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von Sigfried Schibli

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Sound Atlas

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MUSIKLAND FINNLAND

VON SIGFRIED SCHIBLI In einem Mitschnitt aus der Londoner Royal Albert Hall von 2016 erlebt man den Solisten des heutigen Konzertabends mit einer bizarren Zugabe. Der finnische Geiger Pekka Kuusisto kündigt ein karelisches Volkslied an. Schon das ist ungewöhnlich für einen Musiker, der im internationalen Konzertleben als Interpret der Meisterwerke von Beethoven, Brahms, Tschaikowski und Sibelius bekannt ist.

Kuusisto verpackt seine Zugabe in eine launig-lustige Moderation, in welcher er unter dem Gelächter des Publikums behauptet, Russland sei einst ein Teil Finnlands gewesen (umgekehrt würde ein Schuh draus). Dann fasst er den Inhalt des Volksliedtextes zusammen, und der ist alles andere als politisch korrekt, grenzt hart an Machismo und Frauenfeindlichkeit. Dies alles aus dem Mund des Bürgers eines Staates, der den Frauenrechten und der Emanzipation schon viel früher zugeneigt war als andere Länder! Dann spielt Kuusisto endlich die Zugabe, besser gesagt: Er singt sie, sich selbst auf der Geige begleitend, und fordert am Ende das Publikum zum Mitsingen auf. Der Saal tobt vor Begeisterung. Vielleicht ist dieser satirische, kabarettistische Zug eine persönliche Eigenart des Meistergeigers Kuusisto. Ich habe mir eine andere Erklärung zurechtgelegt. Viele Finnen haben zur Musik aus ihrem Heimatland ein geradezu sentimentales Verhältnis – Musikliebe mit einem kräftigen Schuss Patriotismus. Und dieses Pathos könnte bei einem wachen Geist wie Pekka Kuusisto leicht zu einer demonstrativen Gegenreaktion führen. Da ich mit einer finnischen Frau verheiratet bin und schon öfter in diesem schönen Land war, habe ich die finnische Musikbegeisterung mit eigenen Augen und Ohren erlebt. Im Sommer gibt es in vielen Kirchen und Gemeindesälen Konzerte und Musikfestivals. Das Opernfestival in Savonlinna ist nur das berühmteste, daneben wären noch viele andere Städte und Dörfer zu nennen, die zur Sommerzeit hoch- und höchstkarätige Musiker als Gäste haben. Dirigenten wie Vladimir Ashkenazy und Valery Gergiev hatten oder haben hier ihre eigenen Festivals, und neben der beträchtlichen Zahl heimischer Talente treten hier zahl-

Opernfestspiele in Savonlinna, Finnland

reiche Musikstars aus Russland, aus Kontinentaleuropa und aus Amerika auf. Es gibt Bücher über finnische Dirigenten und über das «finnische Opernwunder» (Olemme oopperamaa, Finnland – Land der Oper). Darin schreibt unter vielen anderen Ilkka Kuusisto, der Vater des Geigers, über seine ‹Mumin-Oper› und seine Oper über die legendäre finnische Sopranistin Aino Ackté. Chauvinismus ist nicht gerade ein schönes Wort für das, was ich dem finnischen Volk in brutaler Vereinfachung gerne zuschreiben möchte. Nennen wir es besser Enthusiasmus. Vielen Finnen ist es nicht egal, was sich in ihren Konzerten abspielt. Ganz im Gegenteil, viele nehmen regen Anteil an den Festivals mit ihrem hohen Anteil an zeitgenössischer finnischer Musik. Wenn in Savonlinna oder Helsinki eine neue finnische Oper uraufgeführt wird, ist das ein nationales Ereignis. Dann kann es gut sein, dass man von Taxifahrern oder Beerenverkäuferinnen gefragt wird, wie man die Oper fand, denn ein Teil des finnischen Nationalstolzes hängt an der sogenannten Hochkultur. Ich erinnere mich an meine erste Begegnung mit meiner Schwiegermutter, einer gebildeten, aber nicht unbedingt musikalisch geschulten Frau. Kaum hatten wir uns begrüsst, überfiel sie mich mit der Frage: «Magst Du die Musik von Jean Sibelius?» Ich kam ein wenig in Verlegenheit, denn ich war damals stark von Theodor W. Adorno geprägt, und dieser hatte in einem bitterbösen Aufsatz die Musik des finnischen Nationalkomponisten Sibelius wirkungsvoll in der Luft zerrissen. Ich stotterte deshalb ein wenig herum, denn ich wollte meine Schwiegermutter in spe nicht kränken. Aber es war schon typisch, dass ich mit dieser Frage konfrontiert wurde. Können Sie sich vorstellen, dass eine Schweizer Schwiegermutter ihrem finnischen Schwiegersohn als erstes die Frage stellt, ob er Schoeck, Sutermeister oder Kelterborn mag?!

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