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Psaume 24

VIERSCHRÖTIGES BLECH, FAHLE PAUKEN UND DIE DÜSTERE ORGEL

VON FRANK KÄMPFER Wer schwört nicht falsch, wer ist reinen Herzens, wessen Hand ist ohne Schuld?

Als Lili Boulanger 1916 in Paris den 24. Psalm vertont, scheint die Frage nicht leicht beantwortbar. Die junge, schon schwer kranke Frau erwartet den Tod, und in Mitteleuropa tobt ein Krieg bislang unbekannter Dimension. Der himmlische «Roi de gloire», auf den der biblische Text abzielt und den die Komponistin in Klänge fasst, kommt deshalb nicht in gewöhnlicher Pracht. Vierschrötiges Blech, fahle Pauken und die düstere Orgel markieren vielmehr Dissonanz – die Stimmen erhöhen das Tempo, das Loblied klingt nach Rebellion, und noch der finale Jubel ist auffällig nahe am Schrei. Die aufstörend-spröde Komposition erschüttert das Bild der ‹femme fragile› und setzt jenes Mass ausser Kraft, das Lili Boulanger auf die Tradition der Romantik Saint-Saëns’ und Faurés zurechtstutzen will. Das Werk selbst rückt das Wunderkind der Pariser Musik vielmehr in Richtung Moderne – deutlich mehr, als Konfession, musikalische Schule und familiärer Mythos erlauben. Der Anspruch einer eigenen musikalischen Sprache jedoch hat Lili Boulanger (1893–1918) bis zuletzt motiviert. Das modale e-Moll muss in dieser Sprache enthalten gewesen sein, die gedrängte Chromatik, der schmerzvolle Gestus an sich.

ZUR KOMPONISTIN LILI BOULANGER (1893–1918)

VON CHRISTIANE IRRGANG Nadia ist acht Jahre alt. Während sie am Klavier ihre Tonleitern übt, kann sie im Nebenzimmer die Erwachsenen bei einer der Soiréen ihrer Mutter plaudern hören. Direkt neben ihr liegt ihre zwei Jahre alte Schwester im Bett und schläft die ganze Zeit. Das, wenn sie nicht gerade hustet und weint. Dann kommt Nadias Vater, setzt sich zu ihr ans Klavier, streichelt ihr übers Haar und sagt leise und ernsthaft: «Versprich mir, dass du immer gut für die kleine Lili sorgen wirst!»

AUSGEPRÄGTER SCHAFFENSDRANG Beide wissen nicht, dass die Lungenentzündung, gegen die Lili im Schlaf ankämpft, sie ein Leben lang schwächen wird. Sie wissen auch nicht, dass Lili ein Wunderkind ohnegleichen werden wird. Dass sie mit fünf ihre Ausbildung am Pariser Konservatorium beginnen wird, zusammen mit Nadia, und dass sie Klavier, Violine, Cello, Harfe und Orgel lernen wird. Und dass sie mit 24 einen tragisch frühen Tod sterben wird. Lili Boulangers Leben wurde von zwei Themen geprägt: ihrem aussergewöhnlichen Talent und ihrer Krankheit. Sie brachte es fertig, in ihrem kurzen Leben über fünfzig Werke zu komponieren, darunter Klaviertrios, Hymnen, Chorwerke und die Kantate Faust und Helene. Für Letztere gewann sie 1912 als erste Frau überhaupt den Rom-Preis des Pariser Konservatoriums – mit 19 Jahren.

UNTERSTÜTZUNG DURCH DIE SCHWESTER Aber für Lili Boulangers Musik ist noch etwas anderes von grosser Bedeutung: die Beziehung zu ihrer Schwester Nadia. Wenn Nadia Boulanger nicht einen grossen Teil ihres Erwachsenenlebens Lili gewidmet und sie physisch, mental und finanziell unterstützt hätte, dann hätten wir diese Musik vielleicht nie kennengelernt. Nadia Boulanger, selbst Komponistin und hochgeschätzte Musiklehrerin, gründete 1939

die Lili Boulanger-Gedächtnis-Stiftung, um sicherzustellen, dass die Werke ihrer jüngeren Schwester nie vergessen würden. Und ihr diktierte Lili auch in ihren letzten Lebensjahren ihre Werke, als sie zu schwach war, um sie selbst niederzuschreiben. Das Pie Jesu gehört dazu.

AUFENTHALT IN DER VILLA MEDICI Lili Boulanger wurde 1893 in Paris geboren. Ihr Vater Ernest war Komponist. Ihre Mutter Raissa, eine russische Gräfin, hatte bei ihm am Konservatorium Gesang studiert. Die Familie Boulanger war äusserst aktiv im Pariser Musikleben. Raissa organisierte Abendgesellschaften, bei denen sie selbst als Sängerin auftrat, neben Pianisten wie Camille Saint-Saëns. Ein Freund der Familie, Gabriel Fauré, bemerkte als erster, dass die jüngere Boulanger-Tochter das absolute Gehör hatte. Sie beeindruckte ihn, und er begann bei seinen Besuchen mit ihr Lieder zu erarbeiten. Als Lili Boulanger den RomPreis gewann, erhielt sie auch ein Stipendium für einen dreijährigen Studienaufenthalt in der Villa Medici in Rom. Ihre Ärzte versuchten sie von dieser Reise abzuhalten. Aber sie hatte keinen Zweifel: Sie musste diese Erfahrung machen.

LETZTE WERKE Der Leiter der Villa Medici trat ihr gegenüber feindselig auf. Er war überzeugt, eine Frau an der Akademie würde die Disziplin der anderen Studenten stören. Und Lili Boulanger bekam keine Chance, ihn vom Gegenteil zu überzeugen, denn mit Ausbruch des Ersten Weltkriegs musste sie nach Paris zurückkehren. Dort begannen sie und ihre Schwester mit musikalisch interessierten Soldaten an der Front zu korrespondieren.

Lili Boulanger war 22, als die Ärzte ihr mitteilten, dass sie nichts mehr für sie tun könnten. Das wirkte sich unmittelbar auf ihre Musik aus: Die Kranke begann Werke mit religiösem Charakter zu komponieren, darunter Hymnen und Vertonungen von Texten aus dem Alten Testament. 1918 starb Lili Boulanger 24-jährig an Tuberkulose. Nadia überlebte ihre Schwester um 61 Jahre.

Dieser Text entstand ursprünglich für die Reihe ‹Women in Music› der EBU (European Broadcasting Union)

Psaume 24

BESETZUNG 4 Hörner, 3 Trompeten, 4 Posaunen, Tuba, Pauke, Harfe, Orgel, Chor

ENTSTEHUNG 1916 in Paris

VERÖFFENTLICHUNG 1924 bei Éditions Durand

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