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Sound Atlas
KRISTALLINE KLÄNGE
VON CORINA KOLBE Glasinstrumente faszinieren Anders Hillborg seit Langem, er setzt sie in vielen seiner Stücke ein. «Ihr Klang füllt den Saal, aber niemand kann genau sagen, woher er kommt», sagt der schwedische Komponist, der in dieser Saison ‹Composer in Residence› beim Sinfonieorchester Basel ist. In ferne, überirdisch anmutende Sphären entführt uns die Glasharmonika, die in Sound Atlas eine zentrale Rolle spielt. 2019 mit grossem Erfolg im Londoner Southbank Centre uraufgeführt, feiert das Orchesterwerk jetzt seine Schweiz-Premiere. «Das Stück ist um die Glasharmonika herum aufgebaut», erklärt Hillborg.
«Dadurch entsteht eine ganz spezielle Klanglandschaft.»
Die Ursprünge des ätherisch tönenden Instruments reichen Jahrhunderte zurück. Benjamin Franklin, bekannt als einer der Gründerväter der Vereinigten Staaten, konstruierte 1761 ein Reibe-Idiofon, das aus unterschiedlich grossen, ineinandergeschobenen Glasglocken bestand, die durch ein Pedal in Rotation gebracht wurden. Die Musiker*innen erzeugten Töne, indem sie mit angefeuchteten Fingern über die Glasränder fuhren. Wolfgang Amadé Mozart schrieb für das neuartige Instrument ein Quintett und ein Solo-Adagio. Auch Dichter wie Johann Wolfgang von Goethe, Friedrich Schiller und Jean Paul zeigten sich beeindruckt. Gaetano Donizetti verwendete die Glasharmonika in der berühmten Wahnsinnsszene seiner Oper Lucia di Lammermoor. Im 20. Jahrhundert setzte sie Richard Strauss in Die Frau ohne Schatten ein.
Ein moderner Nachfahr ist das Verrofon, das 1983 von dem Glasmusiker Sascha Reckert erfunden wurde. Es besteht aus senkrecht in einem Holzkorpus stehenden Röhren, die oben offen sind und dort an den Rändern mit den Fingern gerieben oder mit einem Hammer angeschlagen werden. Die Tonhöhe ist abhängig von der Länge
der Gefässe, die meist in einer chromatischen Tonleiter angeordnet sind. Je nach Lage sind sogar sechs- bis achtstimmige Akkorde greifbar. Mit seinem weichen Klang erinnert das Verrofon an die historische Glasharmonika, unterscheidet sich von ihr aber durch eine grössere Lautstärke.
In Sound Atlas erlebt man, wie das feste Glas in andere Aggregatzustände übergeht. Hillborg unterteilt das Stück in die fünf Abschnitte Crystalline, River of Glass, Vaporised Toy Pianos, Vortex und Hymn. Glasharmonika und Mikrotöne der Streicher formen zunächst das kristalline Zentrum dieser Klangwelt. Wenn die Spielzeugklaviere verdampfen, verflüchtigt sich dieser Kern. Es entstehen heftig wirbelnde Klangmassen, aus denen die Musik plötzlich kristallklar emporsteigt, um rasch wieder in den Abgrund gezogen zu werden. Am Ende löst sich der wilde Strudel in einer feierlichen, von den Streichern gespielten Hymne auf.
Die Uraufführung von Sound Atlas mit dem London Philharmonic Orchestra unter Leitung von Marin Alsop wurde von der britischen Presse enthusiastisch aufgenommen. «Musik aus den Weiten des Universums, in denen der jenseitige Klang der Glasharmonika herumgeistert», schrieb Richard Fairman in der Financial Times. «Wenn Stanley Kubrick für ein Remake von 2001 zurückkehren würde und einen Soundtrack bräuchte? Hillborg wäre sein Mann.» In der Times sprach Rebecca Franks von einem «überirdischen Lichtkranz», den die Glasharmonika der Palette orchestraler Klangfarben verleihe. Etwas, das so hell, weichkantig und ungewöhnlich sei wie die Sonnenkorona. Auch das Publikum im Stadtcasino ist nun eingeladen, sich durch diese Musik in ungeahnte neue Dimensionen katapultieren zu lassen. Sound Atlas
BESETZUNG Glasharmonika, 3 Flöten, 3 Oboen, 3 Klarinetten, 3 Fagotte, 4 Hörner, 3 Trompeten, 3 Posaunen, Tuba, Pauke, Perkussion, Klavier, Streicher
ENTSTEHUNG 2018
URAUFFÜHRUNG 16. Januar 2019 in der Londoner Royal Festival Hall, Southbank Centre, mit dem London Philharmonic Orchestra unter der Leitung von Marin Alsop