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Ich ruf zu dir, Herr Jesu Christ

ZUM WERK JOHANN SEBASTIAN 20 BACH/ANDERS HILLBORG Ich ruf zu dir, Herr Jesu Christ

SEHNSUCHT NACH ERLÖSUNG

VON CORINA KOLBE Die Musik von Johann Sebastian Bach berührt die Menschen seit Jahrhunderten. Ihre Unvergänglichkeit liegt nicht zuletzt darin begründet, dass sie so vielfältig wandelbar ist. Bach selbst bearbeitete eigene und fremde Werke unermüdlich für verschiedene Besetzungen, und manche Instrumentalstücke gingen auch in seine Kirchenkantaten ein. Bis heute regt sein Schaffen viele Komponisten dazu an, sich kreativ mit diesem unerschöpflichen Erbe auseinanderzusetzen. Auch Anders Hillborg, in dieser Saison ‹Composer in Residence› beim Sinfonieorchester Basel, hat sich von Bach inspirieren lassen. Das Choralvorspiel Ich ruf zu dir, Herr Jesu Christ, BWV 639, zog ihn derart in seinen Bann, dass er es für eine ganze Reihe von Einzelinstrumenten setzte. Mit ‹Artist in Residence› Pekka Kuusisto ist das 2015 entstandene Arrangement für Solovioline und Streichorchester nun in Basel als Schweizer Erstaufführung zu erleben.

Das ursprünglich für die Orgel geschriebene Choralvorspiel basiert auf einem lutherischen Kirchenlied aus dem 16. Jahrhundert, zu dem der Reformator Johannes Agricola einen Text in fünf Strophen verfasst hatte. Während seiner Amtszeit als Hoforganist und Kammermusiker in Weimar komponierte Bach zwischen 1712 und 1717 insgesamt 46 Orgelchoräle. Das ehrgeizige Ziel, sage und schreibe 164 Orgelchoräle zu vollenden, erreichte er nicht. Die im Orgelbüchlein vereinten Werke zählen aber zu

seinen schönsten Kompositionen für die ‹Königin der Instrumente›. Als einziges Stück in dieser Sammlung wurde Ich ruf zu dir, Herr Jesu Christ für drei Stimmen ausgeführt. Bei der Mittelstimme orientierte sich Bach offensichtlich an der Imitatio violistica, einer von dem Organisten und Komponisten Samuel Scheidt erfundenen Spielweise. Durch die Übertragung des Legatospiels der Geige auf ein Tasteninstrument wurden neue Klangeffekte auf der Orgel ermöglicht. Auf den vollständigen Text von Agricolas Hymne komponierte Bach 1732 die gleichnamige Kirchenkantate BWV 177, nachdem er die 1. Strophe zuvor schon für die Kantate Barmherziges Herze der ewigen Liebe, BWV 185, verwendet hatte. Das Choralvorspiel BWV 639 erfreute sich in der Romantik grosser Beliebtheit. Felix Mendelssohn Bartholdy fertigte 1832 eine Abschrift an und schlug Instrumentierungen für Klavier und Violine vor. Pianisten wie Ferruccio Busoni und Wilhelm Kempff schufen später eigene Bearbeitungen. Hillborg erhielt zunächst den Auftrag, eine Fassung für Sopransaxofon zu schreiben, bevor er das Werk auch für Violine, Klarinette, Violoncello, Flöte und Oboe arrangierte. Für Kuusisto komponierte er kurz darauf Bach Materia, ein Gegenstück zu Bachs 3. Brandenburgischen Konzert, das mit dem Swedish Chamber Orchestra unter Leitung von Thomas Dausgaard zur Uraufführung kam.

Die Idee zu eigenen Bearbeitungen von Ich ruf zu dir, Herr Jesu Christ hatte Hillborg vierzig Jahre lang im Kopf, bevor er sie schliesslich umsetzen konnte. Inspiriert hat ihn der Film Solaris des grossen russischen Regisseurs Andrei Tarkowski, der 1972 bei den Filmfestspielen in Cannes den Grand Prix Spécial du Jury gewann. Bachs meditatives Choralvorspiel ist in dem Film in mehreren Schlüsselmomenten zu hören, etwa wenn der ins Weltall geschickte Psychologe Kris Kelvin dem menschgewordenen Erinnerungsbild seiner verstorbenen Frau begegnet und beide schwerelos durch den Raum schweben. In unserer Welt, die wie Tarkowskis Filmwelt von Katastrophen erschüttert wird, verbinden sich mit Bachs Musik unweigerlich die Frage nach dem Sinn der menschlichen Existenz und die Sehnsucht nach Erlösung. Ich ruf zu dir, Herr Jesu Christ

BESETZUNG Violine solo, Streicher

ENTSTEHUNG 2015

URAUFFÜHRUNG 24. November 2017 im Helsinki Music Centre mit dem Finnish Radio Symphony Orchestra unter der Leitung von Hanna Lintu und mit Lisa Batiashvili als Solistin

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