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von Benjamin Herzog

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by Bart de Vries

by Bart de Vries

A WIE ANFANG

VON BENJAMIN HERZOG Jetzt sitzen sie alle. Das Publikum. Mit Programmheften wird Luft kühlgefächelt. Letzte Gespräche lösen sich. Das Orchester. Einige rücken noch ihre Pulte zurecht. Ordnen die Noten in die richtige Reihenfolge. Sitzt die Fliege? Sehe ich den Dirigenten? Und dann steht einer auf. Mit der Oboe gibt er den Ton zum Einstimmen: ein a. Ist dieser Moment vielleicht der Anfang des Sinfoniekonzerts? Immer jedenfalls erklingt es, dieses eingestrichene a’. Zum Stimmen aller Instrumente und zu Beginn eines jeden Konzerts. Zuverlässig wie das Amen in der Kirche. Wobei dieses doch am Schluss steht. Dort also, wo nach der ganzen Musik Orchester, Solist*innen etc. mit Applaus bedacht werden.

Für uns, die wir zuhören, mag im Stimmritual der Anfang eines Konzertabends liegen. Vielleicht aber haben wir uns schon vorher an der Bar eingestimmt, haben einer Einführung zugehört, das Programmheft durchgeblättert. Gehört auch dazu. Genauso wie die zu Hause übergestülpte Abendgarderobe, die Anreise oder das Abonnement, das wir ja schon in der Vorsaison ordern mussten. Schaut man also genauer hin, so scheint ein solcher Konzertanfang in Anfänge zu zerfasern. «Im Anfange schuf Gott Himmel und Erde», heisst es in Joseph Haydns Oratorium Die Schöpfung. Und die Ouvertüre, die diesem göttlich-schöpferischen Akt noch vorausgeht, nennt er: «Vorstellung des Chaos». Welche Hunde mögen hier noch begraben liegen? «Ungrund» nannte der Philosoph Jacob Böhme den Anfang vor dem Anfang. Er sei das «Alles und Nichts» zugleich.

Ich hatte früher einen wiederkehrenden Traum. Das Kind geht zur Geigenstunde. Es ist spät dran. Es rennt, doch die Füsse kleben ihm am Boden. Ich werde zu spät kommen. Haben Orchestermusiker*innen ähnliche Träume? Ich vermute es. Aber noch nie habe ich von jemandem gehört, dass er oder sie zu spät zum Konzert eingetroffen wäre. Eine halbe Stunde früher – so rechnen die meisten. Ankommen, Finger aufwärmen. Lunge, Lippen, Muskeln auf Präzision einstellen. Noch vor Türöffnung werden diejenigen Instrumente, die schon im Saal stehen, Pauken, Harfen, von den Musiker*innen gestimmt. Durchsage: «Zwanzig Minuten bis zum Konzert.» Wer jetzt Horn spielt und es noch nicht eingeblasen hat, der bläst es nimmermehr ein. Herr: es ist Zeit. Es gibt Sinfonieanfänge, die vergisst man nie wieder. Beethovens ‹Tatatataaa› kennt jedes Kind. Oder das scharf punktierte Schicksalsmotiv in Tschaikowskis Vierter. Ja, da müssen die Damen und Herren Blechbläser gut eingespielt sein. Und Mozarts Figaro. Die Ouvertüre nehmen Dirigenten bisweilen so schnell, geradezu atemlos, dass einem sofort schwindelt. Das Orchester muss hier vom ersten Augenblick

© Janine Wiget

an auf Zack sein. Oder schon vorher. «Nichts Langweiligeres als die ‹Eins›», sagt ein Orchesterbonmot. Der erste Schlag also. Selbst wenn das Stück keinen Auftakt hat, braucht es einen solchen vorweg. Der Anfang vieler Werke ist somit unhörbar von einem Taktstock zerteilte Luft.

Kein Anfang ohne Anfang vorweg. Eine Glühbirne anzuknipsen oder eine Bruckner-Sinfonie zu spielen, sind zwei fundamental unterschiedliche Dinge. Gerade Bruckner, dessen Sinfonien sich oft aus einem tremolierenden Irgendetwas zu formen anschicken. ‹Misterioso› schreibt er in seiner Dritten und der unvollendeten Neunten über die Noten. Im Pianissimo wird da sanft in der Ursuppe gerührt, bevor beginnt, was doch eigentlich schon begonnen hat. Mysterium des Konzerts. Oder: Jedem Anfang wohnt zumindest auch ein sehr gut gemachter Zaubertrick inne.

→ Das nächste Mal: B wie Bühnenmusik

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