkreter Ansätze. Russland gilt als die Wiege des Konstruktivismus. Wladimir Tatlin, Kasimir Malewitsch, El Lissitzky, Ljubow Popowa oder auch Naum Gabo zählen zu den Pionieren der russischen Avantgarde. 1915 schreibt Malewitsch das Manifest «Vom Kubismus zum Suprematismus». 1930 verfasst der niederländische Künstler und Theoretiker Theo van Doesburg gemeinsam mit seinen Künstlerkollegen Otto Gustav Carlsund, Jean Hélion, Léon Tutundjian und Marcel Wantz das Manifest «Die Grundlage der konkreten Malerei».

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S. 59

Nr.982 Dezember 2010 Schweizer Monatshefte

Folgt man Max Bill, so setzt die Entwicklung der konkreten Kunst im Jahre 1910 mit einem Aquarell von Wassily Kandinsky ein. Als «première œuvre concrète» präsentierte Bill dieses Werk 1960 in seiner mittlerweile legendären Ausstellung «konkrete kunst – 50 jahre entwicklung» im Helmhaus Zürich. Nach Bills Zeitrechnung würden wir also in diesem Jahr das 100jährige Jubiläum der konkreten Kunst feiern. Nach Richard Paul Lohse hingegen sind die Anfänge der konkreten Kunst bereits um das Jahr 1900 auszumachen, nämlich in den geometrisch angelegten Pastellen Augusto Giacomettis. Und nicht zu vergessen: schon im 18. und 19. Jahrhundert findet sich in manch einem Gemälde ein konstruktivistisch geprägtes Bildverständnis. Das Ausstellungsprojekt «ganz konkret» dokumentiert jedoch keinen Expertenstreit, sondern möchte das Zeitfenster öffnen und das Publikum in die spannende Historie der konkreten Kunst hineinziehen, deren Beginn sich vielleicht nicht ausschliesslich an einem Werk festmachen lässt, deren Innovationskraft jedoch seit dem frühen 20. Jahrhundert wegweisend weiterwirkt. *** Dorothea Strauss, geboren 1960, ist seit 2005 Direktorin des Museums Haus Konstruktiv in Zürich. Dort läuft noch bis zum 30. Januar 2011 die Ausstellung «ganz konkret» über die 100jährige Entwicklung der konstruktiven, konkreten und konzeptuellen Kunst und ihrer Auswirkungen auf die Gegenwart Basis der Ausstellung ist eine umfangreiche Timeline von 1900 bis 2010, deren Texte Dorothea Strauss in Zusammenarbeit mit Britta Schröder verfasst hat. Alle Werke, die in der «Galerie» der vorliegenden Ausgabe der «Schweizer Monatshefte» vorgestellt werden, sind auch in der Ausstellung zu sehen. (www.hauskonstruktiv.ch)

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Karte

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gedankensplitter

Gedankensplitter Über gute und schlechte Demokraten – von René Scheu

I. Parteien und Politiker haben zumeist eine hidden agenda. Sie vertreten offiziell ein Anliegen und verfolgen inoffiziell ein ganz anderes. Nicht so die Sozialdemokratische Partei der Schweiz. Sie kündigt ganz offen an, was sie zu tun beabsichtigt. Was die Steuergerechtigkeitsinitiative letztlich bezweckt, ist im neuen SP-Parteiprogramm glasklar festgehalten: «mehr Verteilungsgerechtigkeit» (sprich: mehr willkürliche Umverteilung), «Föderalismus erneuern» (sprich: Föderalismus abschaffen), Beitritt zur Europäischen Union (sprich: Beitritt zur Europäischen Union). Obwohl Transparenz und Konsequenz zweifellos löblich sind, war das dann doch zuviel des Guten für das Schweizer Stimmvolk. Die Initiative hat an der Urne Schiffbruch erlitten. Zum Glück.

schon – weiser als die Regierung. Allein, jede Regierungsform ist und bleibt eine Herrschaftsform. Auch in einer direkten (bzw. präziser: halbdirekten) Demokratie ist es so, dass die einen (die Mehrheit bzw. ein Zusammenschluss von Minderheiten) über die andern (die Minderheit) herrschen. Die Herrschaft verschwindet nicht einfach, und sie ist für den einzelnen auch nicht weniger schlimm, wenn sie demokratisch legitimiert ist. Die SP und deren jungsozialistische Speerspitze haben es nun aber auf eine ebensolche radikaldemokratische Gesellschaft abgesehen, in der alle Lebensbereiche dem Diktat der Mehrheit unterworfen werden. Statt der von ihnen beklagten Ökonomisierung des Lebens streben sie dessen totale Politisierung an. Alles ist politisch, nichts mehr privat.

II. Die klare Ablehnung der Initiative ist Grund genug, neben der transparenten SP auch den wirklich souveränen Schweizer Souverän zu loben. Selbst in einer klassenkämpferischen Atmosphäre (Reiche = Abzocker) haben sich die Stimmbürger nicht aus der Ruhe bringen und vom selbständigen Denken abhalten lassen. Jene, die von der Erhöhung des Steuerfusses nicht unmittelbar betroffen gewesen wären (indirekt hätte es freilich auch sie getroffen), wollten nicht einfach über jene anderen entscheiden, die sogleich mehr Steuern hätten zahlen müssen. Schaut man sich die Geschichte an, so ist die Weisheit der Stimmbürger in der Tat bemerkenswert. Sie sind Anwälte des Respekts und des gesunden Menschenverstandes. Ein Lob auf die direkte Demokratie! Aber zugleich die Frage –wieviel hätte es gebraucht, und alles wäre ganz anders gekommen?

IV. Im Jargon der jungen Radikaldemokraten klingt das so: «Demokratie ist mehr als ein politisches Verfahren. Demokratie ist die Idee einer Gesellschaft, in der die Leute frei und gleich sind» (nachzulesen in der Broschüre «Schaffen wir mehr Demokratie!»).* Konkret: die Leute sind frei, andern vorzuschreiben, wieviel Steuern sie zu bezahlen haben; und sie sind gleich, weil am Ende alle etwa gleich viel bezahlen. Der Kollektivismus kommt modisch formuliert daher: «Alle tragen Verantwortung für den einzelnen und somit für alle.» Wenn die einen den andern sagen, was sie zu tun und wieviel sie zu bezahlen haben, dann ist das also ein Akt der gesellschaftlichen Verantwortung. Die SP bekennt sich offen zu demokratischem Sozialismus. Erinnern wir uns an den Ökonomen Joseph Schumpeter, der bereits 1942 in «Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie» luzide festhielt: «Ein einmal existierender Sozialismus ist vielleicht das wirkliche Ideal einer Demokratie.» Das Problem ist nur, dass das Ideal ein Ideal bleibt (siehe DDR, siehe Kuba). Daran wird auch noch mehr Demokratie nichts ändern, wie die Jusos sie fordern. Sie sitzen einem simplen Denkfehler auf. Es ist zweifellos wünschenswert, dass Gesetz nur sein soll, was die Mehrheit anerkennt. Aber nur deshalb, weil die Mehrheit es anerkennt, soll es nicht auch für alle gelten. Oder anders gesagt: es ist ein Gebot des Respekts und des gesunden Menschenverstands, dass der Demokrat nicht alles tut, was er in einer direkten Demokratie tun kann.

III. Winston Churchill hatte recht, als er 1947 in einer Rede im Unterhaus sagte: «Demokratie ist die schlechteste aller Regierungsformen – abgesehen von all den anderen Formen, die von Zeit zu Zeit ausprobiert worden sind.» Und die direkte Demokratie nach Schweizer Vorbild ist – jedenfalls für Schweizer – zweifellos die beste aller schlechtesten Regierungsformen. Dennoch hat sie ihre Schwächen. Ich bin als überzeugter Demokrat völlig einverstanden: die Regierung ist nicht weiser als das Volk, sondern das Volk ist – wenn 6

*www.deutungshoheit.ch

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Jubiläum 2011

90 Jahre SCHWEIZER MONATSHEFTE

Mit Köpfchen

Auch in Zukunft

Herzlichen Dank an unsere treue Leserschaft, unsere Autoren, Gesprächspartner und Künstler


POSITIONEN Demographische Szenarien

Alle sprechen von der demographischen Herausforderung. Aber kaum jemand nimmt sie ernst. Der Soziologe Gunnar Heinsohn schon. Gespräch über das Ende des Sozialstaats, wie wir ihn kennen, über Bildungsillusionen und den Segen qualifizierter Zuwanderung.

«Viele Staaten werden implodieren» René Scheu im Gespräch mit Gunnar Heinsohn

Herr Heinsohn, wir treffen uns in Zug. Sind Sie öfter in der Schweiz? Gunnar Heinsohn: Meine Vortragsreisen führen mich immer wieder in das kleine Land mit den vielen Bergen. Diesmal war es die Hochschule Zentralschweiz, die mich einlud. Wir haben ökonomische Themen behandelt. Dabei ging es auch um die Finanzkrise… …wenn man gegenwärtig über Ökonomie spricht, muss man auch über Demographie reden. Darüber wollten wir uns heute eigentlich unterhalten. Wir türmen heute Staatsschulden auf, die einer vermeintlichen Abmilderung von Folgen der Finanzkrise dienen sollen. Dabei gehen wir davon aus, dass im Jahr 2030 oder 2040 noch genügend Steuerzahler da sind, die diese Schulden auch zurückzahlen können. Neusten Schätzungen zufolge wird der Raum von Deutschland bis Japan in WestOst-Richtung unter Einschluss aller slawischen Nationen (aber ohne China) sowie von Estland bis Griechenland in Nord-Süd-Richtung von 480 Millionen Einwohnern auf 340 Millionen Einwohner im Jahr 2050 schrumpfen. Das sind 140 Millionen Menschen weniger, und dies, während gleichzeitig das Durchschnittsalter von 40 auf 50 Jahre ansteigt. Diese schrumpfvergreisende Bevölkerung soll unsere Staatsschulden einmal bedienen – in diesem Befund liegt ungeheurer politischer Sprengstoff! Wo brennt es denn genau? Keines der europäischen Länder, von denen wir sichere Daten haben, kann sich aus eigener Kraft demographisch retten. Die Lösung des Problems kann einzig in kontrollierter Einwanderung liegen, doch gibt es für diese Einwanderung 8

derzeit nicht genügend qualifizierte Interessenten. Es können nicht alle der 70 Nationen überleben, in denen weniger als 2 Kinder pro Frau geboren werden. Das schaffen, wenn es gut kommt, vielleicht 20. 50 müssen also implodieren. Mit Verlaub, das klingt nach demographischer Endzeitstimmung. Nein, überhaupt nicht. Wir können ja im kleinen bereits beobachten, was uns im grossen bevorsteht. Schauen Sie sich die Konkurrenz zwischen Kleinstädten in Mecklenburg oder Brandenburg an. Dort werden in vier von fünf Kleinstädten die sehr teuren Infrastruktureinrichtungen geschlossen, weil die Steuermittel hierfür schlicht nicht mehr eingetrieben werden können: die Feuerwehr, die Post, das Krankenhaus, der Kindergarten. In einer fünften Kleinstadt dürfen diese Einrichtungen noch ein wenig leben, für vielleicht noch einmal zehn bis fünfzehn Jahre. Dann ist auch diese am Ende, denn mehr Babys gibt es dort auch nicht. Der Kampf darum, wer als fünfte Stadt oder als fünftes Dorf überlebt, wird global zwischen 70 Nationen ausgetragen. Es ist zweifelhaft, ob Deutschland dazugehören wird. Noch vor zehn Jahren war die Rede von Bevölkerungsexplosion. Was ist daraus geworden? Sie existiert andernorts. Indien wird zwischen 2010 und 2020 rund 120 Millionen neue Arbeitskräfte haben – das ist mehr, als Indien daheim absorbieren kann, weil diese Nachkommen aus einer Generation stammen, in der indische Frauen im Schnitt noch 3 bis 4 Kinder gebaren. Solange Indien also zuviele Nachkommen produziert und wir zuwenige, ergibt sich ein interessantes demographisches Zukunftsmodell: Geber- und Nehmernationen helfen einander, indem sie ihren Bedarf an Nachkommen abgleichen. Da aber auch Indien heute auf 2,6 Kinder pro Frau herunter ist, schliesst sich dieses Fenster in zwanzig Jahren. Dann ist ja erst mal alles gut, das Demographieproblem westlicher Staaten gelöst. Leider nicht. Diese vielleicht 50 Millionen, die etwa Indien bis 2020 abgeben kann, streben vornehmlich in Länder, die Englisch sprechen. Nehmen wir an, dass ein gutqualifizierter Inder ein Angebot aus Toronto und eines aus Hamburg vorliegen hat – beides interessante Städte. Wenn er sich entscheiden soll, stellt sich für ihn zunächst die Frage nach der Sprache – Toronto bietet ihm hier das ideale englischsprechende Arbeitsumfeld, das er von Indien her kennt. Dann kommt die zweite Überlegung: Wo kann er sich als zwanzigbis dreissigjähriger Mensch noch eine Altersversicherung in der neuen Heimat aufbauen? Der Hamburger Bürgermeister ruft ihm zu: «Komm zu uns! Aber von 100 Verdienst behältst du nur 45 in der Tasche.» Auf die Frage nach dem «Warum?» antwortet der Bürgermeister: «Weil du ein sozialer Mensch bist! Du kannst hier für die Armen etwas leisten – und auch für die Greise!» Der Bewerber errötet, packt seine Koffer und zieht nach Toronto. Denn der dor-

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POSITIONEN Demographische Szenarien

tige Bürgermeister, der ihn genauso überlebensnotwendig braucht, sagt ihm: «Bei uns behältst du 75 von 100 in der Tasche – und kannst dir damit noch eine Rente aufbauen.» Jetzt habe ich eine gute Nachricht, Herr Heinsohn: die Schweiz ist ziemlich international. Mit Englisch kommt man gut zu Rande. Und von den 100 Franken behält der Bewerber hier ebenfalls 75. Also kommt er hierher, und die Schweiz wird zum 5. Land! Die Schweiz ist als eines der tüchtigsten Länder bei der innereuropäischen Kannibalisierung in einer ziemlich komfortablen Situation. Sie agiert ähnlich wie die kleinen Chinas in Taiwan, Hongkong oder Singapur. So wie sich diese drei gegenüber der Volksrepublik verhalten, so verfährt die Schweiz mit Deutschland: gleicher Sprach- und Kulturraum, bessere Verdienstmöglichkeiten, also kommen die Gutqualifizierten. China gibt jedes Jahr 600’000 Talente an die Kleinen ab. Während also einige hundert gut ausgebildete Chinesen aus der Welt ins Land zurückkehren und dort eine Firma gründen, gehen einige hunderttausend Talente einfach über die Grenze und sind andernorts produktiv. Schaut also die Schweiz auf die Welt, so täte sie gut daran, rechtzeitig Inder und Chinesen anzuziehen. Taiwan und China, Schweiz und Deutschland. Sind die Probleme mit der Altersvorsorge letztlich nicht überall dieselben? Nicht ganz. Die Deutschen hatten zu allem Schlamassel noch die Rentenlüge. Der frühere Minister Blüm sagte immer: «Die Renten sind sicher.» Die Chinesen haben nicht einmal unsichere Renten. Sie haben vor sich das Nichts. Die junge Generation wird das feststellen und sich auf die Suche nach besseren Lebensbedingungen machen. Indien und China sind damit die beiden potentiellen Hauptabwerberäume für europäische Staaten, die die Zeichen der Zeit rechtzeitig erkannt haben. Dort ist viel zu gewinnen, wenn man rechtzeitig aktiv wird. In Deutschland werden bisher überhaupt keine Initiativen in diese Richtung unternommen, in der Schweiz sind immerhin erste Ansätze erkennbar. Wissen Sie, wieviele Menschen in der Schweiz leben? Ungefähr 7,8 Millionen. Und wie viele Ausländer leben hier? Ziemlich genau 22 Prozent. Also sind wir doch demographietechnisch gut unterwegs. Ja, aber auch nicht besser als München oder Stuttgart. Ausländer sind die Lösung für unsere geburtenschwachen Gesellschaften. Aber nur, wenn ich diejenigen finde, die ich brauche. Und es ist nur eine Lösung auf Zeit. Wir haben in der Schweiz aufgrund der bilateralen Verträge die Personenfreizügigkeit gegenüber den EU-Staaten. Damit diskriminieren wir zugleich alle Nicht-EU-Bürger, indem wir

Nr.982 Dezember 2010 Schweizer Monatshefte

sie einer strikten Kontingentierung unterwerfen. Google in Zürich brauchte Anfang des Jahres Informatiker aus Indien, und es musste ein Sondergesetz geschaffen werden, da das Kontingent bereits erschöpft war. Wir haben hier viele Osteuropäer, Südeuropäer und Deutsche. Aber aus China und Indien dürfen nicht so viele kommen, wie wir eigentlich bräuchten. Das ist zweifellos eine törichte Gesetzgebung. Doch fährt die Schweiz gut, wenn sie sich auf Osteuropa konzentriert. Von Estland im Norden bis Griechenland im Süden – diese Länder sind demographisch verloren. Und die Jugend dort sitzt das nicht bis zum Ende aus. Wenn die Schweiz leistungsorientierte Leute aus dem Osten aufnehmen kann, die der Perspektivenlosigkeit im eigenen Land entfliehen wollen, dann reicht das für eine ganze Zeit. In Bulgarien etwa steigt der Altersdurchschnitt in absehbarer Zeit von 36 auf 50, wobei das Land bereits heute an extremer Elitenabwanderung leidet. Diese EU-Länder können aus der eigenen Bevölkerung die Renten nicht bezahlen und werden daher neue Staatsschulden aufnehmen – was sie eigentlich nicht können dürften. Da Deutschland aber durch den initiierten Milliardenrettungsschirm für Griechenland ein Signal zur Rettung gegeben hat, ändert sich die Ausgangslage drastisch. Das war ein gefähr-

Jene Länder sind im Vorteil, die die junge Elite der Bankrottstaaten an Land ziehen. licher Präzedenzfall. Die überschuldeten EU-Staaten haben einen starken Anreiz, ihre finanzielle Aussichtslosigkeit zu ignorieren – im Notfall kommt Hilfe aus Berlin via Brüssel. Deutschland garantiert für Griechenland. Aber die Frage ist doch: Wer garantiert für Deutschland? Der Blick in die Runde offenbart: da ist niemand. Kürzlich habe ich mit einem Rumänen gesprochen und ihn gefragt, ob er sich nicht Sorgen um seine Eltern mache, wenn er, auf der Suche nach besseren Lebensbedingungen, sie in Rumänien zurücklasse. Er sagte: «Beruhige dich, wir sind doch in der EU. Das zahlen die Deutschen.» In den neusten EU-Staaten, die alle bloss 1,2 bis 1,3 Kinder pro Frau bekommen, während ihnen die Jungen weglaufen, erhofft man sich, dass Brüssel die Pension bezahlt. Man glaubt dort, es gäbe riesige Kisten mit Geld in Deutschland, aus denen man sich nur zu bedienen brauche. Aber irgendwann wird sich herumsprechen, dass die Deutschen gar nicht garantieren können. Folglich werden sich die deutschen Staatspapiere auch nicht mehr verkaufen, denn auf dem Papier steht zwar 10’000 Euro, doch ist es plötzlich nur noch 5’000 wert. Egal, wer die Rechnung begleichen muss: am Ende sind Länder im Vorteil, die die junge Elite der Bankrottstaaten vorher an Land gezogen haben. 9


POSITIONEN Demographische Szenarien

Die Elite ist der Begriff der Stunde. In der Schweiz ist es fast schon ein Gemeinplatz zu sagen: Wir brauchen die guten Leute, zum Beispiel den gut ausgebildeten Inder. Er trägt dazu bei, den Wohlstand in der Schweiz zu mehren. Sowie Sie einen Menschen haben, der dort Abitur gemacht oder studiert hat, können Sie sicher sein, dass seine geistigen Fähigkeiten über dem Durchschnitt liegen. Egal, woher er kommt. Wer aber bereits daheim ein Schulversager war, kann diese schwere Bürde beim Grenzüberschreiten nicht einfach abwerfen. In Deutschland und auch in der Schweiz geht die Debatte am wesentlichen Punkt vorbei. Man behauptet hier wie dort, es existiere ein Ausländerbzw. Integrationsproblem. Falsch! Es geht vielmehr um Leute, die mit schlechter Ausbildung ins Land kommen und dann von Einheimischen gesagt bekommen, sie, also die Einheimischen, hätten ein Ausländerproblem. Diese Einladung nehmen die Ausländer gerne an – so können sie die Verantwortung an den Staat delegieren. Deutschland ist Spitzenreiter in dieser Form der Selbstanklage. Aber Sie haben recht: auch in der Schweiz werden solche Erklärungsmuster als selbstverständlich betrachtet. Bei uns können Sie lernen, wie man in der Schweiz in zehn Jahren denkt. Wir argumentieren so: «Wenn die Ausländer Schweizer Monatshefte_sw_Layout_2:Seespitz

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nicht vermittelbar sind und nicht arbeiten, so ist das unsere Schuld, weil wir nicht freundlich genug sind oder nicht noch mehr Geld in ihre Qualifikation stecken. Also zahlen wir generös für diese Menschen. Jeder legal im Lande Lebende ohne Einkommen wird versorgt.» Hier lenkt eine menschenfreundliche Sprache vom Schulversagerproblem ab. Unsere Terminologie ist mithin eine Schummelterminologie, die viele Immigranten von vornherein ins soziale Abseits katapultiert. Sie reden von den Hartz-4- oder Sozialhilfeempfängern? Richtig. Deutschland hat in den Achtzigern und Neunzigern etwa 12 bis 14 Millionen Leute aufgenommen, von denen statistisch nur 5 von 100 tatsächlich für einen immer anspruchsvoller werdenden Arbeitsmarkt qualifiziert sind. Natürlich kamen auch die anderen 95 aus Ländern mit einem Schulsystem. Allerdings haben sie dort fast niemals die besten Abschlüsse erreicht. Wirklich auffällig wird dieses Problem aber erst, wenn diese Immigranten hier Kinder haben und an diese dann Bildung kaum weitergeben können. Deshalb entstehen geistige Ghettos, die sich alsbald in wirklichen urbanen Ghettos manifestieren. Bei uns rufen Politiker von links bis rechts: «Bildung, Bildung, Bildung.» Sie suchen den Fehler ebenfalls im hiesigen System 16:29 Uhr

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Ein aussergewöhnliches Appartementhotel, grosszügig und komfortabel, ausgestattet mit besonderen Kunst- und Designobjekten. Die Lage direkt am malerischen Weissensee mit herrlicher Sicht auf die Berge ist einmalig.

Nr.982 Dezember 2010 Schweizer Monatshefte


Positionen Demographische Szenarien

– im Bildungssystem. Die Schule wird zur alles könnenden Problemlöserin hochstilisiert. Eigentlich besteht die letzte Hoffnung der Deutschen darin, ein unglaublich schlechtes Bildungssystem zu haben. Denn das wäre eines, das man mit einfachen Mitteln auf Weltniveau heben könnte – und alle Probleme wären gelöst. Dass man aber in Deutschland bis in die 1970er Jahre hinein stolz war auf das beste Bildungssystem der Welt, macht es nicht sonderlich wahrscheinlich, dass es nun so tief abgestürzt ist. Die Hoffnung auf ein katastrophales Bildungssystem, das man mit leichten Retuschen an die Spitze zurückführen kann, teile ich freilich in keiner Weise. Auch die Berliner politische Führung weiss jetzt, dass sie Sechsjährige nicht mehr davor schützen kann, als Fünfzehnjährige ohne Ausbildungsreife von der Schule gehen zu müssen. 2009 trifft das jeden vierten Schüler. Deshalb sollen nun Kinder mit 18 Monaten aus den Familien geholt und in einer Krippe durch sehr teure, deutschmuttersprachliche Pädagogen auf ein hohes Niveau gehoben werden. Wiederum der Staat. Er soll es richten, indem er die Kinder erzieht und die Erziehung auch gleich noch selber bezahlt. Ich bin bereit zu beten, auf die Knie zu sinken und zum Herrn zu schreien, dass das klappen möge. Aber bei all dieser Inbrunst kann ich die empirischen Forschungsergebnisse nicht leugnen. Und die aussagekräftigste Krippenforschung, die wir zur Verfügung haben, kommt aus den Vereinigten Staaten. Über 15 Jahre lang wurde dort zum Thema geforscht, in der «NICHD Study of Early Child Care and Youth Development». Die Forscher unter der Leitung von Jay Belsky waren bekannte Verfechter kollektiver Früherziehung, die der Krippe intellektuelle Wunder zutrauten. Das hat sich als falsch herausgestellt? Der Optimismus ist verflogen. Seit der Publikation der Resultate der Studie sagen sie etwa: «Freunde, wir müssen euch enttäuschen. Selbst mit den besten Krippen werden unsere Kinder zwar nicht viel, aber etwas aggressiver als die Nichtkrippenkinder – und damit schwerer schulbar.» Wenn ich um die Hilfslosigkeit der Superkrippe weiss und wenn ich darüber hinaus weiss, dass ein Kind bildungsferner Eltern den Staat bis zum achtzehnten Lebensjahr etwa 200’000 Euro kostet – nun, dann kann ich nicht sehr optimistisch sein, was die Zukunft Deutschlands angeht. Wenn Sie das in Deutschland oder auch in der Schweiz so äussern, wird man Ihnen vorwerfen, Sie seien ein Unmensch. Sie reduzieren Menschen auf Zahlen. Natürlich habe ich zahlreiche Gegner. Aber wo deren Tränen über das Schicksal der Kinder einen Becher füllen, bringen die meinen zwei zum Überlaufen. Bei der Traurigkeit über diese Zustände lasse ich mich von niemandem übertreffen. Aber gerade Deutschland muss sich nicht verstecken. Kein Land zahlt mehr für seine Immigranten als die

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Bundesrepublik, und dennoch will damit niemand richtig prahlen. Konkreter, bitte. Unter den 40 Millionen deutschen Erwerbstätigen haben die 25 Millionen, die mehr in die Systeme einzahlen, als sie herausbekommen, die Nettosteuerzahler also, schon 2007 pro Kopf rund 40’000 Euro Schulden für die Versorgung der Migranten. Da geht es immerhin um 1’000 Milliarden Euro zusätzliche Staatsschulden. Da muss man doch sagen: «Bitte, Freunde, wann hätte Deutschland schon einmal jemanden beschützt und gerettet. Und nun haben wir uns hier mit diesen unglaublichen Summen verschuldet, um aus der Welt die Abgeschlagenen und Geschwächten aufzunehmen und ein Leben lang mit Kind und Kindeskind zu versorgen! Das ist 165mal so viel wie der jährliche Entwicklungshilfeetat von 6 Milliarden. Rechnen wir es ein in die Entwicklungshilfe und seien wir Vorbild! Ich verneige mich davor.» Aber auch die grössten Menschenfreunde, diejenigen, die mich als eine kalte Seele schelten, prahlen nicht mit diesen Umständen – und dafür tadle ich sie. Plötzlich werden sie stumm, statt zu verkünden: «Wählt uns, wir sorgen dafür, dass diese 40’000 Euro pro Leistungsträger bald 80’000 Euro werden.»

Kein Land zahlt mehr für seine Immigranten als die Bundesrepublik.

Der deutsche Sozialstaat hat ein Heer von Abhängigen geschaffen. Wer da noch regulär arbeitet, ist eigentlich blöd. Deutschland hat mehr Nettoempfänger staatlicher Transferzahlungen als Nettozahler. Auch hier geht es wiederum um falsche Anreize des Systems. Wenn Hochqualifizierte nach Deutschland kommen und man ihnen sofort Sozialhilfe und staatliche Unterstützung anbietet, so verführt man sie dazu, diese Unterstützung auch in Anspruch zu nehmen. Man belastet das System weiter. Das Problem dabei ist: der Nächste, der kommt, sieht, dass das System vor die Hunde geht. Das spricht sich rum. Der Übernächste kommt schon nicht mehr. Ein Staat muss den jungen Leuten sagen können: «Du kommst hier rein, wenn du gut bist, wir brauchen dich – und du profitierst auch davon!» Wenn er nur sagen kann: «Komm herein, rette unsere Alten und ende selber in Altersarmut!», so sagt der begehrte Hochqualifizierte eben nicht: «Wie schön für mich, das mache ich!» In der Schweiz wurde eine sogenannte Ausschaffungsinitiative lanciert, die vorsieht, Sozialhilfebetrüger härter zu bestrafen oder sogar des Landes zu verweisen. 11


Positionen Demographische Szenarien

Das wäre in Deutschland illegal. Seine Rechtslage ist in der Welt einzigartig. Der Staat ist nach den höchstrichterlichen Deutungen des Grundgesetzes, Artikel 20, verpflichtet, jede Person, die sich legal im Lande aufhält und keine ausreichende Qualifikation dazu hat, Geld zu verdienen, oder die aus anderen Gründen keines verdienen kann, sein Leben lang menschenwürdig zu bezahlen. Und wenn dieser Jemand Kinder hat, gilt dasselbe auch für sie. In anderen Ländern gibt es Einschränkungen. Nehmen wir zum Beispiel die Niederlande. Dort gilt ein Maximum von 3’000 Euro im Monat pro Sozialhilfefamilie. Wenn diese Familie ein neues Kind bekommt, gibt es für dieses keine Extraprämie und keinen Unterhalt. Diese Lösung entzieht Anreize für weiteren Nachwuchs, für den die Mitbürger zahlen müssen. Die neue englische Regierung kopiert nun das System. In Deutschland aber ist das Recht auf Hilfsgelder immer an den einzelnen gebunden. Bill Clinton hat in den USA der 1990er Jahre ähnliche Massnahmen ergriffen. Er hat den Bezug von Sozialhilfe auf fünf Jahre begrenzt. Der amerikanische Weg verletzt nicht das Gleichheitsprinzip, ist aber zeitlich befristet. Auch das wäre kriminell in Deutschland, denn menschenwürdige Versorgung impliziert, dass sie lebenslang gegeben wird. Das deutsche System führt, ohne dass man es geplant hätte, zu einer hochselektiven Fortpflanzungspolitik: allein wer ohne Qualifikation ist, kein Geld verdient und nie Steuern zahlen kann, wird von der Regierung nebst beliebig vielen Kindern zu 100 Prozent versorgt. Dagegen müssen die anderen für ihre Vermehrung selber zahlen oder eben kinderlos bleiben. Diese Politik zeitigt ein Ergebnis, das vorhersehbar war. Zwischen 1964 und heute ist die Zahl der auf Sozialhilfe angewiesenen Kinder unter 15 Jahren in Deutschland um 1’500 Prozent gestiegen, von 130’000 auf 2 Millionen. Das ist Weltrekord. Clinton war ein pragmatischer Sozialdemokrat, der es geschafft hat, das gesellschaftliche Bewusstsein für tatsächliche Probleme zu schärfen und Reformen einzuleiten. Wo sind die sogenannten Bürgerlichen, die ähnliche Initiativen lancieren? Die Reformen der Sozialsysteme, die in Deutschland überhaupt angegangen wurden, wurden ebenfalls von den Sozialdemokraten aufgegleist. Gerhard Schröder war da ziemlich offensiv. Er hat den Arbeitslosen gesagt: «Wenn ihr arbeitslos werdet, und es wird euch eine Arbeit angeboten, die unter eurem Qualifikations- oder dem Lohnniveau der alten Arbeit liegt, so müsst ihr sie annehmen.» Agenda 2010 hat er das genannt. Die Reform war angesichts der vorherrschenden Meinung ein revolutionärer Akt. Die Arbeitslosenzahlen gingen zurück. Die Reformen gingen zweifellos in die richtige Richtung. Doch ist bei den Ergebnissen Vorsicht geboten. Die Reformen haben die Arbeitslosenzahl nicht, wie behauptet, 12

um zwei Millionen reduziert, sondern bloss um eine. Die andere Million der offiziellen Zahlen erklärt sich durch Geburtenrückgang und Auswanderung. Kaum begannen die Massnahmen zu greifen, sind Schröder und seine Leute, wie Wolfgang Clement, als «unsozial» abgestraft worden. Zum Teil sind die Politiker jener Zeit nun raus aus der Partei oder entmachtet. Wenn Deutschland sich retten will, muss es also falsche Anreize beseitigen. Als Schweizer, der historisch nicht vorbelastet ist, behaupte ich: Das wird kaum passieren, weil die deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts die Deutschen auch im 21. Jahrhundert noch hemmt. Jeder, der sich kritisch zu unqualifizierter Zuwanderung und den geplanten Wunderkrippen äussert, begibt sich in Gefahr. Die Palette reicht vom Ausländerfeindlichkeits- bis zum Nazivorwurf. Wenn man daraufhin nicht schuldbewusst schweigt, gibt es eine Anzeige, und wenn man sich immer noch nicht einsichtig zeigt, findet sich irgendwann wohl auch der Erste Staatsanwalt, der den Redner strafrechtlich belangt. Diese Situation wird sich auch auf absehbare Zeit nicht ändern, weil die Jagd auf Kritiker identisch ist mit der Jagd nach Wählerstimmen. Auch klarsichtige Politiker können davon kaum abrücken; denn mit insgesamt 15 Millionen Leuten, die zwar arbeiten, aber netto keine Steuern bezahlen, und den knapp 7 Millionen, die von Hartz-4 leben, ergibt sich ein Potential, das bei jeder Wahl über den Sieg entscheidet. Sie klingen so, als hätten Sie die Hoffnung auf ein zukunftsträchtiges Deutschland verloren. Deutschland kann sich demographisch nicht mehr selber retten. Und Hilfe von aussen kommt nur, wenn Deutschland vorher seinen Sozialstaat auf die Hälfte herunterfährt. Eine Frau bekommt 1,4 statt der nötigen 2,1 Kinder, in Deutschland und in der Schweiz. Statistisch sind wir also bei 65 von 100 benötigten Prozent Nachwuchs. Zieht man nun von dieser schon jetzt dramatischen Zahl diejenigen ab, die geboren, aber nicht arbeitsmarkttauglich werden, also rund ein Viertel, und dann noch die, die das Land verlassen, bleiben etwa 40 von den potentiell 100 übrig. Diese 40 zittern, wenn sie an ihre zukünftigen Belastungen denken. Sie gehören damit zum Rekrutierungspotential der Schweiz. Statistisches Material zur Bevölkerung in der Schweiz unter http://www. bfm.admin.ch/content/bfm/de/home/dokumentation/zahlen_und_ fakten/auslaenderstatistik.html Gunnar Heinsohn, geboren 1943, ist emeritierter Professor für Soziologie der Universität Bremen. Er ist Autor u.a. von «Söhne und Weltmacht. Terror im Aufstieg und Fall der Nationen» (2006), «Eigentum, Zins und Geld. Ungelöste Rätsel der Wirtschaftswissenschaft» (1996; mit O. Steiger) und «Menschenproduktion. Allgemeine Bevölkerungstheorie der Neuzeit» (1979; mit R. Knieper und O. Steiger).

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Positionen Goldstandard

Weltbankchef Robert Zoellick hat eine Debatte über die Rückkehr zum Goldstandard lanciert. Eigentlich interessant. Doch nun gewinnen die Skeptiker wieder die Oberhand. Was taugen deren Vorbehalte?

Ist Gold das bessere Geld? Thorsten Polleit

Vorbehalt I. Jede internationale Währung muss mit dem globalen Handel Schritt halten können. Das kann Gold nicht leisten, denn das Wachstum der Goldmenge (durch Förderung) hält nicht Schritt mit der Zunahme des internationalen Handels. Geld ist das allgemein akzeptierte Tauschmittel. Es ist kein Konsum- oder Investitionsgut, sondern ein Tauschgut. Seine Vermehrung bringt keinen allgemeinen Nutzen. Steigt die Geldmenge an, so vermindert das notwendigerweise nur die Kaufkraft des Geldes. Es lässt sich kein notwendiges ökonomisches Gesetz formulieren wie: «Die Geldmenge muss wachsen, damit die Wirtschaft wachsen kann.» Vorbehalt II. Wenn die Geldmenge nicht wächst, kommt es irgendwann zu Geldknappheit. So etwas wie «Geldknappheit» kann es, recht bedacht, gar nicht geben. Steigt bei gegebener Geldmenge die Geldnachfrage, so bieten die Marktakteure verstärkt Güter gegen Geld an. Die Preise der Güter sinken so lange, bis die gewünschte Geldnachfrage dem Geldangebot entspricht. Anders gesagt: Bei gegebener Geldmenge und grosser Geldnachfrage steigt die Kaufkraft des Geldes, doch wird es nicht knapp. Vorbehalt III. Staatliches Geld bewahrt uns vor dem Chaos und ist gerecht. Staatsgeld wird per Staatsprivileg durch Bankkredite (insbesondere der Zentralbanken) «aus dem Nichts» geschaffen. Es sorgt für eine systematische Begünstigung einiger weniger zu Lasten vieler. Die ersten, die das neugeschaffene Geld ohne produktive Leistung erhalten, profitieren auf Kosten jener, die das neugeschaffene Geld erst zu einem späteren Zeitpunkt erhalten («Cantillon-Effekt»). Insbesondere der Staat selbst und von ihm begünstigte Gruppen profitieren vom staatlichen Geldschöpfungsmonopol. Das Staatsgeld sorgt für Krisen und öffnet dem Ausweiten des Staates zu Lasten der Freiheit der Bürger Tür und Tor. Das staatliche

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Papiergeld ist unvereinbar mit einer freien Gesellschaft und Marktordnung und deshalb ethisch fragwürdig. Vorbehalt IV. Der Goldstandard ist ein Relikt aus längst vergangenen Tagen. Der Goldstandard steht im Kern für Sachgeld: Geld, das von den Bürgern frei gewählt und das durch die Gesetze des freien Marktes produziert wird. Goldgeld kann nicht aufgrund politischer Motive durch eine Zentralbank beliebig vermehrt werden. Die Aversion gegenüber dem Goldgeld ist nicht ökonomischer, sondern politisch-ideologischer Natur. Sie speist sich aus der Auffassung, der Staat müsse die Hoheit über die Geldmenge innehaben und in der Lage sein, die Konjunktur zu steuern, indem er den Geldwert manipuliert. Vorbehalt V. Der Goldstandard wurde abgeschafft, weil er sich nicht bewährt hat. Am 15. August 1971 kündigte der amerikanische Präsident Richard Nixon die Verpflichtung, US-Dollars in Gold zu tauschen (Bretton Woods). Die Amerikaner hatten immer mehr Dollars produziert, die nicht durch Gold gedeckt waren. Als die Halter von Dollars von dem Schwindel erfuhren, tauschten sie zusehends ihre US-Dollars in Gold

Die Aversion gegenüber dem Goldgeld ist nicht ökonomischer, sondern politisch-ideologischer Natur. – wobei die Amerikaner schlicht nicht über genügend Goldreserven verfügten. Die letzten Überreste des Goldstandards wurden also abgeschafft, weil sie der Politik – insbesondere der amerikanischen – im Wege standen. Goldgeld ist eben unvereinbar mit Nationalismus, Protektionismus und einer national ausgerichteten Konjunkturpolitik. Vorbehalt VI. Geld wird zunehmend elektronisch, um der Komplexität der Schuld- und Kreditbeziehungen gerecht zu werden. Physisches Gold aber ist schwer und taugt nicht für die Praxis. Mit einem Goldgeld wären alle heutigen modernen Zahlungsmitteltechniken verwendbar: Internet-Banking, Schecks, Kreditkarten, Lastschriften etc. Auch im Sachgeldsystem kann es natürlich komplexe Kredit- und Finanzprodukte geben. Der entscheidende Unterschied gegenüber dem Staatsgeld ist ein anderer – dass die Geldmenge nicht mehr durch Kredit «aus dem Nichts» ausgeweitet werden kann. Die Geldproduktion achtet die Eigentumsrechte der Marktakteure. Dieses Prinzip wird im Staatsgeldsystem verletzt, weil es durch Staatsmonopol produziert und durch Inflation laufend entwertet wird. 13


Positionen Goldstandard

Vorbehalt VII. Auch mit Goldstandard könnte die Regierung oder ihre Zentralbank das Umtauschverhältnis von Geldeinheit zu physischem Geld verändern und so weiterhin für Inflation sorgen. Der Goldstandard sichert nicht gegen Wertverlust des Geldes. In einem Sachgeldsystem ist Geld Eigentum des Geldhalters. Im Goldstandardsystem repräsentiert eine Banknote (im Betrag von z.B. CHF 10’000) den Anspruch, diese jederzeit in eine entsprechende Menge Feingold eintauschen zu können (z.B. in eine Feinunze Gold). Verändert der Staat dieses Umtauschverhältnis (auf z.B. 1:20’000), so enteignet er den Banknotenhalter zu Gunsten des Emittenten der Banknote. Ein Sachgeldsystem, das von der breiten Bevölkerung getragen und verstanden wird, schützt weitaus besser gegen staatliche Enteignungsakte als ein Staatsgeldsystem. Vorbehalt VIII. Der Goldstandard funktioniert nicht, weil es zu wenig Gold gibt. Wie gross die Kluft ist, zeigt eine Studie von McKinsey für das Jahr 2008. Damals betrugen die weltweiten Einlagen im Bankensystem 61’000 Milliarden Dollar, denen die Notenbanken Goldreserven von nur 1300 Milliarden Dollar entgegenstellen konnten. Eine solch massive Unterdeckung würde lediglich die Tür zu noch grösseren Manipulationen öffnen. Eine Rückkehr zum Goldstandard – etwa indem die ausstehenden Papiergeldmengen in einem festen Verhältnis an die Goldreserven gebunden werden, die noch in den Kellern der Zentralbanken lagern – hätte zweifellos erhebliche «Systemwechselkosten» zur Folge. Würde beispielsweise die amerikanische Geldmenge M1 zu 100 Prozent durch das Gold gedeckt, das die US-Notenbank Fed offiziell als Goldreserve ausweist, so würde sich ein Umtauschverhält-

Ein Sachgeldsystem schützt weitaus besser gegen staatliche Enteignungsakte als ein Staatsgeldsystem. nis von ungefähr 6800 US-Dollar pro Feinunze Gold ergeben. Da aber auch Gold ausserhalb der Fed von Privaten gehalten wird, erhalten auch diese Bestände Geldfunktion. Die Geldmenge steigt also einmalig an, und das wird den Tauschwert einer Geldeinheit (z.B. US-Dollar) absenken. Solche «Umstellungskosten» sind jedoch nicht dem Goldgeld zuzuschreiben, sondern der Jahrzehnte währenden Inflationierung des Papiergeldes. Vorbehalt IX. Berkeley-Ökonom Brad de Long sprach von der Gefahr einer beschleunigten Deflationsspirale in einem Geldsystem mit Goldstandard und verlieh dem Weltbankchef den Titel des «stupidest man alive». 14

Deflation – also das Schrumpfen der Geldmengen und das Absinken der Preise auf breiter Front – ist alles andere als unheilstiftend. Sie ist die Gegenreaktion auf eine vorangegangene Geldmengeninflation. Deflation bringt die Volkswirtschaft, deren Produktionsstruktur durch die Geldmengeninflation verzerrt wurde, zurück ins Gleichgewicht. Im

Deflation bringt die Volkswirtschaft zurück ins Gleichgewicht. Zuge der Deflation werden Investitionen, die aufgrund der Geldmengenvermehrung künstlich in Gang gesetzt wurden, als unrentabel entlarvt. Sie müssen liquidiert werden, und die knappen Ressourcen werden dann neuen Verwendungen zugeführt. Schuldner, die sich übernommen haben, gehen pleite, und Kreditgeber, die leichtsinnig Geld geliehen haben, machen Verluste, soweit die Kreditforderung höher ist als die Zahlungen, die sie aus der Konkursmasse erhalten. Gleichzeitig profitieren die Geldhalter. Sie können nun mehr kaufen angesichts gesunkener Preise. Vorbehalt X. Ein Goldstandard führt letztlich dazu, dass die Wechselkurse unter verschiedenen Währungen starr sind – und das wiederum verwehrt Volkswirtschaften die nötige (politische) Flexibilität (wie Wechselkursabwertung). Unternehmen bedürfen keiner staatlichen Währungspolitik. Dadurch werden – erstens – bloss bestimmte Unternehmer (z.B. Export) zugunsten anderer (z.B. Import) privilegiert bzw. indirekt subventioniert. Zweitens kann staatliche Währungspolitik zu einem schädlichen «Abwertungswettlauf» führen, wie gegenwärtig zu beobachten ist. Unternehmen haben einen Wettbewerbsparameter: den Preis ihrer Güter. Jedes Unternehmen wird, wenn es im Wettbewerb erfolgreich sein will, seine Güter zu den tiefstmöglichen Preisen anbieten. Das kann es mit seiner Preispolitik national (in heimischer Währung) genauso wie international (in ausländischer Währung) bewirken. Dazu bedarf es keines staatlichen Eingreifens in die Devisenmärkte. Vorbehalt XI. Das Papiergeldsystem bleibt, wie es ist. Es gibt letztlich keine Alternative. Die Geschichte hat gezeigt, dass planwirtschaftliche Apparaturen nicht funktionieren können. Das wird auch für das heutige Staatsgeld gelten. Soll die freie Marktwirtschaft erhalten bleiben, liegt die Zukunft des Geldes in der Rückkehr zum Sachgeld, das frei gewählt und produziert werden kann. Thorsten Polleit, geboren 1967, ist Honorarprofessor für Finanzökonomie an der Frankfurt School of Finance & Management und Autor von «Geldreform. Vom schlechten Staatsgeld zum guten Marktgeld» (2010).

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galerie Haus Konstruktiv

Ausstellungsansicht ÂŤganz konkretÂť im Haus Konstruktiv, 2010 (Foto: A. Burger)

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Positionen Direkte Demokratie

Die Demokratie lebt. Und solange sie nicht tot ist, gibt es keine Totengräber der Demokratie. Die Gruben entstehen trotzdem.

Die Mehrheit ist flüssig Wolfram Malte Fues

Die Abstimmungen der letzten Monate haben einen Streit sichtbar gemacht, der in der Schweiz, vor allem in der deutschsprachigen, schon länger schwelt: den Streit zwischen Singularisten und Pluralisten. Die Singularisten kennen und anerkennen nur ein einziges demokratisches Grundrecht: das Recht auf freie, allgemeine, gleiche und geheime Wahlen und Abstimmungen. Alle übrigen Grundrechte, meinen sie, sind diesem einen und einzigen Recht untergeordnet und dürfen ihm zufolge per Abstimmung eingeschränkt oder gar gestrichen werden. Demgegenüber meinen die Pluralisten, es gebe kein einzelnes und besonderes Grundrecht, sondern nur einen Korpus von Grundrechten, die gleichberechtigt nebeneinander stünden, was unter Umständen auch zu einer Begrenzung des Stimmrechts führen könne. Das mögen die Singularisten selbstverständlich nicht hören. Deshalb nennen sie die Pluralisten gern und oft die «Totengräber der Demokratie». Schauen wir uns die Metapher mal genauer an. Wen begraben Totengräber? Tote. Sollten also die Pluralisten tatsächlich die Totengräber der Demokratie sein, müsste die Demokratie bereits zuvor den Tod gefunden haben. Folglich müsste sich auch jemand ausfindig machen lassen, der ihr den Tod bringen könnte. Demokratie. Wir sind an das Wort inzwischen so gewöhnt, dass wir schon wissen, was wir uns unter ihm vorzustellen haben, ohne weiter darüber nachzudenken. Gehen wir deshalb doch einmal an den Anfang und Aufgang des Begriffs in der europäischen Moderne zurück. Was für eine Herrschaft welchen Volks ist damit gemeint? «Wer … zu einem Gesellschaftsverband zusammentritt, muss sich dazu verstehen, alle Gewalt, die für die Zwecke, zu deren Erreichung er in die Gesellschaft eingetreten ist, erfordert wird, zugunsten der Mehrheit in diesem Gemeinwesen aufzugeben … So ist das, was jede staatliche Gesellschaft begründet und tatsächlich ausmacht, nur die Übereinstimmung einer beliebigen Anzahl freier, zur Mehrheitsbestimmung bereiter Menschen.» (John Locke, «Two Treatises of Government, Buch II, Kap.8, London 1690) Genau besehen ist ungeheuerlich, was hier festgesetzt wird. Menschen bilden von jeher Verbände 16

sozialer, ökonomischer, ideologischer, politischer, religiöser, kultureller Natur, die alle dazu dienen, gemeinsame Zwecke durchzusetzen, und die dafür besondere Formen der Macht und die ihnen eigentümlichen Praktiken und Prozeduren der Gewalt benutzen. Nichts von alledem soll in dem neuen Gemeinwesen mehr entscheidend sein. Hier gibt nach dem Grundsatz one man one vote allein die Zahl den Ausschlag (das blosse Mehrheitsprinzip), also die abstrakteste, kargste, inhaltsärmste Bestimmung, zu deren Subjekt man jemanden machen kann, insofern aber auch eine unmittelbar einfache und damit allgemeine. Welcher der mannigfaltigen Zweckgemeinschaften – die sich in dieser und durch diese Gesellschaft sammeln – es gelingt, eine Stimmenmehrheit zu erringen, darf ihren besonderen Zweck von der Gesamtheit aufgefasst und verwirklicht wissen, als wäre er der ihre. Und die diesmal Unterlegenen? Die Minderheit? Jede andere Zweckgemeinschaft, die sich mit ihrem besonderen Zweck (noch) nicht von der Gesamtgesellschaft vertreten sieht? So simpel Lockes Modell auf den ersten Blick erscheint, so komplex wird es auf den zweiten. Die Mehrheit, auf der es beruht, ist keine ewige, sondern eine vergängliche und veränderliche Kategorie. Mehrheiten und ihre Zwecke gelten für einen geschichtlichen Augenblick, dessen Dauer sich dadurch bestimmt, wie die betroffenen Minderheiten sie anund aufnehmen und welche Folgerungen sie aus ihnen ziehen,

Nur eine bestrittene Mehrheit ist eine bestätigte Mehrheit. um selber die Mehrheit zu gewinnen. Diese Anstrengungen hat die momentane Mehrheit nicht nur zu dulden, sondern zu begrüssen, zu schützen und zu fördern, weil sie allein ihre Herrschaft rechtfertigen. Nur eine bestrittene Mehrheit ist eine bestätigte Mehrheit. Ein besonderer Zweck verdient nur allgemeine Anerkennung, wenn er darin zugleich alle übrigen besonderen Zwecke als mögliche allgemeine anerkennt. Das demokratische Grundrecht des Mehrheitsentscheids gestattet also nicht nur Rechte, die es relativieren und präzisieren, es verlangt sie geradezu um seiner eigenen Rechtmässigkeit willen. Stellt nämlich die eben in der Mehrheit befindliche politische Gruppierung ihr Mehrheitsrecht über die Schutzund Förderungsrechte der momentanen Minderheit, strebt sie nicht mehr danach, sich mit deren Anspruch politisch zu messen, sondern trachtet im Gegenteil, ihn zu schwächen und letztlich zum Schweigen zu bringen. Demokratie entartet zur Demokratur. Sie braucht dann keine Totengräber mehr, nur noch Bestattungsunternehmer, die für die Herrichtung einer schönen Leiche sorgen. – Das sei wirklichkeitsferne Theorie, meinen Sie? Ich meine nicht. Ich halte

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Positionen Direkte Demokratie

Musik statt Mord: Donna Leon auf den Spuren der Tiere in Händels Opern. Mit wunderschönen Bildern von Michael Sowa und 12 Händel-Arien gespielt von › Il Complesso Barocco‹, dirigiert von Alan Curtis.

Donna Leon Tiere und Töne

Illustration: Michael Sowa

die Grundsatzentscheidung, um die es im Streit zwischen Singularisten und Pluralisten geht, für bedrohlich aktuell, vielleicht sogar bald für aktuell bedrohlich. In der seit August 2003 gültigen Neufassung von Art. 139 der schweizerischen Bundesverfassung, der das Initiativrecht regelt, lautet der zweite Absatz jetzt wie folgt: «Verletzt die Initiative die Einheit der Form, die Einheit der Materie oder zwingende Bestimmungen des Völkerrechts, so erklärt die Bundesversammlung sie für ganz oder teilweise ungültig.» Was zum ius cogens, zum zwingenden Völkerrecht gehört, ist im einzelnen umstritten. Allgemeine Übereinstimmung herrscht in bezug auf die folgenden Bestimmungen: Verbot des Völkermordes und von Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Verbot von Verstössen gegen das humanitäre Völkerrecht, insbesondere gegen Art. 3 der Genfer Konvention, Verbot der Folter und der Sklaverei. Dieser Katalog der Verbote und der in ihm enthaltenen Rechte deckt sich jedoch keineswegs mit den in Art. 7 bis 28 der schweizerischen Bundesverfassung festgeschriebenen Grundrechten. Deren Bestimmungen gehen sehr viel weiter. Was geschieht nun, falls eine Initiative eines oder mehrere dieser Grundrechte antastet? Wenn sie etwa das Recht auf Bewegungsfreiheit (Art. 10), das Recht auf Hilfe in Notlagen (Art. 12), das Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnis (Art. 13), das Recht auf das öffentliche Bekenntnis der religiösen Überzeugung (Art. 15) oder das Recht auf Versammlungsfreiheit (Art. 22) in Frage stellt? Nach dem Wortlaut von Art. 139, Abs. 2 ist dies kein Hindernis für die Bundesversammlung, eine Initiative für gültig zu erklären. (Ich höre schon den Chor der Entrüsteten: Aber wir wollen doch die Grundrechte nicht antasten! Das will niemand! Wir wollen sie doch nur konkretisieren, präzisieren, verwesentlichen. Gewiss. Nur. Auch dieser Weg zur Hölle ist mit den besten Vorsätzen gepflastert.) Man könnte über die Idee eines Verfassungsgerichts nachdenken – doch dürfte dies wiederum einer Politisierung des höchsten Gerichts Vorschub leisten. Wir sollten deshalb, meine ich, in Art. 139, Abs. 2 den Zusatz «oder die von der Bundesverfassung garantierten Grundrechte» einfügen. Das Projekt Demokratie, wie es vor mehr als 300 Jahren in Westmitteleuropa begonnen hat, fusst darauf, dass der Wille der Minderheiten zur Mehrheitsmacht ebensowenig zu entmutigen oder gar zu brechen ist wie ihre Achtung vor jeglicher anderen Minderheit, insbesondere vor ihrer letzten und unteilbaren Einheit: dem Individuum. Widerstehen wir also demgemäss jedem Versuch, dem gewaltfreien Wettbewerb gleichberechtigter Minderheiten um die künftige Mehrheit, der demokratische Gesellschaften begründet und rechtfertigt, die Grube zu graben, in der die Demokratie schliesslich beerdigt würde.

Auf Spurensuche in Händels Opern Mit Bildern von Michael Sowa

Diogenes

Aus dem Amerikanischen von Werner Schmitz Mit Bildern von Michael Sowa und einer CD 144 S., Pappband, Vierfarbendruck, sFr 35.90* * unverbindliche Preisempfehlung ISBN 978-3-257-06763-7

Wenn Donna Leon sich weder bekochen lässt noch Krimis schreibt, dann hört sie Musik. Im vorliegenden Buch sind ihre Lieblingsarien versammelt, begleitet von 12 fabelhaften Texten über Löwe, Nachtigall, Frosch, Elefant und viele mehr. Illustriert von Michael Sowa.

Wolfram Malte Fues, geboren 1944, ist ausserordentlicher Professor für Neuere Deutsche Literatur an der Universität Basel. Der Autor dankt Marc Steiner, Richter am Bundesverwaltungsgericht, für juristische Beratung

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galerie Haus Konstruktiv

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Jeppe Hein (*1974), ÂŤExtended Neon CubeÂť, Neonleuchtsystem, Transformatoren, 100 x 100 x 100 cm, 2005


dossier CH & EU

1 Souveränität heute 2 Widersprüchliches Gebilde 3 Innovative EU 4 Regulierung auf leisen Sohlen 5 Der Irrtum des Euros 6 Das kleine gallische Dorf 7 Der Klassenbeste denkt nach 8 EWR oder nicht, das ist hier die Frage 9 Warum konstruieren, was schon existiert?

CH & EU Strategisch denken! Nun sag, wie hältst du’s mit der EU? Diese Frage, in dieser Einfachheit gestellt, bewegt die Schweiz, an Universitäten ebenso wie an Stammtischen, in Familienrunden wie am Arbeitsplatz. Sie beschäftigt auch die «Schweizer Monatshefte», die seit mehr als einem Jahr in ihren Ausgaben Autoren prononciert zu Wort kommen lassen. Und sie bewegt den Thinktank Avenir Suisse, der unter anderem dieses Jahr ein Buch zum Thema herausgegeben hat. Die Frage, die zu einer eigentlichen Schicksalsfrage geworden ist, bedarf 18 Jahre nach der Ablehnung des EWR-Beitritts durch das Schweizer Stimmvolk zweifellos der Präzisierung. Was hat sich seither in der Schweiz getan? Wie haben sich EWR und vor allem die EU entwickelt? Welche Folgen hat die Einführung der Einheitswährung Euro? Und wie haben sich die institutionellen Veränderungen auf die Beziehungen zwischen der Schweiz und der EU ausgewirkt? Leser der «Schweizer Monatshefte» wissen, dass wir eine dezidiert EU-skeptische Haltung vertreten. Doch das soll uns nicht davon abhalten, zusammen mit Avenir Suisse die Lage nochmals en détail zu analysieren und verschiedene Zukunftsstrategien zu entwerfen. Genau darum haben wir die Autoren gebeten. Auslöser für eine neue Runde in der Debatte war der von der stellvertretenden Avenir-Suisse-Direktorin Katja Gentinetta und dem Philosophen Georg Kohler im Juli herausgegebene Sammelband mit dem Titel «Souveränität im Härtetest – Selbstbestimmung unter neuen Vorzeichen». Der Band, der eine Kritik allzu einfacher Souveränitätsvorstellungen der Schweiz sein wollte, wurde fleissig rezipiert – und kritisiert. Eine pointierte Replik kam von einem früheren Stiftungsrat von Avenir Suisse, dem Tessiner Unternehmer Tito Tettamanti. In einem offenen, von den «Schweizer Monatsheften» veröffentlichten Brief wandte er sich an die beiden Herausgeber des Buches, das er einen faux pas nannte und schrieb: «Sie haben mit Ihrem Buch den Tabus den Krieg erklärt, aber im Grunde genommen stützen Sie bloss selbst ein Tabu – die These nämlich, dass Widerstand unsinnig und unintelligent sei.» Sie kehrt immer wieder, die Schicksalsfrage. Wir empfehlen Ihnen, liebe Leser, Ihre Antwort während der Zeit der Lektüre der folgenden Beiträge vorübergehend einzuklammern. Denn beides ist wichtig. Eine unvoreingenommene Analyse. Und dann eine klare Position. In diesem Sinne wünschen wir – anregende Lektüre! Die Redaktion Nr.982 Dezember 2010 Schweizer Monatshefte

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dossier CH & EU

1 Souveränität heute Der bilaterale Weg wird steiniger. Isolation ist keine Option. Was nun? Fortschreibung einer Debatte. Katja Gentinetta & Georg Kohler

* Iain Martin im «Wall Street Journal» vom 24. November 2010 ** Bericht des Bundesrates über die Evaluation der schweizerischen Europapolitik vom 17. September 2010

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«Avenir Suisse empfiehlt den EU-Beitritt» – diese irreführende Schlagzeile, die am 15. Juli dieses Sommers während Stunden über die Ticker lief, bevor sie korrigiert werden konnte, hat eine heftige Europa-Debatte ins Rollen gebracht. Auslöser der Schlagzeile war unsere Publikation «Souveränität im Härtetest. Selbstbestimmung unter neuen Vorzeichen», in der wir mit einer Reihe weiterer Autoren die Souveränitätsspielräume eines Nationalstaats in einer globalisierten Welt zunächst grundsätzlich und dann für spezifische Politikbereiche der Schweiz analysieren. Untersucht werden diese Spielräume der Schweiz in den Bereichen Aussenhandel, Geldpolitik, Steuerpolitik, Energie- und Ressourcenpolitik sowie der Rechtsprechung. Zwei Schlussfolgerungen liegen nach dieser Analyse auf der Hand. Zum einen kann heute Souveränität nicht mehr einfach als nationale Autonomie verstanden werden – sie bedeutet mindestens ebenso Gestaltungsspielraum wie ebenfalls Mitentscheidung auf internationaler Ebene. Zum zweiten stellt das Verhältnis der Schweiz zur EU – im Prinzip wenig erstaunlich, aber als Resultat der Analyse aller genannten Politikbereiche doch überraschend – gleichsam eine Schicksalsfrage dar. Im Schlusskapitel wird daher reflektiert, wie es um dieses Verhältnis steht und wie es sich angesichts der gegenwärtigen Verfassung der Europäischen Union und globaler Entwicklungsszenarien in Zukunft gestalten könnte. Wir haben bei unserer Analyse den Integrationswillen der EU höher gewichtet und halten diesen für realistischer als ein Szenario, in dem

die Währungsunion an der Krise zerbrechen und die EU auseinanderfallen könnte. Im Gegenteil, wir gehen von der Möglichkeit einer «forcierten Integration» aus. Was wir im Sommer als mögliches Szenario beschrieben, ist heute eine Begründung für die Rettung Irlands: «Today it (the euro zone) is being held together by simple fear of the alternative.»* Genau diese «forcierte Integration», so unsere Schlussfolgerung, könnte den Druck auch auf die Schweiz erhöhen, die Rechtsübernahme dynamisch zu gestalten. Daraus folgern wir, dass der bilaterale Weg nicht nur schwieriger werden, sondern als solcher möglicherweise nicht weiter gangbar sein könnte. Da eine Isolation der Schweiz keine Option darstellt, mündet unsere Analyse in der Empfehlung, weitere strategische Optionen rechtzeitig zu prüfen. Ins Spiel gebracht haben wir erstens eine Neuauflage des EWR, weil dieser nicht nur die Rechtsübernahme regeln und damit Rechtssicherheit schaffen, sondern vor allem die Beibehaltung der eigenen Währung, der niedrigen Mehrwertsteuer sowie der aussenhandelspolitischen Freiheiten garantieren würde. Nur wenn darin die politische Mitsprache als zu gering erachtet würde – und nur dann –, würde ein Beitritt zur EU notwendig, der allerdings, dies unsere Überlegung, ohne Übernahme des Euros (analog Grossbritannien, Dänemark oder Schweden) zu verhandeln wäre. Ausserdem haben wir dafür plädiert, eine globale Allianz kleiner und mittlerer handelsoffener Staaten zu initiieren. So weit unsere Überlegungen in Kürze. Von der Empfehlung eines EU-Beitritts kann also keine Rede sein. Unterdessen hat der Bundesrat in seinem neusten Bericht zur Europapolitik (in Beantwortung des Postulats Markwalder, August 2010) eine mindestens so schonungslose Analyse der Situation vorgelegt, in der er zum Schluss kommt: «Die Analyse der Situation ... zeigt eine klare Tendenz zur Erosion des Handlungsspielraums der Schweiz im bilateralen Verhältnis mit der EU.»** Hingegen hält er – aus politischen Gründen, darf man annehmen – am bilateralen Weg fest, ohne wie wir die Prüfung weiterer Optionen zu empfehlen. Die ersten Reaktionen auf unsere Studie haben gezeigt, dass unsere Annahme wohl etwas kühn war, es wäre in der Schweiz möglich, über das Verhältnis zur EU zu reflektieren, ohne gleich einem von zwei Lagern zugeordnet zu werden, die die Diskussion seit dem Nein zum EWR 1992 in der Schweiz bestimmen: den Befürwortern resp. Gegnern eines EU-Beitritts der Schweiz.

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Wir sind weder das eine noch das andere, sondern wünschen eine Debatte – und das ist uns, darf man sagen, gelungen. Dennoch möchten wir an dieser Stelle eine Kritiklinie herausgreifen, die uns weder der Sache noch der Debatte dienlich erscheint: wir nennen sie «Radikalkritik». Gemäss dieser stellt – sinngemäss zusammengefasst – die EU ein Gesellschaftsmodell dar, das utopistisch, ideell degeneriert und klientelistisch korrumpiert und ganz und gar unfinanzierbar geworden sei. Ursache dafür sei die am Selbsterhalt der eigenen Macht orientierte Strategie der classe politique, die von den ebenfalls eigennützigen Kurzfristkalkülen der Wirtschaft unterstützt werde, indem diese dem Sozialstaat die Kosten der Anpassung an den globalen Wettbewerb überlasse. Das alles habe Einstellungen bei den Bürgern gefördert, die den Sinn für Selbstverantwortung und Autonomie zerstörten und stattdessen eine Flut von Ansprüchen erzeugt hätten, die nun dabei seien, das «europäische Gesellschaftsmodell» zu ersticken. Unser Eindruck ist, dass sich diese Kritiker bei ihrer Analyse von einer ideologisch verkürzten Wirklichkeitsdeutung leiten lassen, die die liberale Auffassung von Staat und Wirtschaft karikiert. Wer die europäischen Länder genauer betrachtet, erkennt, dass es ein einheitliches Sozialstaatsmodell in Europa nicht gibt. Niemand würde die britische working tax credit mit der deutschen Grundsicherung gleichsetzen oder die dänische flexicurity mit dem italienischen Rentensystem. Zudem befindet sich die Schweiz mit ihrer Sozialausgabenquote im europäischen Mittelfeld. Das ist zwar keine Entschuldigung, führt aber zur nächsten Bemerkung: die «Radikalkritiker» scheinen davon auszugehen, dass die politischen Systeme der europäischen Länder nicht fähig oder willens sind, die notwendigen Anpassungen eines zur Leistungsinflation neigenden Sozialstaates durchzusetzen. Nur: hat es da nicht in Deutschland die «Agenda 2010» der (übrigens sozialdemokratischen) Kanzlerschaft Schröder gegeben? Oder die Korrektur des «Volksheimes» in Skandinavien? Die Sparpolitik unter der Regierung Schüssel in Österreich? Hat nicht (der an der Macht durchaus interessierte) Sarkozy die Erhöhung des Rentenalters selbst gegen höchsten Widerstand durchgesetzt? Und ist nicht sogar in Griechenland ein energischer Wille zur Ordentlichkeit der öffentlichen Finanzen festzustellen? In der Schweiz hingegen wartet man bislang vergeblich auf eine Anpassung des Rentenalters an die Lebenserwartung.

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Die Schweiz steht in vielem besser da als manch europäischer Mitgliedsstaat – denken wir an die Wettbewerbsfähigkeit, die Handelsoffenheit, die geringe Staatsverschuldung. Dennoch: auch hier wäre ein Schwarzweissvergleich mit der EU zu kurz gegriffen. Die Schweiz führt den «Global Competitiveness Index 2010–2011» zwar an, aber immerhin sind fünf der zehn wettbewerbsfähigsten Länder EU-Mitgliedstaaten, nämlich Schweden, Deutschland, Finnland, Niederlande und Dänemark. Ebenso gehören gemäss «Enabling Trade Index 2010» – selbstverständlich auch hier neben der Schweiz – vier Länder aus der EU zu den handelsoffensten Ländern der Welt, nämlich wiederum Schweden, die Niederlande und Dänemark sowie Luxemburg. Kurzum: die Fähigkeit der westlichen Demokratien, eine einigermassen vertretbare Balance zwischen Wirtschafts- und Sozialpolitik zu betreiben, wird unterschätzt. Dabei darf nicht vergessen werden, dass die sozialstaatlichen Institutionen – auf durchaus unterschiedliche Weise und auch in der

Die EU ist, «realpolitisch» betrachtet, nicht ein Schönwetterprojekt, das kurz vor seinem Untergang steht. Schweiz – ein zentrales Moment der gesellschaftlichen Stabilität in den Ländern Europas bilden. Zudem ist die EU, «realpolitisch» betrachtet, nicht ein Schönwetterprojekt, das kurz vor seinem Untergang steht. Das zeigen die rund sechzig Jahre, in denen sich die Formation der europäischen Suprastaatlichkeit immer wieder durch Krisen hindurch erneuert hat – alles in allem so erfolgreich, dass bis heute kein einziges Land wieder aus dem gemeinsamen Zusammenhang aussteigen wollte. Europa ist auch nicht einfach «Brüssel», sondern ein Gebilde sui generis; eine «Grossrauminstitution mit abgestufter Souveränität», die eine höchst innovative Form des Miteinanderregierens erfunden hat – und die nicht aufhört, ihre governance weiterzuentwickeln; zum Beispiel mit dem im Vertrag von Lissabon neuerlich verankerten Recht der nationalen Parlamente, aus Subsidiaritätsvorbehalten gegen Entscheide aus «Brüssel» Einspruch zu erheben. Schliesslich muss – dies ist eigentlich die zentrale Botschaft unserer Publikation – anerkannt werden, dass einzelstaatliche Souveränität unter 21


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den zivilisatorischen Voraussetzungen der Ge- dafür sei, weshalb sich die EU so geringer Begenwartsmoderne im Kontext einer «postnatio- liebtheit erfreue. Denn wer möchte schon über nalen Konstellation» gesehen werden muss, was Deregulierung und Normierung mehr Konkurletztlich bedeutet, dass die Lösung zahlreicher renz? Gerade aus diesem Grund war aus Sicht des Probleme den Blick über die Landesgrenzen hin- ehemaligen Wettbewerbshüters Walter Stoffel aus erfordert. Und genau hierin darf der liberale, die weitgehende Harmonisierung des schweizewirtschaftsfreundliche Gehalt der Europäischen rischen Wettbewerbsrechts mit jenem der EuroUnion, also das «Europa der Freiheiten» (Jacques päischen Union für die Schweiz von Vorteil. Auf Delors), nicht unterschätzt werden. Ebenso wie der andern Seite etwa warnte der Volkswirt Rolf nicht vergessen werden darf, wie Europa «nach Weder von der Universität Basel im Falle eines 1989» ohne das Projekt der europäischen Integra- Beitritts vor hohen Anpassungskosten. Und Kurt tion aussehen könnte. Schmid vom Aargauischen Gewerbeverband Eine einseitige und radikale Verurteilung der betonte die Vorteile des kleinteiligen, dezentral EU hilft in der Auseinandersetzung also nicht handlungsfähigen Föderalismus. weiter – im übrigen ebensowenig wie eine Ideal- Angesichts des mancherorts fast hoffnungsvoll sierung derselben. Um so erfreulicher waren die heraufbeschworenen Szenarios eines ZusammenDebatten, die Avenir Suisse im September und bruchs der Währungsunion, sei es, so ebenfalls Oktober dieses Jahres in verschiedenen Schweizer Walter Kielholz, eine Illusion zu glauben, die Städten durchgeführt hat, denn sie kamen ohne Schweiz stünde in solch einem Fall «als Siegerin» pauschalisierende Lagerkämpfe aus. Im Gegen- da. Im Gegenteil – es würde ihr relativ gesehen teil: die Erleichterung war spürbar – sowohl auf zwar besser gehen, absolut jedoch wäre der Schaden Podien wie auch im zahlreich erschienenen den grösser. Die Folgen für Europa wären unabsehbar. Gerade mit Blick auf die gegenwärtige Verfassung der EU wehrte sich Konrad Hummler, der geschäftsführende Teilhaber der Bank WeDie Debatten zeigten: eine nüchterne, gelin & Co., gegen die «Priorität Europa» und sachliche Diskussion des Verhältnisses unterstrich seine Vision eines City-State, eines global orientierten, urban organisierten und libeSchweiz–EU ist möglich. ral ausgerichteten Stadtstaats, der keiner weiteren Annäherung an die EU bedarf. Die Debatten zeigten: eine nüchterne, sachPublikum –, endlich wieder über das Verhältnis liche Diskussion des Verhältnisses Schweiz–EU Schweiz–EU diskutieren zu können, ohne gleich ist möglich. Wenn der Eindruck besteht, dieses an den Pranger gestellt und des Landesverrats Thema dürfe, wenn überhaupt, nur in einem bezichtigt zu werden. Zu Wort kamen Exponen- Schwarzweissschema diskutiert werden und ten der Wirtschaft, die das Verhältnis zur EU Schattierungen seien nicht erwünscht, dann steht Katja unterschiedlich beurteilten und daraus auch un- es schlecht um die Demokratie. Jedes noch so Gentinetta, terschiedliche Schlüsse zogen. Auch wenn kaum schwierige Thema – und gerade auch ein emotiogeboren 1968, jemand einen abrupten Strategiewechsel – nicht nal aufgeladenes – bedarf einer nüchternen, realpromovierte in Philosophie und ist seit zuletzt aus taktischen Gründen – für zwingend politischen Analyse, was nichts anderes heisst, als 2006 stellvertretende befand, war man sich einig darüber, dass die allen Perspektiven Rechnung zu tragen. Direktorin von Avenir Schweiz «auf Gedeih und Verderb» mit der EU Suisse, Zürich. verbunden sei und dass daher ein stabiles VerhältGeorg Kohler, nis zu ihr erste Priorität habe – aus politischen geboren 1945, ist Prof. wie wirtschaftlichen Gründen. em. für Philosophie der Universität Zürich. Mit Blick auf die Geschichte wurden nicht nur die friedenssichernde und bei der Auflösung Von Katja Gentinetta und Georg Kohler des Ostblocks stabilisierende Funktion der EU erschien im Juli dieses ins Feld geführt. Vielmehr wurde von Walter Jahres im NZZKielholz, dem Verwaltungsratspräsidenten der Verlag der von ihnen herausgegebene Swiss Re, der Binnenmarkt als zentrale ErrunBand «Souveränität genschaft hervorgehoben, von dem gerade die im Härtetest. SelbstbeSchweiz in höchstem Masse profitiert habe, der stimmung unter neuen Vorzeichen». aber – Ironie der Geschichte – mit ein Grund 22

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Die EU ist eine Fehlkonstruktion. Sagen die Skeptiker. Und ernten den Vorwurf der Ignoranz. Was wissen denn die anderen besser?

2 Widersprüchliches Gebilde Tito Tettamanti

Tessiner sagen in ihrer bäuerlichen Sprache, dass es keine gute Idee sei, den Karren vor die Ochsen zu spannen (mettere il carro davanti ai buoi). Also immer mit der Ruhe, nichts überstürzen. Diese simple Maxime vergessen zu haben, ist wohl der folgenreichste konzeptuelle Fehler des ganzen EU-Aufbaus. Zahlreich sind die Beispiele, aber am klarsten zeigt sich dieser Konzeptionsfehler in der Wirtschafts- und Währungsunion. Auch in Brüssel wusste man, dass die Krise der monetären Union programmiert war – ganz einfach deshalb, weil eine solche Union ohne die Grundlage einer vergleichbaren wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit der Mitglieder nicht funktionieren kann. Die Väter und Mütter haben dies in Kauf genommen. Oder besser: sie haben darin einen Umweg gesehen, um später eine – gewünschte – engere politische Union zu erzwingen. Der deutsche Verfassungsrichter Ernst-Wolfgang Böckenförde hat in einem Beitrag für die NZZ (21.06.2010) einen Satz aus dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Maastricht-Vertrag von 1993 zitiert: «Die Währungsunion ohne eine gleichzeitige oder unmittelbar nachfolgende politische Union zu vereinbaren und ins Werk zu setzen, ist eine politische Entscheidung, die von den dazu berufenen Organen politisch zu verantworten ist.» Mit anderen Worten: die Politik des Karrenvor-die-Ochsen-Spannens ist nicht Ausdruck eines übermütigen Idealismus oder eines irrationalen Utopismus, sondern vielmehr ein Trick, um das, was sich unter normalen Umständen nicht erreichen lässt, unter den Vorzeichen von Krise und Notfall zu erzwingen. Der Art. 125 des Lissaboner Vertrags sagt u.a.: «Die Union haftet nicht für die Verbindlichkeiten

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der Zentralregierungen, der regionalen oder lokalen Gebietskörperschaften oder anderen öffentlichrechtlichen Körperschaften … Ein Mitgliedstaat haftet nicht für die Verbindlichkeiten der Zentralregierungen, der regionalen oder lokalen Gebietskörperschaften oder anderer öffentlich-rechtlicher Körperschaften, sonstiger Einrichtungen des öffentlichen Rechts oder öffentlicher Unternehmen eines andern Mitgliedstaats und tritt nicht für derartige Verbindlichkeiten ein…» Der Vertrag von Lissabon, eine Art Ersatz des verunglückten Verfassungsentwurfs, sollte die Magna Charta der EU sein. Dieser Vertrag ist nun über Nacht geändert worden, wobei die Modifikation nicht eine Kleinigkeit oder eine unbedeutende Formsache betrifft. Über Nacht hat die EU den zentralen Art. 125 praktisch abgeschafft und sich in eine Transferunion verwandelt, in der alle Nationen (und deren Bürger) für die Schulden der andern Nationen haften. Damit ist das genaue Gegenteil dessen herausgekommen, was 27 Regierungen und Parlamente einst beschlossen hatten. Das Karren-vor-die-Ochsen-Spannen ist nicht nur eine Taktik, sondern eine echte Strategie. Sie entspricht dem Konstruktivismus eines Jean-Paul Monnet. EU- (und EG-) Konstrukteure haben mit Blick auf die Lösung spezifischer Probleme begrenzte Teilmassnahmen ergriffen, ohne sich darum zu kümmern, welches deren Konsequenzen sein würden – dass mithin die Massnahmen weitere Schritte erfordern bzw. Schritte in eine andere Richtung verbauen würden. Man fühlt sich an eine Art Sagrada Familia von Gaudí erinnert – mit einem wesentlichen Unterschied: je weiter man geht, desto mehr fehlt bei den Bauzeichnern von Brüssel die künstlerische Begabung eines Gaudí. Nach offizieller Rhetorik sollte ein originäres Gebilde entwickelt werden, das in einer Welt des Umbruchs zukunftstauglich sein würde. Nun ist man zurückgefallen in die Optik der vergangenen zwei Jahrhunderte. In die Optik der Blöcke, der Macht, der Intransparenz, des Protektionismus und der Begrenzung der Rechte der Bürger. Wie undemokratisch die Beschlüsse der EU zustande kamen, zeigt die Abmachung von Deauville zwischen Frau Merkel und Herrn Sarkozy vom 18. Oktober 2010. Denn die beiden Politiker haben bilateral festgelegt, dass der Vertrag von Lissabon zu ändern sei, und 27 in Luxemburg versammelten Finanzministern wurde telephonisch befohlen, was zu beschliessen sei. Es folgten empörte Reaktionen, u.a. von Minister 23


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Frattini aus Italien. Was war der Grund seines sind und voll reinen Gewissens predigen, dass wir Ärgers? Nicht etwa, dass ein solches Vorgehen in- in der EU wirklich mitbestimmen könnten. akzeptabel sei, nein. Es wäre durchaus akzeptabel, Ein Grossteil der sogenannten politischen wenn die Befehlsmacht von einem Direktorium Elite und der Intellektuellen in der Schweiz beder sechs grossen Staaten der EU (Deutschland, trachten sich als fortschrittlich und intelligent, Frankreich, Grossbritannien, Italien, Polen, Spa- und deshalb plädieren sie für einen EU-Beitritt nien) ausgeübt würde. Soviel zur EU der Prinzi- der Schweiz. Ich erlaube mir, Zweifel an dieser pien und der Kleinen. Position anzumelden. Ist es wirklich fortschritt Noch problematischer ist das Gesetzgebungs- lich, für den Beitritt zu einer Union zu votieren, modell, das sich auf die Methode des Karren- die auf eine neue Festung des 21. Jahrhunderts vor-die-Ochsen-Spannens stützt. Wie lassen sich mit protektionistischen Politiken hinausläuft, eidie langwierigen legislativen Verfahren vermei- ne Festung mithin, die die Macht des Gesetzes den, die von der Öffentlichkeit mittels Medien, durch das Gesetz der Macht ersetzt? Parteien, Vertretern der Zivilgesellschaft kritisch Noch beunruhigter bin ich, wenn diese sobeäugt werden? Das ist die grosse Frage der EU- genannte Elite und diese Intellektuellen sich Politiker und -Bürokraten. Transparenz ist gut, weigern, in der heutigen EU-Struktur die inaber lieber bei den andern – denn sonst werden terventionistischen, zentralistischen und Antibloss unnötige Interessenkonflikte aufgedeckt. Wettbewerb-Grundzüge zu bemerken. Sie wolGraham Mather, früherer EU-Parlamentarier len nicht sehen, dass das europäische Modell des und Präsident des European Policy Forum in umverteilenden Wohlfahrtsstaats vor dem KonLondon, hat jüngst in einem Vortrag in Zürich kurs steht (um es zu sehen, würde es reichen, sich aufgezeigt, wie soft law – also nichtrechtsverbind- die Staatsschulden und Staatsquoten irgendeines EU-Staates anzuschauen). Bin ich verrückt, wenn ich sage, dass die zentralistische, interventionistische EU nach Alter Bin ich verrückt, wenn ich sage, dass die zentrastinkt, nach Staatslösungen mit wenig Freiraum listische EU nach Alter stinkt, nach Staatslösungen für die einzelnen? Liege ich total falsch, wenn ich behaupte, dass die Komplexität der Systeme nicht mit wenig Freiraum für die einzelnen? durch das Streben nach immer Grösserem und durch die Ausschaltung der Konkurrenz seitens der Kleinen gelöst wird? Und, ja, ich frage: Wer liche Übereinkünfte und Normen – in der EU hat bei diesem intransparenten, widersprüchüberhandnimmt. Soft law wird von Technokra- lichen Gebilde, das sich EU nennt, noch den ten gemacht, die nicht gewählt, sondern von der Durchblick? Macht ernannt werden.* Abschliessend möchte ich allen, die mich Mather hat recht: soft law gibt den Bürokraten für verrückt halten, die Lektüre eines lustigen eine dominante Rolle in der Erzeugung von Poli- Büchleins von Carlo Cipolla empfehlen, der tiken, ist intransparent und vermeidet die öffent- Wirtschaftsgeschichtsprofessor in Berkeley war. liche Debatte. Doch leitet sich daraus zugleich Es trägt den Titel «The Basic Laws of Human seine Schwäche ab: es fehlt die gesetzliche Macht, Stupidity» (die Grundgesetze der menschlichen soft law zu erzwingen. Dies hat für kleinere und Dummheit) und existiert leider nicht in deutmittlere Staaten wie die Schweiz eine besonders scher Übersetzung. Cipolla vertritt darin die Thegefährliche Relevanz, weil so in der EU Gesetz se, dass die Verteilung der Dummheit zwischen durch Macht ersetzt wird. den verschiedenen menschlichen Kategorien dem Das Gebaren der Organisation für wirt- Gesetz der Proportionalität entspricht. Es gibt schaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung weniger Dumme bei den Nobelpreisträgern, ganz (OECD) gegenüber der Schweiz ist ein Muster- einfach deshalb, weil es weniger Nobelpreisträger beispiel für erfolgreiche Machtausübung nichtge- als Coiffeure, Taxifahrer usw. gibt. Das bedeutet wählter Bürokraten, die mittels soft law (schwarze umgekehrt, dass es unter Nichtnobelpreisträgern und graue Listen) operieren. In diesem Fall haben in absoluten Zahlen auch mehr kluge Leute gibt Tito die grossen Staaten mit hoher Besteuerung die als unter Nobelpreisträgern. Warum hören die Tettamanti, Konkurrenz der Systeme (d.h. der kleinen Län- sogenannte Elite und die Intellektuellen nicht geboren 1930, der mit besseren Steuerbedingungen) ausgehebelt. einfach auf die Stimmen der klugen Mehrheit? ist Anwalt und Financier. Das sollte denen zu denken geben, die blauäugig

*Siehe www.epfltd.org

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Gegen die EU zu wettern ist einfach. Vor allem, wenn man sie nicht kennt. Dabei ist die europäische Governance gar nicht so verschieden von der helvetischen.

3 Innovative EU Daniel Brühlmeier

Dass Europa in der Krise sei, ist in aller Munde. Natürlich müsste man gleich differenzieren: es gibt keine Eurokrise, sondern eine Staatsschuldenkrise, und es gibt in der EU auch vieles, was von aussen als Krise bezeichnet wird, aber in Tat und Wahrheit politischer Alltag ist. Der französische Staatspräsident beispielsweise spielte aus innenpolitischen Gründen den starken Mann auf Kosten der ethnisch Schwachen (Roma) und liess seine Minister faustdick gegenüber der EU-Kommissarin lügen. Diese vergriff sich (bewusst?) im Ton und drohte mit der Keule des Vertragsverletzungsverfahrens. Klammheimlich wurden diese Differenzen – hinter dem Getöse von Grossdemonstrationen und sozialer Unrast in Frankreich – bereinigt. Continuer comme si de rien n’était. Die EU meistert seit über 50 Jahren solche Krisen – ja, NZZ-Redaktor Eric Gujer hat unlängst treffend bemerkt, dass Krisen «das Lebenselixier der EU» seien. Ich würde noch weiter gehen und feststellen, dass die EU aus jeder ihrer Krisen gestärkt hervorgegangen ist, was derzeit wenige politische Gemeinwesen von sich behaupten können. Dieser alerte und flexible Umgang mit Krisen und die damit verbundene Lernbereitschaft hängen wesentlich mit dem zusammen, was ich «europäische Governance» nenne. Mangels vertiefter Kenntnis der EU spielen diese und die Bereitschaft, die EU gewissermassen von innen heraus zu verstehen, in der schweizerischen Diskussion praktisch keine Rolle. Sie sind aber einerseits sachlich unerlässlich, andererseits nicht zuletzt auch deshalb geboten, weil wir anderen

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(vielleicht zu Recht) vorwerfen, dass sie die Eigenheiten der Schweiz nicht genügend berücksichtigen. Doch nicht selten begnügt man sich hierzulande im Verhältnis zur EU bestenfalls mit Teilwahrheiten, oft auch nur mit ideologischen Versatzstücken, die man auf sie projiziert. Dabei huldigt man dem deutschen, aber in der Schweiz lehrenden Politikwissenschafter Joachim Blatter zufolge einem «traditionell sehr introvertierten Verständnis von demokratischer Selbstbestimmung». Die EU hat – und dies durchaus ohne grand design, sondern pragmatisch – eine Regierungsstruktur und -praxis entwickelt, die es ihr erlaubt, höchst kreativ auf Schwierigkeiten unterschiedlichster Art zu reagieren. Sie ist ein Experimentierfeld von grosser Innovationskraft. Der deutsche Rechtswissenschafter Ulrich Haltern, mitnichten ein glühender EU-Verfechter, meint sogar, sie sei «als Experiment [zu] begreifen, politische Herrschaft jenseits des Nationalstaates stabil zu institutionalisieren und damit die Hypertrophien von Staatlichkeit zu zähmen». Spezifisch, entscheidend und prägend ist dabei – wie überall – das Zusammenspiel der Institutionen: • der Kommission mit kollegialer (!) Entscheidfindung und mit dem (fast) alleinigen Initiativmonopol als genialem Instrument (und 1. Innovation), um als wichtige Verhandlungsinstanz und Hüterin des Gemeinschaftsinteresses auf dem Verhandlungswege vor allem legislativen Konsens herbeizuführen, und dies in engerer Verzahnung mit • dem Rat als genuin intergouvernementalem Element in der institutionellen Struktur der EU, halb Tagsatzung, halb Parlament und in einem bisher unbekannten Zweikammersystem (2. Innovation) mit • dem Europäischen Parlament, das heute (v.a. auch dank dem Vertrag von Lissabon) durchaus im Rechtsetzungsverfahren zum gleichwertigen Partner der beiden anderen Akteure geworden ist. Zu betonen ist auch dessen heilsame Kompetenz zur Prüfung und Bestätigung der Kommissionsmitglieder, die nicht zuletzt 1999 in der Demission der Kommission Santer vollauf gespielt hat. Schliesslich ist in diesem Viergespann zu nennen: • der Europäische Gerichtshof (EuGH). Er hat im wesentlichen mit Richterrecht die «Gemeinschaft des Rechts» (Walter Hallstein) geschaffen, die in ihrer Qualität keinen Vergleich mit nationaler Rechtsstaatlichkeit zu scheuen braucht. Die geniale Erfindung (und 3. Innovation) war dabei 25


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das Vorabentscheidungsverfahren, das den Dialog mit den nationalen Gerichten begründet und entwickelt hat. In der Alltagsrealität mündet die europäische Governance in eine keinesfalls überdimensionierte oder -bürokratisierte Verhandlungsmaschinerie, die in unzähligen Verhandlungsrunden leidliche und leidlich effiziente Lösungen produziert. Der tendenziell unterbesetzte Brüsseler «Apparat» arbeitet mithin im Schnitt mehr und effizienter als viele seiner Mitgliedstaaten. Die EU ist heute aber nicht nur Alltag, sie ist vor allem auch eine völkerrechtliche internationale Ordnung, die sich durch Regierungskonferenzen gebildet und weiterentwickelt hat, und eine Verfassungsstruktur sui generis darstellt. Sie schafft, wie John Adams es im Continental Congress 1776 formulierte, «eine bislang unbekannte Regierungsform, die den Forderungen ihrer Zeit Genüge tut». Diskussionen, ob sie jetzt mehr Staatenbund oder Bundesstaat sei, oder gar der Vorwurf, sie entwickle sich von einem zum an-

In der Alltagsrealität mündet die europäische Governance in eine keinesfalls überdimensionierte oder -bürokratisierte Verhandlungsmaschinerie.

Daniel Brühlmeier, geboren 1951, ist promovierter Politikwissenschafter und leitet die Abteilung «Koordination der Aussenbeziehungen» in der Staatskanzlei des Kantons Zürich. Er schreibt hier in seinem persönlichen Namen.

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dern und sei deshalb illegitim, sind steril, und vorschnelle Pauschalurteile wie «Fehlkonstruktion» u.ä. sind arrogant. Wer heute so gegen die EU argumentiert, müsste ehrlicherweise auch den USA und dem schweizerischen Bundesstaat von 1848 Legitimität und innere Logik absprechen. So zeigt etwa das neueste Buch des amerikanischen Historikers Gordon S. Wood «Empire of Liberty: A History of the Early Republic, 1789–1815» auf, dass die jungen USA viel gravierendere politische, ideologische, wirtschaftliche, kulturelle und moralische Trennungsfaktoren kannten als Europa nach dem 2. Weltkrieg oder gar heute. Neben der politischen Union ist die EU auch längst eine funktionierende Rechtsgemeinschaft. Die sich bereits am «Katastrophenszenario» der Desintegration der EU ergötzenden Gegner der EU sollten einmal erklären, wie man eine derart funktionierende Rechtsgemeinschaft zurückentwickeln soll. Und die schweizerischen EUKritiker müssten dann noch aufzeigen, wie sie sich konkret die Wahrung der Wohltaten der bilateralen sektoriellen Abkommen (Freihandel,

Marktöffnung, Personenfreizügigkeit, Sicherheit u.a.m.) vorstellen, wenn die EU einmal, wie EUGegner es sich so sehnlich wünschen, abtritt und ihre Rechtspersönlichkeit verliert. Unbestreitbar existiert allerdings in der EU ein Demokratiedefizit. Damit meine ich nicht, dass die EU nicht über direktdemokratische Elemente wie die Schweiz verfügt. Man kann mit guten Gründen argumentieren – und die Verfechter der amerikanischen Verfassung im Federalist haben es getan –, dass eine repräsentative Demokratie die bessere Demokratie für moderne, auf entwickelter Arbeitsteilung beruhende Verfassungsgesellschaften darstelle. Das Demokratiedefizit der EU besteht im wesentlichen darin, dass mitgliedstaatliche Regierungen in Brüssel im Rat zur Legislative werden und sich dort der parlamentarischen Kontrolle und Verantwortlichkeit zuhause entziehen. Das ist ein Strukturproblem der EU, das sie nicht direkt, sondern nur indirekt und offensichtlich mit dem beschriebenen Innovationspotential lösen kann. Im Vertrag von Lissabon wird mit der Stärkung des Europäischen und der nationalen Parlamente ein wesentlicher Schritt in diese Richtung getan. Mit Lissabon hat sich die EU mit dem Hohen Vertreter der Union für Aussen- und Sicherheitspolitik und dem Europäischen Auswärtigen Dienst (EAD) neue Strukturen und eine neue Orientierung in den Aussenbeziehungen gegeben. Natürlich ist es noch zu früh, über deren Tauglichkeit und Wirksamkeit zu befinden, auch wenn darüber schon eifrig geschrieben und gewitzelt wird. Einmal mehr kurzschlüssig ist aber die vorschnelle Kritik an deren Grösse: die anvisierten 5’000 Personen im Vollbetrieb (inkl. Diplomaten) wären klar weniger als die Hälfte dessen, was heute Deutschland dafür beschäftigt. Unzweifelhaft wird das auch Veränderungen für die Schweiz bringen. Man darf ihr attestieren, dass sie sich bisher verhandlungstechnisch, d.h. diplomatisch, sehr gut auf ihr Gegenüber eingestellt und sich deutlich über ihrer Grösse verkauft hat. Absehbar ist aber auch, dass in der EU die Bereitschaft für Sonderlösungen für Drittstaaten – und damit für vorteilhaftere Regelungen als für Mitgliedstaaten! – noch mehr sinkt. Spätestens seit dem Beschluss des Ministerrates vom 8. Dezember 2008 gilt für die EU – aus Sorge für Kohärenz, Einheitlichkeit und Rechtssicherheit im europäischen Raum –, dass der Acquis communautaire in allen Verträgen grundsätzlich zu übernehmen ist.

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Regulieren und harmonisieren – die EU stärkt ihre Institutionen und schwächt den Wettbewerb. Die Schweiz könnte profitieren. Wenn sie klug ist.

4 Regulierung auf leisen Sohlen Roland Vaubel

Staatliche Institutionen werden auf zweierlei Weise aktiv. Sie geben das Geld der Bürger aus, und sie machen den Bürgern Vorschriften. Im Fall der Europäischen Union sind dem Geldausgeben enge Grenzen gesetzt. Die Obergrenze liegt bei 1,27 Prozent des EU-Bruttoinlandprodukts. Daran hat sich seit vielen Jahren nichts geändert. Der Grund ist das kuriose, aber ungewollt geniale Haushaltsverfahren der EU. Für Einnahmen und Ausgaben der EU gilt nämlich nicht dieselbe Entscheidungsregel. Über die Finanzmittel entscheiden die Mitgliedstaaten einstimmig. Über die Verwendung dieser Finanzmittel entscheiden sie (genauer: der Rat) und das Parlament jedoch mit Mehrheit. Diese Asymmetrie des Entscheidungsverfahrens hat zur Folge, dass diejenigen, die erwarten, bei der Ausgabenentscheidung in der Minderheit zu sein und überstimmt zu werden – vor allem natürlich die Nettozahler –, bei der Gewährung der Finanzmittel eher vorsichtig sind. Vorsicht ist deshalb geboten, weil die EU traditionell kaum internationale öffentliche Güter produziert oder finanziert, sondern im wesentlichen Transfers verteilt, die zu einer starken Umverteilung zwischen den Mitgliedstaaten führen. Ganz im Gegensatz zu ihrem engen Finanzrahmen hat die EU weitreichende Regulierungskompetenzen. Regulierungen sind Eingriffe in die Vertragsfreiheit. Den Regulierer kosten sie wenig oder nichts. Die Kosten haben die Regulierten zu tragen. Da die Finanzmittel der EU eng begrenzt sind, konzentriert sich Brüssel vor allem auf seine Regulierungsmacht. Deshalb wird die

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EU in der Literatur häufig als regulatory state oder regulatory federalism bezeichnet. Der «gemeinsame Markt» oder «Binnenmarkt» und die Globalisierung spielen den europäischen Institutionen dabei in die Hände. Denn je enger die Märkte international integriert sind, desto weniger kann eine einzelne Regierung (und die sie stützende Parlamentsmehrheit) es sich leisten, weitreichende einzelstaatliche Regulierungen einzuführen, die das hochmobile Kapital verschrecken und die Wettbewerbsfähigkeit des eigenen Landes beeinträchtigen. Nur vereint sind die Regierungen noch stark. Und die europäischen Institutionen wissen: je mehr sie die Marktintegration vorantreiben, desto mehr Regulierungsmacht werden ihnen die Politiker der Mitgliedstaaten übertragen. Die Marktintegration ist für die Eurokratie das Mittel zur politischen Integration, d.h. zur politischen Zentralisierung. Die gemeinschaftlichen Regulierungen können entweder einstimmig oder mit qualifizierter Mehrheit beschlossen werden. Wenn sie nur einstimmig verabschiedet werden können, spricht man von einem Regulierungskartell. Die Politiker aller Mitgliedsländer vereinigen sich, damit die Bürger den staatlichen Vorschriften nicht mehr so leicht ausweichen können. Ausserdem haben die Stimmbürger nun weniger Vergleichsmöglichkeiten, was die Leistungsfähigkeit ihrer eigenen Regierung angeht – die sogenannte yardstick competition wird ausgeschaltet. Seit der Einheitlichen Europäischen Akte (ratifiziert 1987) können europäische Regulierungen, die die Errichtung und das Funktionieren des Binnenmarktes zum Gegenstand haben, mit qualifizierter Mehrheit beschlossen werden (heute Art. 114 AEUV). Das Binnenmarktziel wird an anderer Stelle (heute Art. 26 AEUV) definiert als ein «Raum ohne Binnengrenzen, in dem der freie Verkehr von Waren, Personen, Dienstleistungen und Kapital … gewährleistet ist». Diese Änderung der Entscheidungsregel hat sich als Einfallstor für weitreichende europäische Regulierungen erwiesen, wie sie von der damaligen britischen Regierung unter Margaret Thatcher sicher nicht beabsichtigt waren. Begründet wurde der Übergang zur qualifizierten Mehrheitsentscheidung damit, dass einzelne Mitgliedstaaten durch ihre nationalen Produktregulierungen die Einfuhr behinderten oder ihre Finanzmärkte vor Wettbewerb schützten. Zu diesem Zweck hätte man aber keine europäischen Regulierungen gebraucht. Es hätte genügt, dass der Rat das Recht erhalten hätte, solche protektionistischen nationalen Regulie27


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*Horst Teltschik: «329 Tage. Innenansichten der Einigung». Berlin: Siedler, 1991, S. 61.

rungen mit qualifizierter Mehrheit aufzuheben. Das hätte eine eindeutig liberalisierende Wirkung gehabt. Die europäischen Regulierungen dagegen sind in der Regel restriktiver als die nationalen – das exakte Gegenteil einer Liberalisierung. Anscheinend befürchteten die Regierungen 1987, dass das Binnenmarktprojekt ihre nationalen Regulierungsspielräume noch weiter einschränken würde. Deshalb wollten sie ihre eigenen Regulierungsmöglichkeiten auf europäischer Ebene durch die Abkehr von der Einstimmigkeit erweitern. Später kam hinzu, dass der Binnenmarktartikel 114 von Kommission, Ratsmehrheit und Gerichtshof nicht im Sinne aller Vertragspartner ausgelegt wurde. Damit war nach aller Erfahrung zu rechnen. Der Europäische Gerichtshof lässt qualifizierte Mehrheitsentscheidungen nach Artikel 114 inzwischen nicht nur bei der Einführung europäischer Produktregulierungen, sondern auch bei der Gründung europäischer In-

Die europäischen Regulierungen sind in der Regel restriktiver als die nationalen – das exakte Gegenteil einer Liberalisierung.

stitutionen zu. Als die britische Regierung 2004 dagegen klagte, dass die Gründung der European Network and Information Security Agency für den Telekommunikationssektor mit qualifizierter Mehrheit auf der Grundlage des Binnenmarktartikels beschlossen worden war, wurde sie vom Europäischen Gerichtshof abgewiesen. Kommission und Ratsmehrheit sind nun sogar dazu übergegangen, auf der Grundlage von Art. 114 mit qualifizierter Mehrheit europäische Institutionen zu gründen, die Prozessregulierungen einführen und durchsetzen dürfen – dies, obwohl die nationalen Prozessregulierungen, die sie ersetzen, den freien Verkehr von Waren, Personen, Dienstleistungen und Kapital gar nicht behindert haben. Ein aktuelles Beispiel ist die europäische Finanzaufsicht, die am 7. September 2010 vom Rat mit qualifizierter Mehrheit (gegen die Stimme der Tschechischen Republik, aber nicht gegen die britische) beschlossen und am 23. September auch vom Europäischen Parlament verabschiedet worden ist. Die neuen Finanzaufsichtsbehörden der EU dürfen unter bestimmten Bedingungen mit 28

qualifizierter Mehrheit Regulierungsmassnahmen vorschreiben oder sogar selbst durchführen. Kommission und Ratsmehrheit behaupten, dass diese Gesetzgebung vom Rat mit qualifizierter Mehrheit beschlossen werden konnte, weil sie die Errichtung und das Funktionieren des Binnenmarktes zum Gegenstand hat. Die Existenz unterschiedlicher nationaler Prozessregulierungen für den Finanzmarkt steht aber der Freiheit des Kapitalverkehrs und damit dem Binnenmarktziel gar nicht entgegen. Die britische Koalitionsregierung hat bisher darauf verzichtet, gegen die unzulässige Inanspruchnahme des Binnenmarktartikels zu klagen, denn sie weiss, dass Gerichtshof und Kommission in Kompetenzfragen fast immer an einem Strang ziehen. Die Einheitliche Europäische Akte von 1987 führte qualifizierte Mehrheitsentscheidungen auch für europäische Arbeitsmarktregulierungen ein – allerdings nur für solche, die die Arbeitsumwelt verbessern, indem sie die Sicherheit und Gesundheit der Arbeitnehmer schützen (damals Art. 118a, heute Art. 153 Abs. 1a). Auch dieser Artikel wurde von Kommission, Ratsmehrheit und Gerichtshof ganz anders ausgelegt, als zumindest die britische Regierung erwartet hatte. Zum Beispiel wurde die Arbeitszeitrichtlinie von 1993 mit qualifizierter Mehrheit verabschiedet. Die Begründung war, dass sie dem Schutz der Gesundheit der Arbeitnehmer diene. Die britische Regierung klagte dagegen, wurde aber vom Europäischen Gerichtshof abgewiesen. Der Bereich der mit qualifizierter Mehrheit zu beschliessenden europäischen Arbeitsmarktregulierungen wurde wenig später durch das Sozialpolitische Abkommen von Maastricht erheblich erweitert. Die konservative britische Regierung bestand damals auf einem opt-out. Dieser wurde aber von der nachfolgenden Labourregierung im Rahmen des Amsterdamer Vertrages aufgegeben. Die christlich-liberale deutsche Regierung akzeptierte in Maastricht das Sozialpolitische Abkommen, denn damals benötigte sie gerade die Zustimmung des französischen Präsidenten zur deutschen Wiedervereinigung. Horst Teltschik, der aussenpolitische Chefberater im Bonner Kanzleramt, sagte damals: «Im übrigen befindet sich die Bundesregierung jetzt in der Lage, praktisch jeder französischen Initiative für Europa zustimmen zu müssen.»* Das galt nicht nur für den Euro, sondern auch für die Regulierung der Arbeitsmärkte. Auch die sogenannten poor four (Griechenland, Irland, Portugal und Spanien) schlossen ein Tauschgeschäft. Der Preis für ihre

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Zustimmung war die Gründung des EU-Kohä- denn die Opposition im eigenen Land lässt sich sionsfonds. eine solche Gelegenheit zur Kritik nicht entge Die Einführung qualifizierter Mehrheitsent- hen. Deshalb ist der Anteil der Ratsentscheidunscheidungen durch die Einheitliche Europäische gen, die mit Gegenstimmen oder Enthaltungen Akte und das Sozialpolitische Abkommen von angenommen werden – zurzeit zwischen 15 und Maastricht löste eine Welle europäischer Arbeits- 20 Prozent – nur die Spitze eines riesigen Eismarktregulierungen aus – es sind weit über fünf- bergs. zig. Wenn Mehrheitsentscheidungen möglich Die strategy of raising rivals’ costs ist natürlich sind, ist die Mehrheit der hochregulierten Länder nicht auf die Arbeitsmarktregulierung beschränkt. nämlich versucht, der Minderheit der liberaleren Ein für die Schweiz interessantes Beispiel ist auch Länder das mehrheitliche Regulierungsniveau die Folgerechtsrichtlinie (2001). Sie verpflichtet aufzuzwingen. Dadurch kann die Mehrheit ih- den Kunsthandel, einen bestimmten Prozentsatz re eigene Wettbewerbsfähigkeit gegenüber der der Erlöse an die Künstler und ihre – auch entMinderheit erhöhen. Das ist dann kein Regulie- fernten – Erben abzuführen. Abgelehnt wurde sie rungskartell mehr, sondern die sogenannte strat- von Grossbritannien, Irland, Österreich und den egy of raising rivals’ costs. Dabei wird nicht – wie Niederlanden – vier Ländern, die diese Abgabe man zunächst vermuten könnte – das bisherige nicht erhoben und die im internationalen KunstRegulierungsniveau des ausschlaggebenden Mit- handel eine erhebliche Rolle spielen – man dengliedstaats für allgemeinverbindlich erklärt, son- ke an Sotheby’s und Christie’s, das Dorotheum dern ein noch höheres. Das zeigt die spieltheo- in Wien und die Maastricht Fine Arts Fair. Das retische Analyse, aber auch die Erfahrung in der Folgerecht – auf Französisch droit de suite – war EU. Der Grund dafür ist, dass die Regierung des ursprünglich eine französische Erfindung und ausschlaggebenden Landes nun nicht mehr den Wettbewerb von seiten der Minderheit zu befürchten hat. Sie kann jetzt ungeniert regulieren, Die Mehrheit der hochregulierten Länder ist ohne dass das Kapital in die ehemals liberaleren Länder abfliesst. versucht, der Minderheit der liberaleren Länder das Die vorliegenden empirischen Untersuchunmehrheitliche Regulierungsniveau aufzuzwingen. gen zeigen, dass die überstimmte Minderheit der Regulierungsgegner typischerweise die folgenden Länder umfasst: Grossbritannien, Irland, Dänemark, Finnland, die Niederlande und manchmal wurde später auch in Belgien, Deutschland und Deutschland und Luxemburg. Regulierungsbe- den meisten anderen Mitgliedstaaten der EU einfürworter sind dagegen die romanischen und geführt. Mit Hilfe der Folgerechtsrichtlinie kann Mittelmeerländer. Dazu passt, dass die nationa- der Pariser Kunsthandel nun London, Maastricht len Arbeitsmarktregulierungen in den südeuropä- und Wien das Wasser abgraben. ischen Mitgliedstaaten deutlich restriktiver sind Das aktuellste und wohl auch wichtigste Beials in den nordeuropäischen. Das zeigen mehrere spiel der strategy of raising rivals’ costs ist schliessUntersuchungen – zum Beispiel die der OECD. lich die bereits erwähnte Einführung einer EU Interessanterweise schliesst sich die Minder- Finanzaufsicht. Zum Jahresbeginn 2011 werden heit der Regulierungsgegner in der Schlussab- drei europäische Finanzaufsichtsbehörden eingestimmung häufig der Mehrheit an, obwohl sie richtet – eine für die Banken, eine für die Wertdie Regulierung zunächst bekämpft hat. Wenn papiermärkte und eine für die Versicherungen. die Regulierungsgegner merken, dass sie nicht ge- Ich konzentriere mich im folgenden auf die nug Stimmen haben, um den Gesetzesvorschlag Europäische Bankaufsichtsbehörde (EBA). Ihzu Fall zu bringen, stellen sie nicht selten ihre rem Board of Supervisors gehören die Leiter der Zustimmung in Aussicht, wenn dem Gesetzes- nationalen Bankaufsichtsbehörden sowie nichtvorschlag die schlimmsten Zähne gezogen wer- stimmberechtigte Vertreter der Kommission, der den. Denn sonst würden sie aus dem weiteren Europäischen Zentralbank und des ebenfalls neuVerhandlungsprozess ausgeschlossen, und die gegründeten European Systemic Risk Board an. Mehrheit könnte es ihnen bei nächster Gelegen- Die EBA kann in drei Fällen mit qualifizierter heit heimzahlen. Ausserdem ist es mühsam, den Mehrheit «eine an ein Finanzinstitut gerichtete Wählern daheim zu erklären, weshalb das, was Einzelfallentscheidung erlassen…, worunter auch die Mehrheit in Brüssel beschlossen hat, falsch ist, die Einstellung jeglicher Tätigkeit fällt» (z.B. Art.

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9, Abs. 6 der EBA-Verordnung). Im Klartext: die mission zum Vorsitzenden einer Expertengruppe EBA kann zum Beispiel eine Bank wie Barclays für die Finanzmarktkrise bestellt. schliessen, selbst wenn Finanzaufsicht, Regierung 2. Der Franzose Michel Barnier wurde 2009 und Parlament in London dagegen sind. Dieses vom wiedergewählten Kommissionspräsidenten Weisungs- und direkte Durchgriffsrecht besitzt Barroso zum neuen Binnenmarktkommissar – die EBA, wenn entweder – erstens – sie und die zuständig für die Finanzmarktregulierung – erKommission der Meinung sind, dass eine natio- nannt. nale Aufsichtsbehörde sich nicht an die Banken- 3. Der französische Europa-Abgeordnete regulierungen der EU hält (Art. 9); oder wenn Jean-Paul Gauzès (UMP) wurde 2009 zum Rap– zweitens – zwei oder mehr nationale Aufsichts- porteur des Europäischen Parlaments für die EUbehörden in Fragen, für die das EU-Recht eine Finanzaufsichtsverordnungen gewählt. Zusammenarbeit vorsieht, uneins sind (Art. 11); Die Absichten der französischen Politik werden oder wenn – drittens – der Ministerrat mit Mehr- in folgenden Zitaten deutlich. heit die Krise ausruft (Art. 10). Dafür genügt es, • Jean-Paul Gauzès (EU-Parlamentarier): «In dass «ungünstige Entwicklungen eintreten, die die einem Land wie Frankreich gibt es eine echte Trageordnete Funktionsweise und die Integrität von Fi- dition der Überwachung von Finanzinstituten. Der nanzmärkten oder die Stabilität des Finanzsystems Vorteil einer europäischen Überwachung bestünde in der Gemeinschaft – ob als Ganzes oder in Teilen darin, dieselben Regeln überallhin auszudehnen…» – ernsthaft gefährden können» (Abs. 1). («Le Figaro», 7. Juli 2010) Es ist klar, dass keine dieser Vorschriften den • Christine Lagarde (französische FinanzminiAusbruch und das Ausmass der jetzt aktuellen sterin): «Wir brauchen eine City, die nach anderen Finanzkrise verhindert hätte. Denn die Krise Regeln spielt.» («Financial Times», 4. Dezember 2009) • Nicolas Sarkozy sagte der Zeitung «Le Monde» nach der Abstimmung im Ministerrat (2. Die europäischen Institutionen sehen Dezember 2009): «Dies ist eine grosse Niederlage in der Finanzkrise eine Chance, ihre Macht der Engländer … und ein Triumph französischer Ideen.» Und weiter: «Wissen Sie, was es für mich zu vergrössern. bedeutet, dass zum erstenmal seit fünfzig Jahren ein Franzose Binnenmarktkommissar und damit auch für die Finanzdienstleistungen, einschliesslich der kam von aussen, und das dezentrale Krisenma- City (of London), zuständig sein wird? Ich möchte, nagement der einzelnen Mitgliedstaaten – auch dass die Welt auf diesen Sieg des europäischen Modas britische – hat zufriedenstellend funktioniert. dells blickt, das den Exzessen des FinanzmarktkapiDie beiden multinationalen Banken Fortis und talismus ein Ende setzt.» Dexia wurden unter Mitwirkung der Aufsichts- 4. Kommissar Barnier erklärte bei der Verabbehörden der beteiligten Staaten (Benelux bzw. schiedung der EBA-Verordnung: «Dies ist nur ein Belgien/Frankreich) geräuschlos und zügig aufge- erster Schritt.» Tatsächlich verpflichtet die Verfangen. Die Beteiligung von 27 Aufsichtsbehör- ordnung die Kommission, alle drei Jahre einen den wäre wesentlich umständlicher gewesen. Bericht vorzulegen, ob und wie die Zuständig Empirische Untersuchungen zeigen, dass die keiten der EU-Finanzaufsicht erweitert werden Finanzaufsicht in den romanischen und Mittel- sollten. meerländern (darunter Frankreich und Italien) Ich fasse abschliessend zusammen: Die euroRoland Vaubel, geboren 1948, ist am umfangreichsten ist. Am schlanksten ist sie päischen Institutionen sehen in der Finanzkrise Professor für – relativ zur Zahl der Finanzdienstleister – in eine Chance, ihre Macht zu vergrössern. Die ReVolkswirtschaftslehre Grossbritannien. Unterstützt von der EU-Kom- gierungen der hochregulierten Mitgliedstaaten an der Universität mission, die auf diese Weise ihre Kompetenzen nutzen die Krise als Vorwand, um die WettbeMannheim, wissenschaftlicher erweitern kann, hat die französische Politik damit werbsfähigkeit ihrer Konkurrenz zu untergraben. Beirat beim begonnen, der City of London das französische Die Finanzplätze Zürich, New York und SingaBundesministerium für Regulierungsniveau aufzuzwingen. Ihr Vorgehen pur werden davon profitieren. Wirtschaft und Technologie sowie hat Methode. Autor u.a. von «The 1. Bald nach dem Ausbruch der Finanzkrise European Institutions wurde Jacques de Larosière, ein früherer Gouveras an Interest Group» (2009). neur der Banque de France, von der EU-Kom30

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Eine gemeinsame politische Union, eine einzige Währung – das sind schöne politische Ideen. Doch ist die Umsetzung das Problem. Die Schweiz sollte sich ihren Handlungsspielraum bewahren.

5 Der Irrtum des Euros Kurt Schiltknecht

Länder und Regionen entwickeln sich seit Menschengedenken unterschiedlich. Dabei hält sich hartnäckig die Vorstellung, mit Harmonisierung und Zentralisierung wichtiger Bereiche der Wirtschafts- und Geldpolitik sowie mit Umverteilungen lasse sich ein Ausgleich zwischen den Regionen schaffen. Letztlich stehen solche Ideen auch hinter der Europäischen Union. Die Politiker erhoffen sich von einer Verringerung der Divergenzen günstige Voraussetzungen für ein nachhaltiges Wachstum und ein konfliktfreies Zusammenleben in Europa. Für die Idee, mit Hilfe grosser politischer Gebilde, einer Harmonisierung der Politik und länderübergreifender Umverteilungen die wirtschaftlichen und gesellschaftspolitischen Probleme besser in den Griff zu bekommen, lässt sich in der Vergangenheit keine überzeugende Evidenz finden. Wie Kommunismus oder Sozialismus basieren solche Ideen auf naiven Vorstellungen über das Funktionieren einer Gesellschaft und das Handeln der einzelnen Menschen. Viel zuwenig wird beachtet, dass Änderungen in der Ausgestaltung der institutionellen Rahmenbedingungen Reaktionen im wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Verhalten jedes einzelnen auslösen und in der Summe komplexe gesellschaftliche und wirtschaftliche Prozesse in Gang setzen. Angesichts der Vernachlässigung dieser Aspekte erstaunt es nicht, dass sich bei der Umsetzung scheinbar einleuchtender politischer Ideen häufig eine unüberbrückbare Kluft zwischen den ursprünglichen politischen Absichten und den faktischen Ergebnissen auftut. Trotz solchen Erfahrungen lassen sich nach wie vor viele Politiker, Intellektuelle und religiöse

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Kreise von politischen Ideen leiten, deren praktische Umsetzung zuwenig oder gar nicht durchdacht ist. Als beispielsweise vor der Einführung des Euro ein Ökonomieprofessor dem deutschen Bundeskanzler Helmuth Kohl die negativen wirtschaftlichen Folgen einer Einheitswährung zu erklären versuchte, meinte dieser, dass die Schaffung des Euro ein politisches und erst in zweiter Linie ein ökonomisches Problem sei. Die Folgen, so der Professor lakonisch, würden allerdings in erster Linie wirtschaftliche sein. Er sollte recht behalten. Dieser Unterschied im Denkansatz prägt auch die Diskussionen um einen Beitritt der Schweiz zur EU oder zum Europäischen Währungssystem. Die Befürworter argumentieren mit idealistischen politischen Ideen und bagatellisieren die Umsetzungsprobleme. Bei einer solchen Betrachtungsweise präsentiert sich ein EU-Beitritt im Vergleich zum steinigen bilateralen Weg in einem viel zu positiven Licht. Wie Helmuth Kohl machen sich auch viele hiesige Politiker aus politischen Gründen für den Euro stark. Mit der Einheitswährung soll der Druck zur politischen, wirtschaftlichen und individuellen Integration erhöht werden. Zudem glauben viele, dass ein Freihandelsraum eine Einheitswährung benötige. Dass eine Einheitswährung auch Vorteile hat, bestreitet niemand. So führt sie zu einer Reduktion der Preisvolatilität der innerhalb des Euroraums gehandelten Güter und Dienstleistungen. Die EU-Kommission schätzte den Gewinn der damit einhergehenden Vorteile auf rund 0,5 Prozent des europäischen Bruttosozialprodukts. Die Wirtschaftsentwicklung der letzten Jahre zeigt, wie masslos übertrieben diese Wachstumsschubsprognose war. Den grössten Gewinn aus einem Beitritt zur Europäischen Währungsunion erzielten anfänglich diejenigen Länder, die in der Vergangenheit wegen einer instabilen und unglaubwürdigen Wirtschaftspolitik hohe Realzinsen zahlen mussten. Durch einen Beitritt zum Europäischen Währungssystem kommen diese Länder in den Genuss der wegen der geldpolitischen Glaubwürdigkeit Deutschlands relativ niedrigen Eurozinsen. Ein Beitritt der Schweiz, die über einen hervorragenden Stabilitätsausweis und somit niedrige Realzinsen verfügt, hätte demgegenüber eine Erhöhung der Realzinsen für die schweizerische Wirtschaft zur Folge. Die für die Geldpolitik im Euroraum zuständige Europäische Zentralbank muss ihre Geldpolitik auf die durchschnittliche Inflationsrate 31


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im Euroraum ausrichten. Auf die aktuelle Wirt- hohe Sozialleistungen am Ort die Anreize zur schaftslage der einzelnen Mitgliedsländer kann Wanderung. Zudem haben die meisten Länder sie keine Rücksicht nehmen. Entgegen den idea- seit der EU-Osterweiterung ihre Einwanderungslistischen Vorstellungen der Euroanhänger ver- gesetze stark verschärft. läuft die Wirtschaftsentwicklung im Euroraum Krass gescheitert ist der Versuch, mit dem trotz einheitlicher Geldpolitik nicht harmonisch. sogenannten Stabilitätspakt die Länder auf eine Im Gegenteil, die Länder driften langsam aus- stabilitätsorientierte Fiskalpolitik einzuschwöeinander. Hinter dieser Entwicklung können ren. Heute bedroht die Überschuldung einiger Unterschiede in der Performance der Schlüssel- Länder die Stabilität des Euros und drückt die industrien, Differenzen in der Fiskal- und Ar- Eurozinsen nach oben. Weil die in einer Krise beitsmarktpolitik oder exogene Schocks stehen. steckenden Länder ihre Probleme nicht mit einer Zu den bekanntesten solcher Schocks zählen die Abwertung oder Veränderung der Zinsen lösen Ölpreisschocks, der Systemwechsel in Osteuropa, können, müssen die notwendigen Anpassungen Finanzkrisen, Kriege oder der Beitritt neuer Län- über tiefere Löhne und eine drastische Reduktion der in die EU. Die Wirkungen solcher Schocks der Staatsausgaben erfolgen. Die daraus resultieauf das Wachstum der einzelnen Länder können renden sozialen Probleme tragen nicht zu der von sehr unterschiedlich sein. der Einführung des Euros erwarteten Verbesse Es gibt eine Palette von Massnahmen, mit rung der politischen Verständigung innerhalb denen ein Land auf Schocks, strukturelle oder Europas bei. konjunkturelle Probleme reagieren kann. Verfügt Ein wirksamer Finanzausgleich unter den ein Land über eine eigene Währung, so eignen Euroländern zum Ausgleich der Wachstumsunsich die Wechselkurse und Zinssätze weitaus am terschiede würde ein zentralisiertes Steuersystem verlangen. Ein solches ist vorderhand nicht absehbar und wirtschaftspolitisch problematisch. Der politische Druck für höhere TransferzahDie Einführung des Euros ist ein Beispiel dafür, lungen sowie Unterstützungszahlungen in Kriwie sich zwischen einer scheinbar überzeugenden sensituationen nimmt deshalb zu. In den Geberländern findet die Idee von Transferzahlungen politischen Idee und dem Ergebnis immer weniger Zustimmung. Zudem haben bei deren Umsetzung Welten auftun können. Transferzahlungen und Subventionen nur in den allerwenigsten Situationen zu einer Verbesserung des Wirtschaftswachstums geführt. Heute zeigt besten zur Korrektur. Mit dem Beitritt zum Eu- es sich, dass der Euro und die damit einhergero verzichtet ein Land auf seine wirkungsvollsten hende Preisgabe der monetären Autonomie die Instrumente. Insbesondere der Wechselkurs kann regionalen Probleme nicht verringert, sondern nicht mehr zur Stimulierung einer lahmenden verschärft hat. Als Folge davon nehmen die poliWirtschaft oder zum Bremsen eines Wirtschafts- tischen Spannungen innerhalb der EU zu. Statt booms eingesetzt werden. Trotz den inzwischen aus diesen Erfahrungen zu lernen und zu födeunübersehbaren Problemen im Euroraum baga- ralistischen Strukturen zurückzukehren, werden tellisieren die Eurobefürworter noch immer den immer mehr Regulierungen und ZentralisierunVerlust der monetären Autonomie und verweisen gen in der Hoffnung eingeführt, auf diese Art die auf die Erfolge der USA. Der Vergleich hinkt. Im aufgetretenen Schwächen überwinden zu können. Gegensatz zu Europa verfügen die USA über bes- Ein Irrweg. sere Möglichkeiten, auf regionale Wachstumsun- Die Einführung des Euros ist ein weiteres terschiede zu reagieren. Im Vordergrund stehen eindrückliches Beispiel dafür, wie sich zwischen Arbeitskräftemobilität, Lohnflexibilität und ein einer scheinbar überzeugenden politischen Idee nationaler Finanzausgleich. Mit grossen Wan- und dem Ergebnis bei deren Umsetzung WelKurt derungen kann das Arbeitslosenproblem zwar ten auftun können. Den Schalmeien über eine Schiltknecht, gemindert werden. Dafür werden die regionalen bessere Zukunft der Schweiz im Kreise der EU geboren 1941, ist Probleme verschärft, und die schwachen Regio- muss deshalb mit Skepsis begegnet werden. Für ausserordentlicher Professor für Ökonomie nen entleeren sich. Eine solche Lösung ist für ein kleines Land lohnt es sich, die wirtschaftspoan der Universität Basel Europa undenkbar. Bis heute gibt es in Europa litischen Optionen offenzuhalten und Lösungen und Verwaltungsrat in nur eine bescheidene Wanderung. Neben sprach- auf bilateralem Weg zu suchen. verschiedenen Gesellschaften. lichen und kulturellen Unterschieden reduzieren 32

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Die Schweiz geht ihren Weg. Und das ist gut so – gerade für Europa. Die EU braucht einen Leitstern und Störenfried. Die Aussensicht einer deutschen EU-Bürgerin.

6 Das kleine gallische Dorf Karen Horn

Die langen Gesichter meiner Kollegen am 6. Dezember 1992 werde ich nie vergessen. An diesem Tag lehnte das Schweizervolk den Beitritt zum Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) mehrheitlich ab. Ich war Doktorandin an der Université de Lausanne. Und ich war dort wohl die einzige, die sich durch das Votum erleichtert fühlte, und zwar obwohl ich in der Romandie geboren und zugleich Deutsche bin. Wegen beidem hätte ich aus Sicht der anderen eigentlich besonders europafreundlich sein müssen. Die Romands schimpften über die Deutschschweizer, die den Grossteil der Neinstimmen beigesteuert hatten. In der welschen Schweiz hatte man erwartet und gehofft, der EWR könnte die erste Etappe sein auf dem Weg hinaus aus der helvetischen Enge und hinein in die Europäische Gemeinschaft, wie sie damals noch hiess. Genau diese Vision war es freilich, die ich fürchtete. Gegen den EWR an sich war nicht viel zu sagen. Es geht dabei im wesentlichen um die Teilnahme der EFTA-Länder am europäischen Binnenmarkt, um die Verwirklichung der vier Grundfreiheiten: Freizügigkeit im Verkehr von Personen, Waren, Dienstleistungen und Kapital. Zölle wurden abgeschafft. Kein liberaler Ökonom könnte hiergegen etwas einzuwenden haben. Mich trieb die Sorge um, es könnte eine unumkehrbare Entwicklung angestossen werden. Doch nach dem EWR-Referendum wurden nun die Beitrittsverhandlungen mit der Europäischen Gemeinschaft abgebrochen. Stattdessen begannen in zwei Runden die Verhandlungen über die bilateralen Verträge, die eine Isolation

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der Schweiz verhindern sollten – und dieser Weg war sehr erfolgreich. Die Vorstellung ist für mich auch heute noch schwer zu ertragen, dass sich ausgerechnet die stolze Willensnation Schweiz, mit ihren einzigartigen Traditionen und Institutionen, das europäische Korsett überziehen könnte. Gewiss, Europa war gedacht als ein Projekt des Friedens, als Weg zur Einigung der Völker. Das ist aller Ehren wert und hat die erhofften Früchte auch getragen. Den positiven Saldo wird niemand in Zweifel ziehen – doch was haben wir Europäer uns für diese politische Einigung nicht alles eingehandelt! Wer den Frieden und Europa liebt, braucht deshalb nicht auch die europäischen Institutionen zu lieben. Das supranationale Gebilde der Europäischen Gemeinschaft war schon 1992 von jenen unsympathischen Zügen geprägt, die ich heute erst recht an der mehrfach erweiterten und vertieften Europäischen Union kritisiere: Zentralisierung (Aushöhlung nationaler Souveränität und Subsidiarität), Demokratiedefizit (Entfremdung von den Bürgern), «Harmonisierung» (Unterbindung des Systemwettbewerbs), Bürokratie (Wachstum des Interventionismus statt schlankem Staat). Die unbestrittenen Wohltaten der europäischen Wettbewerbspolitik ändern an diesem negativen Befund nichts. Für die Mitglieder im Euro-Raum kommt noch jene Zwangsjacke erschwerend hinzu, die sich Europa 1998 bzw. 2002 – in der Hoffnung auf eine weitere politische Einigung – mit der gemeinsamen Währung, dem Euro, angelegt hat. Wie unangemessen der Euro für Länder ist, deren Konvergenz nicht mehr gross vorankommt, haben wir in der jüngsten Vergangenheit beobachten können. Ich bin nicht davon überzeugt, dass es für die Schweiz sinnvoll oder gar unvermeidbar sei, dem europäischen Staatenverbund institutionell noch näher zu rücken. Doch es steht mir nicht zu, über die Interessen der Schweiz ein Urteil zu fällen. Wenn ich jedoch einen Wunsch frei hätte, dann wäre meine Antwort klar, dann beschritte die Schweiz weiter den eingeschlagenen Weg. Dann verweigerte sie sich jener ungesunden Abstraktheit und Eigengesetzlichkeit der europäischen Politik, die die völlig entfremdeten EU-Bürger mittlerweile schon als höhere Gewalt hinzunehmen gelernt haben. Dann hielte sie den Drohungen aus Brüssel stand und wehrte so viele Versuche wie möglich ab, ihr einen Automatismus aufzudrängen. Dann bestünde sie auf ihrer Freiheit, jede einzelne Vorschrift, die sie aus Europa übernimmt, genau zu prüfen und gegebenenfalls abzulehnen, auch 33


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galerie Haus Konstruktiv

Fritz Glarner (1899–1972), «Rockefeller Dining Room», Rauminstallation aus Wand- und Deckengemälden, Öl auf Leinwand auf Holz, 1963/64, Sammlung Haus Konstruktiv (Foto: C. Minjolle)

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wenn sie sich damit den billigen Vorwurf der Ro- – aber dabei wird es kaum bleiben. Gerade ansinenpickerei einhandelt. gesichts dieses Trends brauchen wir die Schweiz, Vor allem aber: die Schweiz möge der EU die aussen vor bleibt und uns deutlich demonfernbleiben! Ich hoffe das inständig als Bürgerin striert, dass Zentralisierung und Gleichmacherei der EU. Wir EU-Bürger brauchen sie als Nicht- nicht der Weisheit letzter Schluss sind. Dass es mitglied, die kleine, aber in ihrer politischen auch anders geht. Besser. Tradition ganz grosse Schweiz. Wir schulden der Ich wünsche mir, dass die Schweiz sich ihre KulSchweiz Dank in ihrer Rolle als politisches und tur bewahrt, mit der sie uns ein Vorbild ist. Als kulturelles Gegenmodell, das der Europäischen Land, das dezentral, wettbewerblich und wahrhaft Union den Spiegel vorhält. Die sich aufreibt in föderal «von unten» aufgebaut ist. Als ein Land, Einzelverhandlungen und uns immer wieder vor das uns immer wieder mit innovativen politischen Augen führt, dass man nicht alles, was aus Brüssel Ideen und institutionellen Kreationen überrascht, oder Strassburg kommt, für richtig halten muss von denen wir uns inspirieren lassen, vom Ge– und dass nicht alle Kompromisse akzeptabel sundheitswesen bis hin zu den Gemeindefinanzen sind, die die deutsche Regierung im Rahmen und der Schuldenbremse. Als Land der direkten diverser Kuhhändel eingeht. Man denke nur an Demokratie, in der das Volk sich die Entscheidie Gleichstellungsrichtlinie oder zuletzt an die dungsgewalt nicht aus der Hand nehmen lässt, arg klein ausgefallene Reform des europäischen auch wenn es deshalb politisch als behäbig gilt. Als Stabilitäts- und Wachstumspakts. ein Land, in dem nicht erst ein Verfassungsgericht Die Schweiz mag es leid sein, das kleine gal- die Regierung an den Souverän erinnern muss – lische Dorf zu spielen – aber wir können froh wie es in Deutschland mit dem Lissabon-Urteil sein, sie als Messlatte und Symbol einer mögli- aus Karlsruhe geschehen ist. Als Land, dessen Bürger mit einem allzustarken Staat wenig anfangen können, die vielmehr eine offenbar angeborene Scheu vor Bevormundung und Unfreiheit eint. Die Schweiz möge der EU fernbleiben! Ich hoffe Als ein Land, das Freiheitsrechte und Privatsphädas inständig als Bürgerin der EU. re der Menschen achtet und pflegt – ein Land, wo eine Politik keine Chance hat, die vom «gläsernen Wir EU-Bürger brauchen sie als Nichtmitglied. Bürger» träumt. Als Land, das sich immerhin noch gegen die grossen Nachbarn wehrt, wenn ihm das Bankgeheimnis genommen werden soll. Das sich chen Alternative vor Augen haben zu dürfen. Uns hinreichend dem automatischen InformationsausEU-Bürgern ist nicht gedient, wenn die Schweiz tausch versperrt, bis die bessere Idee einer AbgelMitglied Nr. 28 würde und der Union zwar Geld tungssteuer eine Chance bekommt. in die Kassen spülte, dabei aber nicht den Hauch Angesichts des gegenwärtigen Zustands der einer Chance hätte, sich dem dominanten Tan- EU mag man sich fragen, wer überhaupt diesem dem Deutschland-Frankreich entgegenzustellen Verbund beitreten sollte. Für manche Staaten und die Hypertrophie Europas einzudämmen. zieht noch immer das politische Argument; vor Denn dafür ist die Schweiz zu klein, und die allem für Staaten des ehemaligen Ostblocks ist Union rückt aus schlichten «Effizienzgründen» die Hinwendung zu Europa weiterhin ein Signal ohnehin vom Konsens als Legitimationsprinzip an Moskau. Zudem hilft die EU den Beitrittskanihrer Entscheidungen ab. didaten, marktwirtschaftliche Reformen durch Europa ist derzeit in einem beklagenswerten zusetzen – der Sündenbock sitzt dann in Brüssel, Zustand. Durch Erosion des Stabilitätspakts ha- nicht daheim. Die Schweiz indes hat derlei Spieben die Mitglieder der Währungsunion fast ei- gelfechtereien in den meisten Politikfeldern nicht nen Totalschaden an ihrem währungspolitischen nötig. Sowohl im Index der wirtschaftlichen FreiKaren Horn, Turmbau zu Babel, dem Euro, verursacht. Die heit des Fraser Institute als auch im Index der geboren 1966, ist promovierte Ökonomin Katastrophe wurde nur mit viel Geld abgebo- Wettbewerbsfähigkeit des IMD Lausanne steht und leitet das gen. Vor diesem Hintergrund begibt sich die EU sie seit Jahren auf dem vierten Platz. Die EU hinHauptstadtbüro des nunmehr auf den Weg zu einer gemeinsamen gegen hat argen Schiffbruch erlitten mit ihrem Instituts der deutschen Wirtschaft in Berlin. Wirtschaftsregierung, die sie freilich nicht econo- Lissabon-Ziel, bis 2010 zum wettbewerbsfähigSie ist Trägerin des mic government, sondern beschönigend economic sten und dynamischsten wissensgestützten WirtLudwig-Erhardgovernance nennt. Bisher geht es in diesem Rah- schaftsraum der Welt zu werden. Kein Wunder. Preises für Wirtschaftsmen nur um Konsultationen und Empfehlungen publizistik. 36

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Der Schweiz drohen Prügel von der EU – wegen Bestnoten. Was tun? Weiter büffeln. Und sich profilieren: als globale Plattform oder als clever verzahnter Sonderfall.

7 Der Klassenbeste denkt nach Konrad Hummler

Westeuropa zeichnet sich seit über 60 Jahren, der ganz grosse Rest des Alten Kontinents seit nunmehr immerhin 20 Jahren durch eine – geschichtlich gesehen – selten lange und relativ unproblematische Periode friedlichen Einvernehmens aus. Den Hintergrund dazu bildete gewiss der Schulterschluss zwischen Frankreich und Deutschland, und selbst Skeptiker der Europäischen Union werden zugeben, dass diese Organisation ein wesentliches Teil zu dieser für alle Länder Europas äusserst günstigen Situation beigetragen hat. In der europäischen Normalität war und ist der Gradualismus, das heisst eine besonders gemächliche Art der Fortbewegung, sozusagen institutionell eingebaut. Das lange Zeit vorherrschende Einstimmigkeitsprinzip verlangte viel aufwendige Taktiererei im Hintergrund, dann und wann eine starke Hand der unter den Gleichen nicht ganz gleichen Führungsnationen Europas. Der Preis für die absichtlich mit so viel Unbestimmtheit versehene governance war und ist eine Vormachtstellung von Technokraten in Brüssel, mit deutlich erkennbarem elitärem Machbarkeitsdenken einerseits, andrerseits und als Folge davon Bürgerferne, niedrige Akzeptanz im Volk und ein Demokratiedefizit, das zunehmend auch auf die Mitgliedsländer ausstrahlt. Denn längst ist klar geworden, dass es sich lohnt, das, was man auf demokratischem Weg im Heimatland nicht zu bekommen vermag, durch intensives Lobbyie-

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ren in Brüssel zu erstreiten. Brüssel ist sozusagen der hub für Begehrlichkeiten aller Art geworden. Technokraten sind besonders empfänglich dafür, weil sie die Nähe von Ursache und Wirkung der generellen Regel ohne spezifische Zwecksetzung vorziehen. Echte Sorgen bereitet aber nicht, was mit viel technokratischem Aufwand geschieht, sondern das, was vermieden, verschwiegen, schöngeredet oder vertuscht wird. Das Problem Europas besteht in der Setzung von Anreizen zu unsolidarischer, kurzfristig orientierter Nutzenoptimierung durch die Mitgliedsländer und im Mangel an Anreizen zur Wahrnehmung von Eigenverantwortung; das vielgepriesene Subsidiaritätsprinzip ist Illusion geblieben. Die Finanzierungsprobleme Griechenlands für seine Schulden überraschen niemanden mit einigermassen intaktem ökonomischem Sachverstand. Der Euro war von Anbeginn ein technokratisches Konstrukt, wobei idealtypisch verstandene und konstruierte Solidarität nicht von Bestand sein kann. Die classe politique Europas hatte den Euro als zusätzliche Klammer für die innere Kohärenz und als kostenvermindernden Treiber für den Binnenmarkt erdacht. Äusseren Druck gab es nicht. Der Warschauer Pakt war längst schon Geschichte. Innere Bindung? Die Flächenexpansion der Europäischen Union wurde immer mehr zur Flucht nach vorne, um den vielen Fragezeichen der inneren governance auszuweichen. Im Wissen um die Defizite innerer Kohärenz errichtete man mit «Maastricht» ein Regelkorsett, das aber mehr Schein als Sein bedeutete, weil Regeln ohne Sanktionsmechanismus letztlich sinnlos sind. So liess man bekanntermassen zu, dass neue Mitglieder – wie zum Beispiel Griechenland – nicht nur beim Eintritt in die Währungsunion gegen die Regeln verstiessen, sondern darüber hinaus diesen Verstoss über die ganze Zeit fortsetzen konnten. Der Eintritt in die Solidargemeinschaft Euro wurde zudem durch unrealistische Konversionsbedingungen versüsst. Danach genossen die marginalen Mitgliedsländer Finanzierungsbedingungen an den Kapitalmärkten, wie sie zuvor nur den solidesten Ländern wie Deutschland oder Holland offenstanden. Der Irrwitz dieser impliziten Solidaritätsleistung lag (und liegt noch immer) im Anreiz für schwachbrüstige Länder, noch mehr Schulden anzuhäufen. Ein kohärentes und hinreichendes Regelwerk würde als ultimative Sanktion auch den Ausschluss aus der Solidargemeinschaft umfassen. Und die Prozesse für einen solchen Ausschluss müssten – für den oder die 37


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Auszuschliessenden wie auch für den verbleibenden Rest – kristallklar formuliert sein. Weshalb? Weil alles andere Unsicherheiten erzeugt, die für den Kapitalmarkt inakzeptabel sind. Die heutige Perzeption im Markt schwankt zwischen «Rettung für alle inbegriffen» mit entsprechender Belastung der Gesamtheit und «Rettung völlig ausgeschlossen» mit daraus resultierenden Risikoprämien für marginale Mitgliedsländer. Das ist unhaltbar. Es ist nicht ohne Grund, dass der Euro auch zehn Jahre nach seiner Einführung weit davon entfernt ist, eine ernstzunehmende Weltreservewährung zu werden. Die EU könnte unter dem Druck der Ereignisse, in Abweichung von ihrem normalen Modus, vom Gradualismus zum hektischen Aktivismus übergehen. Die ersten Anzeichen sind bereits sichtbar. So spricht man in Deutschland von einem Europäischen Währungsfonds (EWF), in Frankreich von der Notwendigkeit einer europäischen Wirtschaftsregierung. Anstatt sich auf die Vielfalt Europas und die dezentrale Wahr-

Die Erfahrung zeigt, dass die Situation des Klassenbesten prekär wird, wenn neben Intelligenz und Fleiss auch Muskelkraft und die Drohung mit Gewalt zum Thema werden kann. nehmung von Verantwortung zu besinnen und falsche Solidarität durch föderale Subsidiarität zu ersetzen, sieht alles nach einem Übergang von der gespielten Idylle zur echten Zwangsgemeinschaft aus. Man will den Euro und die EU in der vorliegenden Form um jeden Preis retten und den Schaden des breitangelegten und fortgesetzten Missbrauchs begrenzen. Die EU verkommt zu einer Transferunion mit Geber- und Nehmernationen. Die offensichtliche Not vieler Bürger Europas, zugleich in einem nicht sonderlich erfreulichen Normalzustand und unter dem Damoklesschwert eines Strukturbruchs in Richtung einer EUZwangsgemeinschaft oder eines Zerfalls leben zu müssen, könnte – sehr oberflächlich gesehen – Anlass zur Freude in der Schweiz sein. Denn wir behaupten uns unter den Ländern Europas als Klassenbeste. Die Erfahrung zeigt allerdings, dass die Situation des Klassenbesten spätestens dann prekär wird, wenn neben Intelligenz und Fleiss auch Muskelkraft und die offene oder versteckte 38

Drohung mit Gewalt zum Thema werden kann. Die Schweiz befand sich seit je tendenziell in dieser wenig komfortablen Lage; durch die Zerfallserscheinungen im europäischen Umfeld und den erstaunlichen helvetischen Wirtschaftserfolg hat sich die Angelegenheit nun allerdings zugespitzt. Angesichts der geschilderten Situation Europas muss sich die Schweiz als quasi Klassenbester unter den Ländern Europas strategische Optionen zurechtlegen. Denn das Alpenland ist in hohem Masse abhängig von der Umgebung. Ein wesentlicher Teil der Infrastruktur wird gemeinsam betrieben und genutzt, es herrschen grosse Interdependenzen, was den Handel mit Gütern und die Erbringung von Dienstleistungen betrifft, schliesslich ist man auch im kleinen Grenzverkehr so eng verzahnt, dass oft kaum auszumachen ist, auf welcher Seite der Grenze man sich gerade befindet. Diese (gegenseitige) Abhängigkeit ist auf den kooperativen Spielmodus angewiesen; Machtausübung würde das fragile Gebilde rasch zum Einsturz bringen. Nun, welche Möglichkeiten stehen dem schmächtigen, etwas bleichgesichtigen Klassenersten zur Verfügung, wenn er nicht Gefahr laufen will, eines Tages in einer dunklen Ecke des Schulwegs zusammengeschlagen zu werden? Ich sehe etwa die folgenden Optionen: Erste Option: die «Grosse-Bruder-Strategie» Die Drohung mit einer höheren Instanz ist nützlich – die Schweiz hat namentlich während des Kalten Kriegs im Sinne eines «don’t move» extensiv davon gezehrt. Sie setzt allerdings voraus, dass es einen solchen Bruder auch gibt und dass er, wenigstens theoretisch, auch kommen könnte. In der gegenwärtigen Situation steht diese Strategievariante für die Schweiz nicht zur Verfügung, zumal anlässlich des G20-Gipfels von vorletztem Jahr eine gewisse Gemeinsamkeit der Interessenwahrnehmung dies- und jenseits des Atlantiks festgelegt wurde. Zweite Option: die «Join-Them-Strategie» Der Vollbeitritt zur EU (im vermutlich ungünstigsten Zeitpunkt) würde eine völlige Änderung des bisherigen Lebensstils bedeuten, zum Beispiel die direkte Demokratie kosten, die ausgesprochen starken Volksrechte, den landesinternen Steuerwettbewerb, die eigene Währung und so weiter. Der Wohlstandsverlust wäre angesichts des grossen Gefälles programmiert, insbesondere wenn Europa infolge Zwangsgemeinschaft zu einer Art Aussenwirtschaftsfestung verkommt.

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Dritte Option: «die Schule wechseln» nach Ausformung, eher auf die strategische OpDies findet bei unglücklichen Klassenersten oft tion Nummer drei, die dezidierte Globalisierung, und mit Erfolg statt, ist für ein Land inmitten oder auf die vierte Variante, die intelligenteeines Kontinents insgesamt aber ausgeschlossen. re Einbettung in den europäischen Kontinent. Gewiss, die Aussenhandelsstruktur der Schweiz Was letzteres heissen könnte, zeigen die jüngst hat sich in den letzten Jahren stark den asiatischen abgeschlossenen Vereinbarungen zwischen der Ländern zugewandt. Die Schweiz ist insofern ei- Schweiz und Deutschland respektive Grossbrine der globalsten Nationen der Welt. Doch un- tannien über eine Abgeltungssteuer. Man vergeachtet der Virtualisierung der wirtschaftlichen handelt nicht nur mit Brüssel, sondern auch und Vorgänge über das Internet müssen wir uns auch vor allem mit den Hauptstädten gewichtiger Mitfür die fernere Zukunft wohl oder übel damit ab- gliedsländer. Solches bedingt einen hohen Kenntfinden, dass wir in Europa sind und bleiben. nisstand über den Spielraum, der innerhalb Europas zur Verfügung steht, und entspricht insofern Vierte Option: «intelligente Verzahnung» einer Art «hohen Schule» von Aussenpolitik und Entspricht dem Versuch des Klassenersten, seine Diplomatie. komplementären Vorteile ins Spiel zu bringen. Ob eher globalisierte Plattform oder clever Stellt aber auch eine sehr aufwendige Methode verzahnter europäischer Sonderfall: als City-State dar, denn man muss dauernd darauf bedacht sein, hätte die Schweiz die Chance, in einer Balance einerseits allen genug zu «schenken», ohne ihnen zwischen Selbstbehauptung und Kooperation zu anderseits einen Grund zu geben, sich mit an- einer Zukunftsvision zu gelangen, für die sich die deren zu verbinden und mehr zu erpressen. Die Mehrheit unserer Landsleute erwärmen und die Methode setzt mithin voraus, dass alle unnöti- nächste Generation sich begeistern könnte. gen Abhängigkeiten des Klassenersten laufend eliminiert werden, beziehungsweise dass der Unangreifbarkeit des eigenen Verhaltens höchste Priorität zukommt. Der Klassenprimus sollte nicht um seine Kollegen froh sein müssen, er darf nicht deren Sklave werden. Am besten gestellt ist er, wenn er notfalls doch noch von Strategie drei – «Schule wechseln» – Gebrauch machen könnte. Die Schweiz als City State? Wenn es ein echtes Problem mit dem Bilateralismus gibt (es könnte ja auch sein, dass es von Aktivisten aller Art lediglich herbeigeredet wäre…), dann das folgende: der Bilateralismus entspringt der strategischen Option Nummer eins, der Abstützung auf die teils sichtbare, teils unsichtbare schützende Hand jenseits des Atlantiks. Getragen wird er, seitens wesentlicher Teile der Bundesverwaltung und namentlich der Diplomatie, von der Sinngebung durch Strategie Nummer zwei, dem Beitritt zur EU, ist also lediglich Mittel zum Zweck und insofern keine echte strategische Option. Das Misstrauen, das die hiesige EU-Debatte kennzeichnet, gründet in dieser Ambivalenz des bilateralen Wegs. Unter den gegebenen Umständen drohender Strukturbrüche in Europa erweist sich der bilaterale Weg zwar nach wie vor als gangbar, aber nicht als hinreichend, um als valable Strategie längerfristig Bestand haben zu können. Die vor ein paar Jahren ins Spiel gebrachte Option «Schweiz als City-State» stützt sich, je

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Konrad Hummler, geboren 1953, ist promovierter Jurist und geschäftsführender und unbeschränkt haftender Teilhaber von Wegelin & Co. Privatbankiers.

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Der EWR bietet zweifellos Vorteile. Aber warum nicht einfach abwarten, mit der EU immer wieder neu verhandeln und sich arrangieren? Das ist nicht elegant. Aber wirksam.

8 EWR oder nicht, das ist hier die Frage Dieter Freiburghaus

Diesen Sommer fand in der Schweiz eine Europadiskussion statt, die den Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) wieder an die Oberfläche spülte. Der Grund dafür war nicht, dass der EWR an sich wünschbar erschien, sondern dass er einen Ausweg bieten könnte, falls sich der bilaterale Weg für die Schweiz als nicht mehr gangbar erwiese, ein Beitritt zur EU jedoch weiterhin vom Volk abgelehnt würde. Der EWR war in den Jahren 1989 bis 1991 zwischen der EFTA und der EG ausgehandelt worden, um die wirtschaftlichen Diskriminierungen zu vermeiden, die sich aus der Verwirklichung des Binnenmarktprogramms ergaben. Die EFTA bestand damals aus der Schweiz, Österreich, Liechtenstein, Finnland, Schweden, Norwegen und Island. Der Weg dieser Verhandlungen war mit Enttäuschungen gepflastert, denn von «gemeinsamen Entscheidungs- und Verwaltungsorganen», die Jacques Delors, der Präsident der EG-Kommission, anfänglich ins Spiel gebracht hatte, war bald nicht mehr die Rede. Die EG verlangte eine weitgehend automatische Übernahme ihres Acquis, also ihres Rechtsbestandes. Den EFTA-Partnern wurde aber keine Mitbestimmung, sondern nur ein decision shaping, also eine Mitsprache, eingeräumt. Ausserdem musste die EFTA mit einer Stimme sprechen, ein eigenes Gericht und eine Überwachungsbehörde einrichten, und sie erhielt nur ein kollektives opt-out im Falle der Nichtübernahme neuen EG-Rechts. Die wirtschaftlichen Vorteile schienen jedoch die institutionellen Mängel aufzuwiegen, und daher unterbreiteten alle EFTA-Regierungen das Abkommen ihren Parlamenten. 40

Doch zunehmend sahen die EFTA-Länder im EWR nur noch eine Übergangslösung, eine Vorbereitung auf einen EU-Beitritt, und als die grosse Wende in Mittel- und Osteuropa kam, sandte eines nach dem andern ein entsprechendes Gesuch nach Brüssel. Von dieser Bewegung liess sich auch der schweizerische Bundesrat anstecken, der bisher einen Beitritt klar abgelehnt hatte. Dieses Herumwerfen des europapolitischen Steuerruders trug mit dazu bei, dass am 6. Dezember 1992 der EWR in der Abstimmung scheiterte – knapp beim Volk, kräftig bei den Ständen. Damit war die Schweiz nun das einzige EFTA-Land, das weder der EU beitrat noch im EWR mitmachte. Um die wirtschaftlichen Nachteile dieses Alleingangs zu mildern, setzte der Bundesrat auf sektorielle, bilaterale Abkommen. Die diesbezüglichen Verhandlungen verliefen zuerst harzig, gewannen dann jedoch an Fahrt, und inzwischen hat die Schweiz das meiste von dem erhalten, was sie braucht. Die EU übrigens auch. «Bewährte Bilaterale» wurde so zum Zauberwort der helvetischen Europapolitik, und in mehreren Abstimmungen hat das Volk diese Strategie legitimiert. Doch die EU signalisiert nun seit längerem, dass ihr diese schweizerische Variante der Integration nur teilweise gefällt. Das System der über einhundertzwanzig Abkommen ist unübersichtlich und schwerfällig in der Handhabung. Da die meisten Verträge statisch sind – also keine automatische Übernahme neuen EU-Rechts beinhalten –, drohen, wenn die Schweiz sich nicht selbst anpasst, die beiden Rechtsräume auseinanderzudriften, was die Funktionsfähigkeit des gemeinsamen Wirtschaftsraums gefährdet. Im Falle von Divergenzen gibt es keine gerichtlichen, sondern nur diplomatische Lösungsmöglichkeiten. Seit 2008 weist die EU – Ratspräsidentschaft, Parlament und Kommission – immer deutlicher auf diese Mängel hin. Ihre Unzufriedenheit zeigt sich insbesondere darin, dass verschiedene laufende Verhandlungen mit der Schweiz seit zwei Jahren stagnieren – darunter wichtige Bereiche wie Strommarkt, Landwirtschaft und Chemikaliensicherheit (REACH). Auch die Schweiz sieht die Mängel des komplexen Vertragssystems, und der Bundesrat spricht seit geraumer Zeit von der Wünschbarkeit eines Rahmenabkommens. Doch er hat dieses bisher nicht konkretisiert, wohlwissend, dass die EU dann ihre Forderung nach automatischer Rechtsübernahme stellen dürfte – mindestens für neue, wohl aber auch für bestehende Abkommen. Das aber will die Schweiz

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um fast jeden Preis vermeiden, denn sie sieht darin eine Verletzung ihrer Souveränität. Dass ihre Souveränität durch den autonomen und den vertraglichen Nachvollzug von EU-Recht längst eingeschränkt ist, braucht man ja nicht an die grosse Glocke zu hängen! Im vergangenen Sommer nun wurde Bundespräsidentin Doris Leuthard in Brüssel mit den EU-Forderungen erneut konfrontiert, und sie zeigte sich damit einverstanden, durch eine gemeinsame Arbeitsgruppe die institutionellen Fragen klären zu lassen. Dabei geht es insbesondere um die Rechtsübernahme, die Überwachung der Umsetzung und die Rechtsprechung. Dieser Besuch fand ein breites Medienecho und wurde zum Anlass, um in der Schweiz einmal mehr über Alternativen zum Bilateralismus zu diskutieren. Dass dabei der EWR wieder in den Vordergrund rückte, hat damit zu tun, dass er genau über die institutionelle Ausstattung verfügt, nach der die Arbeitsgruppe suchen soll. Ausserdem muss man ihn nicht neu erfinden, er besteht seit sechzehn Jahren und hat sich bewährt. Aktuell gehören ihm Norwegen, Island und Liechtenstein an. Materiell ist der EWR mit dem inzwischen erreichten bilateralen Acquis der Schweiz weitgehend identisch. Er enthält allerdings ein umfassendes Dienstleistungsabkommen, das von Teilen der Schweizer Wirtschaft gewünscht, von den Banken jedoch bisher abgelehnt wird. Sie befürchten, der EU-Bankenregulierung unterstellt zu werden. Probleme ergäben sich wohl auch beim Landtransport, wo die Schweiz versuchen müsste, ihre Errungenschaften des gegenwärtigen Landverkehrsabkommens (Schwerverkehrsabgabe, diverse Verkehrsbeschränkungen) einzubringen. Gegenüber einem Beitritt aber hätte der EWR für die Schweiz grosse Vorzüge, denn er enthält weder die Handels- noch die Agrarpolitik, er ist weder eine Währungsunion noch berührt er die Aussen- und Sicherheitspolitik. Die Kohäsionszahlungen lägen zwar wohl über den heutigen Beiträgen für die Oststaaten, jedoch weit unter den bei einem Beitritt fälligen Überweisungen. Der grosse Nachteil gegenüber einem Beitritt aber ist, dass die EWR-Staaten in Brüssel zwar mitberaten, aber nicht mitentscheiden können. Es gibt also, sollte der Druck der EU weiter zunehmen, einige gute Argumente für den EWR, und man hätte erwarten können, dass er eingehend diskutiert und analysiert würde. Doch dies ist nicht der Fall. Im neusten Europabericht des Bundesrates vom 17. September 2010 wird der EWR kurz erwähnt, doch eine umfassende Wür-

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digung der Vor- und Nachteile gegenüber dem gegenwärtigen Weg sucht man vergebens. Stattdessen wird ein EWR-ähnlicher institutioneller Rahmen ins Spiel gebracht, der das Wunschmenü der Schweiz enthält. Einige Regeln könnten demnach für alle Abkommen gelten, andere möchte man differenzieren. Der Einfluss auf die Entscheidungen sollte optimiert werden, doch einen Automatismus der Rechtsübernahme lehnt man ab. Man kann natürlich solche Wünsche äussern, doch es ist wenig wahrscheinlich, dass die EU bereit sein wird, der Schweiz günstigere institutionelle Regelungen zu gewähren als den EWR-Mitgliedern. Es ist daran zu erinnern, dass die institutionellen Lösungen des EWR dem damaligen hartnäckigen Verhandeln von Staatssekretär Franz Blankart zu verdanken sind, der immer wieder darauf verwiesen hatte, dass die EU Dritten nicht zugestehen könne, was sie den Mitgliedstaaten verweigere. Obwohl also der EWR eine Alternative böte, setzen sich der Bundesrat, der Dachverband der Wirtschaft, Economiesuisse, und die meisten

Economiesuisse will keine Debatte, denn die Wirtschaft lebt gut mit den bisherigen Abkommen, und die institutionellen Probleme sind ihr egal.

Parteien für die Weiterführung des Bilateralismus ein. Wie ist das zu erklären? Einmal spielt zweifellos das Wahljahr eine Rolle, denn im Oktober 2011 wird der Nationalrat neu bestellt. Da die meisten Parteien europapolitisch gespalten sind, können sie keine Europadebatte brauchen. Sie befürchten, nur die SVP mit ihrer professionellen, gutausgestatteten Anti-EU-Propagandamaschinerie würde davon profitieren. Allerdings hat die sorgfältige Vermeidung der Europadebatte bei den beiden vorangegangenen nationalen Wahlen der FDP und der CVP eher geschadet als genützt. Dass der Bundesrat im Hinblick auf die gemeinsame Arbeitsgruppe EU–Schweiz keine Debatte wünscht, versteht sich, denn letztere könnte vom Gegenüber für eine Divide-et-impera-Strategie genutzt werden. Ausserdem ist für die Regierung seit 1992 Vorsicht die Mutter der europäischen Porzellankiste! Auch Economiesuisse will keine Debatte, denn die Wirtschaft lebt gut mit den bisherigen Abkommen, und die institutionellen Probleme sind ihr ziemlich egal. Zudem hat sie 41


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viel Geld in die Kampagne «bewährte Bilatera- nicht zur Körner streuenden Bäuerin laufen, weil le» gesteckt, und die nächste Volksabstimmung sie ihm eines Tages den Hals umdrehen wird? naht: gegen die Erweiterung der Freizügigkeit Für die wesentlichen politischen Kräfte in der auf Kroatien wird man das Referendum ergrei- Schweiz gibt es also keinen Anlass, vom bisherifen können. Da würde eine ernsthafte Diskussion gen Weg abzuweichen. Doch wie steht es mit der über den EWR nur stören. Parteien, Bundesrat EU? Wird sie den Druck auf die Schweiz erhöund Economiesuisse also käme eine Europadi- hen? Setzt sie demnächst dem Bilateralismus ein skussion ungelegen, ergo findet sie nicht statt, Ende? Und heisst es dann: EWR oder Beitritt? selbst wenn einige Medien und Kommentatoren Auch diesbezüglich kann sich die Schweiz auf Erweiterhin mit einer gewissen Insistenz auf die of- fahrungen stützen, denn bisher liessen sich fast fenen Flanken des Bilateralismus hinweisen. alle Unstimmigkeiten und Schwierigkeiten im Doch geht es beim Festhalten am bisherigen Verhältnis zu Brüssel auf diplomatischem Weg Weg nur um Taktik und politischen Kalkül? lösen. Die EU hat ein starkes Interesse an guten Nein, es gibt dafür auch tieferliegende Gründe. Beziehungen zu einem ihrer wichtigsten WirtDie Schweiz liebt Sonderwege und Sonderlösun- schaftspartner. Betrachtet man ihr alltägliches gen, und diese kann sie am besten mittels bi- problemloses Funktionieren, sind die Mängel der lateraler Abkommen durchsetzen. Darin hat sie Abkommen gering. Angesichts der institutionellange Erfahrung. Sie spielt ihre Stärken geschickt len und politischen Schwierigkeiten der EU, sich aus, holt sich hier einen kleinen Vorteil und auf einen Standpunkt zu einigen, ist es daher unmacht da eine geringe Konzession. Sie profitiert wahrscheinlich, dass Brüssel die Schweiz gezielt abwechslungsweise davon, dass sie einerseits ein und massiv unter Druck setzen wird. Ihre knapkleiner Staat, anderseits eine bedeutende Wirt- pen Einigungsressourcen muss die EU auf ihre drängendsten Probleme konzentrieren, und dazu gehören die Differenzen mit der Schweiz nicht – ausser vielleicht bei Steuerfragen. Wenn Bern Dass die EU ähnlich funktioniert also da ein Stück weit einlenkt, wo der Druck ein wie die Schweiz, kommt unserem Land zweifellos gewisses Ausmass erreicht, wenn man rechtzeitig Konzessionsbereitschaft signalisiert und wenn entgegen! Man wird sich weiterhin arrangieren. man bei den Kohäsionszahlungen nicht zu knauserig ist oder sonst kleine Geschenke macht, dann ist eine Eskalation sehr unwahrscheinlich. Und schaftsmacht ist. Zusammen mit andern Staa- wie gross ist das Problem der stagnierenden Verten verhandeln zu müssen – wie damals beim handlungen? Nun, die Landwirtschaft und der EWR –, behagt der Schweiz generell nicht, und Strommarkt sind in der Schweiz selbst umstritten, mit Norwegen und Island im besonderen verbin- und rasche Fortschritte sind – wie das Beispiel den sie keine engen Bande. Ausserdem hat sich des Zollsicherheitsabkommens zeigt – immer der Bilateralismus gerade im Verhältnis zur EU noch möglich, wenn beiderseits ein starkes Interbewährt, denn es gibt ihn nicht erst seit 1999. esse da ist. Die Schweiz hatte schon in den fünfziger Jah- Eine solche Strategie des Abwartens, des Verren solche Abkommen abgeschlossen – damals meidens von Grundsatzdiskussionen, des zähen noch mit der Montanunion, und 1972 hat sie Verhandelns und des Ausnutzens der Schwächen ihre Beziehungen zur EWG mit dem Freihan- des Gegenübers ist weder elegant noch besonders delsabkommen auf eine sichere Basis gestellt. edel. Doch Eleganz und Edelmut sind keine zenÖfter schon wurde das Ende dieser Methode tralen Kategorien von Politik, und grosse Würfe Dieter vorausgesagt, doch dazu ist es bisher nicht ge- und Sprünge sind Helvetiens Sache nicht. Die Freiburghaus, kommen. Weltweit erfreut sich der Bilateralis- innere Komplexität dieses Landes lässt nur allgeboren 1943, ist emeritierter Professor für mus neuerdings sogar wieder grosser Beliebtheit. mähliche, auf Kompromissen beruhende VeränPolitikwissenschaft des Kurz, kommen Sonderlösungen und Bewährung derungen zu. Insofern ist die Europapolitik eine Insitut de hautes études zusammen, dann übt dies auf Schweizer eine fast Projektion der internen schweizerischen politien administration magische Anziehungskraft aus. Dass Bewährung schen Kultur nach aussen. Dass die EU aus ähnpublique in Lausanne. Zuletzt erschien von ihm in der Vergangenheit keine Garantie für Erfolg lichen Gründen ähnlich funktioniert, kommt un«Königsweg oder in der Zukunft ist, hat sich zwar herumgespro- serem Land dabei zweifellos entgegen! Man wird Sackgasse. Sechzig Jahre chen, doch sind solche Garantien generell eben sich weiterhin arrangieren. schweizerische Europapolitik» (2009). kaum zu erhalten. Sollte das Huhn nur deshalb 42

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9 Warum konstruieren, was schon existiert? Er war und ist der Königsweg. Warum die Skepsis? Der EWR löst die Probleme der bilateralen Abkommen. Carl Baudenbacher

Die Beziehungen der Schweiz zur EU werden seit 1993 sektoriell und bilateral gestaltet. Der Bilateralismus, der nach dem Nein des Schweizer Stimmvolks zum EWR-Beitritt aus der Not geboren wurde, wird seither zum schweizerischen Königsweg hochstilisiert. Man liess sich die Freude auch nicht verderben, als der Rat der EU im Dezember 2008 in einem Papier die Dynamisierung der bilateralen Abkommen forderte und auf das Fehlen eines Justizmechanismus hinwies. Nur langsam kam, fast zwanzig Jahre nach dem EWR-Nein, eine neue Europadebatte zustande. Allerdings ist den meisten klar, dass ein EU-Beitritt politisch ausser Reichweite liegt. Am 18. Februar 2010 reichte CVP-Nationalrätin Kathy Riklin eine Interpellation ein, die in Richtung EWR zielte. Der Thinktank Avenir Suisse bezeichnete den EWR in einer im Juli 2010 publizierten Studie als dem Bilateralismus überlegen. Der ehemalige Schweizer EWR-Chefunterhändler Franz Blankart hatte den EWR bereits ein Jahr zuvor als goldenen Mittelweg bezeichnet, und mehrere Parteipräsidenten nannten ihn eine Option. Verschiedene Politiker, die dem EWR im Jahre 1992 noch kritisch oder ablehnend gegenübergestanden hatten, gaben sich nun geläutert. Man könnte sie in Anlehnung an einen bekannten italienischen Sprachgebrauch als «EWR-Pentiti» bezeichnen. All dies und die Tatsache, dass sowohl EU-Ratspräsident Herman van Rompuy als auch das Europäische Parlament unlängst das Ende des bisher praktizierten Bilateralismus verkündet haben, sind Anlass genug, sich gründlich mit dem EWR auseinanderzusetzen. Dass eine EWR-Mitgliedschaft beim diskriminierungsfreien Marktzugang, bei der Rechts-

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sicherheit und beim Schutz der Rechte von Bürgern und Unternehmen klare Vorteile brächte, wird auch von EWR-kritischen Kreisen eingeräumt. Gegen den EWR werden aber, soweit ersichtlich, drei Argumente vorgebracht. Erstens: das Mitspracherecht der EFTA-Staaten bei der Schaffung neuen Rechts sei unter Souveränitätsgesichtspunkten unbefriedigend. Zweitens: der EFTA-Pfeiler sei so klein geworden, dass eine Mitgliedschaft für die Schweiz nicht mehr interessant sei. Drittens: die gegenwärtigen EWR/EFTA-Staaten seien im EWR nicht glücklich. Doch wie überzeugend sind diese Behauptungen? Beginnen wir mit dem ersten Argument. Bereits im Vorfeld der Abstimmung vom 6. Dezember 1992 wurde gesagt, dem EWR könne man nur beitreten, wenn gleichzeitig ein EU-Beitritt ins Auge gefasst werde, da der EWR nicht die volle Mitbestimmung beim Erlass neuen Rechts garantiere. Diese These war dem Bundesrat während der EWR-Gespräche aus Kreisen der Verhandlungsdelegation hinter dem Rücken des Verhandlungsführers zugesteckt worden. Sie bewog die Regierung ein halbes Jahr vor der EWRAbstimmung, in Brüssel ein Beitrittsgesuch zur damaligen Europäischen Gemeinschaft (EG) zu stellen, was wohl ursächlich war für das EWRNein vom 6. Dezember 1992. Im Integrationsbericht von 1999 und im Europabericht von 2006 änderte sich an dieser Haltung nichts. Erst im Evaluationsbericht von 2010 wird der EWR – zum ersten Mal überhaupt – objektiv dargestellt. Die Position, dass ein EWR-Beitritt nur ein Schritt auf dem Weg in die EU sein könnte, wurde aufgegeben. Es wird zwar noch behauptet, ein EWR-Beitritt brächte «zu einem gewissen Grad eine Schwächung der schweizerischen Autonomie», doch wird das Mitspracherecht der EFTA-Staaten bei der Schaffung neuen Rechts positiv gewürdigt. Gleichzeitig betont der Bundesrat, dass eine EWR-Mitgliedschaft «die Rechtssicherheit erhöhen» würde, was einen deutlichen Gewinn für Schweizer Exporteure und Importeure darstellen würde. Auch die institutionellen Vorzüge des EWR werden herausgestellt. Offenbar hat man erkannt, dass Bilateralismus und autonomer Nachvollzug unter souveränitätspolitischen Gesichtspunkten erhebliche Nachteile mit sich bringen und dass die Klage über das fehlende Mitbestimmungsrecht im EWR von einem falschen Massstab – eben der EU-Mitgliedschaft – ausgeht. Das zweite Argument, wonach der EFTA-Pfeiler so klein geworden ist, dass eine Mitgliedschaft 43


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für die Schweiz nicht mehr interessant sei, ergibt den politischen Umständen das beste Vehikel zur keinen Sinn. Der EFTA-Pfeiler besteht derzeit Teilnahme am europäischen Binnenmarkt sei. aus den drei EFTA-Staaten Island, Liechtenstein Dass die bereits siebzehn Jahre dauernde EWRund Norwegen. Dass er vor sechzehn Jahren grös- Mitgliedschaft eine wirtschaftliche Erfolgsgeser gewesen ist, kann a priori keine Basis für eine schichte ist, steht ohnehin ausser Frage. Kommt rationale Entscheidungsfindung sein. Es geht ein- hinzu, dass die genannte Kritik den EWR wiezig darum, sich heute darüber klar zu werden, ob derum an einer EU-Mitgliedschaft misst, was jeder EWR eine valable Alternative darstellt. Dazu denfalls für die Schweiz ein falscher Massstab ist. muss man sich auch vorstellen, wie der EFTA- Man darf nicht übersehen, dass Teile der norwePfeiler aussähe, wenn die Schweiz dabei wäre. gischen Eliten schon seit fast 40 Jahren das Ziel Im einzelnen ist folgendes zu beachten: Ob- eines EU-Beitritts verfolgen. Zweimal, 1972 und wohl Norwegen rund fünfzehn mal mehr Ein- 1994, sind entsprechende Anläufe gescheitert. In wohner hat als Island und Island rund acht mal der Schweiz hat nichts dergleichen stattgefunden. mehr als Liechtenstein, klappt die Zusammenar- Das wirtschaftsliberale Liechtenstein fühlt sich beit seit siebzehn Jahren problemlos. Bei einem im EWR pudelwohl. Der Verwaltungsaufwand Beitritt der Schweiz würde der EWR noch bes- wird als vertretbar bezeichnet, und die Industrie, ser funktionieren, da das derzeitige wirtschaftli- aber auch die Akteure des Finanzplatzes loben che und politische Übergewicht Norwegens im den umfassenden Zugang zum EU-Binnenmarkt. EFTA-Pfeiler ausgeglichen würde. Die Schweiz Liechtensteinische Politiker räumen sodann freistände nicht mehr allein. Sie könnte vielmehr mütig ein, dass die EWR-Mitgliedschaft eine aufgrund ihres wirtschaftlichen und politischen entscheidende Rolle bei der Bewältigung der Krise gespielt habe, in die das Land vor einigen Jahren aufgrund der Steueraffäre um den ehemaligen Chef der Deutschen Post geraten war. Die Das wirtschaftsliberale Liechtenstein fühlt sich Zufriedenheit Liechtensteins ist ein klares Indiz im EWR pudelwohl. Die Akteure dafür, dass die in helvetischen Wirtschaftskreisen vertretene Behauptung verfehlt ist, ein EWRdes Finanzplatzes loben den umfassenden Zugang Beitritt würde einen Regulierungsschub auslösen. zum EU-Binnenmarkt. Gerade im Bereich der Staatsmonopole und der Dienstleistungserbringung würde er im Gegenteil zu einer erheblichen Liberalisierung führen. Gewichts und ihrer Lage im Herzen Europas eine Ein EWR-Beitritt der Schweiz wird schliessFührungsrolle in einem Verbund von vier Staaten lich mit dem Argument bekämpft, Island befinde einnehmen. sich auf dem Weg in die EU. Dazu ist zweierlei Auch das dritte Argument, die Norweger sei- zu sagen. Zum einen ist Island mit seiner Miten von ihrer EWR-Mitgliedschaft enttäuscht, hält gliedschaft im EWR grundsätzlich sehr zufrieden. einer näheren Prüfung nicht stand. Zunächst ist Diese feste Grundlage isländischer Integrationsdie Neigung unzufriedener Clubmitglieder alt- politik ist einzig deshalb ins Wanken gekommen, bekannt, Aussenstehenden zu sagen, sie sollten weil infolge der Finanzkrise die Auffassung an froh sein, dass sie nicht dazugehörten. Das heisst Boden gewann, nur ein EU-Beitritt könne dem noch lange nicht, dass sie aus dem Club austreten Land Sicherheit gegen grosse Währungsschwanmöchten. Es trifft zwar zu, dass sich in Norwegen kungen geben. Zum anderen ist offen, ob Island gewisse Politiker, Diplomaten und Hochschul- der EU tatsächlich beitreten wird. Die Regierung lehrer darüber beschweren, dass der EWR den ist gespalten, das Beitrittsgesuch ist vom ParlaEFTA-Staaten kein Mitbestimmungsrecht nach ment nur mit knapper Mehrheit gutgeheissen EU-Vorbild gewähre. Es gibt jedoch eine klare worden, und gemäss Umfragen lehnen bis zu 70 Carl – zum Teil schweigende – Mehrheit, die an der Prozent der Isländer einen Beitritt ab. Wenn die Baudenbacher, geboren 1947, ist EWR-Mitgliedschaft festhalten will. Das wird Schweiz dem EWR beiträte, so hätte das zweifelordentlicher Professor nicht nur deutlich an feierlichen Anlässen wie dem los Auswirkungen auf die Lage in Island. für Privat-, Handelskürzlichen 50-Jahr-Jubiläum der EFTA, sondern und Wirtschaftsrecht an der Universität auch bei den jährlichen EFTA-Ministertreffen. St. Gallen und seit Die norwegischen Regierungen jeglicher Cou2003 Präsident des leur sind denn auch immer wieder zum Schluss EFTA-Gerichtshofs in Luxemburg. gekommen, dass der EWR unter den herrschen44

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galerie Haus Konstruktiv

Georges Vantongerloo (1886–1965), «Une étoile gazeuse», Kunststoff, 15 x 15 x 15 cm, 1964, Courtesy: Jakob & Chantal Bill

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SMH-Gespräch Hans-Hermann Hoppe

Hans-Hermann Hoppe ist einer der streitbarsten libertären Intellektuellen der Gegenwart. Er bietet in seinen Büchern eine radikale Kritik der Demokratie. Sie ist für ihn jene Staatsform, in der eine Mehrheit sich geschickt auf Kosten einer Minderheit bedient. René Scheu hat Hans-Hermann Hoppe in Zürich und Lech am Arlberg getroffen. Nach den Vorgesprächen fand der Gedankenaustausch klassisch-verbindlich per E-Mail statt.

Hans-Hermann Hoppe im Gespräch Herr Hoppe, mit Freunden in Brasilien habe ich jüngst eine intensive Diskussion über die Vor- und Nachteile direktdemokratischer Modelle geführt. Als ich ihnen das politische System der Schweiz erklärte, in dem das Volk das letzte Wort hat, war ihre spontane Antwort: «Das ist ja der reinste Kommunismus!» Wir sehen das in der Schweiz anders und sind stolz auf unsere direktdemokratische Tradition, um die viele Europäer uns beneiden. Wie sehen Sie das? Hans-Hermann Hoppe: Ja, natürlich ist die Demokratie, ob direkt oder indirekt, eine Form des Kommunismus. Eine Mehrheit entscheidet darüber, was mir und was dir

Die Demokratie, ob direkt oder indirekt, ist eine Form des Kommunismus. gehört und was ich und du tun dürfen oder nicht. Das hat mit Privat-eigentum nichts zu tun, sehr viel aber mit der Relativierung von Eigentum, also mit Gemeineigentum, also mit Kommunismus. Bei Privateigentum bestimme ausschliesslich ich, was mit meinem Eigentum getan wird (vorausgesetzt, ich beschädige dabei nicht die physische Integrität des Eigentums anderer). Und bei mehreren Eigentümern derselben Sache können sich die Miteigentümer jederzeit trennen, insofern sie ihren Eigentumsanteil verkaufen. Jede andauernde Eigentümergemeinschaft ist also freiwillig und wechselseitig vorteilhaft. Umgekehrt: bei Gemeineigentum bzw. Kommunismus bestimmen (auch) andere – irgendeine Mehrheit – über die Verwendung in meinem Besitz befindlicher Sachen. Dabei kann ich mich nicht von den andern Miteigentümern und ihren Mehrheitsentschlüssen trennen, indem ich meine Gemeineigentumsanteile einfach verkaufe. 46

Bezeichnenderweise gibt es solche Anteilscheine gar nicht, weder in irgendeiner Demokratie noch in den früheren sozialistischen Ostblockländern. Die Verfassung setzt dem Staat und dem demokratischen Mehrheitsprinzip Grenzen und schützt die Freiheitsrechte der Bürger. Ihre Kritik am Mehrheitsprinzip ist berechtigt – doch ist es ein Problem des Rechtsstaates, nicht der Demokratie an sich. Erstens sind Verfassungen immer Staats-Verfassungen, d.h. sie setzen das Recht, Steuern zu erheben und ein ultimatives Rechtsprechungsmonopol auszuüben, schon voraus. Doch wie, oh wie, kann von einer Institution, die auf Zwangsabgaben beruht und ein Rechtsprechungsmonopol besitzt, behauptet werden, dass sie Eigentum und Freiheit schützen könne? Es ist eine der zentralen Aufgaben eines Staates, das Eigentum seiner Bürger zu schützen – auch eines modernen demokratischen Staates. In Artikel 26 der Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft heisst es: «Das Eigentum ist gewährleistet.» Wobei man ergänzen muss, dass es in Absatz 2 heisst: «Enteignungen und Eigentumsbeschränkungen, die einer Enteignung gleichkommen, werden voll entschädigt.» Als Steuereintreiber ist der Staat ein enteignender Eigentumsschützer. Ein Widerspruch in sich. Und als Letztrichter und -schlichter in allen Konfliktfällen einschliesslich solcher, in die er bzw. seine Agenten selbst involviert sind, bewahrt und beschützt der Staat nicht geltendes Recht, sondern er verändert es per Gesetzgebung zu seinen Gunsten. Er pervertiert Recht. Noch ein Widerspruch. Und zweitens: jede Verfassung muss interpretiert werden, sei es von einem obersten Gericht oder, wie in der Schweiz, von einer bestimmten Volksmehrheit. Was bedeutet z.B. «voll entschädigt» im Zusammenhang mit einer Enteignung? Soviel wie der Enteignete verlangt? (Aber dann bedarf es keiner Enteignung.) Welche Beschränkungen eine Verfassung einem Staat in seinem Tun auch immer auferlegen mag, die

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SMH-Gespräch Hans-Hermann Hoppe

Entscheidung darüber, ob sein Handeln rechtens oder unrechtens ist, wird in allen Fällen von Personen getroffen, die selbst Agenten des Staates sind. Es ist darum voraussehbar, dass die Definition von Privateigentum und Eigentumsschutz stetig zugunsten der legislativen Gewalt des Staates eingeengt und ausgehöhlt wird. Wer sägt schon den Ast ab, auf dem er selber sitzt?

das Eigentum anderer auf «demokratischem Weg» verschaffen zu wollen, auch wenn dies «theoretisch» möglich ist. Sozialer Druck verhindert, dass so etwas passiert. Notfalls, wenn sozialer Druck allein nicht ausreicht, sorgen die natürlichen lokalen Eliten mit anderen Mitteln dafür, dass demokratisch-kommunistische Aufwiegler zur Raison gebracht werden.

Sie argumentieren strikt vom Eigentumsbegriff her. In einer idealen, von guten Menschen bevölkerten Welt ist klar geregelt, wem was gehört. In der Praxis kommt es jedoch stets zu Konflikten. Es braucht deshalb eine Instanz, die in solchen Fällen für klare Verhältnisse sorgt: den Rechtsstaat. Rechtsstaat und Demokratie gehören zusammen. Richtig. Es wird vermutlich immer Mörder, Räuber, Diebe und Betrüger geben, und jede Gesellschaft muss solche Rechtsbrecher erfolgreich in Schach halten, um Bestand zu haben. Dazu braucht es eine Rechtsordnung. So weit, so gut. Aber eine Rechtsordnung ist etwas anderes als ein «Rechtsstaat» oder eine «demokratische Rechtsverfassung». Die Ideen «Staat» bzw. «Demokratie» und «Recht und Rechtssicherheit» sind logisch unvereinbar. Der (demokratische) Staat ist dadurch definiert, dass er Unrecht begehen und Enteignungen vornehmen darf. Staatliches Recht ist immer pervertiertes Recht. Was eine Gesellschaft tatsächlich braucht, um Recht und Ordnung aufrechtzuerhalten und für «klare Verhältnisse» zu sorgen, ist kein Staat und keine Demokratie, sondern eine Privatrechtsordnung.

Das ist einseitig gedacht. Politische Partizipation hat auch eine positive Wirkung: sie stärkt das Verantwortungsgefühl der Bürger. Das ist Wunschdenken. Je grösser und anonymer die Personeneinheiten werden, über die demokratisch bestimmt wird, umso unbedenklicher kann man seinen jeweiligen Neidgefühlen, Machtgelüsten und Wahnvorstellungen

Bleiben wir vorerst bei der Demokratie. Die Opposition in der Schweiz bilden nicht irgendwelche Parteien, sondern das Volk. Sein stets drohendes Nein domestiziert die Politik. Sie schreiben in Ihren Büchern, dass die Demokratien ebenso untergehen werden, «wie der Sowjetkommunismus zum Untergang bestimmt war». Ein gewagter Vergleich – wie kommen Sie darauf? Zunächst: jede Form des Kommunismus, einschliesslich der Demokratie, ist wirtschaftlich unproduktiv. Der allgemeine Lebensstandard ist niedriger, als er sonst wäre. Was den

Als Steuereintreiber ist der Staat ein enteignender Eigentumsschützer. Fall der Schweiz im speziellen angeht: nun, Demokratie kann allenfalls in ganz kleinen, kulturell homogenen Gemeinden «halbwegs» funktionieren, d.h. ohne schnell im wirtschaftlichen Ruin zu enden. Wo jeder jeden kennt und um dessen gesellschaftliche Position weiss und wo es darum eine ausgeprägte soziale Kontrolle gibt, da ist es schwer, sich

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nachgeben. Und umso schneller wird die Demokratie zu einem Instrument, um sich auf Kosten anderer zu ermächtigen und bereichern, und umso unausweichlicher kommt es zu einem stetigen wirtschaftlichen Niedergang. Warum steht dann die Schweiz als direktdemokratischer Staat ökonomisch und politisch stabiler da als die nördlichen und südlichen Nachbarn, die für repräsentative Demokratie stehen? Je direkter die Demokratie ist, desto erfolgreicher ist sie wirtschaftlich. Ich habe die Antwort hierauf schon angedeutet. Der relative wirtschaftliche Erfolg der Schweiz im Vergleich zu ihren grossen Nachbarländern hat wenig oder gar nichts mit ihrer direkten Demokratie zu tun, sondern vielmehr damit, dass die Schweizer Demokratie eine kleine Demokratie ist. Klein nicht nur deshalb, weil die Schweiz insgesamt ein kleines Land ist; klein vor allem und insbesondere, weil die Schweiz 47


SMH-Gespräch Hans-Hermann Hoppe

stark dezentralisiert ist, mit vielen kleinen homogenen und (immer noch) relativ autonomen Kantonen. Demokratie in der Schweiz ist (immer noch) weitgehend lokale Demokratie. Lokale Angelegenheiten werden lokal entschieden, ohne Eingriff von «aussen» oder «oben» (von Bern, Brüssel, Washing ton oder New York). Das ist das Geheimnis der Schweiz. Gemessen am Idealbild vieler «Demokratiker», dem Bild eines demokratischen Weltstaates, für den alle lokalen Probleme globale Probleme sind, die auch global gelöst werden

Die Demokratie erlaubt es, sich per Mehrheit das Eigentum anderer Personen anzueignen. müssen, letztendlich dem Bild der Vereinten Nationen, ist die Schweiz mit ihren eigenständigen Kantonen damit sogar ausgesprochen undemokratisch. Denn sie schliesst ja andere, grössere (und damit gemäss demokratischer Logik «besser» legitimierte) Mehrheiten kategorisch von jeder lokalen Entscheidungsfindung aus. Doch ist es gerade dieses Undemokratische, d.h. ihr hoher Grad an politischer Dezentralisierung, der die Schweiz wirtschaftlich insgesamt so erfolgreich macht. Demokratien haben einen unbestreitbaren Vorteil. Man kann jene Politiker, die eine krasse Umverteilungs- und Bereicherungspolitik befürworten, «ohne Blutvergiessen» wieder abwählen, wie Karl Popper es einmal formulierte. Zunächst einmal hat die Demokratie den viel wichtigeren

Nachteil, dass man eine krasse Umverteilungs- und Bereicherungspolitik überhaupt befürworten darf und damit, jedenfalls in «grossen» Demokratien, auch gewählt werden kann und tatsächlich wird – anstatt als kommunistischer Aufwiegler an den Pranger gestellt und des Platzes verwiesen zu werden. Was den angeblichen Vorteil der Demokratie beim friedlichen Regierungswechsel angeht, so setzt die Frage voraus, dass Regierungen bzw. staatliche Machthaber – das bedeutet territoriale Rechtssprechungs- und Steuermonopole – überhaupt zur Friedenssicherung tauglich sind. Ich bestreite das. Aber selbst wenn man diese Annahme akzeptiert, dann folgt daraus keineswegs «Demokratie». Man kann eine Regierung z.B. auch friedlich wechseln, indem man die Inhaber staatlicher Machtpositionen durch regelmässig veranstaltete Lotterien bestimmt. In Demokratien gibt es politischen Wettbewerb. Das heisst zwar nicht unbedingt, dass die besten und kompetentesten Leute in die wichtigen Ämter kommen. Aber es garantiert doch einen gewissen Kompetenzstandard der Politiker. Wettbewerb ist nicht ausnahmslos «gut». Nur Wettbewerb bei der Herstellung von Gütern ist gut. Dagegen ist Wettbewerb bei der Herstellung von Ungütern «schlecht», ja schlechter als schlecht. Wir wollen keinen Wettbewerb darin, wer uns am besten verprügeln kann. So ist es auch mit der Demokratie und dem politischen Wettbewerb. Die Demokratie erlaubt es, sich per Mehrheit das Eigentum anderer Personen anzueignen. Sie steht im Widerspruch zum Gebot sämtlicher Hochreligionen, nicht das Eigentum anderer begehren zu wollen. Während uns eine Lotterie irgendeinen «zufälligen» Stehler-Hehler als Machthaber bescheren würde, garantiert «demokratischer Wettbewerb», dass nur die «besten» Stehler-Hehler in die entscheidenden Machtpositionen aufrücken, d.h. diejenigen, die vom Eigentümerstandpunkt aus die übelsten aller Machthaber sind. Die Demokratie sorgt dafür – und umso mehr, je grösser sie ist (!) –, dass nur und ausschliesslich üble, von keinerlei moralischen Skrupeln geplagte und von Machthunger und Grössenwahn besessene Personen an die Spitze des Staates gelangen – die jeweils «besten» Dummschwätzer und Nichtswisser, die dem «Volk» in demagogischer Manier das meiste versprechen, ohne damit die geringste Aussicht auf Erfolg zu haben. Das ist eine Übertreibung. Politiker sind im Durchschnitt weder schlechter noch besser als andere Leute. Und was ist mit den unabhängigen Unternehmer-Politikern, wie die Schweiz sie auch heute noch kennt? Ein Mann wie Christoph Blocher ist ein Glücksfall für die Schweiz. In einer «grossen» Demokratie, wie Deutschland oder den USA, hätte ein Blocher nicht den Hauch einer Chance. Und selbst in der Schweiz ist es Blocher ja bezeichnenderweise nicht gelungen, eine Mehrheit zu erringen und ganz an die Spitze zu gelangen. Und das, obwohl auch

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Blocher, bei allen Verdiensten, die er für die Schweiz hat, keineswegs ein lupenreiner Liberaler und kompromissloser Verteidiger des Privateigentums ist. Besser noch wären die Chancen für solche Männer, wenn die Schweiz wieder, so wie sie es einmal war, eine Konföderation von Kantonen würde, statt ein zunehmend zentralisierter föderaler Gesamtstaat. Das alles gilt übrigens genauso für die USA. Auch dort wäre es besser gewesen, man hätte die nach dem Unabhängigkeitskrieg bestehende Konföderation beibehalten, anstatt die gegenwärtige, föderale Zentralstaatsverfassung anzunehmen. Das hätte der Welt nicht nur eine dauernde Quelle aussenpolitischer Aggression und Kriegstreiberei erspart. Amerika insgesamt wäre heute weit wohlhabender und friedlich-zivilisierter, als es tatsächlich der Fall ist. Hieraus leitet sich übrigens eine zentrale Forderung ab – wenn einem denn Eigentum und Freiheit am Herzen liegt. Statt, politisch korrekt, den gegenwärtigen Trend zu immer grösserer politischer Zentralisierung zu unterstützen, sollte man ihn mit allen zu Gebote stehenden Mitteln bekämpfen. Wir brauchen keinen europäischen Gesamtstaat, so wie ihn die EU schaffen will. Und noch weniger brauchen wir einen Weltstaat. Wir brauchen vielmehr ein Europa und eine Welt, die aus Hunderten bzw. Tausenden kleiner Liechtensteins und Singapurs besteht. Müssten Sie als Anarchist nicht grosses Vertrauen in die Klugheit des Volkes haben? Was die Klugheit des Volkes angeht, so ist vor allem Realismus angesagt. Wir stimmen nicht darüber ab und lassen dann eine Stimmenmehrheit entscheiden, wer unsere Anzüge, Autos, Computer und Häuser herstellt, wer unsere Krankheiten heilt und wer uns belehrt oder unterhält. Jeder

In einer «grossen» Demokratie wie den USA hätte ein Blocher nicht den Hauch einer Chance. bestimmt dies selbst für sich, mit seinem Eigentum und seinen individuellen Kaufentscheiden. Das Volk würde es, mit Recht, als einen empfindlichen Wohlstandsverlust, ja als eine Katastrophe empfinden, wäre dies nicht so. Das zeugt von Klugheit. Aber ausgerechnet bei einem Gut wie Recht und Ordnung, das unser Leben viel tiefer betrifft als alle Autos und Häuser, da verlässt sich das Volk auf die vermeintliche Weisheit einer Mehrheit. Das zeugt von atemberaubender Dummheit. Oder besser: von Volks-Verdummtheit, für die die Propagandisten und Profiteure der Demokratie verantwortlich sind. Aber natürlich hoffe ich, dass das Volk letztlich klug genug sein wird, auch diesen Irrsinn zu durchschauen.

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Sie haben zu Beginn die Privatrechtsgesellschaft ins Spiel gebracht, die ganz ohne Staat auskommt. Solche Gedankenexperimente sind zweifellos reizvoll. Aber wie hat man sich eine solche anarchistische Privatrechtsordnung konkret vorzustellen? Die Anreize, sich das Eigentum anderer gewaltsam anzueignen, wären sehr hoch. Man muss sich nicht fürchten, von Polizei oder Militär belangt zu werden. Zunächst: eine Privatrechtsordnung ist eine Gesellschaft, in der jede Person und Institution ein und denselben Rechtsregeln unterworfen ist. Es gibt in dieser Gesellschaft kein «Staatsrecht» oder «öffentliches Recht», das Staatsangestell-

Eine Privatrechtsordnung ist eine Gesellschaft, in der jede Person und Institution ein und denselben Rechtsregeln unterworfen ist. ten Privilegien gegenüber blossen Privatpersonen einräumt. Es gibt kein ultimatives Rechtsmonopol und kein Steuerprivileg. Es gibt in dieser Gesellschaft nur Privateigentum und ein für jedermann gleichermassen gültiges Privatrecht. Konkret im Hinblick auf die Frage heisst dies: auch die Produktion von Recht und Ordnung wird in einer Privatrechtsgesellschaft von frei finanzierten und im Wettbewerb miteinander stehenden Unternehmen erledigt, genau wie die Produktion aller übrigen Güter und Dienstleistungen. Nun zur Anreizstruktur einer privatrechtlich organisierten Rechts- und Sicherheitsindustrie im Gegensatz zur gegenwärtigen, staatlich organisierten. Da gibt es einen alles entscheidenden Unterschied. Der Staat, auch der demokratische, operiert als ultimativer Rechtsmonopolist in einem vertragslosen rechtlichen Vakuum. Es gibt keinen normalen, privatrechtlichen Vertrag zwischen dem Staat als Anbieter von Recht und Ordnung und seinen Bürgern als Abnehmern. Was der Staat «anbietet», ist etwa dies: ich garantiere dir vertraglich gar nichts; weder sage ich dir zu, welche Sachen es konkret sind, die ich als «dein Eigentum» zu schützen gedenke, noch sage ich dir, was ich mich zu tun verpflichte, wenn ich meine Leistung deiner Meinung nach nicht erfülle – aber ich behalte mir in jedem Fall das Recht vor, einseitig den Preis für meine «Leistung» zu bestimmen und überhaupt per Gesetzgebung alle derzeitigen Spielregeln während des laufenden Spiels zu ändern. Man stelle sich nur einmal einen frei finanzierten, privatwirtschaftlichen Sicherheitsanbieter vor, gleichgültig ob Polizei, Versicherer oder Schlichter, der seinen prospektiven Kunden ein solches Angebot unterbreitet. Er wäre mangels Kunden sofort bankrott. Private Sicherheitsanbieter müssen ihren Kunden daher Verträge anbieten. Diese Verträge 49


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müssen klare Eigentumsbeschreibungen sowie eindeutig definierte wechselseitige Leistungen und Verpflichtungen enthalten, und sie können während ihrer vereinbarten Geltungsdauer nur einvernehmlich geändert werden. Mehr noch, um für einen Sicherheitskäufer akzeptabel zu sein, müssen die angebotenen Verträge Bestimmungen darüber enthalten, was im Fall eines Konflikts zwischen Versicherer und Versicherungsnehmer passiert, und was bei einem Konflikt zwischen verschiedenen Versicherern bzw. ihren jeweiligen Kunden. Und diese Fälle können nur dadurch einvernehmlich zwischen Versicherern und Versicherten

Ich frage: Unter welchem dieser beiden Arrangements, dem staatlichen oder dem privatrechtlichen, kann man sich seines Lebens und Eigentums sicherer sein? geregelt werden, dass man hierfür eine von den jeweiligen Streitparteien unabhängige, beidseits vertrauenswürdig erscheinende dritte Partei als Schlichter benennt. Und was diese dritte Partei angeht: auch sie ist frei finanziert und steht im Wettbewerb mit andern Schlichtern. Ihre Kunden, d.h. die Versicherer und die Versicherten, erwarten von ihr, dass sie ein Urteil fällt, das allseits als fair und gerecht anerkannt werden kann. Nur Schlichter, die dies vermögen, werden sich im Schlichtermarkt behaupten oder wachsen können. Schlichter, die das nicht können, verschwinden vom Markt. Ich frage: Unter welchem dieser beiden Arrangements, dem staatlichen oder dem privatrechtlichen, kann man sich seines Lebens und Eigentums sicherer sein? Bleiben wir beim Konkreten. Zwei Nachbarn zerstreiten sich, weil eine grosse Tanne zuviel Schatten wirft. In einer Privatrechtsgesellschaft ist nicht klar, an wen der Geschädigte sich im Fall eines Konflikts wenden soll. Wer repräsentiert die Rechtsordnung, von der Sie sprechen? Und was, wenn nicht alle Bewohner eines Territoriums dieselbe Rechtsordnung akzeptieren? Ganz einfach. Die beiden Streitparteien gehen zu ihrem Versicherer. Sind sie beide Kunden ein- und derselben Versicherung, entscheidet diese den Fall, selbstverständlich nach gründlicher Überprüfung der bestehenden Eigentums- und Vertragsverhältnisse der Kontrahenten und in Übereinstimmung mit den Bestimmungen des Versicherungsvertrags. Wenn mehrere Versicherer involviert sind und diese in der Beurteilung des Falls zu einer einheitlichen Lösung kommen, dann sind es beide Versicherer zusammen, 50

die die Entscheidung treffen. Und wenn verschiedene Versicherungen zu unterschiedlichen Urteilen gelangen, dann ruft man einen allseits geschätzten Schlichter an, und es ist dieser Schlichter, der die Entscheidung fällt. Das Prozedere ist ganz klar und eindeutig, und es entspricht der in weiten Teilen des (internationalen) Geschäftsverkehrs tatsächlich geltenden Rechtspraxis. Hinsichtlich seiner Eindeutigkeit (kein Chaos, sondern klare Verhältnisse!) unterscheidet es sich in keiner Weise von der gegenwärtigen (nationalen) Rechtspraxis. Aber es hat den entscheidenden Vorteil, dass sich jedermann seine Versicherer, Versicherungsverträge und unabhängigen Schlichter auswählen und sie kündigen kann, anstatt von einer einzigen und unkündbaren Zwangsanstalt versichert und gerichtet zu werden. Das klingt nach schöner, idealer Welt. In der Praxis sind die Leute jedoch keiner kohärenten Haltung verpflichtet. Gesetze und Verträge müssen interpretiert werden – nach verbindlichen Kriterien, die wiederum interpretiert werden müssen. Es droht Unübersichtlichkeit und Chaos, ein wenig wie im Markt der Handyanbieter und -tarife, wo ständig neue Anbieter auf den Markt drängen, deren Angebote und Verträge wiederum von Metaanbietern beurteilt werden müssen usw. Wäre ein solches Leben nicht sehr anstrengend? Ich nehme an, diese Frage ist nicht ganz ernst gemeint. Sie erinnert mich an die Situation 1989, kurz nach dem Zusammenbruch des «real existierenden Sozialismus» in der DDR. Damals, als die DDR-ler, die Ossis, zum erstenmal die Fülle des Warenangebots in westdeutschen Läden zu Gesicht bekamen, gab es nicht selten die Klage zu hören, das sei ja alles vielzuviel und unübersichtlich. Man wisse vor lauter Angeboten gar nicht, was man denn kaufen solle. Wie schön sei es dagegen doch in der vormaligen DDR gewesen. Da gab es z.B. bei Autos nur die Auswahl zwischen einem Trabi und einem Wartburg, und das bei über zehnjähriger Lieferfrist, und die Läden waren fast immer leer, so dass die Auswahl, wenn es eine solche angesichts der allgemeinen Mangelwirtschaft überhaupt gab, immer denkbar einfach war. Wollen Sie das? Dann, und nur dann, macht es Sinn, für die gegenwärtige demokratische Rechtsverfassung zu plädieren! *** Das Gespräch führte René Scheu schriftlich. Hans-Hermann Hoppe, geboren 1949, ist einer der führenden libertären Intellektuellen der Gegenwart und Autor u.a. von «Demokratie. Der Gott, der keiner ist» (2005). Er wurde unter Jürgen Habermas promoviert und lehrte von 1986 bis 2008 als Professor of Economics an der University of Nevada, Las Vegas, wo er auch mit Murray Rothbard zusammenarbeitete.

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galerie Haus Konstruktiv

Rolf Schroeter (*1932) & Günter Uecker (*1930), «Die Lichtung», Holz, Leinen, Farbe, Nägel, Fotografie, (1994–1996), Ausstellungsansicht «ganz konkret» im Haus Konstruktiv, 2010 (Foto: A. Burger)

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Schriftsteller

Thomas Hürlimann Zum 60. Geburtstag

Thomas Hürlimann,1950 in Zug geboren, war Klosterschüler in Einsiedeln und studierte danach Philosophie in Zürich und Berlin. Er hat zahlreiche Theaterstücke, Essays und Romane verfasst, zuletzt erschien von ihm «Vierzig Rosen», sein Roman «Der grosse Kater» wurde mit Bruno Ganz in der Hauptrolle verfilmt.

1/3 Parks, Klöster, Kesselschlachten, Westberlin Skizze zu einem unveröffentlichten Essay über geschlossene Räume Thomas Hürliman

Meine Jugend hat sich hinter der Klostermauer von Maria Einsiedeln abgespielt, und zum Studium war ich in das mauer- und stacheldrahtumschlossene Westberlin gezogen, eine im Ostblock gelegene Stadtinsel, die nur über Transitwege und durch strenge Grenzkontrollen zu erreichen war. Hier hatte ich in einem verrufenen Viertel, in Südost 36, eine billige Wohnung gefunden, und trotz Aussenklo, kaputten Elektroleitungen und verschimmelten Wänden fühlte ich mich im Schatten der Grenze bald so heimisch wie früher im Internat. Die vom Osten errichtete Mauer, die die Weststadt umschloss, hatte praktisch dieselbe Höhe wie die alte, roh verputzte Klostermauer, woraus ich nicht ohne Koketterie den Schluss zog, ich sei für Kessel geboren. 52

Foto: Isolde Ohlbaum

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Schriftsteller Thomas Hürlimann

Ende der siebziger Jahre schrieb ich ein paar Erzählungen, und der Zufall wollte es, dass ich einem jungen Paar begegnete, Marie-Luise und Egon Ammann, die mit meinem Erstling einen Verlag eröffneten. Auf einmal lief mein Leben prächtig, jedenfalls hatte ich einen Beruf und schon fast einen Namen; doch bewohnte ich weiterhin meine Wohnung in der schäbigen Mietskaserne. Die Einsiedler Benediktiner, vor allem Pater Erlebald, hatten mich gelehrt, die äusseren Bedürfnisse zugunsten der inneren zu vernachlässigen, und so war ich mit meinem Poetenleben rundum zufrieden. Immerhin war ich jetzt mein eigener Herr, besass eine Matratze, einen Tisch und eine beim Trödler erworbene Schreibmaschine. Angeblich hatte sie früher auf einer Polizeistation Dienst getan, weshalb sie eine Taste mit einem grossen Ü besass, für Überfall, Übeltäter oder die oft mit Ü beginnenden Namen von Türken, die in Scharen von Anatolien hierherzogen. So mischte sich in den Mietskasernen ein buntes und lautes Volk: alte, tagsüber in den Fenstern liegende Kriegerwitwen, türkische Einwandererfamilien und eine Bohème aus Künstlern, Trinkern und studierender Jugend. Um die Mittagszeit tappte ich im finsteren, stets ein wenig nach Pisse stinkenden Hausflur zum Briefkasten, und in den ersten Monaten nach dem Erscheinen meines Buches rutschte mir bei jedem Aufklappen ein ganzer Haufen Post entgegen, lauter Einladungen zu Partys, Filmpremieren und Vernissagen. Meiner Schreiberei stand ich eher misstrauisch gegenüber. So verwegen, mich bereits für einen gemachten Mann zu halten, war ich nicht, aber es schmeichelte mir, von den Künstlerkreisen der Weststadt umworben zu werden. Bei einem starken Kaffee und einigen Zigaretten sah ich die Post durch und wartete dann flanierend oder in einer Eckkneipe den Zeitpunkt ab, da der hoffnungsvolle Jungautor auf einer Vernissage, zu einer Premiere oder zu einem vornehmen Essen erscheinen konnte. Anfangs wurde ich von älteren, wie für den Tuntenball geschminkten SchickeriaDamen mit Entzückensrufen begrüsst, und eine Zeitlang fragten sie noch, wann mein nächstes Buch erscheine; doch zu Beginn der nächsten Saison wandte sich ihr Jubel dem nächsten Newcomer zu, die Einladungen wurden seltener, immer öfter blieb der Briefkasten leer. Ich nahm es gelassen. Wie bisher schlief ich vormittags den Rausch aus und sass nachmittags am rostroten Wasser des Landwehrkanals, um von Blättern, die der Herbstwind von den Bäumen riss, in eine dichterische Stimmung versetzt zu werden. Es wurde November, und die Penner, zu denen auch ein paar spätheimgekehrte Stalingradkämpfer gehörten, drängten sich in den Aufgängen der U-Bahn, die hier draussen als Hochbahn geführt wurde, eng zusammen. Sie waren in alte Soldatenmäntel gemummt, und ihren fiebrigen, in tiefen Höhlen liegenden Augen sah man an, dass sie der Kesselschlacht nie mehr entrinnen würden.

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2/3 «Gegen einen Wattebausch ist Ödipus machtlos»* Hans-Rüdiger Schwab im Gespräch mit Thomas Hürlimann

Die Klosterschule ist in Ihren Texten sehr präsent. Als Leser gewinnt man fast den Eindruck, es handle sich hier um eine Art Hassliebe. Auf der einen Seite verbinden sich mit ihr Erfahrungen, an denen Sie sich vielleicht bis heute, an der Schwelle zum sechzigsten Lebensjahr, wundscheuern. Auf der anderen Seite findet keine totale Verwerfung statt. Womöglich hat sie Ihnen sogar etwas vermittelt, an dem Sie nach wie vor hängen. Trifft dieser Verdacht zu? Vor einigen Jahren habe ich in der Psychiatrischen Klinik Burghölzli in Zürich die erlaubte Besuchszeit überschritten. Es war Nacht, als ich das Gebäude verlassen wollte, und ich habe es auch verlassen. Bei meinem nächsten Besuch fragte mich die Sekretärin des Chefarztes: Sie sind wahrscheinlich der erste, der nachts hinausgefunden hat. Wie haben Sie das geschafft? Ganz einfach, erklärte ich ihr, ich bin in einem Gebäude aufgewachsen, das Ihrer Klinik zum Vorbild gedient hat. (Lacht.) Meine in frühen Jahren eingeübten Instinkte liessen mich problemlos das Portal finden. Dieses war verschlossen, klar, aber dann habe ich mich gefragt: Hatten wir in der Stiftsschule nicht einen Notausgang? Und tatsächlich, der war in der Psychiatrischen Klinik Burghölzli an derselben Stelle wie im Kloster Einsiedeln. Ein geschlossenes Geviert, das Sie acht Jahre bewohnen, werden Sie so schnell nicht los, das würde Ihnen jeder Knacki bestätigen, und das liegt vor allem daran, dass die Eingeschlossenen nur einen einzigen Tag erleben, einen Tag, der sich wieder und wieder wiederholt, vom Morgen- bis zum Abendgebet. Glauben Sie mir: dieser Tag bleibt in den Knochen. Ich trage ihn immer noch in mir. Lebenslänglich. Was übrigens Vor- wie Nachteile hat. Zum einen bleibt man im Gebäude eingekerkert, zum andern, siehe Burghölzli, findet man aus ihm hinaus. Die Rituale der Wiederkehr des immer Gleichen scheinen diesen umschlossenen Raum des Klosters zugleich auch zu einem etwas schrägen Mikrokosmos zu machen? O ja, hinter solchen Mauern lernte ich nicht nur mich selbst, sondern auch die Welt kennen – für einen Schriftsteller ist das sehr wichtig, auch für das Überleben in diversen Systemen. Als ich 1978 ans Berliner Schillertheater kam, brauchte ich nur den Intendanten Lietzau durch meinen früheren 53


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Präfekten Pater Fridolin zu ersetzen – schon war mir klar, wie der Laden lief. Dies ging bis in die einzelnen Verästelungen des Hauses hinein, bis zum Pförtner. Nach zwei Stunden wusste ich über das Schwarmverhalten und die Schwarmintelligenz innerhalb dieses Gebäudes Bescheid und schwamm und schwärmte mühelos mit. Aus dem Mikrokosmos des Klosters, der Klasse, des Schlafsaals konnte ich auf die Welt schliessen. So vielfältig sind die Formen des menschlichen Zusammenlebens nämlich nicht. Vermutlich ist eine Familie zu klein, um das Prinzipielle von Ordnungen und Abläufen erkennen zu lassen, eine Klosterschule hat genau die richtige Grösse dafür – was kein Zufall ist, wie ich vermute. Die Ordnung in der Klosterschule war vielleicht nicht leer, aber sie war doch wohl kaum mehr zeitgemäss. Die Jahre, die Sie dort verbracht haben, waren ja solche des Umbruchs. Wie haben Sie diesen Kulturkonflikt wahrgenommen? Das Schwerste für uns Zöglinge war das frühe Aufstehen. Pater Fridolin, der Präfekt, wollte es uns erleichtern und liess in den Schlafsälen eine Lautsprecheranlage installieren. Fortan wurden wir jeweils mit den trostlosen «Vier Jahreszeiten» oder mit einer Fuge von Bach geweckt. Eines Tages drückte ein Zögling dem Präfekten eine neue Platte in die Hand, eine Art trojanisches Pferd, denn in der MozartHülle steckten die Rolling Stones. In seiner Zelle, wo er die Platte auflegte, konnte Pater Fridolin nichts hören, aber als er dann in die Nähe der Schlafsäle kam, wurde ihm sofort klar, was los war. Wir alle brüllten: «I Can’t Get No Satisfaction.» Am Mittag stammelte der Präfekt: «Jetzt ist es passiert!» Und er hatte nicht ganz unrecht. Das waren völlig neue Töne. Klosterschule – darunter stellt man sich eine sehr strenge, eine rigide, möglicherweise auch eine repressive Erziehung vor. War das bei Ihnen der Fall? Ja, schon, aber wir hielten das aus, indem wir die Ordnung nur äusserlich befolgten. Wir trugen schwarze Kutten mit engen Kragen und mussten jeden Morgen die Messe besuchen. Da standen wir dann, nach Grösse im Carré aufgereiht, aber viele von uns hatten dem Missale die Hülle entnommen und um ein anderes Buch gelegt. So haben wir in sehr frommer Haltung radikale Texte gelesen, beispielsweise von Nietzsche oder Feuerbach. Mit fünfzehn verlor ich den Glauben, blieb aber bis zwanzig Klosterschüler. Womit hatte dieser Verlust konkret zu tun? War da eben der Widerspruch zwischen den Lektüreerfahrungen und den Glaubensüberzeugungen? Oder verband sich das mit eher praktischen Aspekten, also etwa der Unvereinbarkeit einer ungerechten Welt und dem Anspruch eines gütigen Gottes? Können Sie noch rekonstruieren, welche Gründe dieser Riss hatte? Was wirkte zusammen, dass die Religion an Überzeugungskraft für Sie verlor? 54

Wir wollten frei sein. Die Klosterschule empfanden wir als Knast, den Glauben als seine Ordnung. Wer frei sein wollte, musste die Religion abschaffen. Dies geschah in der Pubertät, und vermutlich war die Sehnsucht nach Freiheit Lust auf die Frau. Wir waren eine reine Männergesellschaft. Nachts hauten wir ab, kletterten über die Mauer und verliebten uns in einer Kneipe namens St. Peter in wunderschöne Serviertöchter, französische Au-pair-Mädchen. Metaphysische Gefühle, endlich waren sie da! «Metaphysische Gefühle» bedeutet, sich selbst zu überschreiten, etwas Grosses zu empfinden? Ja. Transcendere heisst übersteigen, vom Gewöhnlichen ins Ungewöhnliche klettern, vom Irdischen ins Überirdische, vom Zeitlichen ins Überzeitliche. Ein Freund und Banknachbar, Michael Neidhart, schrieb tagelang einen einzigen Namen in eine ganze Reihe von Heften – Bernadette. Er hatte sich in ein Mädchen namens Bernadette verliebt und schrieb Hunderte von Seiten mit ihrem Namen voll. Ihm ist genau jene Erweckung passiert, die sie uns im Religiösen versprochen haben. Plötzlich gab es die Erfahrung, von der immer die Rede war, tatsächlich. Aber sie geschah an einem ganz anderen Ort – nicht in der Gnadenkapelle vor der Schwarzen Madonna, sondern beim Kuss hinterm Pferdestall des Klosters. Kann es auch sein, dass die Religion dem Erlebnis der Liebe gegenüber einfach zu abstrakt war? Hätte uns damals ein Pater gesagt: Seht ihr, die Madonna hat euch lieben gelehrt – wir hätten den Glauben wohl behalten. Aber die Ordnung fühlte sich angegriffen und schlug zurück. Wer mit einem Mädchen erwischt wurde, bekam das consilium abeundi, den Rausschmiss. Es gab zwei, drei Lehrer, die klüger waren als das System, aber die haben selber unter ihm gelitten und sind anno 68 ausgetreten, mit ihnen auch der Abt. Übrig blieben Leute wie Pater Fridolin. Die haben uns wie pathologische Sexualtäter behandelt – und in diesem Moment war der Bruch da. Das System hat uns zu Feinden gemacht, und voller Stolz haben wir die Kriegserklärung angenommen. Wobei also durch diese schwarze Pädagogik gleichzeitig die Inhalte der Religion diskreditiert wurden? Zusätzlich wurden wir vom Zeitwind erfasst, er brachte neue Töne und neue Bücher, und plötzlich haben wir uns in den Diskussionen den alten Scholastikern überlegen gefühlt. Wir zwangen sie, mit uns über unsere Themen, unsere Lektüre, unsere Erfahrungen zu reden – da konnten sie selbstverständlich nicht mithalten. Seit Hunderten von Jahren waren sie es gewohnt, den Schlüssel zur Bibliothek zu haben. Nun sagten wir: Interessiert uns nicht. Haben Sie Marx gelesen? Oder Sartre? Da mussten sie passen. Hätten wir die altehrwürdige Klosterbibliothek angegriffen, hätten sie sie bestimmt verteidigen können, aber wir verteidigten ihnen gegenüber eine eigene Bibliothek, und gegen diese

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Guerillastrategie waren sie machtlos. Wir wurden zunehmend eloquenter, sie verstummten. Dass auch wir einen hohen Verlust erlitten, war uns damals nicht klar. Indem wir die Glaubenshüter wie Trottel aussehen liessen, war es auch um den Glauben geschehen.

und hielt sich die Ohren zu. Als der Vater auf den Tod zuging, haben wir uns wie zwei alte Veteranen gefühlt. Wir waren wie die von Grabbe beschriebenen Soldaten Napoleons, die stolz darauf sind, dem grossen Feldherrn ihre Glieder geopfert zu haben. (Lacht.)

Wenn man aber erst einmal den Glauben verloren hat, ist es nicht einfach, wieder zu ihm zurückzufinden. Das ist der Gang aus dem Paradies, vor dem bekanntlich der Engel mit dem Flammenschwert steht. Es berührt das, worüber wir vorhin gesprochen haben. Damals sind wir frohgemut in die Zukunft marschiert, erst noch mit Transparenten, lauter kleine Politiker.

Respekt vor jemandem zu entwickeln, auch wenn man die Meinungen dieser Person nicht teilt, wäre mithin auch ein Erbe der Klosterschule? Heute bedaure ich, dass das System unserem Ansturm nicht gewachsen war. Sie waren einfach zu saturiert. Sie hielten es nicht für möglich, dass sie und ihr System, sie und ihr Glaube, sie und ihre Ordnung endlich sein könnten. Wie die katholische Kirche. Die kann sich ebenfalls nicht vorstellen, dass sie vergänglich ist. Jede Macht ist vergänglich – das ist eine Erfahrung aus meiner Jugend. Denn die Macht ist immer das Starre und der Angreifer immer das Bewegliche. In der Rekrutenschule waren wir zu viert, ein Bauernsohn, ein Versicherungsagent und zwei Klosterschüler. Wir waren eine verschworene Zelle. Wir haben uns gewisse Dinge nicht bieten lassen und setzten uns hie und da für Kameraden ein, die von der Militärmaschine entwürdigt wurden. Die Macht war ein Koloss und dementsprechend dümmlich und hilflos, was den Effekt hatte, dass wir vor der eigenen Stärke schier erschrocken sind. (Lacht.) Aber wie gesagt, die modernen Systeme haben sich vom Starren ins Tolerante entwickelt, ins Wattige; wahrscheinlich wäre es heute schwieriger, den Laden aufzumischen.

Eine gewisse Wehmut zumindest scheint aber, für den Leser Ihrer Texte jedenfalls, geblieben zu sein. Man denkt immer: Dieser Autor wünscht sich eigentlich, dass es so etwas geben möge wie einen Gott, der den Menschen erlösen oder die Schrecken der Geschichte versöhnen würde. Als ich das letzte Interview mit Heidegger las… …wo er sagt, dass nur ein Gott uns retten könne? …hat mich dieser Satz wie ein Donner gerührt. Auf das tiefste habe ich seine Wahrheit empfunden, für mich selbst, aber auch für die Welt. Jene Wehmut, von der Sie sprechen, hatte ich schon früh. Deshalb rannte ich wie ein Verrückter quer durch Afrika und Indien, bis nach Kathmandu. Ich hoffte, auf diesen Hippie-Strassen etwas von dem, was ich verloren hatte, wiederzufinden. Vielleicht kann man zu der Auseinandersetzung mit den Erfahrungen, die die Klosterschule mit sich brachte, abschliessend noch ergänzen, dass Sie dort wohl gelernt haben, widersetzlich zu sein, keine Autoritäten fraglos hinzunehmen, sich selbst zu behaupten gegen Ansprüche, die an Sie herangetragen werden. Wenn man so will, hat Thomas Hürlimann dort auch etwas wie einen oppositionellen Geist eingeübt, der später dann bei der Auseinandersetzung mit seiner Heimat, der Schweiz, möglicherweise eine gute Grundausstattung war. In jedem Fall. Unsere Generation hat noch das Glück gehabt, einem System zu begegnen. Da lernt man kämpfen. Die Kinder von heute tun mir da oft ein bisschen leid – ihre Eltern sind eine Watte aus Vernunft und Verständnis. So nehmen sie ihren Nachkommen die Möglichkeit, sie von der Bühne zu kegeln. Gegen einen Wattebausch ist Ödipus machtlos. Missversteht man hier die Aufklärung? Davon haben sie nur einen einzigen Begriff behalten, die Toleranz. Keine Fernsehtalkerei ohne Toleranzbeschwörung, das ist die Apotheose der man-Welt. Heute bin ich meinem Vater für seine Haltung dankbar. Zwischen ihm und mir fanden fürchterliche Kämpfe statt. Beide brüllten, die Mutter weinte, die Schwester flüchtete in den Garten

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Wie haben eigentlich Ihre Eltern und Verwandten darauf reagiert, dass in Ihren Texten häufiger Bezüge hergestellt werden, die eine reale Identität der Figuren nahelegen? Schon in «Grossvater und Halbbruder», Ihrem dramatischen Début, ist von «meinem Vater Hans Hürlimann» die Rede oder von «meiner Mutter Theres Ott». Im «Grossen Kater» ist eine Durchlässigkeit auf den Staatsbesuch des spanischen Königspaares gegeben, als Ihr Vater Bundespräsident war. Und können Sie ein Wort dazu sagen, weshalb Sie diese möglicherweise riskante Methode des Figurenentwurfs wählen? Die Eltern hatten damit kein Problem. Als meine ersten Sachen erschienen sind, das Stück «Grossvater und Halbbruder» und die Geschichtensammlung «Die Tessinerin», standen sie noch unter dem Schock des Todes meines Bruders. Zudem verstanden es beide, mit der Öffentlichkeit umzugehen. Sie bewegten sich ja darin. Für sie war es kein Schock, ihre Namen gedruckt zu sehen. Aber ich habe das nicht etwa aus Widerständigkeit gegen meine Herkunft gemacht. Meine subjektive Dramaturgie kam aus den Berliner Studentenkneipen jener Jahre, wo immer wieder von den Nazivätern die Rede war. Besonders beeindruckte mich die Geschichte eines Mannes, der Jahre nach dem Krieg plötzlich in der Küche sass, ein Heimkehrer aus Russland, grau, mager, ohne Zähne, der unheimlichste aller Gäste, denn er sagte zu dem Jungen, der aus der Schule kam: Ich bin dein 55


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Vater. Der eigene Vater war für den Sohn, meinen Freund Richard Hess, mit dem ich studierte, das fremdeste Wesen überhaupt. So begann ich mich zu fragen: Wie war das denn bei uns? Die Familie meiner Mutter hatte ein Flüchtlingskind aufgenommen, das Hannele – nach dem Krieg war es aber nicht mehr da. Warum? Wo ist es geblieben? Hat es nach Hause gefunden? Keine Antwort. Schweigen. Nebel. Diesen Nebel habe ich zu beschreiben versucht, und zwar aus der «Enkelperspektive», wie es im Stück heisst – mit meinem Namen, meiner Familie. Aber das Verfahren wenden Sie ja auch ausserhalb der politischen Bezüge an, und jenseits des Theaters, eben im «Grossen Kater» oder auch in «Vierzig Rosen», wo das mit der Tätigkeit Ihres Vaters verbundene politische Milieu aufscheint. Welche Gründe hat das? Ich kenne mich in diesen Geschichten aus, deshalb erzähle ich sie. Und ich frage mich nie, warum ich gerade das erzähle, nicht etwas anderes. Genausogut könnte ich mich fragen, warum ich gerade das träume, nicht etwas anderes. Ich schreibe aus derselben Quelle, aus der ich träume. Von dort fliessen mir die Bilder zu, die Worte. Bei Odo Marquard habe ich gelesen, dass «mythein» «erzählen» heisst. Das verweist auf den entscheidenden Zusammenhang, nämlich auf die Frage: Wie kann ich mich an den Mythos anschliessen, an die Urerzählung? Wie komme ich zu König und Königin? Indem ich von Vater und Mutter erzähle. Ich habe ja nur diesen Vater und nur diese Mutter und also nur diese Möglichkeit, an den Urgrund heranzukommen. Etwas anderes steht mir nicht zur Verfügung. Wissen Sie, es ist ganz einfach. Ich möchte schreiben. Ich weiss auch, dass es mir bis zu einem gewissen Grad gelingt, Sätze zu bauen. Aber über den Inhalt, der sich in diese Sätze ergiesst, habe ich keine Macht, da kann ich nicht wählen. In ihn wurde ich hineingeboren. Sie nehmen damit allerdings das Risiko in Kauf, dass es Leute gibt, die sich Ihre Texte unter der biographistischen Schlüssellochperspektive aneignen. Mit diesem Vorwurf muss ich leben. Allerdings kommt jeder Satz, der etwas taugt, in irgendeiner Weise aus dem inneren Erleben. Joyce hat die «Dubliners» geschrieben, weil er aus Dublin kam. Döblin den «Alexanderplatz», weil er hier um die Ecke seine Praxis hatte. Natürlich kann dieses Innere auch das eigene Herz sein, die eigene Seele, es braucht nicht unbedingt eine Ortstafel. * Der vorliegende Text ist ein Auszug aus einem Gespräch, das Thomas Hürlimann und Hans-Rüdiger Schwab im März 2010 in Berlin geführt haben. Vollständig nachzulesen ist es im Band «…darüber ein himmelweiter Abgrund. Zum Werk von Thomas Hürlimann», der von H.-R. Schwab herausgegeben wird und Ende dieses Jahres im Fischer Verlag erscheint. Hans-Rüdiger Schwab, geboren 1955, ist Professor für Kulturpädagogik/Ästhetik und Kommunikation an der Katholischen Fachhochschule Nordrhein-Westfalen, Münster.

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3/3 «Ein feiner, kluger Herr…»* Wie «Fräulein Stark» ins Russische übersetzt wurde Roman Eiwadis

Ein angesehener Petersburger Dichter und Übersetzer, dem ich «Fräulein Stark» von Thomas Hürlimann in meiner Übersetzung geschenkt hatte, meinte beim nächsten Treffen stirnrunzelnd, wobei er mich etwas misstrauisch ansah: «Hör mal, schreibt er denn wirklich so gut …?» Er sprach nicht weiter, aber mir war, als wollte er sagen: «… oder hast du ihn einfach so schön ‹übersetzt›?» Ein kostbares Kompliment für Thomas und ein sehr zweifelhaftes Kompliment für mich. Es gibt nämlich bei den Übersetzern so einen Witz: «Dieser Autor wirkt im Original nicht so effektvoll wie in der Übersetzung.» Diese Verwunderung war mir durchaus verständlich. Vor dem internationalen Übersetzerprojekt «Schritte» hatte ich nämlich die deutsche, das heisst die deutschsprachige Gegenwartsliteratur schon aufgegeben (die russische noch früher! Komisch, aber Tatsache: je mehr «Glasnost» und Freiheit, desto weniger gute Literatur). Ich meine, ich zweifelte nicht daran, dass es talentierte Autoren gab, aber – bildlich ausgedrückt – diese wenigen Perlen im riesigen Misthaufen zu finden, dafür hatte ich keine Zeit und keine Lust. Ich übersetzte seit Jahren friedlich Hermann Hesse, dann Gertrud von le Fort, und sehnte mich nun nach etwas Modernerem. Wie ein Schauspieler, der lange genug Ritter, Könige und Mönche dargestellt hat und sich nun auch in der Rolle eines charismatischen Auftragskillers oder Detektivs versuchen möchte. Und da bekam ich von meiner Kollegin Marina Korenewa, die das Projekt auf russischer Seite organisierte, das obengenannte kleine Büchlein zum Rezensieren (eine kleine Gruppe Übersetzer war damit beauftragt worden, eine relativ grosse Anzahl von Büchern moderner deutschsprachiger Autoren durchzuschauen und die für den russischen Leser interessantesten herauszusuchen). Meine Hürlimann-Impressionen begannen mit dessen Prosa, den Menschen Thomas Hürlimann habe ich ja erst ein halbes Jahr später kennengelernt, wenn man von ein paar E-Mails absieht, die wir ausgetauscht haben. Es war übrigens recht witzig, zum erstenmal einen lebenden Autor zu übersetzen, dem man sogar ab und zu Fragen stellen

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konnte, wenn einem bei irgendwelchen Schwierigkeiten nicht einmal erfahrene deutsche Kollegen helfen konnten. Und an Schwierigkeiten hat es nicht gefehlt. Aber trotz den Schaffensqualen (diese Egoisten von Autoren denken ja nie an die armen Übersetzer, die die scharfe Suppe ihrer Witze und Wortspiele auslöffeln müssen!) habe ich die Arbeit an der Übersetzung von «Fräulein Stark» richtig genossen, weil diese Novelle, wie auch andere Werke von Hürlimann, einem Übersetzer die Möglichkeit gibt, sein ganzes Können zu zeigen. Da gibt es alles – darunter auch lakonische, aber (oder gerade dadurch) unheimlich ausdrucksstarke Landschaftsbeschreibungen und geistreiche, mit unglaublich viel Humor geschriebene Dialoge. (Ich bin nämlich der festen Überzeugung, dass es keinen besseren Weg gibt, die Qualifikation eines Übersetzers einzuschätzen, als zu sehen, wie er gerade Landschaftsbeschreibungen und Dialoge übersetzt.) Und wenn man noch bedenkt, dass das ganze Buch, selbst die traurigsten Kapitel, von feinem Humor durchdrungen ist, den wiederzugeben einem ebenfalls das ganze Können abverlangt, dann versteht man, dass man als Übersetzer Blut und Wasser schwitzen muss, um eine ebenbürtige «Kopie» anfertigen zu können. Was den Humor angeht, so habe ich während der Arbeit oft Tränen gelacht. Humor soll meiner Meinung nach überhaupt das Schlüsselwort sein, wenn man von Thomas Hürlimann sprechen will. Doch das ist ein besonderes Thema, das kommt noch an die Reihe. Erst noch ein paar weitere Worte zu Hürlimanns Sprachkunst. Eine zu auffällige Experimentierfreudigkeit im Bereich Form deutet meist auf einen kümmerlichen Inhalt hin. Für mich ist das inzwischen schon fast ein Axiom. Wenn der Autor weiss, was er eigentlich sagen will – wenn er überhaupt etwas zu sagen hat –, dann braucht er sich nicht zu produzieren. Er muss sich nicht das Hirn verrenken auf der Suche nach Mitteln, den Leser vom Hocker zu reissen. Kurz, an der Form kann man sofort den Inhalt erkennen. Brecht als Verleger bat zum Beispiel einen neuen Autor, den ersten Satz des zweiten (oder vierten) Absatzes auf Seite soundso vorzulesen, und schloss dann mit ihm einen Vertrag oder lehnte das Manuskript ab. Als ich die ersten Zeilen von «Fräulein Stark» gelesen hatte, wusste ich sofort, mit was für einem Autor ich es zu tun hatte. Abgesehen von der Gestaltung der direkten Rede sah ich keine Anzeichen von Supermodernismus und formalen Exzessen. Hürlimann braucht keine Kleinschreibung der Substantive, keine fehlende Interpunktion u.ä., um seine Ideen zum Ausdruck bringen zu können. Der dominierende Eindruck, den ich von Thomas gewann, als wir uns kennenlernten, ist sein einmaliger Humor, der durch seine Neigung zu Übertreibungen besonders schräg wirkt (mit anderen Worten: er lügt meist, wenn er etwas erzählt, dass sich die Balken biegen, und man weiss es, und er weiss auch, dass seine Zuhörer es wissen, und trotzdem brüllt man bald vor Lachen).

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Zwei Geschichten aus seinem «Repertoire» blieben meiner Frau und mir für immer im Gedächtnis: von seinem Kater, vor dem er seinen Reisepass immer verstecken müsse, wenn er auf Reisen gehe, um das intelligente Tier nicht vorzeitig zu verletzen (inspiriert hat ihn zu dieser Nummer meine Erzählung über unseren Kater Grischa, ich müsse unsere Koffer vor der Abreise von der Datscha bei Nacht und Nebel um den Garten herum zum Auto schleppen, damit Grischa sich nicht aus Protest versteckt) und von seiner nächtlichen Moskau-Odyssee. Diese herzzerreissende Geschichte muss ich allerdings etwas ausführlicher schildern. Thomas machte sich an einem späten Abend auf den Weg vom Hotel zu seinem Moskauer Freund, der irgendwo am Stadtrand in einem Neubaubezirk wohnt. Als er in der Gegend angekommen war, fiel ihm siedendheiss ein, dass er den Zettel mit Adresse und Telefonnummer im Hotel hatte liegen lassen. An Details kann ich mich nicht mehr so genau erinnern – die Metro machte schon zu, er hatte kein russisches Geld, weit und breit kein Taxi … Ich weiss nur, dass er weder das Haus des Freundes finden noch zurückkehren konnte. Und das in den letzten Post-Perestroika-Jahren, als selbst ein Einheimischer in einer solchen Situation Probleme hatte zurechtzukommen, von einem Ausländer ganz zu schweigen. Und dazu noch im Spätherbst oder gar im Winter. Der arme Thomas, der unter einem glücklichen Stern geboren zu sein scheint, sass schliesslich bei irgendwelchen bedrohlich aussehenden Pennern am Lagerfeuer und versuchte ihnen klarzumachen, er sei ein Schweizer Schriftsteller, indem er ihnen sein Buch mit seinem Porträt auf der Umschlagseite zeigte, und er habe sich verlaufen. Und wenn mich nicht alles täuscht, ging sein Freund irgendwann einfach auf die Suche nach Thomas, der sich ewiglange nicht gemeldet hatte, und rettete ihn schliesslich. (Ich bin also nicht der einzige Retter von Thomas Hürlimann in Russland!) Und überhaupt, von seinen Abenteuern in Moskau gehen Legenden um. Aber ich will Thomas nicht das Wasser abgraben. Er soll diese Abenteuer lieber selbst in Novellen oder Romanen verarbeiten, die ich dann vielleicht übersetzen darf. Mehr habe ich eigentlich nicht zu sagen zu dieser höchst interessanten Erscheinung namens Thomas Hürlimann; denn wir haben nur ein paar Stunden zusammen verbracht und uns dann leider aus den Augen (aber hoffentlich nicht aus dem Sinn) verloren. Vielleicht noch ein folgendes klitzekleines Detail. Ein deutscher Kollege von mir, dessen Meinung ich voll vertraue, sagte mir einmal, er habe Thomas Hürlimann bei einer Lesung erlebt. Mir sind aus seiner Erzählung (d.h. eher der Erwähnung dieser Tatsache) nur drei Wörter im Gedächtnis geblieben: «Ein feiner, kluger Herr…» * Der vorliegende Text ist ein gekürzter Vorabdruck aus dem Sammelband «…darüber ein himmelweiter Abgrund. Zum Werk von Thomas Hürlimann», der Ende dieses Jahres im Fischer-Verlag erscheint. Roman Eiwadis, geboren 1956 in Kasachstan, lebt als Übersetzer in St. Petersburg.

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Bücher Schweizer Autoren in Kurzkritik XXIX

8 Bücher, vorgestellt in der neunundzwanzigsten Folge der «Schweizer Autoren in Kurzkritik». Fortsetzung folgt.

Schweizer Autoren in Kurzkritik XXIX

Gewerbemuseum Winterthur, Stefan Muntwyler & Hanspeter Schneider (Hrsg.): «Farbpigmente, Farbstoffe, Farbgeschichten». Winterthur: Alata, 2010

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1 Schwarzes Buch in allen Farben

Ein Buch in Schwarz. Nein nicht in Schwarz, sondern in Pfirsichkernschwarz, in Traubenkernschwarz , in Kirschkernschwarz, in Flammruss. So schaut einen das Buch an. Ein schwarzes Buch über Farben. Eigentlich suspekt. Doch schon habe ich es in der Hand, schlage es auf: Bologneser Kreide, Carraramarmor, Rügener Kreide, Champagner Kreide. Irritiert und fasziniert lege ich das Buch auf den Tisch und beginne zu schauen und zu lesen. Nach zwei Stunden bemerke ich die Zeit und bin verloren. Farbpigmente – Farbstoffe – Farbgeschichten. Ein Buch, das mir etwas über Vermeers Mädchen mit dem Perlenohrring erzählt und über die Stukkatur der Klosterkirche Einsiedeln. Aber auch über Bleiweiss und Indigo, Karminrot und Ultramarin. Über Farbpigmente und Mineralfarben, über organische Farben und über Pflanzenfarben. Der Farbforscher Stefan Muntwyler und das «wandelnde Lexikon» für Farbpigmente Georg Kremer entwickelten zusammen mit weiteren Autoren dieses wunderschöne, sinnliche Buch über die Farbwelt. Sie müssen sich bei diesem Buch nicht grün ärgern. Auch bringt Sie nichts zur Weissglut. Vielmehr wird der graue Alltag bunt. Sie können lesen, wie das Wort Farbe etymologisch mit dem Wort Forelle verwandt ist. Dass es im Englischen die schönen Wörter colour und paint und dye gibt, im Deutschen jedoch nur ein Wort – Farbe. Sie können endlich einmal die Unterschiede zwischen Farbmittel und Bindemittel erfahren, zwischen Füllstoffen und Malstoffen. Und was das Musterbuch der Glarner Tüechli mit der «Madonna der Demut» von Benedetto di Bindo zu tun hat. Dieses Buch lehrt Sie das genaue Schauen und Staunen: Russischgrün finden Sie neben Cyprischer Blauegrüner Erde, Ultramarinblau extra dunkel neben Ultramarinblau dunkel und Ultramarinblau hell. 317 einzelne Farben strahlen Sie an. Als Farbmuster, als Steine, als gemah-

lenes und gebrochenes Material und Steinmehl. Sie können die Farben bewundern, die Sie schon immer sehen wollten: Indische Dattel und Neapelgelb, Spinellschwarz und Schüttgelb. Dieses Buch ist auch ein Kompendium des Wissens. Was sind natürliche und was synthetische Mineralfarben? Was natürliche Tier- und Pflanzenfarben und was synthetische organische Farben? Alles ist klar bezeichnet, systematisch angeordnet, gross und detailliert bebildert. Und für wen ist nun dieses Buch, ausser für einen selbst? Für Geographen: aus Brasilien kommt Sodalith; im Departement Vaucluse gibt es den letzten Ockerproduzenten; am Albulapass wird das Steinmehl Alba Albula gefunden. Für Kunsthistoriker: die Farben, die Vermeer 1665/1666 für «Das Mädchen mit dem Perlenohrring» verwendet; die Farben, mit denen Claude Monet 1869 seine «Badende in La Grenoullière» malt. Für Historiker: der Siegeszug der Kolonialware Indigo. Für Chemiker: die chemische Formel von Diketopyrrolopyrrol DPP und Ferrari-Rot. Für Geniesser: das Karminrot für Lippenstifte und Campari. Für Sprachanalytiker: die melodischen Farbbezeichnungen Saftgrün, Beinschwarz, Miloriblau oder Neapelgelb, Farben zum Träumen. Für Köche: Was wird aus Walnussschalen gewonnen? Für Nichtköche: Nach welcher Rezeptur wird Schüttgelb Schützenberger hergestellt? Und dann ist dieses Buch etwas für alle Büchermenschen. Ein wunderbar ordentlich gedrucktes Buch. In 14 Farben. Mit einer klaren und lesbaren und funktionierenden Typographie, gestaltet von Hans Peter Schneider. Sauber, präzise gebunden. Ein Buch mit Register und Glossar. Eine Wohltat fürs Auge und ein Fest für die Sinne. Apropos Fest: kaufen! vorgestellt von Tatiana Wagenbach-Stephan, Buchherstellerin, Zürich

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galerie Haus Konstruktiv

Lazar Khidekel (1904–1986), «Floating Suprematist Structure», Wasserfarbe, Bleistift auf Papier, 30 x 28 cm, 1923, Courtesy: Mark, Regina & Roman Khidekel

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2 Keine Fluchten mehr!

Urs Faes: «Paarbildung». Berlin: Suhrkamp, 2010

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Die männliche Hauptfigur dieses Romans ist Mitte 50 und bekommt ein nachgerade klassisches existentielles Problem: «Wie überspringt man die Jahre, … wie kehrt man noch einmal zu dem zurück, der man war, zu der Frau, die man liebte? Und für die man sich doch nie ganz entschieden hat.» Der so redet, hat als Gesprächstherapeut in der onkologischen Abteilung des Spitals einer «Kantonshauptstadt … an der Aare» eigentlich bereits «zur Routine gefunden». Wie man weiss, kommt dem Psychologen in der Gegenwart die Rolle einer bedeutsamen Sozialfigur zu; als quasi-ritueller Kommunikationsexperte und Helfer bei der Krisen-, mehr noch: Kontingenzbewältigung übernimmt er jene Aufgaben, für die einst die Repräsentanten der Religion zuständig waren. Dieser Nimbus aber erweist sich bei Dr. Andreas Lüscher spätestens dann als brüchig, als ihn plötzlich unausgetragene Konflikte der eigenen Lebensgeschichte einholen. Eines Tages findet er die Krankenakte einer Patientin vor, deren Name ihm höchst vertraut ist. Mit Meret Etter, einer ebenso kämpferischen wie feinnervigen und harmoniebedürftigen Frau, hatte er bis vor sechzehn Jahren eine Liebesbeziehung geführt. Ohne sich auszusprechen, war man schleichend auseinandergedriftet. Merets Kind, von dem er keine Ahnung hatte, «kam nicht zur Welt». Nun wurde bei ihr Brustkrebs diagnostiziert und sie nimmt das begleitende gesprächstherapeutische Angebot der Klinik in Anspruch. Als ob damit jene «Deckung», in die sie voreinander gegangen waren, zur äusseren Szene würde, kommt es zur professionell-distanzierten «Versuchsanordnung» der Kommunikation mit einem Vorhang dazwischen. Immerhin löst dieses «Versteckspiel» beiderseits eine mehrtägige Phase der Besinnung aus. Eines der Worte aus der medizinischen Fachsprache, «für den Strahlenabsorptionseffekt», gewinnt eine doppelsinnige Bedeutung, auf die der Titel anspielt. Mit «Paarbildung» nämlich, und zwar ihrer eigenen, wechselseitigen, die sie nicht geschafft haben, sind beide gezwungen, sich auseinanderzusetzen, bevor auf einer neuen Ebene die verhaltene Wiederannäherung möglich wird. Urs Faes, der damit seinen zehnten Roman vorlegt, ist längst zu einer beständigen und geachteten Grösse über die schweizerische Literatur hinaus geworden. Das Thema des schmerzvollen, gerade deshalb aber auch reinigenden Erinnerns hat ihn von jeher beschäftigt. In seinen Arbeiten

vermag es sich teils mit politischen Verdrängungen zu verbinden («Sommerwende», 1989), zumal jedoch mit dem irritierenden Doppelgesicht der Liebe zwischen Sehnsucht nach Gemeinschaft und Angst vor zuviel Nähe, mit all ihren anfangs vielleicht nur kleinen Unzulänglichkeiten und Unterlassungen, Sprachlosigkeiten und Abstumpfungen, die sich schliesslich zu uneingestandenen Katastrophen auswachsen, in einem zu wuchern vermögen wie Krebs. Immer versetzt dieser Autor seine Figuren in eine Unruhe, die die eingetretenen Erstickungen ihres Alltags aufbricht. Immer schwingt bei ihm die Frage nach dem richtigen Leben mit. Und immer geht sie mit der Bereitschaft zur radikalen Gewissenserforschung einher. Formal schlägt sich das in einer Struktur nieder, die zwischen Gegenwart und Vergangenheit genauso hin und her wechselt wie zwischen den unterschiedlichen Erfahrungen der Beteiligten. Selbst dort, wo er die Schrecken der Krankheit schildert, bleibt Faes’ Sprache beherrscht, ja fast spröde – aber unerbittlich. Die Bedeutung dieses Romans besteht nicht zuletzt in einer beeindruckenden «Aufmerksamkeit für die menschliche Fragilität», wie sie, in einer der vielen Motivspiegelungen, dem während Andreas’ Auszeit in Umbrien gerade gestorbenen Regisseur Michelangelo Antonioni von der Presse eher phrasenhaft nachgerufen wird. Stets aufs neue unterläuft Faes das gängige Gerede von endloser Zukunftsfähigkeit, indem er uns Variationen vormoderner Leitbegriffe wie memento mori oder vanitas zumutet, keineswegs nur dann, wenn auf die «verlorenen Schlachten» der Medizin gegen den Tod verwiesen wird. Das Leben von seinem «Vergehen» her zu denken, stiftet auch in handlungsleitender Hinsicht Erkenntnis. «Wie wenig wir sind, flüsterte Meret, wenn wir diese Sterne betrachten; nicht mal ein Nebelschweif sind wir, nicht einmal das, sondern bloss ein Hauch.» Solche Artikulationen der menschlichen Nichtigkeit sind in der Gegenwartskultur ebenso selten wie der Ausblick auf die unvermeidliche «Wiederbegegnung im Spital, im Heim, am Grab; da fanden sich alle eines Tages». Dass gerade dieser unter den Motivknoten des Textes besonders eng geknüpfte in den Besprechungen des Romans notorisch ausgeblendet wurde, unterstreicht die Berechtigung der Eindringlichkeit, mit der Faes das Thema aufgreift. So ist bei ihm nicht nur Krankheit gleichzeitig eine Metapher – dessen nämlich, bereits «nicht

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mehr ganz am Leben zu sein oder es gar verfehlt zu haben» –, sondern auch die Liebe, die am Ende einer Ausgesetzten und Verletzlichen gilt, deren Metastasen jederzeit wieder auftreten können. Mann und Frau aber haben einen Lernprozess durchlaufen: «keine Fluchten mehr!» Gerade in seiner Endlichkeit und mit seinem Leid ist das eigene und ein gemeinsames Leben zu bestehen. Jene «Hoffnung», die es möglicherweise geben könnte, verbirgt der ebenso diskrete wie listige

Autor in einem alttoskanischen Druck von Psalm 25, den Meret Andreas zuletzt schenkt: «Allevie le angosse del mio cuore, liberami dagli affanni.» Die Übersetzung muss der Leser selbst nachschlagen. Sie lautet: «Befrei mein Herz von der Angst, führ mich heraus aus der Bedrängnis.» vorgestellt von Hans-Rüdiger Schwab, Professor für Kulturpädagogik, Münster

3 Gönnen können Es ist die alte Geschichte und eine denkbar einfache Gleichung: Menschen können nicht gönnen, darum kommt es immer, wie es kommen muss. Mit dieser Formel lässt sich die europäische Geschichte von der Völkerwanderung über die Besiedlung Amerikas bis zum Ersten Weltkrieg erklären. Oscar Peer krempelt die Historie nicht um, er erfindet nichts Neues hinzu. Er erzählt karg und klaustrophob die sehr europäische Geschichte des ungebildeten Menschen, der in seiner engen Heimat an den Rand der Existenz gedrängt wird, der an den wenigen Orten, wo er sich geborgen fühlte, plötzlich keinen Halt mehr findet. Und so kommt es, wie es kommen muss: Chasper aus dem Engadin, aufgewachsen auf der weltabgewandten Seite der Berge, Sohn eines versoffenen Vaters und einer verhuschten Mutter, fehlt nach dem Tod der Eltern jeder Groschen. Mit nichts als Schulden und einem windschiefen Bergbauernhof sieht er die Geier kreisen, der Dorfbürgermeister besitzt angrenzende Weiden, hungriges Vieh und die Schuldscheine. Chasper

jedoch ist ein mutiger Mensch, er hat Freunde – glaubt er. Er hat Familie – glaubt er. Also weigert er sich schlicht, zu verkaufen. Das dreihundert Jahre alte Haus gibt er nicht her – glaubt er. Aber die Menschen können nicht gönnen – vergisst er. Es kommt, wie es kommen muss, die vertrackte Situation spitzt sich zu bis zu dem Punkt, an dem Chasper nur der eine Weg bleibt… – mehr wird hier nicht verraten, denn Oscar Peer hat mit «Das alte Haus» eine spannende Novelle verfasst, die zu einem unerwarteten Ende findet. Doch nicht nur das. Er schreibt mit ungezierter Wucht, nach einem straffen Plot, in klarer Sprache und legt so, ohne Allüren, Philosophie und Religion, das erbarmungslose Leben vor den Leser. Das ist keineswegs frustrierend oder hoffnungslos. Es ist, wie es ist. Und hinter den Engadiner Alpen liegt das Meer, und dahinter… – aber mehr soll ja nicht verraten werden.

Oscar Peer: «Das alte Haus». Zürich: Limmat, 2010

vorgestellt von Michael Harde, Lehrer & Eifelbauer, Schalkenbach

4 Unliterarisch? Er sei der «unliterarischste aller Schweizer Schriftsteller», meinte Carl Albert Loosli (1877–1959) einmal bittersüss über sich selbst. Denn ab 1900 hatte er sich sechs Jahrzehnte lang wie kein zweiter mit Wort und Tat unermüdlich den Aussenseitern der Gesellschaft gewidmet. Bei all dieser humanitären Leistung blieb aber trotz der atemraubenden Sprache eines weitgehend auf der Strecke: das Ansehen Carl Albert Looslis als belletristischen Schriftstellers. Hugo Loetscher nahm sich in seinen letzten Lebensjahren vor, dieses Urteil zu revidieren. Nach seinem plötzlichen Tod haben F. Lerch und E. Marti, die beiden Herausgeber der Werkausgabe Looslis

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(Rotpunkt: 2006–2009) , nun den Berner Schriftsteller Pedro Lenz mit der Herausgabe von «Loosli für die Jackentasche» (der Titel stammt noch von Loetscher) betraut. Das Ergebnis ist zweischneidig. Lenz teilt das Lesebuch in drei Teile: Geschichten, Gedichte und Satiren. Obwohl mit dieser Einteilung schon etwas vorschnell auf Auszüge aus Romanen oder weiteren literarischen Gattungen verzichtet wird, bleibt jeweils für bloss knapp ein Dutzend Geschichten und Satiren Platz. Dafür bietet Lenz den Lesern 70 Gedichte. Dagegen wäre nichts einzuwenden, wenn jedes ein solch bewegendes Stück wäre wie etwa «Der Seelenzug», oder so treffend zynisch wie die erste Strophe von

Pedro Lenz (Hrsg.) «Loosli für die Jackentasche». Zürich: Rotpunkt, 2010

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«Demokratie»: «Ihr braven Leute nennt euch Demokraten, / Weil euch das Stimmrecht in den Schoss gelegt, / Und seid so bettelarm an braven Taten; / Ihr habt euch um den Mammon stets bewegt! / Der Sinn der Freiheit, der in euch sich regt / Beim Bier allein, im Qualm, am Wirtshaustische, / Er ist berechnet und ist überlegt, / Euch fehlt der Mut, euch fehlt die kecke Frische / Und eure Rechte sind nur lose, leere Wische!». Leider ist aber hier, wie bei früheren Ausgaben von Gedichtsammlungen Looslis, die Qualität durchzogen. Auch bei der Auswahl der Geschichten hat Lenz keine glückliche Hand. Wirklich grossartig sind nur knapp die Hälfte der zwölf Texte. Und hier wäre eindeutig mehr drin gelegen, bietet doch etwa der vierte Band der Werkausgabe bereits eine literarisch anspruchsvollere Auswahl. Gut gelungen ist dafür der dritte Teil. Die Satiren – ohnehin eine Stärke Looslis – sind klug gewählt und vermögen bei einem Leser, der sie nicht kennt, Lust auf den Schriftsteller zu wecken.

Das Hauptproblem des Bandes ist seine unklare Zielumsetzung. Während der Titel und die ursprüngliche Idee von einer Art Best of Loosli ausgehen, ist jetzt eine stattliche Anzahl unveröffentlichter Texte mitaufgenommen, die nicht in die verdienstvolle Werkausgabe aufgenommen werden konnten. Für einen begeisterten Kenner Looslis ist das ein Vergnügen, und er dankt es dem Herausgeber. Für den noch abtastenden Leser hätten jedoch nur die besten literarischen Texte hier landen dürfen. Eines ist dem Band dafür nicht zu nehmen: Pedro Lenz verleiht ihm durch seine Bekanntheit die nicht zu unterschätzende Chance, dass Carl Albert Loosli auch von Lesern zur Kenntnis genommen wird, die den Namen bislang nicht gehört haben. Es ist ihm zu wünschen! vorgestellt von Dominik Riedo, Schriftsteller, Luzern

5 Süditalien retour

Sylvie Neeman Romascano: «Nichts ist geschehen». Zürich: Rotpunkt, 2010

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Der Zug war eine gute Wahl, auch wenn die Reise in den Süden Italiens Stunden dauert. Mit dem Auto wäre es zu weit gewesen. Nach der Mitteilung, dass ihr Vater im Sterben liege, hat Dora schnell ein paar Dinge eingepackt und sich auf den Weg gemacht. Im Speisewagen setzt ein netter Mann sich ihr gegenüber und zieht sie in ein Gespräch. Wegen Francesco trifft Dora schliesslich verspätet zu Hause ein. Der Vater ist begraben, der Bruder wieder verschwunden, der Hausstand beinahe schon aufgelöst. Es geschieht nicht viel in Sylvie Neeman Romascanos Roman «Nichts ist geschehen» – und wenn was geschieht: ist es das tatsächlich? Zum Beispiel die Geschichte, die Francesco erzählt. Er habe einen Brief bei sich, den ihm ein Fremder in Mailand überreicht hätte, damit er ihn in den Briefkasten werfe. Weil er die Adressatin flüchtig kenne, bringe er diesen Brief, einen Abschiedsbrief, nun persönlich vorbei. Doch tut er dies wirklich? Während ihrer Zugfahrt taucht die Erzählerin in einen taumelnden Gedankenstrom, in dem sie sich selbst sehr genau beobachtet. «Während man die Kaffeetasse anstarrt, merkt man, wie sehr der Löffel fehlt, man könnte auch sagen, dass man ihn vermisst…» – wie einen «Rettungsring», an dem man sich festhalten könnte. Das distanzierende «man» kennzeichnet ihr Selbstgespräch. Es ist der Versuch, «sich selbst zu entfliehen» – ein vergebli-

cher Versuch. Erst die Begegnung mit Francesco öffnet flüchtig ein Fenster zum erzählenden «Ich». Dieser diskrete Dreh verleiht der Prosa ihren unverkennbaren Reiz. Der luftige Wechsel zwischen «man», «sie» und «ich» grundiert die Suche der Erzählerin nach etwas, das «normal» und doch anders wäre, «was vom Gewöhnlichen abweicht, alles, was den Lauf der Ereignisse behindert». Erinnerungen an die Kindheit und den verstorbenen Vater tauchen nur flüchtig auf, die Gegenwart beschäftigt Dora zu sehr. Die von leichter Melancholie angewehte, bewegliche, genaue und immer auch spielerische Sprache erhält im zweiten Teil mehr Gravität. Auf der Rückfahrt versucht die Erzählerin einzuordnen, was geschehen ist, hätte geschehen sein können, gar nie geschah. In gewundenen Sätzen legt sich die Sprache schwer auf Doras Gedanken, bis ihr mit einem mal bewusst wird, «was in meinem Leben wirklich nötig wäre»: ein Kind, oder jemand, der einen am Bahnsteig erwartet. Diese Entschiedenheit wird gegen Schluss nochmals aufgelöst, in einer Wiederholung der mysteriösen Briefgeschichte. In Mailand beobachtet Dora, wie Francesco einem Fremden einen Brief zusteckt… Einen Liebesbrief an sie? vorgestellt von Beat Mazenauer, Literaturnetzwerker, Luzern

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Bücher Schweizer Autoren in Kurzkritik XXIX

6 Sau-Ton – pianissimo gestrichen «Technik habe ich keine, aber einen Sau-Ton.» Der das sagt, ist ein «braver Schweizer Cellist» in einem von Urs Frauchigers früheren Büchern «Der eigene Ton» (2000). Und Gidon Kremer, der russische Meistergeiger, präzisiert: «Der grosse Ton ist ein Ton, der mit der Person, die ihn erzeugt – und nur mit dieser Person – zusammengewachsen ist.» Im neuen Buch Urs Frauchigers nun, «damals ganz zuerst am anfang», ist ein solch eigener, grosser – ein solcher Sau-Ton (inklusive Technik) laut und deutlich zu vernehmen. Auch wenn er piano – besser noch: pianissimo gestrichen ist. Denn Urs Frauchiger, 1936 im Emmental geboren, ist nicht nur Autor zahlreicher Publikationen sowie Musiktheoretiker in verschiedenster Mission, Urs Frauchiger ist – vielleicht in erster Linie – Cellist. Jedenfalls Musiker durch und durch, Cellist mit Leib und Seele. In seinem neusten Buch ist von seinen Anfängen die Rede, vom Anfangen auf dieser Welt, die für das Kind eine gestrenge, schulmeisterliche Regel-Welt war. Und von der Musik, die darin ihren Platz einnahm, schamhaft befangen zu Hause, durchexerziert in der Schule. Beide Eltern waren Lehrer, das Zuhause, im Schulhaus, ein Ort der Zucht und Ordnung und des elterlichen Streits. Der Vater, ein Traumtänzer – ein «Feigling», so die Mutter –, rettet sich in den Zynismus, in den Alkohol und ans Klavier. Wenn er spielt, darf keiner zuhören; wenn aus dem Radio Beethoven ertönt und er, vor sich die

Partitur, tränenüberströmt (mit)dirigiert, hat das Kind sich unbemerkt aus dem Zimmer zu stehlen. Urs Frauchigers Erinnerungspassagen sind Zeugnisse vom Verlorengehen und vom Wiederfinden. Einzelne Szenen, nicht eine lineare Geschichte, fügen sich zu einer schwierigen Kindheit, die dennoch das Kind ungebrochen als waches, beobachtendes und hartnäckig fragendes Wesen bewahrt. Erzählt wird mit feiner, leiser Stimme und immer mit jenem humorvollen Unterton, der den kindlichen Widerstand gegen die Verletzungen unterstreicht. Eine Stimme, zusammengewachsen mit Urs Frauchigers Person, zu dessen alleinigem «Sau-Ton». Larmoyanz hat keinen Platz im Buch. Die Szene mit der lachenden Mutter – «sie schüttelte sich vor Lachen» –, nachdem das Kind vom Vater eine Ohrfeige bekommen hat und weint, fliesst so ruhig dahin wie die Glückserfahrung in der Weihnachtszeit. Das Kind, noch nicht schulreif, sitzt warm angezogen auf der Schulhaustreppe und hört den Weihnachtsliedergesang: «Das war Glück: Draussen an der Kälte zu sein und warm zu haben, ausgesetzt, sich selber ausgrenzend, eine heimische Türfalle in Reichweite, verloren im unerbittlichen Walten der Natur, während drinnen auf dem Kochherd eine warme Suppe köchelte…» Die Treppe ist für das Kind ein Ort zwischen Verlorengehen und Wiederfinden, ein Ort, nicht da, nicht dort – (s)ein Glücksort. Ein Glücksfall, so wie das Buch, das nun vorliegt.

Urs Frauchiger: «damals ganz zuerst am anfang». Frauenfeld: Huber, 2010

vorgestellt von Silvia Hess, Literaturkritikerin, Ennetbaden

7 Lakonie schlägt Pathos Ein schmaler Gedichtband von rund 70 Seiten wird leicht übersehen oder für zu leicht befunden. Die zweite Buchveröffentlichung von Roman Graf ist jedoch alles andere als leicht, weder leicht geschrieben noch leicht zu beschreiben. Es ist auch nicht einfach, den Autor zu loben, weil er sich dem leicht Gefügigen und Gefügten mit Kunstverstand widersetzt. Nur das Widersetzliche ist ihm Poesie; rar sind demnach die forcierten Fügungen und Schlaumeiereien. Der spröde, eher abweisende Titel «Zur Irrfahrt verführt» ist zugleich ein Vers aus dem Gedicht «Dame» und geht dort weiter «Zur Irrfahrt verführt, / Verirrt er sich nicht». Womit der König gemeint ist und sich der Doppelsinn von «Dame» einstellt, den das Nabokov-Motto im vorangegangenen Gedicht «Plagwitz» fürwitzig eingeführt hat: «Einsam

steht der König», heisst es dort. Und vorbei ist es mit der Feierlichkeit; der hohe Ton wird in dieser Lyrik nicht selten geerdet, Lakonie schlägt das immer wieder lockende Pathos in einem Zug. Roman Grafs Gedichtband kennt alle Eröffnungen, die notwendig sind, um im Schach- wie Sprachspiel zu bestehen. Kaum ein Wort, das nicht beim Wort genommen würde, kein Zitieren, das nicht wüsste, was es tut. Und das nicht nur in der Versfolge «Ein zitierter ‹Tittenhalter› / Hängt später Stunde / Und zeigt irgendwohin». Hier ist Rolf Dieter Brinkmann aufgerufen worden, der sich auch in der keineswegs vollständigen Liste der am Schluss Bedankten findet; ebenso wie Stefan George oder der nur Spezialisten bekannte, frühverstorbene österreichische Autor Reinhard Priessnitz aus dem Umkreis der Wiener Gruppe.

Roman Graf: «Zur Irrfahrt verführt». Zürich: Limmat, 2010

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Bücher Schweizer Autoren in Kurzkritik XXIX

So manches, das halten soll, hängt; anderes wiederum, das zeigen soll, steht einsam. Grafs Lakonie kennt nicht nur die Lust am Absturz von Sinn, sondern auch die Trauer darüber. Zerfall, Verdruss, Vergänglichkeit kehren wieder, und eben das potenziert und provoziert die poetische Gegenrede. Oft wird die Zeit beschworen, des Tages Wechsel wie jene der Jahre und Jahreszeiten, verknüpft mit Orten der Erinnerung an Unverlierbares wie Verlorenes. Die Evokation von Zeit, die nicht unüberlegte Wiedergabe von Daten und Jahresangaben in Ziffern oder Buchstaben sind der prägende Eindruck der ersten Lektüre. Dazu passen die Versuche, eine vergangene Welt (der Kindheit, des Liebens) zu wiederholen bzw. wiederzuholen. Melancholie ist ein sich einstellender Effekt, besonders wenn die verlorene Zeit sich mit Orten der Erinnerung einprägsam verknüpft. Oder aber mit dem Ereignis

des Verlusts, der Trennung und des Nachdenkens darüber, meistens im Blues-Ton des fahrenden Zugs oder der nicht minder traurigen Spaziergängermelodie Robert Walsers dargeboten, dem nicht im Anhang, sondern in einem Gedicht («Einfache Rede») die Ehre gegeben wird. Überhaupt gehören die verschwiegenen wie ausgesprochenen Hommagen an andere Wortarbeiter zum Repertoire dieses Bandes. Neben dem in mehrfacher Hinsicht herausragenden «SapphoLabor» mit Grafs Nachdichtungen haben mich vor allem seine Versuche mit Rolf Bossert überzeugt, dem er in dem Kapitel «Neuntöter» einen schmerzenden Tribut gezollt hat. Wer solche Gedichte macht wie Roman Graf, kann auch abstürzen; aber nur wer das in Kauf nimmt, kann solche Gedichte machen. vorgestellt von Karl Wagner, Professor für Germanistik, Zürich

8 Anrufung der Melancholie

Andrea Neeser: «Unsicherer Grund». Innsbruck: Haymon, 2010

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Andreas Neeser könnte ein Minimalist sein. Aus lyrischen Bezügen kommend, monogrammiert er die Welt auch in seiner Prosa. Für die acht Erzählungen in seinem neuen schmalen Band «Unsicherer Grund» beansprucht er gerade einmal hundert Druckseiten. Das kennt man von den prosaschreibenden Lyrikern, dieses Anwenden des lyrischen Prinzips auf Prosatexte, das Vermengen lyrischer Momente mit prosaischer Narration, und man kennt das übliche Ergebnis: Verkappung. Neeser aber ist kein Minimalist, bei ihm kann von verkapptem Erzählen keine Rede sein. In den acht ruhigen, genau gearbeiteten Erzählungen des schmalen Bandes geht es um in jeder Hinsicht einzelne. Einzelgänger wäre hier das falsche Wort, denn Neeser zielt mit der Figur des einzelnen nicht auf ein Eigenbrötlertum, sondern auf nichts Geringeres als das Alleinsein mit sich und der Welt. Darauf rekurriert auch der Titel «Unsicherer Grund», der einerseits sich auf den Boden unter den Füssen beziehen, anderseits im Sinne einer mangelnden Begründung verstanden werden kann, als Markierung unbekannten Verlusts. Neeser ruft in seinen atmosphärischen Erzählungen die Melancholie an, und er tut das meisterlich. Er kommt ohne jedes Raunen aus, vermeidet das Bedeutungsschwere mit leichter Hand. «Bei der Haltestelle U-Bahnhof steige ich aus dem Bus der Linie 32 aus. Ebensogut hätte ich weiterfahren können oder die Linie wechseln, aus der Stadt hinaus, in eine weitere Nacht nach einem weiteren

Tag. Es hätte keine Rolle gespielt.» Der Ich-Erzähler in «Damals an Ostern» leidet unter Bandscheibenschmerzen und an der Trennung von Stefanie und deren Kind. In dieser Erzählung entscheidet sich Neeser für eine Situationsbeschreibung, während er in den anderen sieben gekonnt Wendepunkte setzt und seine Figuren eben auf sicheren Grund stellt. Zwar verwendet er stets das Mittel der Introspektion und fügt dabei erzählerische Versatzstücke nach und nach zu einer Erzählung. Aber die Puzzles gehen stets auf; etwa in «So viel Leben», worin ein Büchersammler von seiner Obsession geheilt wird, als er sich vor einem liquidierten Buchantiquariat wiederfindet; oder in «Gran Partita», worin der Schrei einer Möwe den Wendepunkt in der Befindlichkeit des Ich-Erzählers auf einem Strandspaziergang markiert: «Ein erster, ein einziger, ein Ton aus dem voranfänglichen Sturm am Meer, voller Absicht und Bewusstsein. Es ist der Ton einer Klarinette, hoch, spitz und kurz. Vielleicht ein Gruss, ein Scherz im Übermut. Zu entscheiden ist es nicht, und sicher ist nur: Am Anfang der Welt ist die Klarinette im Wind.» Andreas Neesers einzelne sind einzelne auch deshalb, weil sie um ihre Situation wissen. In «Einsame Magier», der vielleicht schönsten Erzählung des Bandes, bringt das der Ich-Erzähler auf den Punkt: «Man kann nicht stehenbleiben, wo man nicht mehr ist.» Neeser selbst ist als Erzähler weit gegangen – zu unserem Genuss. vorgestellt von Perikles Monioudis, Schriftsteller, Zürich

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nachruf Anton Krättli

Von 1965 bis 1994 war Anton Krättli Redaktor der «Schweizer Monatshefte». Am 11. November ist er achtundachtzigjährig in Aarau gestorben.

Anton Krättli Robert Nef & Michael Wirth

Als Anton Krättli im Januar 1994 die Leitung des Kulturteils der «Schweizer Monatshefte» in jüngere Hände legte, hatte er der Zeitschrift während 28 Jahren als Kulturredaktor gedient – eine beeindruckende Zeitspanne, die heute, angesichts des immer mehr auf unmittelbare Aktualität ausgerichteten Kulturbetriebs, zur Ausnahme geworden ist. Dabei wäre es gerade im Kulturbereich wichtig, dass man der Kontinuität mehr Beachtung schenken würde. Mit guten Gründen kann man rückblickend von einer «Ära Krättli» reden, und sein Name bleibt untrennbar mit der Geschichte der Zeitschrift verbunden. Krättlis Kritikerurteil war nie anmassend, und es war in einer seltenen Weise unbestechlich. Als er 1965 von der Tageszeitung «Winterthurer Tagblatt» zu den «Schweizer Monatsheften» wechselte, entdeckte und nutzte er schnell die Möglichkeiten einer Monatszeitschrift. Getreu der Überzeugung seines Doktorvaters Emil Staiger («Die Farben der Lyrik in der Goethezeit», so das Thema von Krättlis Doktorarbeit), galt es in Kultur und Literatur, das Einzigartige zu identifizieren und zu vermitteln. Anton Krättli erkannte als einer der ersten die Bedeutung von Hermann Burger. Als Adam Nautilus Rauch hat Burger Anton Krättli in seinem Roman «Brenner» aus seiner Sicht literarisch charakterisiert. Diese Namensgebung soll hier nicht aufgeschlüsselt werden, 66

aber der Vorname Adam weist doch auf Bleibendes, Allgemeinmenschliches hin. Dem Schaffen Jürg Federspiels, E.Y. Meyers, Hugo Loetschers und Adolf Muschgs galt die besondere Aufmerksamkeit des Redaktors. Viele Schweizer Autoren wussten seine Kompetenz und Fairness zu schätzen. Unter ihnen Friedrich Dürrenmatt, Hans Boesch, Klaus Merz, die Anton Krättli zur Erstveröffentlichung in den «Schweizer Monatsheften» ihre Kurzprosa anvertrauten. Selbstverständlich wandte er sich immer auch dem grösseren deutschen Sprachraum zu. Günter Grass, Heinrich Böll, Kurt Drawert, Albert Drach, ganz besonders aber auch Thomas Bernhard sind in einer langen Reihe von Kritiken und Aufsätzen ausführlich diskutiert worden, die sich in kleine Monographien zusammenfügen liessen. Insgesamt hat Anton Krättli in 28 Jahren 325 Beiträge für seine Zeitschrift geschrieben. Einen weiteren Schwerpunkt seiner Redaktionstätigkeit setzte Krättli in den sechziger Jahren mit den «Zürcher Theaterbriefen» unter dem Pseudonym Lorenzo. Hier finden sich nicht nur Aufführungsbesprechungen, sondern Überlegungen zum Spielplan, zur Führungsstruktur des Zürcher Schauspielhauses, zur Förderung junger Dramatiker. Auch die Reflexion über das eigene Tun war ihm ein wichtiges Anliegen: 1982 gab Anton Krättli ausgewählte Beispiele seiner Zeitschriftenarbeit in einer dreibändigen Sammlung «Zeit Schrift» heraus, 2002 liess er den Band «Momentan nicht im Gespräch» folgen, einen vielbeachteten Rückblick auf seine Kritikertätigkeit. Für sein vielfältiges Schaffen erhielt Krättli mehrere Auszeichnungen, darunter 1976 die Ehrengabe des Kantons Zürich und 1994 den Aargauer Literaturpreis. In Deutschland war der Kritiker aus Aarau Mitglied renommierter Literaturjurys. Zwischen 1975 und 1991 leitete Anton Krättli, zusammen mit François Bondy als Verantwortlichem für das Wirtschafts- und Politikressort, die Geschicke der «Schweizer Monatshefte». Beiden war die Überzeugung zu eigen, dass auch Wirtschaft und Politik kulturelle Phänomene seien, und sie unterstellten den publizistischen Geist der «Schweizer Monatshefte» konsequent dieser Maxime, so wie es später auch die Autoren dieses Beitrags taten – der eine ab 1991 noch zwei Jahre lang als Anton Krättlis Kollege, der andere ab 1994 als sein Nachfolger – und die den regelmässigen Gedankenaustausch mit ihm zu schätzen wussten, meist bei einem guten Tropfen am Hallwyler See. Anton Krättli ist am vergangenen 11. November achtundachtzigjährig in Aarau gestorben. Robert Nef, geboren 1942, war bis 2008 Redaktor für Politik und Wirtschaft sowie Mitherausgeber der «Schweizer Monatshefte». Michael Wirth, geboren 1957, war von 1994 bis 2002 Redaktor für Kultur und Mitherausgeber der «Schweizer Monatshefte».

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anstoss Yves Kugelmann

Was heisst denn hier Freiheit? Zitiert aus «The Freedom of the Press», in «The Times Literary Supplement», 15. September 1972.

Ein Anstoss von George Orwell: «Wenn Freiheit überhaupt irgend etwas bedeutet, dann das Recht darauf, den Leuten das zu sagen, was sie nicht hören wollen.»

Eine Antwort aus dem Stegreif von Yves Kugelmann ben wir etwa auch gegen die Ausschaffungsinitiative. Nicht aus parteipolitischen oder ideologischen Gründen, sondern weil sie eine ethnische Unterscheidung macht, vor der der Rechtsstaat schützen sollte. Schliesslich geht es um die Grundrechte, um die Freiheiten und Pflichten, die für alle gelten. Bei uns ist der Journalist an der Front ausschlaggebend, er muss die Freiheit haben, so zu schreiben und recherchieren, wie es ihm richtig erscheint, ohne parteipolitische oder redaktionspolitische Doktrin. Das letzte Wort hat in der Regel er und nicht die Redaktionshierarchie. Es stimmt, es ist ein schwieriger Spagat, einerseits das zu schreiben, was niemand hören will, und anderseits darauf angewiesen zu sein, die Zeitschrift zu verkaufen. Aber letzFoto: S.-V. Renninger teres ist nicht die entscheidende Wegleitung für uns. Thema und Recherche müssen stimmen, die Quote ist nicht gleich massgebend. Gerade in der liberalen Berichterstattung über «Das Zitat von Orwell hat mit unserem daily business viel den Nahostkonflikt bringen wir viele Artikel, die auf linker zu tun. Dass die Leute nicht immer hören wollen, was wir oder rechter Seite niemand hören und lesen will. Ein Meschreiben, gehört zur Mediengesellschaft. Und das ist gut dienprodukt braucht dieses Profil, nur dann funktioniert es so. Medien brauchen diese Reibung. auf Dauer und nur dann verkauft es sich. Eine Konsequenz: wir wurden in den letzten Jahren oft Die Meinungen in «Tachles» sind oft kontradiktorisch. eingeklagt oder vor Schiedsgerichte gezerrt. Etwa vom Jüdi- Das liegt sicher auch in der jüdischen Tradition. Wir sind eischen Weltkongress ab 2003. Es ging damals um den General- ne heterogene, dialektische und oft paradoxe Gemeinschaft. sekretär Israel Singer, den wir im Wochenmagazin «Tachles» Daher stammt auch der Ausspruch: die jüdische Antwort als wenig integren Funktionär entlarvt hatten. Die grossen ist die Gegenfrage. Man kann es auch so sagen: Judentum Schweizer Verlage reagierten auf die Klagen mit aussergericht- ist eigentlich nichts anderes als eine Art Existentialismus, lichen Vergleichen und stoppten die Berichterstattung. Doch der nach Freiheit strebt. Dabei geht es meiner Generation unser damaliger Verleger sagte: Wir lassen uns den Mund auch um die Befreiung aus der Selbstghettoisierung, um die nicht verbieten. Es folgten heftige Jahre, aber so musste es sein. Befreiung aus der Holocaustthematik. Nicht um zu vergesEntscheidend war, dass der Verleger bereit war, hohe Kosten sen oder zu relativieren. Keinesfalls. Doch man kann nicht für Prozesse und Anwälte aufzubringen. So konnten wir die ständig Gefangener von Herrn Hitler bleiben. Recherche weiterziehen. Singer wurde schliesslich vom New Die Grundlage des Orwellschen Zitats ist auch die Yorker Staatsanwalt und seinem ehemaligen Chef verklagt. Grundlage unserer Werte: die Allgemeine Erklärung der Gerade jüdische Funktionäre bezeichneten uns damals als Menschenrechte der Vereinten Nationen, die vor allem auch Nestbeschmutzer. Sie machten jenen Fehler, gegen den sie Freiheitsrechte sind. Die Erklärung hat jeder bei uns über täglich ankämpfen: Singer sollte nicht die gleiche juristische seinem Arbeitstisch hängen. Durch sie legitimiert sich unUntersuchung erfahren wie ein nichtjüdischer Funktionär. sere journalistische Arbeit, durch sie wird die Grenze unFür uns aber gilt, ob jemand Gesetze bricht oder nicht. Man serer Freiheit definiert. Und nicht durch die Rücksicht auf kann nicht religiöse, ethnische oder kulturelle Vorzeichen das, was andere nicht hören wollen.» zum Massstab der Berichterstattung machen. Deshalb schrieaufgezeichnet von Suzann-Viola Renninger Yves Kugelmann, geboren 1971, ist Inhaber der JM Jüdische Medien AG und Chefredaktor des Wochenmagazins «Tachles».

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vorschau

impressum

schweizer monatshefte, 982 90. Jahr, Ausgabe Dezember 2010 ISSN 0036-7400 verlag SMH Verlag AG Herausgeber Suzann-Viola Renninger, René Scheu (CEO) Ressort politik & Wirtschaft René Scheu Ressort Kultur Suzann-Viola Renninger Redaktioneller Mitarbeiter Florian Rittmeyer Korrektorat Reinhart R. Fischer Die «Schweizer Monatshefte» folgen den Vorschlägen zur Rechtschreibung der Schweizer Orthographischen Konferenz (SOK), www.sok.ch. Gestaltung und Produktion Atelier Varga, Suzann-Viola Renninger marketing & Verkauf Urs Arnold administration/leserservice Barbara Dieth (Leitung), Rita Winiger Volontariat Michael Wiederstein Caro Niederer, UBS Art Collection (Courtesy Hauser & Wirth)

Die nächste Ausgabe Das Dossier der Ausgabe Januar/Februar 2011 gilt dem Thema «Pensionskassen: David gegen Goliath». Gast in der Galerie ist Caro Niederer.

Aus der Agenda 2011

«Notrecht & Rechtsstaat» «Vom Umgang mit Risiko» «Unternehmertum»

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Freundeskreis Franz Albers, Georges Bindschedler, Ulrich Bremi, Elisabeth Buhofer, Walter Diehl, Hans-Ulrich Doerig, Peter Forstmoser, Annelies Haecki-Buhofer, Manfred Halter, Familie Kedves, Creed Künzle, Fredy Lienhard, Heinz Müller-Merz, Daniel Model, Hans Walter Schmid Adresse Verlag & Redaktion: «Schweizer Monatshefte» SMH Verlag AG CH-8006 Zürich, Vogelsangstrasse 52 Telefon 0041 (0)44 361 26 06 www.schweizermonatshefte.ch Anzeigen «Schweizer Monatshefte», Anzeigenverkauf anzeigen@schweizermonatshefte.ch Preise Schweiz jährlich Fr. 139.– / € 93.– Ausland jährlich Fr. 165.– / € 110.– Einzelheft Fr. 17.50 / € 11.– Studenten und Auszubildende erhalten 50% Ermässigung auf das Jahresabonnement. Druck ea Druck + Verlag AG, Einsiedeln bestellungen www.schweizermonatshefte.ch

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